Zwei Tote aus der Provence - Norman Novic - E-Book

Zwei Tote aus der Provence E-Book

Norman Novic

2,2

Beschreibung

In der Nähe von Kiel wird die Leiche von Marine Mitterand aufgefunden, einer jungen Französin aus der Provence, die bei einer wohlhabenden deutschen Familie als Kindermädchen arbeitete. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn das bildhübsche Mädchen war allseits beliebt und hatte keine Feinde. Allerdings besuchte sie in ihrer Freizeit oft eine zwielichtige Diskothek, in der überwiegend Bi-Männer und Schwule verkehrten. Wurde ihr das zum Verhängnis? Als dann auch noch ihr südfranzösischer Freund den Tod findet, laufen die Ermittlungen von Kommissar Wessels auf Hochtouren. Bei der Beerdigung der Mordopfer in deren Heimat wird eine interessante Beobachtung gemacht. Hilft dies, den Fall zu lösen? Die zwei Toten aus der Provence versetzen die norddeutschen Provinzler jedenfalls in heftigen Aufruhr.

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Ähnliche


Inhalt

Mittwoch mit Leiche

Der Gerichtsmediziner

Marines Freund

Camping-Urlaub in Frankreich

Die Ermittlungen beginnen

Liebeskummer

Holger und Lars

Phantombild

Eifersuchtsdrama?

Doppelmord: Was ist das Motiv?

Das braune Kuvert

Fahrt in die Provence

Aufschlußreiche Beobachtung

Miss Marpel in Genf

Das Geständnis

Die Verhaftung

Impressum

Mittwoch mit Leiche

Eigentlich war es ein ganz gewöhnlicher Tag, der Tag, an dem man die Leiche fand.

Trude Wessels wachte wie immer sehr früh auf, lauschte eine Weile dem fröhlichen Vogelgezwitscher vor ihrem Fenster und beobachtete das Morgenlicht, das immer deutlicher durch die Ritzen der Jalousie drang. Es sah nach Sonne aus. Gut. Sie dehnte und streckte ihren Körper unter der weichen Decke, um zu überprüfen, wie sich die Schmerzen im rechten Knie heute verhielten, stellte befriedigt fest, dass die Arthrose anscheinend noch nicht aufgewacht war, schlug die Bettdecke zurück und schwang mit einem Elan, den man ihrem fünfundsechzigjährigem Körper kaum zugetraut hätte, ihre Beine aus dem Bett.

Das wird ein guter Tag heute, dachte sie, tappte barfuß zum Fenster und zog mit Schwung die Jalousien hoch. Der helle frühsommerliche Sonnenschein blendete ihre Augen für einen Moment und zwang sie zum Blinzeln. Ihre ohnehin gute Stimmung stieg noch um einige Grade an. Sie öffnete das Fenster und ließ die frische Morgenluft ins Zimmer. Ein Junitag, wie er im Buche steht, dachte sie zufrieden. Selten genug hier im Norden. Mal sehen, was er mir Schönes bringt.

Sie beschloss, das Frühstück für die Familie zuzubereiten. Helgarth würde sicher froh sein, sich an einen fertig gedeckten Frühstückstisch setzen zu können, bevor sie die Zwillinge zur Schule und selbst zur Arbeit in den Kindergarten fahren musste. Von Eberhard ganz zu schweigen. Trudes Sohn war ein rechter Morgenmuffel, der nicht zu genießen war, bevor er nicht seine erste Tasse Kaffee getrunken hatte.

Trude zog ihren zerschlissenen alten Frotteebademantel an, den sie bis jetzt erfolgreich gegen alle Versuche Helgarths, ihn der Altkleidersammlung anzuvertrauen, verteidigt hatte, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in das kleine Bad, das zu ihrer Einliegerwohnung gehörte.

Sie war froh, dass sie hier oben im Haus ihr eigenes kleines Reich hatte. Nach dem Tod ihres Mannes war Eberhard mit seiner Frau und den Zwillingen in das Einfamilienhaus eingezogen, das für Trude allein viel zu groß geworden war. Die junge Familie bewohnte das Erdgeschoss, während Trude sich im oberen Stockwerk eingerichtet hatte. Noch könne sie die Treppe ohne Treppenlift bewältigen, hatte sie argumentiert, als es darum ging, wie die Räume verteilt werden sollten. Eigentlich hätten die Kinder ihre Zimmer oben haben sollen, aber Trude hatte darauf bestanden, sich wenigstens ein geringes Maß an Selbstständigkeit zu bewahren mit einem eigenen Wohnzimmer, einer Küchennische und eigenem Bad.

Hier konnte sie ungestört ihre Kränzchenschwestern empfangen, konnte im Fernseher ihre Lieblingsserien verfolgen und die Musik hören, die sie liebte.

Die Zwillinge waren damals gerade zwei Jahre alt gewesen, und Helgarth und Eberhard, die beide beruflich sehr eingespannt waren, hatten sich über Trudes gelegentlichen Babysitter- und Küchendienste sehr gefreut. Neben all diesen praktischen Erwägungen, die natürlich eine Rolle gespielt hatten, war die Wahrheit, die Trude sich nur heimlich eingestand: Sie hatte das leere Haus nicht mehr ausgehalten. Clemens, ihr Mann, fehlte ihr an allen Ecken und Enden. Sie war ein geselliger Mensch und liebte es, wenn viel Trubel um sie herum war. Das Haus war einfach zu still geworden. Das junge Ehepaar mit den zwei lebhaften Kindern war ihr also gerade recht gekommen.

