Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben - Anika Decker - E-Book

Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben E-Book

Anika Decker

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Geh raus, Schatz, und leb mal wieder. Heute wird geknutscht.« Nina: bald fünfzig, geschieden, Mutter von zwei Kindern. Ihren Zustand beschreibt sie so: leichte Aggressionen, aufkommender Zynismus, Brustspannen. Nicht, dass sie ihrem Ex die Ehe mit der jungen Influencerin und »Zwillings-Mama« missgönnen würde, ihr sind lediglich einige Details aufgefallen, die in ihrem Kopf herumgeistern: ihre Anderthalb-Zimmer-Wohnung im Vergleich zur repräsentativen Villa ihres angeblich bankrotten Ex beispielsweise. Doch dann geschieht, was Nina nicht glauben will: Sie verliebt sich in den zwanzig Jahre jüngeren David und bringt damit ihre fragile Lebenskonstellation ins Wanken. Denn jeder hat eine Meinung dazu, inklusive sie selbst, und wenn sie glücklich werden will, muss sie ihr Leben neu aufrollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 550

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Nina: bald 50, geschieden, Mutter von zwei Kindern. Ihren gegenwärtigen Zustand beschreibt sie mit leichten Aggressionen, Unruhe, aufkommendem Zynismus und Brustspannen. Nicht, dass sie ihrem Ex-Mann die Ehe mit der blutjungen Influencerin und »Zwillings-Mama« missgönnen würde, ihr sind lediglich einige Details aufgefallen, die auch jetzt noch in ihrem Kopf herumgeistern, beispielsweise ihre Anderthalb-Zimmer-Wohnung im Vergleich zur repräsentativen Villa ihres angeblich bankrotten Ex-Mannes.

Doch dann geschieht, was Nina einfach nicht glauben möchte: Sie verliebt sich in den zwanzig Jahre jüngeren David und bringt damit ihre fragile Lebenskonstellation ordentlich ins Wanken. Denn jeder hat eine Meinung dazu, inklusive sie selbst.

Und wenn sie glücklich werden will, muss sie ihr Leben neu aufrollen.

Anika Decker

Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben

Roman

Leichte Aggressionen, innere Unruhe, aufkommender Zynismus, Brustspannen. Zu großzügig mit der Östrogencreme und dem extra für Frauen in den Wechseljahren in der Apotheke abgemischten Testosteron umgegangen?

Nina

Das erste Mal, dass ich ihn sah, war auf dem Kindergeburtstag der Zwillinge. Mein Ex-Mann Phil hatte sich in seiner zweiten Ehe tatsächlich zu mehreren In-vitro-Versuchen überreden lassen. Mich wundert in Bezug auf diese Unternehmung erstens, dass er einen Kinderwunsch verspürte, nachdem ich ihn circa zwanzig Jahre lang an die Geburtstage unserer beiden Kinder erinnern musste. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals mit ihnen auf einer Schaukel, einer Wippe oder in einem Kriechtunnel gesehen zu haben. Zweitens ist es mir ein Rätsel, wie die Ärzte seine Spermien zu dieser übermenschlichen Leistung haben motivieren können. Phil empfindet sich als Weinkenner, säuft aber eigentlich seit Jahren. Der Unterschied zwischen ihm und einem armen Teufel, der vorm Karstadt sitzt, ist der Sachwert der einzelnen Flasche und dass unser Karstadt-Freund angenehmerweise die Klappe hält über Jahrgang, Abgang und das erlesene Weingut in fucking Südfrankreich, wo der gute Tropfen erstanden wurde.

Leute wie mein Ex-Mann gehen tatsächlich so weit, Weinreisen zu unternehmen, um sich selbst zu beweisen, dass sie keine Alkoholiker sind. Jemand, der genießt und der imstande ist, dich einen ganzen Abend über Trauben vollzuschwafeln, kann ja unmöglich ein Alki sein. Fakt ist, bei einem Abendessen mit einem Grüppchen Unternehmensberater um die fünfzig haben alle spätestens nach dem Hauptgang rosa Weinzähne und eine Fahne, bei der es einem den Atem verschlägt. Ich weiß das so genau, weil ich zwanzig Jahre lang Phils Geschäftsfreunde bei uns zu Hause bekocht habe.

Aber das war damals, als ich noch eine Gattin war. Damals, als ich noch ein Ankleidezimmer, aber auch einen Hauswirtschaftsraum besaß. Heute wohne ich in einer Anderthalbzimmerwohnung. Meine Wäsche trocknet über der Badewanne. Ich bin sehr froh, dass ich überhaupt eine Badewanne habe. Ich war sehr dumm, als ich den Ehevertrag unterschrieben habe. Ich war noch dümmer, als ich damit einverstanden war, das kleine Erbe meiner Eltern in die Anzahlung für das Haus zu geben, das Haus, das mir nie gehört hat, wenn man dem Grundbuchamt glaubt.

Meine Haupteigenschaft ist Wut und direkt danach kommt die Enttäuschung. Ich bin selbst schuld daran. Ich hätte früher checken müssen, wie das mit dem deutschen Scheidungsrecht läuft, ich hätte wissen müssen, dass der Hausfrauenjob »den Kindern zuliebe« ein unglaublich mieser Deal ist. Wenn ich heute die alten Hochzeitsbilder anschaue, mich in meinem stilvoll reduziert wirkenden champagnerfarbenen Slip Dress betrachte und mit den Beach Waves mitten in Berlin, in der völligen Abwesenheit eines Strandes, sehe ich einfach nur eine Idiotin im weißen Kleid. Ich habe geheiratet, ohne den Hauch einer Ahnung davon zu haben, was ich da unterschrieben hatte. Wenn man den Behörden glaubt, ist mein Ex-Mann sehr arm. Er besitzt nichts als die Berge von Schulden aus seiner eigenen Kanzlei, deswegen hatten wir in der Ehe auch keinen Zugewinn. Emotional war er in der Ehe auch nicht unbedingt ein Zugewinn, aber das ist eine andere Geschichte. Vor unserer Hochzeit habe ich wochenlang nach dem perfekten Kleid gesucht, weil es das Hauptthema zwischen mir und meinen Freundinnen war. Ich hätte mich stattdessen mit Scheidungsanwältinnen treffen sollen. Man sollte Infostände vor Spielplätzen aufbauen, obwohl, dann ist es ja sowieso zu spät. Man sollte Flugblätter vor Absturzbars verteilen, in denen die Menschen beziehungsweise Frauen über die Bedeutung der Zugewinngemeinschaft informiert werden. Nein, es ist eben genau nicht die Hälfte von allem, was man sich seit der Eheschließung gemeinsam angeschafft hat. Ist es eben einfach überhaupt nicht. Es ist sehr, sehr viel weniger als das. Und davon irgendein ganz jämmerlicher Prozentsatz. Wenn du dann auch noch so blöd warst, ein paar Jahre zu Hause zu bleiben, viel Glück. Versuch mal, in einen vernünftigen Job hineinzukommen, scheitere (natürlich) und sei froh, wenn du es in einen desaströs bezahlten Medienjob schaffst, so wie ich.

Ich besuchte also meinen auf dem Papier bettelarmen Ex-Mann in seiner geräumigen Villa, mit seiner jungen Influencerinnen-Ehefrau (»Hey Ladys, es ist wieder Zeit für Achtsamkeit mit Lulu!«) und den dreijährigen Zwillingen. Lulu hat zweitausend Follower und ungefähr eine Gehirnzelle. Ich würde jetzt gerne sagen, dass sie dafür aber wenigstens »eine ganz, ganz Liebe« ist, ist sie aber nicht. Sie ist hochmütig und verachtet alle Dicken. Genauer gesagt sind mit »dick« alle Frauen ab Kleidergröße 38 gemeint. Für Männer gilt das nicht, sofern sie einen Job in der Führungsetage vorweisen können.

Habe ich schon erwähnt, dass Lulu nur ein paar Jahre älter ist als Phils und meine Tochter Marie und fast genau so alt wie unser Sohn Ben, der in England lebt? Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, dass Marie TikTok-Videos mit Lulu und den Zwillingen aufnimmt, in denen sie eine Choreografie zum Thema »Wasser ist für alle da« und »Klimaschutz« tanzen? Die G-Klasse von Phil kommt darin nicht vor. Meine Tochter ist eigentlich zu klug dafür, wurde aber von Phil gekauft mittels einer Studentenbude mit Dachterrasse. Ich habe meinen mittlerweile erwachsenen Kindern versprochen, ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater zu pflegen – und hier bin ich, mit einer lustigen Tiermaske, Fingerfarben und dem falschesten Lächeln der Welt!

Als Erstes entdecke ich durch das große Sprossenfenster Phil, der im Garten verloren zwischen dem riesigen Grill und den zahlreichen Kindern, inklusive seiner Zwillinge, herumsteht und raucht. Für sein Alter sieht er immer noch gut aus mit den nur minimal ergrauten Schläfen und dem geföhnten Seitenscheitel. Seine Attraktivität ging allerdings schon immer mehr in Richtung vertrauenerweckender Typ, der dir eine Versicherung verkauft und dem du eher nicht sofort das gebügelte Polohemd vom Leib reißt.

Phil hatte nicht damit gerechnet, dass die künstliche Befruchtung klappt. Die miesen sein Alter betreffenden Zahlen in den Statistiken haben ihn damals extrem beruhigt, sodass er leichtfertig Lulus Drängen nachgegeben hat, bei einer Fruchtbarkeitsbehandlung »mitzumischen«. Wider Erwarten war seine junge Frau bereits nach dem ersten Versuch mit den Zwillingen schwanger. Er liebt die kleinen Wesen, wie er all seine Kinder liebt, aber sie sind einfach auch sehr laut.

