Zweistimmig - Heide Rosegger - E-Book

Zweistimmig E-Book

Heide Rosegger

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Beschreibung

Die Autoren: Heide Pirkl, geborene Rosegger, wuchs in der Steiermark auf und folgte ihrem Mann nach Genf. Dort studierte sie Germanistik und Kunstgeschichte, unterrichtete lange Deutsch als Fremdsprache an einem Gymnasium, schrieb einschlägige Artikel für Zeitungen und Kunstkataloge und verfasste mehrere Romane. Sie hat zwei Kinder und sechs Enkel. Heute lebt sie in der Nähe von Genf. Hellfried Rosegger, Urenkel des steirischen Dichters Peter Rosegger, studierte Medizin und war bis zu seiner Pensionierung als Kinderarzt vorwiegend an der MedUni Graz tätig. Er verfasste Lehrbücher und mehrere Romane, davon einen gemeinsam mit seiner Schwester Heide. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Graz. Das Buch: In diesem Buch schildern die Autoren Zweistimmig und sehr persönlich ihre Kinder- und Jugendzeit und vermitteln packende Zeitgeschichte aus ihrer Heimat Mürzzuschlag von 1938 bis 1949 und Graz 1949 bis 1954. Ein mutiges, rebellisch-kompromissloses Buch aus dem Herzen der grünen Steiermark!

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Seitenzahl: 527

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Impressum

ISBN 978-3-7059-0401-9

eBook 2013

© Copyright by Herbert Weishaupt Verlag, A-8342 Gnas, Austria, 2013

e-mail: [email protected]: www.weishaupt.at

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen, z.B. über das Internet.

ZWEISTIMMIG

Heide Rosegger

Hellfried Rosegger

Weishaupt Verlag

„Glauben Sie wirklich, dass es einer Handvoll

gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre,

all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären?

Getrauen Sie sich auch unter diesen Verhältnissen,

für den Ausschluss des Bösen aus der seelischen Konstitution

des Menschen eine Lanze zu brechen?“

Sigmund Freud

Mürzzuschlag 1938 – 1949

Kapitel 1

Es ist schon lange her, schon fast gar nicht mehr wahr. Wo die Villa bis zum Jahre 1977 über dem Stadtzentrum von Mürzzuschlag in einem verzauberten Garten stand, ragen nun ein paar wesenlose Wohnsilos in den Himmel, vier bis fünf Stockwerke hohe Monster aus Beton, und der alte Garten ist tot. Mitleidlos wurden Bäume abgeholzt, Büsche und Fliederhecken niedergewalzt, alles, was grünte, von Baggern weggepflügt, von Spitzhacken zerrissen und von Motorsägen zu Kleinholz zerstückelt. Innerhalb weniger Tage nur wurde die Villa mit dem steilen Schieferdach und den vielen Zimmern dem Erdboden gleichgemacht. Ein Haufen Schutt blieb noch eine Weile, verrottendes Gebälk, altes Ziegelwerk und zertrümmertes Mobiliar, aufgetürmt, bis Kräne und Lastwägen alles abtransportiert und eine Weile nur noch eine atemabschnürende Wolke aus Staub in der Luft lag. Kein Vogel hat dort mehr gesungen, kein Hund mehr gebellt, keine Türen gingen mehr auf oder zu, kein Gras wurde mehr gemäht, ein paar vergessene Dachbalken moderten noch eine Zeit lang irgendwo inmitten des Schuttes. Bald darauf drangen schon die Bautrupps vor, die ihre Jobs einem lukrativen Deal verdankten. Die Besitzer der alten Villa hatten alles verloren. Eine Pleite, wie sie im Buche stand. Die letzte Bewohnerin der zerstörten Villa, eine sehr alte Frau, war schon vor dem Abriss von zwei Männern abgeführt worden. Blind von Tränen, in einen dunklen Mantel gehüllt, kehrte sie sich nicht mehr um, als sie in ein Auto gesetzt und nach Graz transportiert wurde, wo sie bis zum Ende ihres langen Lebens bei ihrer Tochter Ingrid leben sollte.