Während sie das warme Wasser in der Dusche über ihren Körper laufen ließ, überlegte Trude, wie sie das schöne Wetter nutzen könnte. Auf jeden Fall würde sie nach dem Frühstück eine ordentliche Runde Nordic-Walking absolvieren, wegen der Bewegung, die ihren Gelenken gut tat. Am Ortsrand von Schwedeneck gab es ein kleines Waldstück, durch das lange Spazierwege führten. Jetzt um diese Jahreszeit war es dort geradezu idyllisch, und Trude liebte es, begleitet von Vogelgezwitscher und dem herrlichen Duft nach Holz, Erde und Moos, zügig durch den Wald zu marschieren. Danach müsste sie zum Supermarkt einkaufen, überlegte sie, nachmittags war ein Kaffeekränzchen mit Britta und Liesbeth geplant, und danach würde sie für die ganze Familie ein leckeres Abendessen vorbereiten.

Trude lächelte sich im Spiegel zu, während sie ihre kurzen weißen Haare bürstete. Es war doch alles gut so, wie es war. Zügig kleidete sie sich an und ging leise die Treppe hinunter. Im Haus war es still, alle schliefen noch.

Leise vor sich hinsummend, deckte Trude den Frühstückstisch in der gemütlichen Wohnküche, wo die Familie ihre gemeinsamen Mahlzeiten einnahmen. Körnermüsli, Naturjoghurt und grünen Tee für Helgarth, die ständig Angst um ihre schlanke Linie hatte, obwohl sie Trudes Meinung nach kein Gramm zu viel auf den Rippen hatte, im Gegenteil, eher zu wenig, wie Trude fand. Starken Kaffee, aufgebackene Brötchen mit Marmelade, Wurst und Käse für Eberhard, der es gerne deftig mochte, sowie Kakao und Vollkornbrot, Honig, Quark mit Bananen- und Apfelscheiben für die Kinder.

„Moin, Oma!“

Die helle Stimme von Kim, Trudes sechsjähriger Enkelin, riss sie aus ihren Gedanken. Kim war der weibliche Teil des Zwillingspärchens, das aus ihr und ihrem Bruder Niklas bestand. In ihrem Hello-Kitty-Schlafanzug und mit ihrem Lieblingsstofftier, einem vom vielen Kuscheln schon ziemlich ramponiertem Schaf, stand Kim in der Tür und rieb sich verschlafen die Augen.

„Moin, meine Süße“, antwortete Trude und nahm die zarte Gestalt des Kindes in ihre Arme. Kim drückte einen Kuss auf die Wange ihrer Großmutter und schmiegte sich zärtlich an sie.

„Na, gut geschlafen?“, fragte Trude, als sie sie wieder auf den Boden niederließ. Das kleine Mädchen nickte und kletterte auf den für sie vorgesehenen Stuhl am Frühstückstisch. Gerührt betrachtete Trude ihre Enkelin. Der reinste Engel, dachte sie beim Anblick der vom Schlaf zerzausten blonden Zöpfe, der runden Wangen und der klaren blauen Augen des Kindes.

„Sind die anderen noch nicht wach?“, fragte sie.

Kim schüttelte den Kopf. Sie beäugte missmutig die Scheibe Vollkornbrot, die auf ihrem Teller lag, und zog einen Schmollmund.

„Ich mag das Brot nicht, Oma. Krieg ich einen Toast mit Nutella? Bitte, Oma!“

„Hm“, machte Trude, „aber du weißt doch ...“

„Bitte, bitte, Oma.“ Kim sah ihre Gro0mutter mit einem Hundeblick an, dem kein Mensch, schon gar nicht Trude mit ihrem weichen Herzen, widerstehen konnte.

„Natürlich“, seufzte sie. Sie bestrich eine Scheibe des gerösteten Weißbrotes mit der Nougatcreme, die ihre Enkel so liebten, goss warmen Kakao in Kims Becher und nahm selbst einen Schluck Kaffee. Schuldbewusst sah sie ihrer Schwiegertochter entgegen, die gerade zusammen mit Niklas die Küche betrat.

„Oh, Frühstück ist schon fertig!“, sagte Helgarth erfreut, um gleich tadelnd hinzuzufügen: „Du weißt doch, die Kinder sollen nicht so viel Nutella essen, Trude! Honig ist viel gesünder.“

„Aber Nutella schmeckt besser!“, rief Niklas. Er lief zu seiner Großmutter und krabbelte auf ihren Schoß. „Darf ich auch einen Toast mit Nutella, Oma?“ Schmeichlerisch drückte er sein Gesicht an ihre Wange. „Bitte, Oma!“

Trude konnte dem Charme des Jungen nicht widerstehen. Niklas war das männliche Pendant zu seiner Schwester und verstand es genauso gut wie sie, seine Großmutter um den Finger zu wickeln.

Seufzend bestrich Trude eine weitere Scheibe Toast mit der süßen Creme, während sie Helgarth einen um Entschuldigung bittenden Blick zuwarf.

„Dafür mache ich ihnen heute ein besonders gesundes Pausenbrot für die Schule, okay?“, versuchte sie ihre Schwiegertochter zu besänftigen. „Mit Vollkornbrot, Butter und mageren Schinken, dazu einen Apfel und ein paar Radieschen.“

Helgarth musste lächeln. „Schon in Ordnung, Trude. Ich weiß, du meinst es ja nur gut mit den Kindern.“

Erleichtert erwiderte Trude ihr Lächeln. Helgarth war nun mal eine Perfektionistin. Sie versuchte, bei der Erziehung der Kinder immer alles richtig zu machen, so wie sie es als Erzieherin im Kindergarten gelernt hatte. Dabei vergaß sie, dass es manchmal durchaus angebracht sein konnte, einmal alle Fünfe gerade sein zu lassen.

Mit vom Duschen noch nassen Haaren kam Trudes Sohn, Kriminalhauptkommissar Eberhard Wessels in die Küche. Er gab seiner Mutter einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange, strich den Zwillingen über die Haare und küsste seine Frau zart auf den Mund.