Wenn ich Phil heute sehe, ist es mir ein Rätsel, wie ich in diese Ehe hineingeraten bin. Die bittere Wahrheit könnte sein, dass ich einfach zu höflich war, um alle um mich herum vor den Kopf zu stoßen. Und selbst darin habe ich mich offenbar getäuscht. Mittlerweile weiß ich, dass meine Mutter ihn von Anfang an nicht leiden konnte, auch meine Freundinnen von der Uni konnten nicht sonderlich viel mit ihm anfangen. Das hat sich bloß alles in meinem höchst verunsicherten Kopf angespielt.

Im Laufe meines Kunststudiums war mir so oft die Frage gestellt worden, was überhaupt der Sinn und Zweck und vor allem das Ziel dieser Unternehmung sei, dass ich es irgendwann selbst nicht mehr so genau wusste. Einfach zu sagen: »Keine Ahnung, Kunst interessiert mich eben«, kam mir aus rätselhaften Gründen nicht in den Sinn. Stattdessen überfiel mich die nackte Panik, sodass ich irgendwann keine Nacht mehr ruhig schlafen konnte. Die Arbeitsräume und Ateliers, in denen wir Kreatives schaffen sollten, versetzten mich in eine Art Schockstarre. »Hast du dir wirklich eingebildet, du könntest eine Künstlerin werden?«, höhnte die Stimme in mir wieder und wieder, bis ich überhaupt nicht mehr zur Uni ging. Ich lag einfach da in meinem WG-Zimmer, rauchte und starrte die Wand an. Ich ging aus und trank zu viel. Ich habe mich oft gefragt, ob ich meine Krise irgendwann selbst überwunden hätte. Vielleicht hätte ich Verbündete gefunden, denen es ähnlich ging? Ich werde es nie herausfinden.

Damals arbeitete ich in einer Wäscherei und Reinigung am Ku’damm. Phil war während seines Studiums einer unserer Stammkunden. Wie ein edler Retter und die Lösung aller Probleme kam er mir vor, als er fragte: »Darf ich Sie einmal zum Essen ausführen?«

Ich erinnere mich daran, dass ich ihn beobachtete, wie er im schicken Restaurant sorgsam und selbstsicher den Wein auswählte. Ich dachte: Er hat alle Eigenschaften, die ich nicht habe. Da ist jemand, der den für ihn vorgesehenen Platz im Leben bereits kennt und keine Zweifel daran hat, ihn auch zu erreichen. Vor mir sitzt ein Mann, der sich sicher nie morgens um drei eine Zigarette am Toaster angezündet hat.

Die Sache nahm ihren Lauf, Phil gab mir klar zu verstehen, dass emotionaler Wankelmut in seinem Leben keinen Platz hatte, und ich wollte um jeden Preis die Frau sein, die ihm bewies, dass sie sich in ihrer Gefühlswelt bestens auskannte und nichts hielt von feigen Rückziehern. Ich war so beschäftigt damit, mich und meinen tadellosen Charakter unter Beweis zu stellen, dass ich vergaß, darauf zu achten, ob ich auch wirklich verliebt war oder einfach nur komplett verloren in der Welt.

Ich habe bis heute keine Ahnung, warum Phil sich so schnell und sicher für mich entschieden hat, es kann dabei unmöglich um meine Persönlichkeit gegangen sein. Die ist ihm bis heute fremd.

Als ich Phils Vater kennenlernte, sagte dieser laut am Esstisch: »Die ist zu hübsch für eine Ehe.«

Ich erinnere mich daran, dass ich mich am selben Abend und später immer wieder gefragt habe, was er damit wohl gemeint hatte. Ich speicherte ab, dass ich Misstrauen erregte, und versuchte stetig, alle Verdächtigungen zu widerlegen.

Ich war die pünktlichste aller Mütter, ich backte die schönsten Geburtstagskuchen, ich unterstützte meinen Mann in allen Belangen, bis nichts mehr von mir übrig war. Lustigerweise war es dann am Ende Phil, der mich nach neunzehn Jahren betrog und damit uns beide aus unserer Musterehe befreite.

 

Ich bin von Lulu dazu eingeteilt worden, einen Stand im Garten aufzubauen und den Kindern Schmetterlinge oder kleine Tierschnauzen ins Gesicht zu pinseln. Dekoration und der Umgang mit Schminke sind das Einzige, was mir in der Familie zugetraut wird, schon allein deshalb, weil ich in einem in Bezug auf mein Alter unangemessenen Stadtteil wohne.

Es wundert mich nicht, schließlich habe ich stets dazu beigetragen, dass Phil als großer Held und Macher dastand. Ich war zufrieden mit der zweiten Reihe, als hübsche Kulisse, in der sich Phils aufregendes Leben abspielte. Ich habe ihm den Rücken freigehalten, den Kindern eine moderne, aber konsequente Erziehung angedeihen lassen und ein ziemlich ansehnliches Rosenbeet aus dem Nichts erschaffen. Das war es aber auch schon mit meinen Errungenschaften.

Wenn ich bei meinen Besuchen die Rosen sehe, versetzt es mir immer noch einen Stich. Sie sind so wunderschön, wild und farbenprächtig, dass es mir jedes Mal den Atem verschlägt. »Rosen lieben Luft und Licht«, stand in dem Gartenbuch, das ich mir damals zum Einzug in die Villa gekauft hatte. Als ich diesen Satz las, beschloss ich, einen Rosengarten anzulegen.

Insgesamt brauchte ich dafür volle drei Jahre. Inmitten der blassrosa, weißen, gelben und korallenroten wilden Rosen steht immer noch meine Bank, die ich auf dem Flohmarkt an der Straße des 17. Juni auf dreißig Euro heruntergehandelt und zu Hause abgeschliffen und lackiert habe. Dort habe ich jeden Morgen gesessen und meinen Kaffee getrunken, überwältigt vom Duftmeer, das ich erschaffen hatte.

Die schon immer viel zu herrschaftliche Villa wollte ich nie haben. Sie wirkt kalt und eckig und hat viel zu kleine Fenster, durch die wenig Licht einfällt. Zwischen den weißen Säulen, die den Eingang säumen, habe ich mich immer sehr verloren gefühlt. Von vorne sieht das Gebäude aus wie ein bedrohlicher großer Schwan. Alles im Inneren ist mit Marmor gefliest und völlig überdimensioniert. Winzig klein kommt man sich vor, wenn man vor dem riesigen Marmorkamin im ungemütlichen Wohnzimmer Platz nimmt.

Tief in Gedanken durchquere ich die ersten drei sinnfreien Räumlichkeiten, um meine auf dem Kinderflohmarkt erstandenen Geschenke für die Zwillinge auf dem Geschenketisch abzustellen (ein Puzzle und irgendwas zum Zusammenbauen). Im Kaminzimmer (es gibt natürlich nicht nur EIN Wohnzimmer. Es gibt das Kaminzimmer, die Bibliothek, die zu hundert Prozent mit Coffee Table Books gefüllt ist, und ein Herrenzimmer voller Möbel, die geerbt aussehen sollen) … im Kaminzimmer also hängen mindestens drei gerahmte Fotografien vom »Babyshooting«: die halb oder ganz nackte Lulu mit den Zwillingen auf dem Arm. Der Grad von Lulus Nacktheit lässt sich nur erahnen, weil die nackten Babys die Sicht blockieren. Heutzutage kann jede Grunewalder Ehefrau sich ihren Traum vom international gefragten Topmodel erfüllen, indem sie sich von einem drittklassigen und auf dem großen Parkett gescheiterten Fotografen nackt und in künstlerischem Schwarz-Weiß, das junge Babyglück im Arm haltend, fotografieren lässt. Unweigerlich drängt sich allen im Westen Aufgewachsenen dabei die Erinnerung an die in der Schule per Gruppenbestellung gekauften Fotografiska-Poster auf, besonders das Motiv vom männlichen Model mit nacktem Oberkörper und Baby im Arm.

An diese geschmackliche Jugendsünde muss ich jedes Mal denken, wenn ich die im Haus verteilten Schwarz-Weiß-Bilder von Lulu und den Kindern sehe. Es gibt sie aus jeder Entwicklungsphase der Zwillinge, was hauptsächlich an ihrem Aussehen festzumachen ist. An Lulu ist allerhöchstens ein zunehmender Grad an Künstlichkeit zu erkennen, der hauptsächlich die Lippen und ihren absurden Busen betrifft.

»Schön, dass du es auch noch geschafft hast«, motzt es mir aus dem Mund meiner jüngeren Schwester Lena entgegen. Ich weiß, sie kann nichts dafür, aber sie hatte schon immer diese nervtötend bräsige Stimme, die es einem schwer macht, sie als Sympathieträgerin wahrzunehmen.

Lena sieht mittlerweile tatsächlich aus wie eine Westberliner Besserverdiener-Mutti. Seit dem Umzug aus Hannover hat sie sich ziemlich gewandelt. Wie eine Grunewald-Barbie besitzt sie nun alle notwendigen Accessoires, um dazuzugehören: den unsäglichen fisseligen Pagenschnitt mit Haarreif, klobige schwarze Ballerinas und eine Art Kinderkleid ohne Taille, aber mit einer riesigen Schluppe vorne. Dazu trägt sie ihren stets angesäuerten Blick.