Das alte Haus, dreistöckig mit zwei Balkonen und einer Terrasse, stammte aus den Zwanzigerjahren. Auf der straßenseitigen, sonnigen Vorderfront befanden sich die beiden hölzernen Balkone und im Erdgeschoß eine geräumige, außen blau gestrichene Veranda, an der sich während des Frühjahrs und Sommers eine dornige Hecke stark duftender Rosen festkrallte und über deren gesamte Breite wucherte. An der Westseite reckten sich die Äste eines Marillenbaums hoch über die Brüstung und höher hinauf bis zum zweiten, kleineren Balkon unter dem spitzen Giebel. Ein aus Holzlatten gezimmertes Gartentor schloss das Grundstück zur Waldgasse hin ab. Von dort führte ein leicht abschüssiger Weg an Ebereschen und Holunderbüschen vorbei zur Villa hin, die man durch deren ‚oberen Eingang‘ betrat, eine himmelblau gestrichene Holztür mit schwerer Bronzeklinke, zu der man ein paar Steinstufen vom Weg aus hinaufsteigen musste. Durch eine in dunklem Holz getäfelte Diele, mit Bildern von einem alten Hammerwerk und dessen Besitzer, gelangte man in die hellen Wohnräume, links in die sogenannte Bibliothek, rechts ins Speisezimmer und weiter in ein an sonnigen Tagen von lachsfarbenem Licht erfülltes Wohnzimmer. Die Türen waren angelehnt, von der Veranda mit offenen Fenstern wehte eine Brise, blähte die weißen Vorhänge, bauschte sie, sodass sie sich kräuselten und fahle Schatten über die weinroten Teppiche warfen.

In der Bibliothek lag, unter den Regalen mit alten Bänden hingegossen, auf einem Diwan mit türkischem Teppich eine sehr junge, blonde Frau und las eine Zeitung, während zu ihren Füßen zwei kleine Kinder spielten. Die junge Frau, Ingrid, war seit Kurzem Witwe und trug noch Schwarz. Ihre kleinen Kinder, Anna und Ferdinand, beide brünett, blätterten in einem Kinderbuch und lauschten ab und zu nach dem Wehen der Vorhänge oder dem Rascheln der Zeitung, welche ihre Mutter las.

„Mutter, liest du uns eine Geschichte vor?“, bettelte Ferdinand, „die Geschichte von den bösen Italienern und dem deutschen Michel!“

„Gleich!“, antwortete die Mutter, „könnt ihr mich nicht ein bisschen in Ruhe lassen?“

In der mit licht lackierten Schränken ausgestatteten Küche wurde inzwischen gearbeitet. Den Raum erfüllten Geräusche, Klappern von Töpfen und Geschirr und aus dem Herd strömte wohliger Geruch nach Essen und Rauch. Der Herd war einer von den emaillierten, ehrwürdigen, zu beheizen mit Kohle oder Holz. Die Mutter der jungen Frau, die auf dem Sofa in der Bibliothek die Zeitung las, hieß Sophie. Diese alte, doch sehr energische, rüstige Frau war um die Sechzig, hatte weißes Haar, sehr blaue Augen und verfügte über einen starken Willen. Sie gehörte zu jenen, die unermüdlich tätig sind und besaß die Gabe, manchmal, wenn es ihr so in den Kram passte, sehr ironisch zu sein. Sophie Lenau war von scharfem Verstand. Ihre subjektiv gefärbte Urteilskraft, ihr oft beißender Witz besaßen also durchaus praktischen Nutzen, weswegen sie mithilfe dieser Waffen zumeist als Siegerin aus einem Streit hervorging. Sie saß eben an dem Küchentisch, schälte Kartoffeln und ließ die sich ringelnden Schalen auf Zeitungspapier fallen. Ein dickliches blondes Dienstmädchen mit fleckiger Schürze stand am Herd und rührte in einem weinroten Emailtopf, aus dem Essensdünste dampften.