„Guten Morgen miteinander“, sagte er überraschend gutgelaunt. „Ist das nicht ein herrlicher Tag heute? Guckt euch nur einmal das Wetter an! Viel zu schön, um zur Arbeit zu gehen.“

Er setzte sich und griff nach einem der Brötchen, bestrich es mit Butter und Marmelade und biss kräftig hinein. Trude betrachtete ihren Sohn voller Stolz. Mit seinen dunklen Haaren und den braunen Augen glich er ganz und gar seinem verstorbenen Vater, und als Polizist hielt er sich pflichtgemäß fit, was man seinem durchtrainierten Körper ansah. Zu Trudes Leidwesen trug er einen Dreitagebart, der ihn älter als seine neununddreißig Jahre aussehen ließ, und es war nicht zu übersehen, dass die Haare über seiner Stirn anfingen, sich zu lichten. Vom Äußeren her bildete er einen attraktiven Kontrast zu seiner zierlichen blonden Frau, die das schöne Blau ihrer Augen an die Kinder vererbt hatte.

Das Melodie des Schlagers „An der Nordseeküste, am norddeutschen Strand“ erklang, und Eberhard Wessels griff zu seinem Handy, das er griffbereit neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Mit einem knappen „Ja“ meldete er sich. Während er in den Hörer lauschte, wurde sein Gesicht ernst. Trude erschauerte plötzlich. Es musste etwas Schlimmes passiert sein.

Eberhard war inzwischen aufgestanden und zum Telefonieren in den Flur gegangen, wo Trude ihn ein paar knappe Fragen und Anweisungen in den Hörer sprechen hörte. „Ich komme direkt zum Tatort“, sagte Eberhard und beendete das Gespräch.

„Ich muss sofort los“, sagte er, als er an den Frühstückstisch zurückkehrte. Mit einem Blick auf die Kinder deutete er den beiden Frauen an, dass er nicht vor den Kleinen über die Telefonat sprechen könne. Er trank hastig seine Kaffeetasse aus, steckte sich den Rest seines Brötchens in den Mund und verließ die Küche. Beunruhigt folgten Trude und Helgarth ihm in den Flur.

„Was ist denn passiert“, fragte Trude angstvoll und nahm Helgarths Arm. Sie wusste, dass es etwas Furchtbares sein musste, wenn Eberhard so überstürzt zum Dienst eilte, und hoffte inständig, dass es niemanden aus ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis betraf.

„Man hat eine Tote gefunden, hier in Schwedeneck. Ermordet. Mehr weiß ich noch nicht.“

„Oh mein Gott“, rief Trude und sah Helgarth bestürzt an.

Mit professioneller Gelassenheit nahm Eberhard seine Brieftasche und die Schlüssel an sich, die griffbereit auf der Garderobe lagen, zog sich ein leichtes Jackett über und steckte seinen Polizeiausweis ein.

Eilig verabschiedete er sich von den Kindern. An der Haustür wandte er sich an seine Frau und Trude. „Macht euch keine Sorgen, es wird schon niemand sein, den wir kennen“, sagte er und zog die Haustür hinter sich zu.

Der Tag, an dem man die Leiche fand, war ein Mittwoch. Zwei Tage vorher, am Montag, fing Pierre d' Or im fernen Frankreich ernsthaft an, sich Sorgen zu machen. Seit Mittwoch hatte er nichts mehr von Marine gehört, und jetzt war Samstag! Ihre letzte SMS war am Mittwochabend gekommen:

KOMME BALD ZURÜCK; MELDE MICH SPÄTER; MARINE.

Seitdem nichts mehr. Natürlich hatte er versucht, sie anzurufen, aber ihr Handy war seit dieser letzten Nachricht abgeschaltet, und auf die Nachrichten, die er auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte, antwortete sie nicht.

Pierre schleppte die Gemüsekisten mit den Kohlköpfen, Gurken, Zucchini und Auberginen vor das Schaufenster des kleinen Ladens in der Rue Nice und ordnete sie auf dem Holzgestell am Rande des Bürgersteigs gefällig an.

„Vergiss das Obst nicht“, rief sein Vater aus dem Innern des Hauses und kam gleich darauf mit einer Kiste Honigmelonen und Orangen aus der Ladentür. „Das Obst ordnest du am besten in der obersten Reihe an, damit es den Leuten Appetit macht.“

„Oui, papa“, seufzte Pierre, „ich mach das doch nicht zum ersten Mal.“

Während Gerard d' Or, ein kleiner, drahtiger Mann mit einem großen Schnurrbart, wieder im Haus verschwand, betrachtete Pierre gedankenverloren die Gemüseauslagen, ohne sie wirklich wahrzunehmen.

Es war noch früh am Morgen, aber schon sehr warm in Aix-en Provence, der kleinen Stadt im Süden Frankreichs. Zwischen Marseille und Lyon auf halber Strecke von Paris ans Mittelmeer gelegen, profitierte die Stadt von den durchreisenden Touristen, die es an die Cote d' Azur mit den herrlichen Sandstränden zog. Der kleine Gemüseladen, den Pierre zusammen mit seinen Eltern bewirtschaftete, wurde jedoch vorwiegend von den Einheimischen aufgesucht, die sich ihren täglichen Bedarf an frischem Obst und Gemüse hier deckten. Es hatte nie zur Diskussion gestanden, ob Pierre das Geschäft seiner Eltern weiterführen wollte oder nicht; seine einzige Schwester Paula, die um einiges älter war als er, lebte mit ihrem Mann Stephane und den zwei Töchtern in Nizza, wo Stephane einen Posten in der Stadtverwaltung innehatte. Also blieb der Laden selbstverständlich für Pierre übrig.