»Ich warte hier seit zwanzig Minuten auf dich. Du wolltest doch noch die Karte für die Zwillinge unterschreiben.«

Sie hat eine Tupperdose mit Henkel in Form eines Kuchens dabei, wahrscheinlich, um sie draußen beim Buffet abzugeben. Steht sie seit ihrer Ankunft mit dem Kuchen in der Hand so da, oder ist die Zeitangabe einfach nicht korrekt und zielt allein darauf ab, dass ich mich mies fühle? Es funktioniert sofort.

»Ich musste arbeiten, mein Chef hat mich nicht weggelassen«, sage ich schnell. Das zählt nicht als Ausrede, weil die meisten Frauen hier noch in ihrer Ehephase sind, deswegen keine Jobs und auch kein Verständnis für die Alltagsprobleme der niederen Klassen haben. Vielleicht muss man noch dazusagen, dass ich gelogen habe. In Wirklichkeit habe ich mit meiner Kollegin Zeynep im Büro gekifft, um mich auf die bevorstehenden Geburtstagsstrapazen vorzubereiten.

Lena und ich stehen unentschlossen vor dem großen Tisch in Wohnzimmer 2 voreinander. Ich sage gespielt enthusiastisch: »Hier, ich habe Kinderschminke dabei. Alles bio.« Auch das ist gelogen. Ich habe ein paar untragbare Lidschattenfarben in ökig aussehende Töpfchen umgefüllt. Circle of Life.

»Die sind alle schon im Garten und warten, dass du anfängst«, quengelt Lena weiter.

Warum ist sie nur immer so unzufrieden? Ich unterdrücke mein Bedürfnis, sie danach zu fragen. Ich habe meine Erfahrungen damit gemacht und bin auch zu bekifft, um ihre Wut auf was auch immer auszuhalten.

»Super, ich freu mich schon«, sage ich stoisch. »Jetzt komm doch erstmal her.« Wir umarmen uns steif.

»Dann geh ich mal den kleinen Monstern sexy Smokey Eyes machen.« Mein Witz kommt nicht gut an. Lena sieht einfach nur sauer aus. Die ewige Angst meiner Schwester, nicht anerkannt zu werden im neuen spießigen Wohnviertel, von den anderen Müttern schlimmstenfalls »prollig« gefunden zu werden, rührt mich.

Ich erinnere mich daran, wie peinlich ihr unsere auffällig gekleidete Mutter war, wenn sie uns in ihren durchsichtigen Blusen und ohne BH von der Grundschule abholte.

Lena liebte alle Familienserien mit Peter Weck, wo die Väter Hemd und Pullunder trugen und die Mütter die Föhnfrisur von Lady Di. In diesen Serien gab es auch richtiges Mittagessen, nicht so wie bei uns, wo man sich im Keller an der Kartoffelkiste bedienen sollte oder meine Mutter uns einen Apfel mit zwei lustigen eingeschnitzten Augen zuwarf.

Ich sehe Lena als kleines Mädchen vor mir, mit dicker Pumuckl-Brille, in ihrer ehrgeizig gestreiften Latzhose und mit den dünnen Zöpfen, die immer gerade und exakt symmetrisch sein mussten. Lena wünschte sich schon immer nichts mehr, als Teil eines Rudels zu sein, ganz egal, wie dieses Rudel aussah.

Vor der Hackordnung im Grunewald wollte ich sie warnen, hörte mich dabei aber schon genauso an wie unsere Mutter: »Das ist doch so langweilig, wenn alle gleich aussehen.«

Lena glaubt mir nicht, dass ich nicht hierher zurückwill, wahrscheinlich weil ich in ihren Augen gescheitert bin und heute ihren Albtraum lebe. Alles, was ich gegen ihr Leben sage, hört sich für sie an wie Neid.

Wenn ich die herausgeputzten Gattinnen im Garten betrachte, weiß ich ganz sicher, dass ich hier nie hingehört habe. Wie dumm ich doch war, zu denken, dass es einfach schön wäre, einen großen Garten zu haben.

Ich gehe hinter Lena hinaus auf die große Steinterrasse. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie einer der Mütter zuwinkt und sich zu ihr ans sommerliche Büfett gesellt.

Neben Lena, auf dem perfekt gepflegten Rasen, stehen mindestens zwanzig Ehefrauen, die zu Hause genau das gleiche Set-up haben, den Mann, die dazugehörigen zwei Kinder und diese absurd teure Daunenjacke, die meine Schwester gut sichtbar in ihrem Korb für abends mit sich rumträgt. Das alles ist ein Code, ein Regelwerk, nach dem man sich hier richten muss, sonst fällt man durch. Ich habe mich während meiner Ehe für besonders gehalten, weil ich weiterhin meine alten Trainingshosen und Vintage-Strickjacken trug, in denen ich für die anderen ausgesehen haben muss wie jemand, der eine unsichtbare Katze an der Leine führt und mit sich selbst spricht.

Jetzt sehe ich aus der Ferne, wie Lena sich bei einer Gruppe ausgezehrter Yogafrauen anbiedert. Sie hat sich wie zur Probierwoche in einem Supermarkt mit einem kleinen Häppchenteller dazugestellt.

Es scheint zu funktionieren. Diese Frauen haben immer Hunger, den sie unter der Woche, wenn sie beinahe ausschließlich von der abendlichen Weinschorle leben, erfolgreich unterdrücken. Lena steht jetzt richtig in der Gruppe, scheint ein paarmal zu einem Gesprächsbeitrag anzusetzen, kommt aber nicht zu Wort. Es stimmt mich ein wenig traurig für meine kleine Schwester, die sich so sehr anstrengt und gar nicht auf die Idee kommt, sich mal mit Leuten anzufreunden, die von sich aus Interesse an ihr haben. Vielleicht ist das auch meine Schuld. Eventuell hat sie an meinem Beispiel gesehen, wie einsam es hier werden kann, wenn man ausgegrenzt wird. Oder geht es ihr um ihre Kinder? Will sie nicht, dass ihnen das Gleiche blüht wie uns früher?

Lena lächelt so angestrengt, dass die Sehnen an ihrem Hals hervortreten.

Eine der Frauen spricht wahrscheinlich gerade darüber, wie sehr Achtsamkeitsübungen ihr Leben verändert haben, oder über ähnlichen Blödsinn. Sie tun alle so, als wären sie innerlich erleuchtet, was sich in Form einer sanft lächelnden Überheblichkeit bemerkbar macht. Niemand will in die Tiefe gehen, über eine Ehekrise sprechen oder gar über einen Krieg. Hier geht es nur darum, dass alles perfekt aussieht. Wer nicht reinpasst, wird weggebissen. Ich habe versucht, mit Lena darüber zu reden, aber sie denkt, es habe damals nur an mir gelegen, weil ich nirgends reinpasse, was auch wieder stimmt. Ich habe mich ziemlich oft gefragt, warum mich das angebotene Lebensmodell nicht glücklich gemacht hat. Lena bemerkt meinen Blick, ich sehe schnell rüber zu den Männern, die sich um den hochmodernen Weber-Grill versammelt haben. Sie sehen auch alle ähnlich aus. In der Freizeit wird hier Polohemd getragen, kombiniert mit einer Uhr, die in erster Linie teuer sein muss. Es wird auch viel über Uhren gesprochen, darüber, dass jetzt schon jeder Kellner im Borchardt eine Rolex hat. Dann wird gelacht. Das Borchardt ist das Restaurant, in das alle hier gerne gehen, auch wenn sie dort relativ miese Tische bekommen. So weit sind sie noch nicht, dass sie einen der Tische in der Mitte ergattern, die für die Berliner Prominenz aus Entertainment, Politik und Wirtschaft vorgesehen sind. Da muss man sich hinsaufen und hinverdienen. Auch dort existiert eine eigene Hackordnung.

Lenas Mann Flori ist auf dem besten Wege, irgendwann mal einen Mitteltisch im Borchardt, seinem persönlichen Sehnsuchtsort, zu bekommen. Gerade unterhält er sich mit einem befreundeten Anwalt über das Wagyu-Beef, das auf dem Grill liegt und trocken aussieht.

Flori hat es zu einer Führungsposition in einem der größten Medienkonzerne des Landes gebracht, zwar eher auf der unteren Ebene und noch in der Probezeit, aber immerhin. Im selben Konzern, nur ungefähr zehn Etagen darunter, arbeite ich in einem völlig unterbezahlten Job im Produktionsbüro einer Krimiserie, die von einem Kommissar handelt, den das Feuilleton als »unbequemes Raubein mit Kultstatus« bezeichnet. In Wirklichkeit ist er aber einfach nur ein Arschloch, sowohl die Serienfigur als auch der Schauspieler.

 

Für den neuen Job sind Flori und Lena mitsamt den beiden Mädchen von Hannover nach Berlin gezogen. Lena hat, kaum angekommen, umgehend mit ihrer Charmeoffensive begonnen. Sie hat sich freiwillig zur Kassenwartin und Mitorganisatorin des Schulbasars und des Kita-Sommerfestes aufstellen lassen, sie hat die Fahrten aller Kinder zum Tennis- und Geigenunterricht übernommen, im Prinzip übernahm sie einfach alle Scheiß-Jobs, die niemand anderes machen wollte. Typisch Lena. Sie weiß genau, wie Gruppendynamik funktioniert. Du musst die Menschen bei ihrer Bequemlichkeit packen, dann lassen sie dich hinein. »Fang nicht gleich wieder Streit an und mach bitte keine Witze über die Kinder«, hat mir Lena vorhin zugerufen, als ich durch die Flügeltüren hinausging.