Im ersten Stock, wo es noch einige Zimmer gab, zu denen man über eine anmutig geschwungene Treppe aus rötlichem Holz gelangte, schrieb Tante Gerda, die Schwester Ingrids, an einem anderen Tisch sitzend mit einer blauen Füllfeder gerade einen langen Brief an ihren Mann Hartmut, in dem sie von ihren Hoffnungen und Ängsten berichtete. Es war Sommer und schön. Bläuliche Schatten wanderten über die Wände und vereinzelte Sonnenflecken erzeugten blendende Lichter in goldgerahmten Spiegeln. Im Garten bellte ein freundlicher, grauer Schäferhund, er hieß Rolf.

Der große, gegen Norden hin abfallende Garten, in dessen Mitte die Villa stand, wurde von der Familie Lenau in einen vor dem Haus liegenden Teil, den südlichen, sehr sonnigen oberen und in einen hinter dem Haus liegenden, nördlichen, schattigen unteren Garten eingeteilt. Der obere Garten grenzte mit einem Holzzaun und einer Hecke aus falschen Jasminbüschen an die Waldgasse, der untere Garten war durch die alte, gut erhaltene Stadtmauer, die heute als historisches Weltkulturerbe gilt, vom Nachbargrundstück getrennt, wo sich die ebenfalls aus Steinen errichteten, mit altersschwachen, eingebrochenen, morschen Holzdächern versehenen Gebäude einer nahezu historischen Frächterei befanden. Aber da die Villa der Familie Lenau ja in der Mitte des quadratischen Grundstücks errichtet worden war, lagen große Teile des Gartens, die man weder zum oberen noch zum unteren Garten zählte, östlich und westlich des Hauses, durch Lattenzäune, Gitter und hohe Steinmauern von den Nachbargründen abgegrenzt.

Dieser Garten war die abenteuerliche Welt von Anna und Ferdinand. Die großen Wiesenflächen wurden zweimal im Jahr von einem Schmied aus dem Hammerwerk der Großeltern mit der Sense gemäht. Die Kinder nannten ihn Hehe, weil er immer so komisch lachte, wenn sie mit ihm redeten: heheheh! Der gutmütige Mann lebte in einer muffigen Arbeitersiedlung. Er schlachtete auch für die Familie des Herrn Gewerke Lenau bei Bedarf die Hasen und zog ihnen das Fell ab. Die Hühner wurden hingegen von der Nachbarin, der Frau Peck, abgestochen; mit derlei Geschäften machte man sich in besseren Kreisen die Hände nur ungern schmutzig! An der unteren Gartenmauer hatte die Großmutter ertragreiche Gemüsebeete anlegen lassen, und später, als die Nahrung knapp wurde, auch im westlichen Gartenstück, wo Großvater sogar ein Spargelbeet in sandigen Grund pflanzen ließ. Im unteren Garten standen inmitten schattiger, von Schaumkraut reichlich durchwachsener Wiesenflächen Obstbäume: verschiedene Apfelsorten, Birnen, Reineclauden, Zwetschgen, Kirschen – all diese höchst nützlichen Gewächse pflegte und beschnitt Onkel Heinrich, der älteste Sohn der Familie Lenau, der Bruder von Annas und Ferdinands Mutter, den die zwei Kinder über alles liebten. Onkel Heinrich hatte auch zwei Kinder, einen Buben und ein Mädchen, die aber in Graz bei seiner geschiedenen und inzwischen wieder verheirateten Frau lebten. Nach dem Krieg, als gewisse Lebensmittel nur mehr durch Tauschhandel zu ergattern waren – das illegale Besorgen von Zucker, Butter, Fett nannte man einfach Hamstern, – wurden zusätzlich Wiesenstücke des oberen Gartens umgepflügt und in einen Kartoffelacker umgewandelt. Im Westteil bauten die Großeltern nach Kriegsende Zuckerrüben an.