Pierre arbeitete gerne hier. Er hatte ein angeborenes kaufmännisches Talent, verstand es, freundlich auf die Kunden zuzugehen, war stets guter Laune und veranlasste sie so zu dem einen oder anderen Extrakauf. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren hatte er schon sehr genaue und durchaus realistische Vorstellungen von seiner Zukunft: In ein paar Jahren würde er Marine Mitterand, mit der er seit Kindesbeinen befreundet war und die er auf eine stetige, unaufgeregte Art liebte, heiraten, sie würden in der geräumigen Wohnung über dem Laden zusammen mit seinen Eltern wohnen, zwei oder drei Kinder bekommen und ein glückliches und zufriedenes Leben führen.

Wenn da nur erst diese Sache mit Marines Vergangenheit geklärt wäre! Sie hatte ihm nie erzählen wollen, was sie seit dem Tod ihrer Eltern - sie waren vor gut einem Jahr beide kurz nacheinander gestorben, der Vater an einem Herzinfarkt, die Mutter an einem zu spät erkannten Krebsleiden - so sehr beschäftigte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Wochenlang war sie umher gelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn, dann hatte sie vor einem halben Jahr eine Reise in die Schweiz gemacht und war völlig verändert zurück gekommen. In sich gekehrt. Grüblerisch. So oft er sie auch gefragt hatte, was denn eigentlich los sei, immer war sie ihm ausgewichen. Und dann hatte sie sich plötzlich auf diese Nanny-Stelle im Norden Deutschlands, in Schleswig-Holstein an der Ostsee, beworben! Nebenbei wollte sie an der Universität Germanistik in der nahe gelegenen Großstadt, Kiel hieß sie, wie er glaubte, studieren. Da sie als einziges Kind von ihren Eltern deren gut gehende Autowerkstatt geerbt und günstig verpachtet hatte, besaß sie genügend Mittel, um nicht auf eine staatliche Förderung angewiesen zu sein.

Für Pierre stand fest, dass Marine ihn genauso liebte wie er sie und dass eine spätere Heirat auch für sie selbstverständlich war, obwohl sie nie davon gesprochen hatten. Schließlich waren sie schon mehr als ein Jahr ein Liebespaar.

Er vermisste sie. Und machte sich Sorgen.

„Maman, ich werde übers Wochenende nach Deutschland fahren, Marine besuchen.“, sagte er zu seiner Mutter, die, angetan mit ihrer weißen Verkaufsschürze, aus der Ladentür trat und einen prüfenden Blick zum Himmel warf.

“Es ist ja Wochenende, da kann ich doch den Dacia haben, oder?“

Chantal d' Or sah ihren Sohn überrascht an. Sie war eine kleine, rundliche Person mit flinken schwarzen Augen in einem freundlichen Gesicht.

„Marine besuchen? Warum denn das so plötzlich? Ist was passiert?“

Sie fing an, die blauweiß gestreifte Markise herunter zu kurbeln, die das Gemüse vor der Sonne schützen sollte.

„Ich weiß nicht. Sie meldet sich nicht mehr. Ihr Handy ist seit Tagen ausgeschaltet. Ich mache mir Sorgen.“

Chantal schüttelte missbilligend den Kopf.

„Was für eine verrückte Idee von ihr, so weit weg zu gehen! Als Kindermädchen! Und ausgerechnet nach Deutschland. Wo wir niemanden kennen!“

„Kann ich das Auto nun haben? Ich muss unbedingt wissen, wie es Marine geht.“

„Frag papa. Am Montag brauchen wir es wieder für das Gemüse. Kannst du denn bis dahin wieder hier sein?“

„Ja, sicher. Ich fahre einfach die Nacht durch.“ Pierre hatte die letzten Kisten aufgestellt und rückte hier und da einen Kohlkopf oder eine Lauchstange zurecht, während seine Mutter die selbst gemalten Preisschilder anbrachte.

„Meinst du wirklich, das ist nötig, Junge? Vielleicht hat Marine nur keine Zeit, dir dauernd zu schreiben. Oder sie hat einfach drauf vergessen. Wer weiß, was sie dort oben treibt.“

„Ach, maman, du weißt doch, Marine ist nicht so.“

„Schon gut. War nicht so gemeint.“ Chantal reckte ihre kleine Gestalt und strich ihrem Sohn, der sie um mehr als Haupteslänge überragte, liebevoll über die Wange. „Wenn du meinst, fahr ruhig hin. Vielleicht ganz gut, wenn du mal nach dem Rechten siehst.“

„Ich sag papa Bescheid. Wenn er nichts dagegen hat, fahr ich gleich los. Könntest du mir bitte ein paar Baguette und was zu trinken einpacken? Die Fahrt wird sicher zwölf Stunden dauern, ich hab' im Internet nachgeschaut. Und tanken muss ich auch noch.“ Plötzlich hatte Pierre es eilig, aufzubrechen.

Die Reise dauerte viel länger, als er angenommen hatte. Der blaue Kleintransporter der Marke Dacia Dokker Double, mit dem er und sein Vater täglich das Gemüse vom Großmarkt holten, war zwar schon sieben Jahre alt, schaffte mit seinen sechsundachtzig PS jedoch im Schnitt noch gut und gerne hundertdreißig Stundenkilometer. Theoretisch, denn da Pierre sich scheute, für die Autobahn in Frankreich die hohe Gebühr zu bezahlen, musste er über die viel befahrenen Landstraßen von Ort zu Ort fahren, was ungemein viel Zeit kostete. Zudem geriet er am Samstagnachmittag in den üblichen Wochenendverkehr, und wenn es kein Stau war, dann war es eine Baustelle, die ihn aufhielt.