Ich spüre den Blick meiner Schwester im Rücken, als ich die Terrasse verlasse und durch den Garten gehe. Lena hat sich bereits zur nächsten Müttergruppe, dem Epizentrum in Form von Lulu und ihren Freundinnen, vorgearbeitet.

Seit Neuestem kaufen sich alle diese Rüschenkleider mit Blumen darauf und Ärmeln, die größer sind als ihre Köpfe. Von Weitem sehen sie aus wie eine Volkstanzgruppe in Tracht. Warum kann ich diese hasserfüllten Gedanken eigentlich nicht abstellen? Bin ich wütend? Bin ich neidisch? Bin ich traurig? Irgendwann fällt mir das vor die Füße.

 

Ich winke Lulu zu, die sich erst aus ihrer Gruppe lösen und auf mich zukommen will, dann aber stehen bleibt, weil ich zügig weitergegangen bin und absolute Eile vorgetäuscht habe. Lulu sieht gekränkt aus, also drehe ich doch um und gehe auf sie zu, setze wieder mein falsches Lächeln auf. »Hey«, sage ich langgezogen und dann noch: »Sind die Zwillinge wirklich schon drei? Wahnsinn!«

Lulu nickt.

»Drei ist so ein schönes Alter«, sagt Lena eifrig. Alle nicken.

Ich spare mir die Bemerkung, dass ich eher daran gedacht habe, dass es damit schon fast fünf Jahre her ist, seit ich Lulu nackt mit Phil in unserem Bett erwischt habe, weil ich früher und mit einem Magen-Darm-Infekt von dem Wellnesswochenende mit meiner Mutter zurückgekommen war.

Ich erinnere mich noch, dass ich zu geschwächt war, um zu begreifen, dass dieser Augenblick mein Leben verändern würde. Ich weiß noch, dass ich dachte: »Muss ich jetzt schon wieder das Bett beziehen?« Das war damals tatsächlich mein erster Gedanke. Zum einen glaube ich, dass das Gehirn eine Art Schutzmechanismus hat und lieber erstmal solchen Blödsinn denkt, um einen so lange wie möglich vor dem Schmerz zu bewahren, und zum anderen war der Grund für besagtes Wellnesswochenende tatsächlich mein abgearbeiteter, allgemein geschwächter Zustand gewesen, kein Wunder also. Ihr fragt euch jetzt, was mich so erschöpft hat damals, wo ich doch keinen Beruf hatte? Ehrlich gesagt weiß ich das nicht genau. Ich erinnere mich an die Eintönigkeit der langen Tage, an denen ich den Kühlschrank füllte, auf dem Boden abgelegte Schmutzwäsche einsammelte, ein dekoratives Bouquet zusammenstellte und manchmal einfach nur dasaß und mich fragte, ob das eigentlich alles war, wozu ich auf der Welt bestimmt war.

Wenn ich traurig war, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht völlig erfüllt war vom Familienleben, was wohl bedeuten musste, dass ich eine schlechte Ehefrau war.

Jetzt, wo ich in anderthalb Zimmern lebe und mich wieder dafür interessiere, was in der Welt passiert, wo ich mich in Spätis, Büros und Bars herumtreibe, bin ich fast gar nicht mehr müde. Heute frage ich mich manchmal, was mich mit einer solchen Gewalt in derart bürgerliche Strukturen getrieben haben mag. Vielleicht war es einfach sehr verführerisch, das Leben zu leben, mit dem alle so einverstanden sind? Alle meine Freundinnen hatten Tränen in den Augen, als sie mich im Hochzeitskleid sahen. Als meine Ehe schlecht lief, weil wir uns permanent in blödsinnigen Streits verhakten, rieten sie mir, »durchzuhalten und zu kämpfen«. Wieso eigentlich? Es ist ja nicht so, dass du am Ende deines Lebens einen Pokal überreicht bekommst und Glückwünsche dafür, dass du vierzig Jahre lang in einer miesen Ehe durchgehalten hast. Auch als Phil mich schließlich für Lulu verließ, wurde mir geraten »zu kämpfen«. Eigentlich war damals meine Mutter die Einzige, die mir den Rat gab, »dieses Schwein endlich in die Wüste zu schicken«. Auch wenn ich Phil mittlerweile eher für einen Trottel halte, rechne ich ihr das hoch an. Umso größer ist die Gefahr, dass sie heute noch explodiert und allen mal kräftig die Meinung sagt, was für sie eine Art reinigendes Gewitter ist, aber in Wirklichkeit eine typisch toxische Verhaltensweise meiner Familie: ansammeln und dann nach vielen Monaten der inneren Qual und Seelenpein alles ungefiltert herausschießen – unser Familienhobby!

Wahrscheinlich sind meine ehemaligen Freundinnen und ihre Männer auch deshalb heute alle mit Phil und Lulu befreundet statt mit mir. Eigentlich ist das gut so. Ich kann mir ohnehin keine teuren Abendessen und »Boozy Brunches« mehr leisten. Trotzdem versetzt es mir hin und wieder einen Stich, wenn ich sie alle, wie heute hier, gemeinsam lachen sehe. Dabei ist das allein meine Schuld und mein Werk. In meinem übermäßigen Ehrgeiz, über alles Harmonie stülpen zu wollen, habe ich erreicht, dass Feiertage gemeinsam verbracht werden. Meine Kinder sind schließlich die Geschwister der Zwillinge. Ich habe sogar von meiner Schwester und von meiner Mutter ab dem ersten Kindergeburtstag der Zwillinge verlangt, diesen Tag mit der ganzen Familie zu feiern. Auch wenn ich die ersten zwei Jahre ziemlich oft heimlich auf der Gästetoilette gesessen und geweint habe, ist es mir gelungen, diesen irrwitzigen Patchworktraum wahrzumachen. Lulu und ich umarmen einander strahlend, was immer noch bei jeder von uns aussieht wie eine Drohgebärde, als würden wir der anderen die Zähne zeigen.

Und schon geht es los.

Lulu macht einen Schmollmund und sagt: »Und du bist ja bald fünfzig. Ist das ein komisches Gefühl für dich?« Ich hasse es, dass ich fünfzig werde. Ich hätte nicht gedacht, dass mir diese Zahl so zu schaffen macht. Vielleicht weil ich weiß, dass meine Mutter fünfzig war, als mein Vater gestorben ist. Danach war ihr Leben vorbei, das Liebesleben auf jeden Fall. So war das eben früher. Stirbt einem der Mann weg, Pech gehabt.

Ausgerechnet heute Morgen habe ich festgestellt, dass ich seit drei Jahren keinen Sex mehr hatte, noch weniger als während der letzten Jahre meiner Ehe. Ich weiß, dass mir das egal sein sollte, dass ich Fältchen um die Lippen habe und mir seit Neuestem ein Haar am Kinn wächst. Es ist ein richtig langes Haar, das ich mit meiner Lesebrille auf der Nase immer wieder aufs Neue suchen und ausreißen muss.

Auf meinem Nachttisch stehen Hormone, die ich mir morgens auf die Arme schmiere und die einfach nur dafür da sind, meinen Normalzustand zu erhalten. Sie machen nichts besser, sondern halten den Zellverfall oder was auch immer da auf mich zukommt, einfach nur auf. In keinem Bereich meines Lebens ist mehr eine Aufwertung möglich, jetzt geht es einfach nur noch darum, sich so lange wie möglich am Rand des Abgrunds festzukrallen. Und dann: schwupp.

Wie gesagt, ich hasse es, dass ich fünfzig werde, und ich hasse es, dass ich es hasse. Ich wäre so gerne eine dieser Schauspielerinnen, die für Kosmetikmarken werben und finden, man sei »immer so alt, wie man sich fühlt«. Es sind dieselben, die die glückliche Patchworkfamilie propagiert haben. Ich sitze also doppelt in der Falle.

Mir war nicht klar, dass Älterwerden so ein Drama für mich wird. Ich zeige Lulu tapfer meine Zähne und flöte: »Ach Quatsch, die Geräusche, die meine Knochen morgens beim Aufstehen machen, haben auch etwas Melodisches.«

Lulu nickt ernst und sagt: »Du musst unbedingt mit meiner Freundin Sarina reden. Die hat auf TikTok was über Osteoporose und Gedächtnislücken gemacht, wegen ihrer Großmutter. Musst du mal checken. Sie heißt da Stargirl87.«

Wow.

Warum bin ich auf Lulu zugegangen? Warum habe ich mich selbst über mein Alter lustig gemacht? Und wenn schon, wieso dann mit einem derart lahmen Witz? Was mache ich hier in meinem Ex-Garten bei meinem Ex-Mann und dieser Frau? Ach ja, ich habe mir das alles selbst eingebrockt.

Lulu lächelt mich unschuldig an. Ich weiß nicht einmal, ob sie es tatsächlich böse meint oder einfach nur unglaublich unsensibel ist. Das Ergebnis ist dasselbe. Ich stehe da in meinem pseudojugendlich geschnittenen Sommerkleid und fühle mich getroffen. Mir fallen auf der Stelle Bilder von alternden Fernsehmoderatoren in poppigen Sakkos ein, laute Ulknudeln in Leopardenleggings, die altbackene Sprüche klopfen. Es ist eine lustige Parade meiner persönlichen Schreckensbilder von Menschen über fünfzig. Ich sage: »Ja, danke, ich guck mir das mal an von Stargirl87 und ihrer Oma.« Sie lächelt und schwirrt ab. Es bringt nichts, Streit mit der neuen Frau meines Ex-Mannes anzufangen, glaubt mir, damit habe ich Erfahrung. Ganz egal, worum es geht, am Ende sieht es immer aus, als wäre ich eifersüchtig. Dieses Ergebnis speist sich aus der einzigen wichtigen Information, die unser aller Leben zugrunde liegt: dass ich verlassen wurde. Dabei will ich Phil absolut nicht zurückhaben. Aus der Distanz heraus sehe ich, warum unsere Ehe scheitern musste. Ich sehe auch, dass ich schon viel eher hätte gehen müssen. Viel zu lange habe ich mich damit beruhigt, dass die Ehen in unserem Umfeld nicht viel besser zu laufen schienen. Ich sehe, wie meine eigene Schwester in einer solchen Ehe gefangen und anscheinend froh darüber ist. Ich war einfach viel zu lange die Idiotin mit dem Rosenbeet.