Im unteren Garten an der Westmauer moderten zwei alte Holzhütten vor sich hin, in denen ausgemusterte Maschinen aus dem Hammerwerk verrosteten und wo es von Asseln und Spinnen wimmelte. Etwas abgerückt von diesen baufälligen Baracken hatte man in besseren Zeiten einen jetzt von hochgeschossenen Ahornbäumen beschatteten, chinesischen Rundpavillon hingestellt, allgemein das ‚Lusthaus‘ genannt, – wobei sich weder Anna noch Ferdinand der wahren Bedeutung dieses Ausdrucks bewusst waren, – und gleich daneben, an einem sonnigen Flecken ebenfalls an der Mauer angesiedelt, befand sich das kreisrund betonierte, von einer Blumenrabatte umgebene ‚Planschbecken‘, welches in den kurzen, heißen Sommerwochen mit einem Gartenschlauch eingelassen wurde.

Eine besondere Attraktion übte der Hühnerstall auf Ferdinand aus, ein von einem hohen Maschendrahtzaun eingefasster Hof mit einem gemauerten Stallgebäude mitten drinnen, in dem die Hühner auf Stangen hockend übernachteten und wo in einem abgetrennten Raum in engen Ställen Kaninchen gehalten wurden. Um Inzucht zu vermeiden, schleppte Hehe dann und wann eine Häsin zu einem Rammler oder er brachte einen Rammler aus seiner Zucht daher und bald drauf gab es Nachwuchs, sehr zur Freude von Ferdinand und Anna, die diese winzigen Wollknäuel ungemein liebten und mit ihnen stundenlang spielen konnten. Die Hühner bekamen auch immer wieder Küken. Es gab einen farbenprächtigen, königlichen Hahn, der sein Damenvolk aus der Rasse der Altsteirerhennen sehr erfolgreich bediente; Großmutter nannte es ‚Rupfen‘, wenn er eine Henne besprang. Wenn diese dann nach einigen Tagen zu gurren und glucken begann und auf ihren Eiern hocken blieb, sagte die Großmutter: „Das Hendl hat schon wieder das Brutfieber!“ Und wenn sie nicht wollte, dass die Eier ausgebrütet wurden, packte sie die Glucke einfach und tauchte sie ins kalte Wasser, womit das Fieber abkühlte und das Huhn aufhörte zu brüten. Der Hahn verhielt sich zeitweise ziemlich aggressiv gegenüber Eindringlingen. Er plusterte sich mächtig auf und verteidigte sein Hühnervolk indem er jeden potentiellen Feind ansprang und heftig flatternd mit Schnabel und Sporen auf ihn einhackte. Nur die Großmutter ließ er sogar in Zeiten gesteigerter Angriffslust in den Hühnerhof, weil sie zweimal täglich das Futter brachte: altes, zu Bröseln zerriebenes Brot, feingehackte Brennnesseln und zermahlene Eierschalen, Polenta und Speisereste. Im Hühnerhof wuchs außer einigen großblättrigen Krennpflanzen und wenigen Brennnesseln nichts, denn ununterbrochen scharrten die Hühner den ganzen Erdboden mit ihren krallenbewehrten, gelbbraunen Beinen in der Suche nach Fressbarem auf, zogen mit ihren Schnäbeln Regenwürmer in der Größe von jungen Ringelnattern aus der Krume, sodass auf der Fläche innerhalb des Hühnerhofs trotz fortwährender Düngung durch Hühnermist nicht einmal der kleinste Keimling überlebte.

Dieser Hühnerhof war das Lieblingsrevier Ferdinands. Immer wieder stahl er sich heimlich durch das Tor hinein und fing an, die Hühner zu jagen. Er stürmte auf sie los, dass sie laut gackernd auseinanderstoben, in Panik umherflatterten und in ihrer Flucht blindlings in den Maschendrahtzaun rannten, wo sie manchmal mit ihren Hälsen stecken blieben. Selbst der Hahn war diesem Ausbruch von kindlicher Wildheit nicht gewachsen und verzichtete auf Verteidigung. Manche Henne versuchte sich ins Stallgebäude zu retten, aber Ferdinand verfolgte sie auch dorthin, wo er den erschöpften Vogel schließlich in die Enge trieb, gnadenlos, und ihn packen konnte. Dieses streng verbotene Spiel erregte ihn ungemein, und als einmal eine Henne vor Schock und Erschöpfung liegen blieb, alle Federn mit einem Schlag verlor und schließlich verendete, durchströmte den Buben ein wahres Wonnegefühl. An die Strafe, die er dafür erhalten würde, dachte er in diesen Augenblicken überhaupt nicht.