Als er schließlich in Schwedeneck ankam, war es tiefe Nacht, und er fand es unmöglich, jetzt noch bei der Familie, bei der Marine wohnte, zu klingeln. Also suchte er sich einen wenig frequentierten Parkplatz am Ortsrand, rollte die dafür vorgesehene Matratze auf der Ladefläche des Dacias aus und bereitete sich mit seinem Schlafsack und dem Kissen, das seine Mutter ihm aufgedrängt hatte, eine bequeme Lagerstatt zum Übernachten. In dem Picknickkorb, den Chantal ihm fürsorglich mit Essbarem vollgepackt und aus dem er sich unterwegs schon mehrfach bedient hatte, fand er noch ein halbes Baguette, belegt mit gekochtem Schinken, Tomaten und Gurkenscheiben, und eine Flasche Rotwein. Der Milchkaffee in der Thermoskanne war sogar noch warm. Nachdem er sich satt gegessen und die Flasche halb geleert hatte, fühlte er sich angenehm müde. Er kuschelte sich in seinen Schlafsack und war binnen einer Minute eingeschlafen.

Motorgeräusche, Bremsenquietschen und die Stimmen von Menschen weckten ihn. Er schaute in dem Licht, das durch die Frontscheibe in den Laderaum drang, auf seine Armbanduhr. 10.30 Uhr! Er hatte mehr als acht Stunden geschlafen! Vorsichtig öffnete er die Hintertür und schaute hinaus. Sein Dacia war umzingelt von parkenden Autos. Er stand mitten auf dem Parkplatz vor einem riesigen Real Supermarkt. Der hatte zwar geschlossen, aber der Backshop, der dem Supermarkt angegliedert war, hatte geöffnet, damit die Leute ihre Sonntagsbrötchen kaufen konnten. Ein frisches petit-pain oder ein Croissant wäre jetzt nicht schlecht, dachte Pierre. Im Dämmerlicht des Autoinneren suchte er sich ein sauberes Shirt aus dem Rucksack, den er für die Reise gepackt hatte, und zog frische Socken und seine Yvess an. Dann schlüpfte er in seine ausgelatschten Turnschuhe und kramte seinen Kulturbeutel hervor. Der Supermarkt verfügte bestimmt über Waschräume oder wenigsten einen Toilettenraum mit Spiegel und Waschbecken, wo er sich frisch machen konnte, nahm er an.

Tatsächlich gab es einen sogar recht großen Waschraum im vorderen Teil des Supermarktes. Pierre benutzte die Toilette und wusch sich schnell Gesicht und Hände in einem der Handwaschbecken. Leider musste er feststellen, dass der Stecker seines Elektrorasierers nicht in die Steckdose neben dem Spiegel passte: Die Löcher hatten eine ganz andere Form als zu Hause. Nun, dachte er, dann muss es eben so gehen. Er kämmte seine schwarzen Haare und lächelte seinem Spiegelbild zu. Marine würde sich bestimmt nicht an seinen Bartstoppeln stören. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, fühlte er sich frisch und fit und fing an, sich auf das baldige Wiedersehen mit seiner Freundin zu freuen. Zuvor jedoch musste er unbedingt etwas essen; sein Magen fing schon an, ungeduldig zu knurren.

In dem Backshop kaufte er sich zwei Croissants und einen Café-latte-to-go und trug beides zurück zu seinem Auto. Entspannt setzte er sich hinter das Steuer und frühstückte. Nebenbei tippte er Marines Adresse in sein Navi ein. Als er die Croissants gegessen hatte, wischte er sich die Hände mit der Serviette ab, in die sie eingewickelt gewesen waren, trank den Rest seines Kaffees und fuhr los. Das Navigationsgerät führte ihn quer durch die Stadt, deren Namen er kaum aussprechen konnte: Schwedeneck. Ein hübsches, sauberes Städtchen, etwa so groß wie Aix-en Provence, schätzte er. Die Straße, in die das Navi ihn schließlich schickte, lag am Rand des Ortes und machte einen geradezu vornehmen Eindruck. Die Fahrt endete vor einem villenartigen Wohnhaus, das in einem gepflegten Garten lag. Pierre kam sich mit seinem Transporter ziemlich fehl am Platz vor, als er in der Einfahrt hielt. Hier also lebte die Familie Köhler, bei der Marine arbeitete. Pierre war beeindruckt.

Er klingelte. Die Haustür wurde von einem Kind geöffnet, einem Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Das musste Bernadette sein, von der Marine geschrieben hatte. Die Älteste der drei Kinder, für die sie zuständig war. Plötzlich fiel Pierre ein, dass er kaum ein Wort Deutsch sprach.

„Hallo“, war alles, was er herausbrachte.

Das Mädchen sah ihn neugierig an.

„Guten Tag“, sagte sie höflich.

„Bonjour“, erwiderte er ihren Gruß. Er wusste nicht, wie er sein Anliegen deutlich machen sollte. Hilflos lächelte er das Mädchen an. „Marine? Ich ...“ er wies auf sich selbst, „ Pierre.“

Das Mädchen verstand sehr schnell.

„Ah, Sie wollen Marine besuchen. Das tut mir Leid, Marine hat heute frei. Sie ist mit Freunden unterwegs.“

Pierre deutete den bedauernden Gesichtsausdruck des Mädchen und ihr Kopfschütteln richtig. Marine war anscheinend nicht da. Seine Enttäuschung war grenzenlos; damit hatte er nicht gerechnet.

Bernadette sah ihn mitleidig an.

„Où .. . Wo ... Marine?“ fragte er.

Bernadette hob die Schultern. „Keine Ahnung“, sagte sie.

„Wann ... zurück?“

„Abends“, sagte Bernadette. Sie sah, dass Pierre sie nicht verstand, und malte eine Eins und eine Acht für 18.00 Uhr auf ihren Handrücken.