Ich denke an vorletzte Woche, als mir meine beste Freundin und um einiges jüngere Kollegin Zeynep nach Büroschluss erklärte, wie ich mich bei Tinder anmelde.

»Guck hier, du nimmst die drei Fotos von dir, da siehst du so schön aus.« »Aber das ist doch gar nicht mein Hund«, sagte ich. »Egal, es wirkt sympathisch. Der Hund auf deinem Arm bedeutet für die Männer, dass du ihnen eine Mahlzeit kochen kannst.« »Ich weiß nicht, ob es jemanden begeistert, dass ich einen Pudelmischling kochen will.« »Nein, der entscheidende Punkt ist, dass du den Pudel hältst. Das weckt Assoziationen von zu Hause, von früher, vom Umsorgtwerden, von Müttern, die Mahlzeiten zubereiten.« Das klang alles falsch, fand ich. »Aber ich will niemanden umsorgen! Ich will vielleicht einfach mal wieder mit jemandem schlafen oder wenigstens mit jemandem ins Kino oder beides.« Zeynep schien unzufrieden mit meiner Antwort zu sein und trug weiter Dinge in diese sehr kurze Liste im Steckbrief ein. »Moment mal, wieso lügst du jetzt? Ich bin nicht fünfunddreißig. Das sieht man doch auch.« Zeynep seufzte, als sei ich ein wirklich schwerer Fall. »Na klar, Schatz, bist du nicht. Du bist fast fünfzig, aber wenn du fünfzig bei Tinder einträgst, denken natürlich alle, du bist Ende sechzig oder siebzig. Glaub mir, fünfunddreißig ist das Maximum, was die Typen bei der Suche eingeben.« »Das ist doch lächerlich«, entfuhr es mir. »Ich hab die Regeln nicht gemacht, ich sag dir nur, wie es ist«, sagte Zeynep schulterzuckend. »Was ist, wenn ich mein echtes Alter angebe und auf den einzigen ehrlichen Mann warte, dessen Suchprofil zu mir passt?«, fragte ich bockig. »Na gut, renn in dein Unglück«, sagte Zeynep und trug 49 ein.

Und jetzt stehe ich hier mit null Matches und dem Beweis dafür, dass man in der Datingwelt anscheinend lügt oder verliert. Ich frage mich, wie lange ich im Erfolgsfall mein wahres Alter verheimlichen müsste, wenn ich mein Tinderprofil doch auf fünfunddreißig herabsetzen würde?

Zeynep, mein Lichtblick im Büro, hat natürlich wieder richtiggelegen, wie immer. Sie ist Mitte dreißig, feingliedrig und klug, hat kurzes dunkles Haar und trägt ausschließlich schwarze oder braune Herrenanzüge, weswegen sie oft mit »junger Mann« angesprochen wird. Ohne sie würde ich es keine Sekunde in unserer Firma aushalten, weswegen ich ihr sehr oft einen Kaffee bringe, meistens dann, wenn sie mal wieder kündigen will. »Du bist berechnend und hinterhältig«, sagt sie dann, den Kaffee genüsslich trinkend. »Ja, aber nur aus Liebe zu dir.«

 

In der Mitte des Gartens steht ein weinendes Kind in einem Burberry-Kinderoutfit. Niemand versteht, was das Kind will, weil es aufgrund des internationalen Kindergartens Spanisch spricht, was von den anwesenden Erwachsenen aber nur Lulus bolivianische Putzfrau versteht, die vor fünfzehn Minuten zum französischen Bäcker geschickt worden ist, um die bestellten Éclairs zu holen. Ich versuche das Kind zu trösten, male ihm mit meinem ausrangierten dunkelgrünen Kajalstift ein kleines Herz und eine Katze auf die Hand. Das Kind wirkt ein wenig getröstet und lässt sich von mir an die Hand nehmen. Langsam wandern wir durch den riesigen Garten.

Unsere erste Station ist mein ehemaliges Rosenbeet. Ich zeige dem Kind, dass es die Augen zumachen und den schönen Duft einatmen soll. So stehen wir da ein paar Minuten und schnuppern. »Hmmm, das tut gut. Ist richtig schön, oder?«, frage ich und lächele dem Kind zu. Ich bin froh, eine kleine Pause zu haben, bevor ich mich zu den Feiernden gesellen muss.

Plötzlich schießt eine stark geschminkte junge Frau auf uns zu und reißt das erschrockene Kind in ihre Arme. Sie trägt ebenfalls ein Burberry-Outfit, scheint also die Mutter zu sein. Das Kind fängt augenblicklich an zu weinen. Die Frau sagt irgendetwas Vorwurfsvolles auf Spanisch zu mir, dreht sich um und geht.

Zeit, den Kinderschminkstand aufzubauen. Der Kater von gestern Abend hämmert in meinem Kopf. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, auf den abendlichen Wein zu verzichten, was eine Panikreaktion auslöste, wegen der ich schließlich eher ein Glas mehr als sonst getrunken habe.

Erfolglos versuche ich die laute Stimme meiner Mutter auszublenden, die durch den Garten schallt. Ich räume geschäftig alle Schminkutensilien auf einen großen Holztisch. Und schon kommt die erste Kundschaft. Eine lockige Fünfjährige wünscht sich ein »Schmetterlingsgesicht«. Ihre Mutter betrachtet mein tief ausgeschnittenes Flohmarkt-Kleid und äußert ihre Bedenken, dass ein Schmetterling auf der Wange eventuell sexualisiert wirken könnte. Ich handele sie und das Kind auf eine lustige Biene runter, lege los und male der Biene einen ausladend großen gestreiften Hintern.

»Sag mal, ist dein Busen kleiner geworden, es sah von Weitem so aus?«, fragt eine mir wohlbekannte Stimme, die nach Schnapsbrennerei und alter Säge klingt. »Hallo Mama, schön, dich zu sehen«, sage ich und umarme meine immer noch stattlich große Mutter. »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen«, bemerkt sie kopfschüttelnd und betrachtet die beeindruckende Villa meines Ex-Mannes, seine neue Frau und die neuen Kinder. »Dieses geizige Schwein«, sagt sie dann noch.

»Bitte Mama, lass heute mal gut sein, ich hab doch ein schönes Leben«, erkläre ich und weiß schon, während ich es sage, dass es ein sehr anstrengender Nachmittag werden wird. Ich sehe meine Mutter in Richtung meiner Schwester stapfen. Unterwegs macht sie beim Catering halt und schnappt sich eine ganze Flasche Wein ohne Glas. Das scheint wohl in der Familie zu liegen. Ich gehe hinterher, werde aber sofort von Lulu abgefangen, die gestresst aussieht.

»Du, Nina, ich weiß überhaupt nicht, wie du das früher alles geschafft hast …«, schmeichelt sie. Wenn sie mir ein Kompliment macht, ist es stets gekoppelt an eine unangenehme Aufgabe. Ich kneife die Augen zusammen und warte. Lange dauert es nicht, bis sie fragt: »Könntest du bitte zum französischen Bäcker fahren und den Kuchen abholen? Sophia hat nur die Éclairs geholt, und jetzt stehen wir ohne Kuchen da.«

»Klar, das kann ich gerne machen, aber ich habe kein Auto.«

»Ach, stimmt ja«, sagt Lulu nachdenklich.

»Ich kann fahren, ist überhaupt kein Problem«, höre ich eine tiefe Stimme sagen. Ich drehe mich um und erschrecke. Neben mir steht ein sehr großer, sehr junger Mann, der aussieht wie ein französischer Filmstar oder wie jemand, der Katzenbabys aus einem brennenden Haus rettet. Ich ertappe mich dabei, dass ich albern lache, obwohl niemand etwas Lustiges gesagt hat. Lulu sieht mich befremdet an. Hör auf, Nina, hör sofort auf zu lachen, befehle ich mir in Gedanken und lache blöde weiter. Dann sage ich: »Schon gut, schon gut«, was auch nicht viel besser ist.

»Geht das also klar?«, fragt Lulu.

Der sehr junge Mann und ich nicken. »Hi, ich bin David«, sagt er noch, während ich heimlich auf sein Schlüsselbein starre, das vom verrutschten T-Shirt freigelegt wurde.

Eine Birne in Berlin

Lena

Lena kneift die Augen zusammen und sieht ihre bereits angetrunkene Mutter von Weitem mit einer ganzen Flasche Wein auf sich zusteuern und etwas entfernt ihre Schwester in diesem völlig unpassenden aufreizenden Sommerkleid einen jungen Mann anstarren. Der Nachmittag hätte so gut laufen können, ohne die Familie.

Sogar die Kinder haben sich bis jetzt einigermaßen benommen. Ihr Mann Flori hat rauchend neben Phil gestanden und über den riesigen amerikanischen Grill oder das Fleisch oder andere Dinge gefachsimpelt, für die sich Erfolgsmänner so interessieren.