Unter der Dachschräge, wo im Sommer durchdringender Holzgeruch die heiße Luft schwängerte, lagen zwei weitere Zimmer. Sobald es sehr heiß wurde, roch es dort nicht nur nach Holz und gebeiztem Mobiliar, auch nach alten Matratzen, auf denen schon einige Generationen geschlafen hatten. Oben auf dem Dach hockten Rabenvögel und in den Dachrinnen sonnten sich unzählige Spatzen. Die Nordseite des Hauses nahm eine große Terrasse ein, die Aussicht auf den unteren Garten mit der alten Stadtmauer und den Steingebäuden dahinter sowie auf die Dachlandschaft der Stadt und darüber hin bis zu den Wäldern der Pretul und zur Schneealm gewährte. Allerlei Gerümpel hatte man auf diese Terrasse abgestellt, wacklige Tische mit dunklen Flecken auf verblasstem Holz, Sessel mit nur drei Beinen, ein ausrangiertes Sofa neben übereinander gestapelten blechernen Waschtrögen. Bei schönem Wetter pflegte die Großmutter dort einen großen Tisch zu decken, wo jeder, der dazu Lust hatte, frühstücken oder ein anderes Mahl einnehmen konnte. Der Blick glitt ungehindert in die Weite.

Aber nicht nur Balkone, Küchen und Wohnräume umfasste diese Villa mit dem steilen Schieferdach in der Waldgasse Nummer 6 – es gab auch den obligaten Industrieteil, das Kellergeschoß, nicht wirklich unter der Erde, sondern nur halb eingegraben, sodass von jedem Raum hochgelegene und mit Eisenstäben vergitterte Fenster den Blick – nicht unähnlich einer Froschperspektive – hinaus in verschiedene Teile des Gartens gewährten. Dieses trotz der Fenster eher düstere Untergeschoß beinhaltete den Heizkeller mit einem mächtigen Ofen, der mit Kohle oder Koks beheizt wurde und Wasser für die Zentralheizung wärmte. Dort lagerte auch das Brennmaterial. An der Ziegelwand hing ein weißer, mottenzerfressener Wolfspelz samt Schädel und zahnbewährter Schnauze und schien mit seinen Glasaugen alles genau zu verfolgen, was in diesem Kellerraum geschah, der mit dem anschließenden Vorratskeller durch eine Tür verbunden war. Ferner beinhaltete das Untergeschoß eine Waschküche und einen sogenannten Kanzleiraum, daneben lag das ‚Kellerzimmer‘, das man zu einem stets leicht muffigen Wohnraum umgestalten konnte, und noch ein Raum gegenüber, eine Art Speicher, der später auch als Luftschutzkeller Verwendung fand und vor dessen Fenster im Verlauf der Kriegsjahre, als die Luftangriffe auf die Städte zunahmen, ein bunkerartiger Vorbau errichtet wurde, durch den man notfalls ins Freie entkommen konnte, sollte das Haus durch einen Bombentreffer in sich zusammenstürzen. Dieser Vorbau, der nach dem Krieg wieder abgetragen wurde und den eine prächtige, viele Monate lang violett blühende Clematis schmückte, ließ kaum Licht durch das Fenster, sodass der dunkle Schutzraum auf die Kinder stets gruselig und unheimlich wirkte. Durch eine Haustür, die von der Familie und den Dienstboten allgemein der ‚untere Eingang‘ genannt wurde, betrat man einen kalten, betonierten Kellergang, von dem aus links und rechts all diese kühlen, feuchten Räume erreichbar waren – nur der Vorratskeller war vom Heizkeller aus zugänglich.