Pierre überlegte. Die Geste des Mädchens hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er bedeutete ihr, dass er etwas aufschreiben wollte, eine Nachricht für Marine. Sie verstand sofort, lief ins Haus zurück und kam mit einem Stück Papier und einem Kugelschreiber zurück. Pierre setzte sich auf die Stufen des Eingangs und schrieb, dass er hier sei und Marine ihn so bald wie möglich anrufen solle. Dann gab er Bernadette den Brief, sagte „merci beaucoup“, hob zum Abschied die Hand und stieg wieder in seinen Dacia.

Nun musste er sehen, wie er die nächsten Stunden bis zum Abend totschlagen konnte. Er beschloss, sich die kleine Stadt näher anzusehen und ein bisschen in der Gegend herum zu fahren.

Der Gerichtsmediziner

Die junge Frau sah aus, als habe sie sich zum Ausruhen an den Fuß der alten Eiche niedergelegt. Erst beim näheren Hinsehen fiel Eberhard Wessels auf, dass ihr weißes T-shirt und die dünne Yvess nass waren und an ihrem Körper klebten. Auch die rostroten Locken, die das blasse Gesicht in wilden Büscheln umstanden, waren feucht. Es hatte in der Nacht geregnet, der Boden unter der Leiche war jedoch trocken. Offenbar lag die Tote schon mehrere Stunden hier, unweit der Straße, die das Siedlungsgebiet am Stadtrand von einem Waldstück abgrenzte. Eberhard trat neben seine Kollegin, Kommissarin Anne Hofer, die sich genau wie er in dem unförmigen weißen Schutzanzug nicht recht wohl zu fühlen schien, und gemeinsam beobachteten sie den Gerichtsmediziner, Dr. Carlos Cunt, der neben der Leiche kniete und sie untersuchte.

„Können Sie schon etwas sagen, Doktor?“, fragte Anne.

„Nur Geduld, junge Frau“, erwiderte der grauhaarige Mediziner in seiner ruhigen Art. Er drehte den steifen Körper auf die Seite und besah sich den Rücken. Hier und da drückte er auf die dunkelroten Flecken, die sich am Rücken der Toten zeigten, als er das Shirt noch oben schob. Dann inspizierte er den Kopf der Toten, um eventuelle Verletzungen des Hinterkopfes zu entdecken, betrachtete ihre Arme, indem er die Ärmel ihres Shirts nach oben streifte, inspizierte ihre Hände und Fingernägel, dann die Beine und zuletzt die Füße, die in leichten Sommersandalen steckten. Anschließend stand er auf und streckte seinen Rücken.

„Was ich nach der ersten Inaugenscheinnahme sagen kann, ist Folgendes: Sie liegt seit mehreren Stunden hier, das zeigen die Totenflecken am Rücken. Wie es aussieht, ist sie nach ihrem Tod bewegt worden; ich habe einige kleine Vibices, das sind winzige Totenfleckblutungen, an unverfärbten Stellen, entdeckt. Genaueres kann ich erst nach der Leichenschau sagen. Wahrscheinlich ist sie transportiert und hier abgelegt worden, und zwar, bevor es in der Nacht anfing zu regnen. Der Wetterdienst kann Ihnen da sicher genaue Auskunft geben. Der Tod muss etwa vor acht bis zehn Stunden eingetreten sein. Das schließe ich daraus, dass die Temperaturen heute Nacht bei etwa fünfzehn, sechzehn Grad gelegen haben dürften und der rigor mortis, das heißt, die Totenstarre, noch nicht vollständig eingetreten ist.“

Er wies auf den Hals der Toten. „Sie wurde erwürgt, mit bloßen Händen. Man sieht deutlich die Male der Daumen an ihrem Hals. Sehen Sie, hier und hier. Der Mörder hat dabei große Kraft aufgewendet; der Kehlkopf scheint, soweit ich sehe, eingedrückt worden zu sein.“

Der alte Gerichtsmediziner schüttelte voller Bedauern den Kopf.

„So ein junges Ding! Traurig!“ Er sammelte seine Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen. „Alles Weitere sage ich Ihnen, wenn ich sie auf dem Tisch gehabt habe. Schönen Tag noch, Kollegen!“

Eberhard und Anne nickten. Das aufdringlich laute Brummen eines Motorrades lenkte ihre Aufmerksamkeit Richtung Straße.

„Sieh an, Kollege Dannman hat es auch noch hierher geschafft“, lästerte Anne. Beide sahen dem jungen Mann entgegen, der nun, mit dem Motorradhelm unter dem Arm, durchs Unterholz stapfte und auf sie zu kam: Kommissar Jan Benjamin Dannman. Er hatte sich ebenfalls in den Overall gezwängt, den ihm einer der Spurensicherer gereicht hatte, und seine Schuhe mit einer hellblauen Plastikhülle versehen.

„Entschuldigung, ging nicht eher“, sagte er, „die Kiste wollte wieder mal nicht anspringen.“ Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und zuckte bedauernd mit den Schultern.

Eberhard musste grinsen. Es war nicht das erste Mal, dass sein Kollege Schwierigkeiten mit seinem Motorrad hatte. Eberhard konnte die Leidenschaft für die schnittige Honda gut verstehen, hatte er doch früher selbst eine solche Maschine gefahren. Dieses Gefühl von Freiheit, die vibrierende Kraft des Motors unter einem, die man unmittelbar spürte ... Er seufzte unmerklich.

“Was haben wir denn hier?“, fragte Jan Benjamin mit einem Blick auf die Tote. Er strich sich mit beiden Händen durch seine vom Motorradhelm zusammengedrückten dunkelblonden Haare und trat nahe an die Tote heran.

„Eine Leiche, wie du siehst“, antwortete Anne schnippisch.