Der heutige Tagessieg ist aber, dass sie in Lulus TikTok-Aufnahme hineinwinken durfte. Lena wurde darin sogar als »eine ganz liebe Kitamama« bezeichnet. Das permanente Lächeln und die Schmeicheleien morgens vor der Kitatür, bevor sie zur Grundschule weiterhetzen muss, zahlen sich endlich aus. Gemeinsame Mittagessen um die Ecke bei Happy Bowl rücken in greifbare Nähe. Dort sitzen Lulu und ihre Freundinnen gerne in ihren Yogaklamotten herum, essen wenig und sonnen sich in den bewundernden Blicken vorbeilaufender Passanten. Bald wird auch Lena dort sitzen, wenn alles nach Plan läuft, wenn niemand querschießt.

Ihre Mutter und ihre Schwester sehen wieder mal aus wie zwei absolute Fremdkörper. Alle jungen Frauen hier tragen unerreicht schöne Rüschenkleider mit Blumenmuster von Zimmermann, die sogar gebraucht noch vierhundert Euro kosten. Die gesamte Gartendekoration ist in Creme- und Brauntönen gehalten, Farben, die Kinder zwar nicht unterscheiden können, Mütter aber sofort als guten Stil erkennen. Aus dem Augenwinkel sieht Lena erneut eine Weinflasche winken.

Warum kann ihre Mutter nicht einfach eine selige Ruhe ausstrahlen und Beige tragen, so wie andere Frauen in ihrem Alter? Stattdessen blickt Lena auf einen grünen Kimono, der früher mal ein Bademantel war. Sie betet stumm, es möge nur niemand gesehen haben, dass sich ihre Mutter einen Schluck direkt aus der Flasche genehmigt hat. Ihre Schwester wirkt wie immer leicht bekifft. Sie durchschreitet gerade den großzügigen Garten Richtung Einfahrt, wahrscheinlich, um dort einen Joint zu rauchen. Seit der Scheidung ist Ninas Leben ziemlich aus dem Ruder gelaufen.

»Wann werde ich endlich richtig dazugehören?«, fragt Lena sich, wie so oft. Sie hat in den Monaten seit dem Umzug so viel investiert. Schon lange hat sie sich nach einer Villa mit passender G-Klasse und dazugehörigem Business-Ehemann gesehnt. Gereicht hat es leider nur für einen VW Passat und ein winziges Reihenhaus, zwar im richtigen Schulbezirk, aber am äußersten Rand des Nobelstadtteils. Das Nachbarreihenhaus gehört schon zum Einzugsgebiet einer sehr viel reizloseren Gesellschaftsschicht.

Lena hat pünktlich vor dem Umzug von Hannover nach Berlin alle überflüssigen Babypfunde abgespeckt und zu Weihnachten endlich von Flori die ersehnte Moncler-Jacke erhalten. Alle Mütter hier haben die. Zwei quälend lange Jahre musste sie sich mit ihrem Zara-Parka abfinden, einem Fehlkauf in billigem Hellblau.

Wie eine dickliche Achtjährige aus einem Problemviertel hat sie ausgesehen in dem babyblauen Ding. In Hannover ist sie damit nicht sonderlich aufgefallen, doch hier in Berlin-Grunewald ist es, als hätten sich alle heimlich abgesprochen, nur gedeckte Naturtöne und Dunkles zu tragen, die quietschige Farbpalette wird ausschließlich den Kindern überlassen. Manchmal ist Lena tatsächlich auf diese farbliche Unterscheidung angewiesen, da einige Mütter so dünn und so gebotoxt sind, dass Lena sie ohne ihre erdbraunen Parkas wahrscheinlich sofort ins kitaeigene Bällebad geschickt hätte. Lena hat sich schon in Hannover schwergetan mit dem Schließen von Freundschaften. Rückblickend hätte es dort aber einfach sein können, weil der großstädtische Coolnessaspekt überhaupt keine Rolle spielte. Ihr war überhaupt nicht klar, in welch geschütztem Paradies Flori und sie gelebt haben. In Hannover konnte sie in ihren blauen und roten Kinderpullis herumlaufen, sie hat sogar Crocs besessen. In der Nachbarschaft grillte man zusammen, natürlich in der geschlechterspezifischen Unterteilung: Die Männer stehen am Grill und fachsimpeln über das Fleisch und Radsportarten, die Frauen bringen die Salate mit und sprechen über die Kinder. Jedes Mal, wenn ihre Schwester zu Besuch gewesen war, hat sie sich darüber lustig gemacht und natürlich über Floris Fahrradhelm. Manche Dinge ändern sich offenbar nie: auf der einen Seite Ninas Überheblichkeit und auf der anderen ihre eigenen Unsicherheiten – wegen der mausbraunen strähnigen Haare, ihres fehlenden Gefühls für Stil und ihrer absurden Birnenfigur.

Durch den völligen Verzicht auf Kohlehydrate hat sie vor ein paar Monaten allerdings schon ordentlich abgenommen. In Hannover wäre sie damit im oberen Drittel der Kitamuttis angekommen, hier im Grunewald rangiert sie auf einem der unteren drei Plätze. Die Mütter auf den beiden Plätzen hinter ihr haben passend zum riesigen Hinterteil aber wenigstens Busen.

Die Moncler-Jacke ist nur das Minimum dessen, was sie hier an Ausrüstung benötigt. Zwei Monate hat sie Flori damit in den Ohren gelegen, der den Preis natürlich mal wieder vollkommen absurd fand. Sie hat sich eines kleinen Schwindels bedienen müssen, um endlich an ihr Ziel zu kommen. Sie hat in das babyblaue Zara-Ding ein großes Loch mit Carlottas Kinderschere hineingeschnitten, um dem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Lotti war »ja noch so klein«, niemand hat mit ihr geschimpft, weil sie Mamas Jacke kaputtgeschnitten hatte.

Nur manchmal, wenn Flori mahnend zu Carlotta sagt: »Vorsicht mit der Schere, du weißt, was damit passieren kann!«, verspürt Lena den Anflug eines schlechten Gewissens. Aber man muss die Sache so sehen: Wenn der Anfang in der Großstadt für sie und ihre Familie vielversprechend werden sollte, dann hat sie allen einen großen Gefallen getan.

Das mit den Kindern hat sie sich auch anders vorgestellt beziehungsweise gar nicht so richtig. Sie ist einfach immer eine Stufe weitergegangen. Verzweifelt war sie auf der Suche nach der großen Liebe, dann irgendwann nur noch nach irgendeiner Liebe, einer festen Beziehung, die man vorweisen konnte und die bewies, dass mit ihr alles in Ordnung war.

Als das mit Flori schließlich klappte, lag sie nachts lange wach und überlegte, ob er wirklich »den Sack zumachen« und wann er endlich fragen würde. Der Mann fragt, die Frau muss warten.

Nach der Hochzeit kam das erste Kind und dann, weil, wie man unter Müttern scherzhaft sagt, »ein Kind ist kein Kind«, schließlich das zweite.

Ihre erste Tochter haben sie Greta genannt, weil Flori behauptete, das sei kein Allerweltsname und gleichzeitig ein Klassiker. Die erste Aussage steht mittlerweile auf wackeligen Füßen. Allein in Gretas Klasse gibt es drei weitere Gretas, in der Parallelklasse noch zwei. Genau das Gleiche ist ihnen dann drei Jahre später auch mit dem Namen Carlotta passiert.

Greta ist vor Kurzem sieben Jahre alt geworden, die Jüngere ist fünf. Das bedeutet, dass Lena seit fünfeinhalb Jahren keinen Sex mehr mit Flori hatte. Vier Jahre davon hat sie gedacht, etwas stimme nicht mit ihrem Sexdrive, doch das unverhoffte Schäferstündchen letztes Jahr mit einem Grundschulvater ist der Beweis dafür, dass mit ihrer Libido alles in bester Ordnung ist. Ihre Libido hat nur für Flori einfach rein platonische Gefühle.

Der Sexentzug scheint Flori deprimierenderweise sehr entgegenzukommen. Es ist auch klar, wieso. Sex mit Lena hat schon kurz nach der Hochzeit eine stressige Entwicklung genommen. Auf ausgefallene oder strapaziöse Praktiken hatte sie keine Lust mehr. Da Flori leider nur in geschäftlichen Belangen über eine beeindruckende Treffsicherheit verfügt, hat Lena sich und ihrer Klitoris zuliebe das Kästchen angeschafft. Es ist klein, vibriert angenehm und muss beim Liebesakt etwa mittig auf der Klitoris positioniert werden. Verrutscht es, muss kurz pausiert werden, um das Kästchen wieder an Ort und Stelle aufzulegen.

Wenn Lena ehrlich ist, würde sie beim Akt lieber auf Flori als auf das Kästchen verzichten. Wenn sie wirklich ehrlich ist, war Flori beim erfüllenden Sex mit dem Kästchen ein unnötiger Störfaktor geworden. Die große Frage ist allerdings, ob es nicht in den allermeisten Ehen ähnlich ist. Oder stimmt vielleicht etwas ganz Grundlegendes nicht mit ihr?

Dass ihre Ehe langsam tatsächlich auf wackligen Beinen steht, hat Lena neulich zum ersten Mal gespürt, als Flori sie im Haus eingesperrt hatte und schon aus der Ausfahrt herausgefahren war, bis er bemerkte, dass sie fehlte. Den Hund hatte er mitgenommen.