Außen, unterhalb des nach Osten gerichteten Küchenfensters, befand sich eine Mistgrube und später wurde an der nördlichen, dem unteren Garten zugewandten, weiß getünchten Hauswand eine Holzlage errichtet. Dort lehnte auch eine schwere, eiserne Walze, die man als kräftiger Erwachsener an einem Handgriff schieben konnte, während Ferdinand dies immer wieder vergeblich versuchte: sie stellte ein Relikt aus besseren Tagen dar, als es im Garten der Villa noch einen Tennisplatz gegeben hatte, den man damit vor den Spielen zu planieren pflegte. Die Lenaus waren sehr sportlich. Man pflegte zu wandern, fuhr Schi und spielte sogar Tennis. –

Kapitel 2

Man hört es immer wieder und bis zum Erbrechen: Schuld an allem, was einem im Leben schief läuft, sind die Eltern, vor allem die Mutter. Diese tragische Figur muss es dulden, nicht nur Ziel oft abgöttischer Kinderliebe zu sein – und zu bleiben –, sie bekommt zusätzlich noch die Last aufgebürdet, Grund sämtlicher Probleme, Ursache aller Negativa zu sein, die sich im Leben ihrer Kinder irgendwann einmal einstellen. Und das, wo kaum eine junge Frau als ausgebildete Psychologin die Mutterschaft antritt. So wird ihr ungewollt, vollkommen frei von Sünde, die doppelt chimärische Seelensituation zuteil, sowohl gleichzeitig geliebt und gehasst, als auch unschuldig und schuldig zu sein. Ob dies nun wirklich der Wahrheit entspricht, sei nicht Gegenstand der vorliegenden Geschichte. Fest steht jedenfalls, dass Kinder gleich unbeschriebenem Papier in die Welt geboren werden. Wenn man von der Möglichkeit einer vorgeburtlichen Programmierung einmal absieht, erhalten sie die ersten Prägungen in den meisten Fällen durch die Mutter – und damit ist das jungfräuliche Papier bekritzelt – leider nicht immer mit den lieblichsten Texten. Nichts mehr, aber auch gar nichts mehr vermag diese Zeichen, Zeilen und Kapitel je wieder zu löschen – und wie gerne würde das mancher tun! Selbst wenn es gelingen sollte, sie unleserlich zu machen, auszutilgen, so bleiben doch Spuren auf dem vorhin so makellosen Weiß zurück und jeder, der näher hinsieht, wird feststellen: Oho! Da hat aber schon etwas draufgestanden! Das ist ja alles überschrieben! Ein Palimpsest! Unsere Seele ist ein Palimpsest. Ein überschriebenes Pergament, ein Codex rescriptus.

Sollten wir nun wirklich Interesse entwickeln, in unserem eigenen Seelenleben zu schürfen, tiefer und tiefer, bis wir unweigerlich zur Kindheit zurückgelangen, dann könnte es wohl geschehen, dass wir diese frühen, überkritzelten Stellen entdecken und wenn wir uns selbst ehrlich genug gegenübertreten wollen, dann werden wir zumindest den Wunsch verspüren zu versuchen, diese Hieroglyphen unseres frühkindlichen Seelenlebens zu entziffern, was sicherlich kein einfaches Unterfangen darstellt, denn bisweilen sind gerade diese heiklen Anfangspassagen mehrfach auslackiert und mit schwärzester Tinte und neuen Buchstaben ausgebessert und alles, was dort einmal zu lesen gewesen sein muss, liegt unter einem kaum zu lüftenden Deckel verborgen.