Ihr hübsches schmales Gesicht verzog sich zu einer unwilligen Grimasse. „Dr. Cunt war schon da.“ Mit einer ärgerlichen Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres Haares hinters Ohr. Jan Benjamin hob pikiert die Augenbrauen über ihren unfreundlichen Ton.

„War nicht meine Schuld, entschuldige bitte! Die paar Minuten!“

Anne wich seinem Blick hartnäckig aus, verschränkte die Hände vor der Brust und starrte in die Luft. Jan Benjamin schüttelte unwillig den Kopf und wandte sich demonstrativ von ihr ab. Eberhard blickte verwundert von einem zum anderen. Seit Tagen waren die beiden wie Hund und Katze zueinander. Irgendetwas muss vorgefallen sein zwischen ihnen, dachte er. Aber jetzt war nicht die Zeit und der Ort, sich mit den persönlichen Animositäten seiner Mitarbeiter zu befassen.

„Was kannst du uns über sie sagen, Anne?“, fragte er die junge Kommissarin in ruhigem Ton, bemüht, wieder zu einer angemessenen Sachlichkeit zurückzukehren.

„Nicht viel. Sie hatte keine Handtasche bei sich, keinen Ausweis, kein Handy. Wir müssen bei Null anfangen.“ Anne, nun voll auf ihre Arbeit konzentriert, nagte an der Unterlippe, während sie nachdenklich um die Tote herumging. „Ich schätze, sie ist um die zwanzig. Die Fingernägel sind sauber, aber unlackiert, ebenso die Zehennägel. Sie macht einen gepflegten Eindruck. Die Kleidung ist nichts Besonderes, Yvess und T-shirt. Normal eben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte leicht den Kopf. „Was kann sie getan haben, dass jemand sie so brutal umbrachte? Da muss viel Wut dahinter gesteckt haben. Oder Verzweiflung.“

Eberhard nickte zustimmend.

„Übernehmt ihr es bitte, alles in die Wege zu leiten, um ihre Identität festzustellen? Melderegister, Polizeiakten, Fingerabdruckkartei, ihr wisst schon. Und gebt ein Foto an die Presse. Wir müssen herausfinden, wer das Mädchen war.“

Anne nickte, hob zum Abschied die Hand und machte sich auf den Weg. "Ach, und die Befragung der Leute hier in der Gegend: Organisierst du das, Jan-Benjamin?" Der Kommissar nickte und folgte Anne in einigem Abstand.

Eberhard sah sich um. Die Leute von der Spurensicherung hatten sich auf dem Gelände verteilt und suchten die Umgebung akribisch nach verwertbaren Gegenständen oder irgendwie gearteten Hinweisen ab. Hinter dem weiß-roten Absperrband hatten sich schon einige Schaulustige versammelt.

„Wer hat die Leiche überhaupt gefunden, Anne?“, rief er seiner Kollegin hinterher.

„Die beiden Jungs dort, bei dem Polizisten“, antwortete sie und wies in die entsprechende Richtung.

„Okay. Ich werde mal mit ihnen reden.“

Der Kommissar bahnte sich durch das Unterholz einen Weg zum Rand des Waldes und trat zu den Kindern, die bei Polizeiobermeister Nüssler standen und immer noch sehr aufgeregt zu sein schienen. Eberhard kannte Nüssler recht gut; der korpulente Leiter der Bereitschaftspolizei in Schwedeneck war jedem Einwohner des Städtchens wohlbekannt. Man schätze ihn wegen seiner leutseligen, freundlichen Art, mit der er seit Jahrzehnten seinen Dienst versah.

„Moin, Maik“, sprach Eberhard ihn an. „Das ist ja eine schlimme Sache hier, was?“

„Das kann man wohl sagen“, pflichtete der Polizeiobermeister ihm bei. „So etwas haben wir nicht alle Tage.“

„Und das sind die beiden Helden, die die Leiche entdeckt haben, was?“ Eberhard musterte die Jungen. „Wie heißt ihr denn?“

Der Ältere der beiden, ein kräftig gebauter Junge von etwa zwölf Jahren mit einem sommersprossigen Lausbubengesicht, wechselte einen Blick mit seinem Freund und sagte dann:

„Ich bin Andreas Klingler und das ist Kurt Pettings. Wir wohnen hier in der Siedlung.“

„Gut. Eure Adresse hat sich Herr Nüssler sicher schon notiert, oder?“

Alle drei nickten.

„Was habt ihr denn so früh hier gemacht, ihr beiden?“

„Wir haben uns an der Haltestelle da vorne getroffen und auf den Schulbus gewartet, wie immer.“

Der Kommissar sah in die Richtung, in die der Junge wies.

„Aber von dort aus konntet ihr das Mädchen doch gar nicht sehen. Es steht viel zu viel Gebüsch davor.“

„Also, das war so. Ich hatte vergessen, dass wir für den Kunstunterricht ein Landschaftsfoto mitbringen sollten, für einen Linoldruck. Deshalb wollte ich noch schnell ein Foto hier im Wald machen, mit meinem Handy. Und da hab ich sie gesehen.“

„Aha, so war das also. Und als du sie gesehen hast: Was hast du da gemacht?“

„Zuerst hab ich gedacht, sie schläft. Das fand ich komisch. Aber dann hab ich gesehen, dass sie sich gar nicht bewegte. Und dass sie ganz nass war. Dann hab ich Kurt gerufen, und wir haben sie von Nahem angeschaut. Da haben wir gemerkt, dass sie tot war.“

Kurt, der bisher noch nichts gesagt hatte, nickte eifrig.

„Und dann haben wir 110 gewählt und die Polizei gerufen“, sagte er.