A bientôt, David. Der älteste Trick der Welt

Nina

Das Nervige am schicken französischen Bäcker am Roseneck sind nicht etwa die extreme Enge und Hitze, sondern die deutschen Hausfrauen, die vor dreißig Jahren einmal zum Austausch in Frankreich waren und jetzt zwanghaft jedes Plätzchen laut hörbar auf Französisch bestellen, obwohl die Angestellte hinter der Theke aus Brandenburg kommt. Alle Menschen hier wirken wie Karikaturen aus meinem alten Französischbuch ›À bientôt‹.

Der Besitzer des Ladens, der sich hinter einer Glasscheibe in der Backstube befindet, trägt einen Schnurrbart und ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, genau wie man sich mit elf einen Franzosen vorstellt. Die Frauen, die an den drei Bistrotischen sitzen, tragen alle frankophilen roten Lippenstift, eine sogar eine Baskenmütze, auch wie in meinem alten Französischbuch. Nur ich passe nicht dazu. Ich bin die merkwürdige Dame, die stammelnd nach einem Kuchen fragt und dabei von einem jungen Mann betrachtet wird, der sie wahrscheinlich für eine Idiotin hält.

Was ist eigentlich los mit mir? Reiß dich zusammen, Nina!

»So ein schöner Kuchen«, sage ich blöde, als mir selbiger ausgehändigt wird, fast aus der Hand rutscht und von David mit seinen wunderschönen Händen aufgefangen wird.

»Das war knapp«, sagt er und grinst mich an. Ich bin sehr froh, dass ich inzwischen nichts mehr in den Händen habe, das ich halten müsste. Wahrscheinlich ist das die Strafe dafür, dass ich mich jahrelang über Phil und alle anderen Männer lustig gemacht habe, die sich in eine zwanzig Jahre jüngere Yogalehrerin oder Assistentin verlieben und dann behaupten, dass sie »sehr reif« für ihr Alter sei.

Während der kurzen Autofahrt hat mir David erzählt, dass er in das Apartmenthaus nebenan eingezogen ist und gerade seinen anstehenden Geburtstag plant, den er groß feiern will. Ich habe nicht gefragt, wie alt er wird. So kann ich weiter hoffen, er sei vielleicht doch ein extrem gut gelifteter Siebzigjähriger, meiner neuen Tinder-Zielgruppe entsprechend. Darüber hinaus hat mir David ziemlich viele interessierte Fragen gestellt, vermutlich weil er gelernt hat, sich im Gespräch mit älteren Damen so zu verhalten. Oder vielleicht weil ich ihn an seine Mutter oder an eine seiner Tanten erinnere.

Die Rückfahrt gestaltet sich länger als gedacht. David scheint sich in der Gegend sehr schlecht auszukennen, denn er verpasst mehrere Abzweigungen, sodass wir eine große Runde um das gesamte Roseneck fahren müssen. Obwohl ich jetzt aufpasse wie ein Luchs, verpasst er auch die nächsten Abzweigungen und sagt: »Entschuldige, wir unterhalten uns so gut.«

Das stimmt auch. David erzählt mir, dass er Anwalt ist und in einer Kanzlei für Arbeitsrecht arbeitet. Ich erzähle von meiner Scheidung, reiße Witze darüber, wie ich praktisch nur mit zwei großen Reisetaschen ausgezogen und heulend mit der S-Bahn in meine neue Wohnung im Wedding gefahren bin. »Gesellschaftlicher Abstieg in weniger als dreißig Minuten«, witzele ich.

Tatsächlich fühle ich mich im vollgestopften, lauten Wedding viel wohler als im schicken Grunewald, wo alles immer so still ist, wo Gattinnen in Yogaklamotten ihre Labradoodles ausführen, wo in jeder herrschaftlich abgeschotteten Villa ein einzelner Alkoholiker traurig vor sich hin altert.

Meine kleine helle Wohnung im Wedding erinnert mich an die erste Zeit in unserer Wohnung damals in Kreuzberg. Es war der Sommer nach dem Tod meines Vaters. Ich war vierzehn Jahre alt, meine Schwester gerade zehn geworden. Die erste Wucht der Trauer hatten wir bereits hinter uns. Wir packten die Kisten aus und blickten aufgeregt auf die belebten Straßen direkt vor unserer Tür.

Unsere Mutter, die als Gymnasiallehrerin in der Schule um die Ecke eine Stelle fand, saß jetzt jeden Abend Wein trinkend und diskutierend mit ihrer Freundin Monika auf unserem kleinen Balkon. Ich stromerte neugierig durch die fremden Straßen. Gleich im Hinterhof nebenan hatte uns meine Mutter in einem von der Stadt geförderten Kinder-Kreativzentrum angemeldet, wo ich mit Begeisterung absolut fantastischen Blödsinn töpferte. Ich formte ein zwei Meter großes menschliches Ohr, das im Hof ausgestellt wurde und in das alle Kinder ihre Geheimnisse flüstern konnten. Ich baute sowas wie einen Irrgarten aus verschiedenen zusammengesteckten Teilen, der sich immer wieder neu anordnen ließ. Da meine Mutter damals einer Art Bildungsbürgertums-Verwahrlosung entgegensteuerte, wie ein Schmetterling von einer Kollegiumsfeier zur nächsten flatterte, lebte ich so gut wie ohne elterliche Kontrolle.

Meine Mutter, befreit von den Erwachsenenwindeln und der Pflegebedürftigkeit meines Vaters, sprach abends, wenn sie nach Hause kam, davon, dass sie langsam wieder »die Alte« werde. Nach dem Tod meines Vaters hatte sie sich bei jeder Gelegenheit ins Bett gelegt und versucht, ihr verweintes Gesicht vor dem Abendbrot zu überschminken, als würde damit auch die Traurigkeit weggehen.

Jetzt, in Kreuzberg, waren wir eben diese Familie, die nur noch aus drei Personen bestand. Unsere Mutter machte wieder Pläne, wollte Sprachen lernen und sich endlich mal wieder so kaputtlachen, dass ihr der Bauch wehtat. Nur dass jetzt getrennt gelacht wurde. Bevor mein Vater krank wurde, hatten wir das zusammen gemacht.

Für Lena und mich war unsere Mutter in Kreuzberg nicht mehr dieselbe, aber anders als meine Schwester konnte ich die neue Freiheit genießen.

Lena begann zu meiner großen Verwunderung, sich jeden Morgen zwei ordentliche Zöpfe zu flechten, und freundete sich mit dem spießigsten Kind aus ihrer Klasse an. Ihre neue Freundin hieß Birte und war die Tochter eines Finanzbeamten und einer Hausfrau. Sie besaßen einen grünen Brokatüberzug für ihr Wählscheibentelefon und eine riesige Schrankwand aus dunklem Holz. Birtes Mutter kochte jeden Tag Rouladen, Schnitzelchen mit Soße oder Kinderpfannkuchen. Sie bügelte sogar Birtes Unterhosen – falls das Kind mal einen Unfall hätte, müsste es dank ihrer Sorgfalt als Hausfrau nicht mit ungebügelter Buchse auf der Straße liegen. Sonntags ging meine Schwester mit Birtes Familie in die Kirche.

Es war fast so, als wären wir nach dem Tod meines Vaters mit Vollgas in drei verschiedene Richtungen gerannt, statt über den Verlust noch enger zusammenzuwachsen.

Acht Monate lang hatte mein Vater zu Hause im Bett gelegen. Morgens und abends kam der Pflegedienst, die Zeit dazwischen teilten meine Mutter und ich uns auf. Ich wusch meinen Vater und schaute zu, wie seine Infusionen gewechselt wurden, damit ich es im Notfall auch selbst tun könnte. Ich erinnere mich an unsere Gespräche, als er mir, verwirrt von den Medikamenten, Geschichten erzählte. Ich erinnere mich daran, wie ich mit blutig zerschnittenen Knien nach einem gescheiterten Versuch, mir die Beine zu rasieren, vor seinem Bett auftauchte und er mir daraufhin sein Rasierzeug vermachte. Das war einer seiner guten Momente. Er rappelte sich im Bett hoch, schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen und weihte mich in die Tricks und Kniffe der perfekten Rasur ein: »Hier musst du aufpassen, das Kinn ist wie das Knie, es ist kurvig und kantig, eine gefährliche Stelle, deswegen darfst du nie mit Druck arbeiten. Lass die Klinge einfach über die Haut gleiten. Siehst du, da passiert nichts. Und merke dir: Nie gegen den Strich, sonst wird sich das entzünden. Am besten nicht nachdenken, schöne Musik hören und die Klinge über die Haut gleiten lassen. Siehst du? Perfekt.«

Ich erinnere mich an sein müdes, aber fröhliches, halb rasiertes Gesicht, das mich aus den aufgeschüttelten Kissen anstrahlte. Als meine Mutter erschöpft von einer Konferenz aus der Schule kam und fragte, wieso das ganze Bett nass sei, kicherten wir wie zwei Verschwörer.

Moment mal, haben wir etwa schon wieder die richtige Abzweigung beim Roseneck verpasst?

»Wow, dein Vater hört sich wirklich nett an. Das ist mal eine ungewöhnliche Vater-Tochter-Geschichte.«

»Ja, er war wirklich besonders«, sage ich leise, erschrocken darüber, was ich gerade einem völlig Fremden erzählt habe.

Als könnte er meine Gedanken erraten, sagt David: »Danke, dass du mir davon erzählt hast, ich fühle mich sehr geehrt.« Mir ist meine Geschwätzigkeit ein wenig peinlich. Ich habe ohne Punkt und Komma geredet, wie jemand, der schon lange keinen Kontakt zur menschlichen Zivilisation mehr hatte.