Ferdinands erste echte Erinnerung – damit meint er eine noch heute vorhandene– ist optischer Natur: er muss im Kinderwagen gelegen sein, denn das Dach dieses aus deutschem Sperrholz und lackiertem Stoff bestehenden, mit großen Rädern versehenen Gefährts rahmt ein Bild ein, welches sonst nur aus leuchtend blauem Himmel besteht. Der Säugling blickt also von seinem Kinderwagen aus in den Himmel, das mittels eines Metallgestänges aufgespannte Dach wirft einen Schatten über sein Gesicht. Nichts blendet ihn. Es ist eine wohltuende Erinnerung. Sie hat keine Handlung. Nur Himmel und Teile des Kinderwagendaches – sonst nichts. Da ist nichts Überschriebenes dabei. Das ist wirklich und echt. Dieses Himmelsleuchten bedeutet Ferdinand noch heute einen Hochgenuss und er weiß, mit dieser Empfindung lebt er nicht allein auf der Welt. Es gibt eine besondere Art der Depression, die durch länger anhaltende Dunkelheit hervorgerufen wird. Man kann sie durch Tageslichtlampen behandeln; täglich eine Stunde unter der Tageslichtlampe lesen und schon schwindet diese besondere Form der Déprime dahin. Tageslicht besitzt eine hohe Komponente an Blau, nur so nebenbei. Ob dieser blaue Himmel Ferdinands Gemüt geprägt hat? Astrologen bestreiten allerdings den Umstand, dass ein Kind, welches im Winter geboren wird, den folgenden Sommer schon bewusst erlebt und von dieser warmen, glückbringenden Jahreszeit für den Rest seines Lebens beeinflusst wird, während ein Kind, das im Sommer geboren wird, bald von langen Herbstnächten und Winterkälte umgeben ist. Nein, so die Astrologen, dieser Umstand habe keinen Einfluss auf den Menschen. Wirklich wichtig seien nur Sternbilder und Aszendenten und wo der Mond zur Geburtsminute gestanden hatte und so weiter, wobei die heute zu beobachtenden Konstellation gar nicht mehr mit jener zur Zeit der Entwicklung dieser zukunftsdeuterischen Wissenschaft übereinstimmt, weil sie sich über die Jahrhunderte verändert hat, so wie eine Uhr die vor- oder nachgeht. Ja, laut Astrologie sei der Himmel nur ein Anzeiger, so wie ein Chronometer die Zeit zwar misst und anzeigt, aber nicht die Zeit selber ist. Genaugenommen hat die Uhr mit der Zeit gar nichts zu tun. Die Zeit ist in ihrer Realität und Abstraktheit für den Menschen schwer – wenn überhaupt – erklärbar. Die von den Astrologen studierten Zusammenhänge zwischen den Ereignissen im Laufe eines Menschenlebens und der astronomischen Konstellation zum Geburtszeitpunkt – die ja bei Ferdinands Geburt schon lange nicht mehr die echte gewesen ist – haben ebenso wenig miteinander zu tun wie der Schatten eines Baumes mit dem Baum und der Winkel des großen zum kleinen Zeiger einer Uhr mit der Zeit.

Wie auch immer: Ferdinands Gemüt entwickelte sich eher heiter. Trotzdem fanden sich bei ihm schon ganz, ganz früh dunkle Charakterzüge, von denen er kaum je während seines Lebens zu jemandem gesprochen hat – und wenn, dann überhaupt nur in sehr allgemein gehaltenen Andeutungen. Wer gibt schon freiwillig zu, böse, ja geradezu abartig zu sein? Grausam, sadistisch!? So wie fast alle anderen wollte auch Ferdinand eher einem Idealbild entsprechen. Er wollte gefallen, vor allem seiner Mutter, die ihm das Idealbild vorgab.