„Das war genau richtig, Jungs, das habt ihr gut gemacht. Ihr habt die Frau doch hoffentlich nicht angefasst? Oder irgendetwas, was sie bei sich hatte?“

Entsetzt sahen die Jungen ihn an. „Nein, ganz bestimmt nicht!“

„Habt ihr irgendwo eine Handtasche liegen sehen? Oder sonst etwas, was dem Mädchen gehört haben könnte?“

Kopfschütteln. Dann fiel Kurt etwas ein.

„An der Bushaltestelle steht ein pinkes Fahrrad. Das könnte ihr gehören. Sonst steht da nie ein Fahrrad.“

„Gut, dass du uns das sagst, Kurt. Das ist ein ganz wichtiger Hinweis. Danke.“

Kurt errötete vor Freude über das Lob. Andreas dachte schon weiter.

„Wie kommen wir denn jetzt zur Schule? Wir haben den Bus ja verpasst.“

„Ich denke, Polizeiobermeister Nüssler wird euch zur Schule bringen. Oder wollt ihr lieber nach Hause gehen? Es geschieht ja nicht alle Tage, dass man eine Leiche findet. Später wird noch einmal jemand mit euch sprechen und fragen, wie es euch geht. Okay?“

„Nee, wir gehen lieber zu Schule.“

Der Kommissar sah den beiden nach, wie sie eifrig miteinander flüsternd hinter dem Polizisten her gingen und in das Polizeiauto stiegen. Sicher freuten sie sich schon darauf, ihren Schulkameraden die sensationelle Botschaft verkünden zu dürfen. Er musste schmunzeln. Die haben den Schock sehr schnell überwunden, dachte er.

Plötzlich hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er sah sich um. Am Rande der Absperrung stand seine Mutter und winkte ihm aufgeregt zu.

Das ungute Gefühl war immer noch da, als Trude nach dem Frühstück die Küche aufräumte. Helgarth war mit den Kindern unterwegs zur Schule, und es war wieder still im Haus. Trude machte sich Sorgen. Ein Mord! Hier in ihrem kleinen Städtchen, in dem selten etwas Aufregenderes geschah als eine Prügelei unter Betrunkenen oder Einbrücke in Wohnhäuser oder Schulen.

Na gut, vor ein paar Monaten hatte es gebrannt. Das alte Haus der Familie Dewitz war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Eine Gasexplosion, wie sich herausstellte. Grund war eine defekte Gasleitung gewesen. Gott sei Dank hatten sich das Ehepaar Dewitz und die drei Kinder rechtzeitig retten können, mit nur leichten Rauchvergiftungen.

Okay, wenn sie genauer darüber nachdachte, war es nicht nur die Sorge um die Sicherheit der Bewohner, was sie beunruhigte, auch nicht nur das Mitgefühl mit dem Opfer. Es war aufregend! Und unglaublich spannend! Wer weiß, dachte sie, welches verhängnisvolle Schicksal sich hinter dieser Gewalttat verbirgt? Ein Verbrechen aus Leidenschaft vielleicht? Oder ein Racheakt? Vielleicht war es aber auch ein kaltblütig geplanter Mord, um jemanden zum Schweigen zu bringen? Auf jeden Fall war es ein Rätsel, das es zu lösen galt. Wie sie Eberhard, den Kriminalkommissar, um diese Aufgabe beneidete!

Wie dem auch sei. Jetzt wollte sie erst einmal ins Freie und den sonnigen Tag genießen.

Sie zog ihre Joggingsachen an, nahm die Walkstöcke, steckte ihre Papiere, etwas Geld und den Schlüsselbund ein und verließ das Haus. Im Vorgarten blieb sie stehen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Herrlich, diese frische Luft! Sie wandte sich nach rechts Richtung Stadtrand und marschierte mit zügigen Schritten den Bürgersteig entlang. Es herrschte vormittägliche Stille zwischen den schmucken Einfamilienhäusern: Die Erwachsenen gingen ihrer Arbeit nach, die Kinder waren in der Schule, nur ein paar Senioren oder Hausfrauen traf man um diese Zeit zu Hause. an.

„Moin, Frau Wessels!“, rief ihr die alte Frau Kowalewsky, die trotz ihrer Jahre - sie musste weit über achtzig sein, schätzte Trude - schon fleißig Unkraut jätete in den Staudenbeeten vor ihrem Haus. Trude bekam sofort ein schlechtes Gewissen, als sie an ihren Gemüsegarten dachte, der auch längst wieder in Ordnung gebracht werden musste. „Schönes Wetter heute, was?“

„Moin, Frau Kowalewsky“, antwortete Trude, ohne jedoch ihren Schritt zu verlangsamen. „Ja, wirklich schön. Das muss man ausnutzen“, ergänzte sie. „Schönen Tag noch!“ Schon war sie vorbei am Gartenzaun der alten Frau, die ihr enttäuscht hinterher sah. Trude hatte heute keine Lust, sich zu einem kleinen Schwätzchen aufhalten lassen, wie sie es sonst gerne tat, dazu war sie zu unruhig.

Sie setzte ihren Weg zügig fort. Die Straße mündete am Rande des Wohngebietes in einem befestigten Spazierweg, der in ein längliches Waldstück führte: Trudes bevorzugtes Walkgelände. Die Hundebesitzer, die in der Siedlung im Süden der Kleinstadt wohnten, pflegten hier ihre zweibeinigen Lieblinge Gassi zu führen; deshalb standen am Wegesrand in angemessenen Abständen Papierkörbe mit einer Vorrichtung, der man Plastiktüten entnehmen konnte für den Hundekot. Trude hatte sich beim Stadtrat ihres Bezirks für diese Einrichtung stark gemacht, war sie doch schon mehr als einmal mit höllisch stinkenden Schuhsohlen vom Walken nach Hause gekommen.