Einen Moment ist es still im Auto. David verpasst auch die nächste Abbiegung, aber ich sage nichts dazu.

»Hast du eigentlich Lust, auf meinen Geburtstag zu kommen? Ich koche bei mir zu Hause und dann gehen wir vielleicht alle noch irgendwohin.«

Ist das eine Mitleidseinladung, weil ich die Geschichte von meinem toten Vater erzählt habe?

»Ich werde dreißig, dann kann ich meinen Kontostand wenigstens Altersarmut nennen.«

Ich lache vor Schreck künstlich auf. Dreißig? Hat er da wirklich die Zahl Dreißig genannt?

Während wir zusammen lachen, er normal, ich wie gesagt künstlich, versuche ich, mir den Schock nicht anmerken zu lassen.

Ach du Scheiße. Er ist ein Baby und ich bin hundertfünfzig, na gut, fast fünfzig Jahre alt. Ich muss hier Vernunft einkehren lassen, Abstand schaffen. Diesen Mann hätte ich als Baby auf dem Arm halten können.

Normalerweise stehe ich überhaupt nicht auf jüngere Männer, genau genommen stehe ich seit meiner Scheidung auf niemanden.

Ich lebe sehr gut damit. Ich bin gerne allein, nach den vielen Jahren in unserer Familienvilla, in der immer jemand die Treppe heruntergepoltert kam, die Kinder stritten oder später eben Phil und ich.

Vor meiner Ehe hatte ich eigentlich geplant, nur Streits zu führen, die auch in einem französischen Film stattfinden könnten. Ich wollte in seidenen Bademänteln auf die Straße rennen und mich mit meinem Geliebten wegen meiner letzten drei Affären in einer fremden Sprache anbrüllen.

Tja, und plötzlich ist man verheiratet und schreit sich wegen der vermeintlich unkorrekten Anbringung einer Klorolle an.

Meine jetzige Wohnung ist klein, aber alles, was darin passiert, bestimme ich. Wenn ich abends im Bett liege und lese, stört mich niemand, wenn ich ein Stück Pizza vom Vorabend frühstücke, wird es nicht kommentiert, wenn ich bis drei Uhr nachts einen kitschigen Film gucken will, tu ich das. Ich dachte, das würde mir als bohemeartige Freiheit genügen. Brauche ich jetzt auch noch einen jungen Liebhaber, um mir zu beweisen, dass da noch so vieles auf mich wartet, oder warum bin ich hier im Auto so nervös?

 

David kurbelt das Fenster herunter, er will rauchen. Als ihm beim Anstecken das Feuerzeug aus der Hand rutscht und er auf meiner Seite in den Fußraum greift, berühren sich für eine Millisekunde unsere Hände. Mir wird schwindelig und sofort höre ich diese mahnende Stimme in meinem Kopf, die mir einen Vortrag darüber hält, wie sinnlos es ist, dieses plötzliche Verlangen.

Versuche ich gerade, diesen sehr viel jüngeren Mann zu beeindrucken, weil ich ihn sexy finde? Der Gedanke treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Bin ich nur einen Schritt von den älteren Herren entfernt, die im Borchardt sitzen und viel zu junge Frauen fragen, »ob sie denn schon mal Champagner getrunken« hätten? Andererseits sollte ich diese Autofahrt vielleicht einfach so lange wie möglich genießen.

Ich sehe David heimlich von der Seite an und denke, dass ich dummerweise unbedingt mit ihm schlafen will. Gegen meinen Willen werde ich diesen kleinen Augenblick später wieder und wieder in meinem Kopf abspulen, anhalten, versuchen, mich an die kurze sanfte Berührung zu erinnern.

David sieht mich an und lächelt. Ist es eventuell möglich, dass er auch mit mir flirtet? Um mit meinen Gedanken nicht aufzufliegen, plappere ich in hohem Tempo belanglosen Quatsch vor mich hin. Der Tiefpunkt ist erreicht, als ich erwähne, »wie schön sie die Verkehrsinsel letztes Jahr bepflanzt haben«.

Das ist mir jetzt doch peinlich.

Ich zucke mit den Schultern und sage: »Es tut mir leid, das ist womöglich nicht mal das Uninteressanteste, was ich in meinem Leben gesagt habe, aber es befindet sich mit Sicherheit im oberen Drittel.«

Er sieht mich todernst an und sagt: »Ehrlich gesagt ist unser Gespräch das beste, das ich seit Langem hatte.«

»Die Latte hängt heute allerdings auch niedrig«, gebe ich zu bedenken.

David sieht mich grinsend an und nickt. »Ich rede zwar nicht nur von heute, aber ich weiß, was du meinst. Vorhin habe ich mich mit einem Typen unterhalten, von dem ich dachte, er schwärmt von seinem Kind, dabei ging es die ganze Zeit um seine Uhr. Danach hatte ich ein Gespräch mit einem, der entweder ziemlich lustig ist oder sehr rechts.«

Ich zucke mit den Schultern: »Lustig würde mich in diesem Umfeld eher wundern.«

»Oh, alles klar.« David nickt und sieht etwas geschockt aus. Dann grinst er mich an und sagt: »Wie konntest du diesen wunderschönen Ort nur verlassen?«

»Ich danke dem lieben Gott jeden Tag dafür«, gebe ich zurück und bin stolz, das so entschieden gesagt zu haben. Dabei verschweige ich die wiederkehrenden Zweifel an meinem neuen Lebensweg, die Unzufriedenheit im Job und die verdammte finanzielle Unsicherheit, die ich ständig zu verdrängen versuche.

»Hier musst du links abbiegen«, sage ich schnell, um diesen Gedanken ein Ende zu bereiten. David reagiert nicht. Ich sage noch mal: »Hier jetzt raus«, und zeige direkt auf die kleine Straße.

David biegt ab.

Schließlich parken wir in der Einfahrt und ich bin sofort stumm, wie ein Automat, dem man den Stecker gezogen hat. Als krönenden Abschluss hilft David mir noch aus dem Auto, und ich flutsche tatsächlich ungelenk zurück in den Sitz, als wäre ich mindestens zwanzig Jahre älter, als ich ohnehin schon bin.

Er will Nummern austauschen wegen seines Geburtstags. Ich habe vergessen, wo an meinem Telefon die Funktion für das Abspeichern neuer Kontakte ist. Ich starre circa fünf Minuten lang auf das Display und versuche, mir einen Reim auf die dort angezeigten Symbole zu machen. Er nimmt mir das Handy aus der Hand, speichert sich selbst ein und ruft sich von meinem Handy aus an. Der gesamte Vorgang dauert weniger als zehn Sekunden. Ich berühre heimlich meine Hand, da, wo mich seine berührt hat, als er mir das Handy zurückgegeben hat.

Bevor ich mich bedanken kann, höre ich, wie meine ziemlich angetrunkene Mutter sich darüber beschwert, wie langweilig alle geworden sind. Ich höre sie bereits die erste Geschichte von damals erzählen, aus dieser lustigen Zeit, als sie mit ihrer Freundin Monika den VW-Bus hatte, damals, als sie ständig auf Festivals fuhren und sich nie gewaschen haben, weil sie immer erst dann glücklich waren, wenn ihre Jeans vor Dreck von selber standen. Ich muss sie irgendwie ablenken, bevor sie hier auf dem Kindergeburtstag die große Drogendiskussion entfacht und wieder mal allen erklärt, der Kampf gegen die Drogen sei nur ein lächerlicher Imagekrieg der konservativen Politoberschicht, wir alle seien Lämmer und ein bisschen LSD das Geheimnis jeder glücklichen Beziehung. Obwohl sie eventuell hier und da einen Punkt hat, weiß ich, dass sie direkt danach zum Besten geben wird, wie ihrer Freundin Monika nach der Corona-Impfung ein kleiner Buckel gewachsen ist. Ich weiß zufällig, dass Monika den Buckel schon seit den Siebzigern hat, vermutlich aber zu zugedröhnt war, um es zu bemerken.

Auch wenn sich unter den Besserverdiener-Eltern genügend Impfgegner befinden dürften, will ich die Diskussion um jeden Preis verhindern, denn eins ist sicher: Darauf folgt die Eskalation, die völlig willkürlich von meiner Mutter ausgelöst wird, ganz egal, wie einig sie sich bis dahin möglicherweise mit ihrem Publikum war.

Sie würde mit hochrotem Kopf auf die Villa zeigen und begeistert ausrufen, dass es eine Schande sei, dass jemand wie ich in einer Einzimmerwohnung leben müsse, und übrigens sei ich auch das beste Beispiel für die Ungerechtigkeit des deutschen Scheidungsrechts. Darauf habe ich heute wirklich keine Lust, nachdem ich David ja bereits in schillernden Farben ausgemalt habe, dass ich niemand bin, der auf der Gewinnerseite des Lebens steht. Ich kann den Prä-Eskalationspunkt bei meiner Mutter ganz einfach erkennen, nämlich daran, dass sich ihr Blick leicht verschleiert und sie beginnt, hektisch in der Gegend herumzugestikulieren.

Ich nehme den Kuchen aus dem Wagen und sage zu David: »Tut mir leid, ich muss mich jetzt um meine Familie kümmern.« Er nickt. »Viel Glück. Ich muss auch nach Hause.« Dann beugt er sich zu mir herunter, küsst mich auf die Wange und sagt: »Es war schön, dich zu treffen, sehr schön sogar.«