Dazu hätte er sein müssen wie sein Vater: strebsam und fleißig, deutschnational und heimatlieb bis zur Selbstaufgabe, ein tapferer Soldat. Das ist dem Ferdinand allerdings nie gelungen, weil er 1. zu anders beschaffen war als dieser vorbildliche Mann, von dem er zwar viel gehört, den er aber nie gesehen hat, da er schon vor seiner Geburt verstorben war, ziemlich genau einen Monat vor Annas zweitem Geburtstag, 2. vor allem aber, weil er sich nie genug darum bemüht hat; warum hätte er es sollen? So viel lag ihm an der Wertschätzung durch andere doch nicht. Sich dafür richtig anzustrengen, sich zu verleugnen, aufzugeben, das hätte sich nicht gelohnt, wobei er als Kind derartige Gedanken nicht präzise formulieren konnte; und wie viel von dem, was ihn wirklich bewegte, hätte er dann aufgeben müssen, um dem Vaterbild zu entsprechen oder diesem zumindest nahezukommen, welches die Mutter von dieser geliebten Person zu zeichnen niemals müde geworden war! Dies alles bewegte Ferdinand zu jener Zeit, als sich das Himmelsbild in sein Gehirn projizierte, natürlich noch in keiner Weise, damals war er für derartige Gedanken noch viel zu jung, zu unentwickelt. Damals wurde das Buch mit den unbeschriebenen Seiten gerade erst aufgeschlagen.

Ferdinands Bösartigkeit entstammte sicher nicht den Einflüsterungen der Mutter, sie hat sich vielmehr von selbst eingestellt, war immer dagewesen, soweit er sich zurückerinnern kann, sozusagen eine angeborene, eine Ureigenschaft, ein Charakterzug, vielleicht von irgendeinem Vorfahren ererbt, über die Doppelhelix der DNS weitertransportiert und durch die Zufälligkeit in ihm wieder manifest geworden, denn einen Sadisten, einen Perversen soll es ja gegeben haben, so hat er später, viel später erfahren, irgendeinen weitschichtig Verwandten aus der Linie der Großmutter väterlicherseits, einen Schießpulverfabrikanten, der schon längst unter der Erde lag. Von jenem Typen konnten diese dunklen Neigungen genetisch herrühren, die einen besonderen Teil von Ferdinands Gemüt ausmachten, die sozusagen zu ihm gehörten wie seine Hände und Füße. Einzig das vom eierschalenfarbenen Kinderwagendach eingerahmte Bild des blauen Himmels war ohne jeden störenden Zusatz, war wirklich rein, so wie man sich eine Kinderseele vorstellt. Aber wie alt mag das Kind da gewesen sein? Drei Monate, vielleicht vier? Jedenfalls trat seine Schwester Anna erst viel später in sein Bewusstsein. –

Noch gedanklich fern von Anna fand Ferdinand Liebe, Geborgenheit und Erfüllung in den Armen seiner Mutter, der traurigen, jungen und sehr schönen Witwe, die über den frühen Tod ihres Mannes nie wirklich hinweggekommen ist. Es verging kein Jahr, wo sie ihren Sohn am Todestag seines Vaters nicht auf den Schoß nahm, um ihm vom Sterben dieser Lichtfigur zu berichten und wie sie – im sechsten Monat schwanger – an seinem Totenbett bis in den Morgen so lange ausgeharrt hatte, bis der letzte Lebensfunke aus ihm gewichen war. Seit damals habe sie das morgendliche Singen der Amseln hassen gelernt.

Ferdinand besuchte seine Mutter am Morgen oft in ihrem Bett und streichelte sie und betastete ihre Brüste. Manchmal legte er sich auf sie drauf. Sie ließ ihn gewähren. Sie mochte diese harmlosen Berührungen ihres Busens – noch war ja nicht viel Zeit vergangen, seit er daran gesaugt hatte. Aber mit dem Stillen war es nicht besonders gut gelaufen – außerdem hatte die deutsche Industrie Nahrungsmittel für ihre zukünftigen Soldaten, Krankenschwestern und Mütter bereit, die der Muttermilch haushoch überleben waren: Kalziamilch, das sollte die Knochen stärken, Kraft geben!

Die Mutter erklärte ihm schon sehr früh in seinem Leben, dass er zum Lulumachen ein Ding besaß, so wie alle Buben – manchmal gab sie dem Glied auch andere Namen. Er spielte gerne mit seinem Ding und legte sich auf den Bauch, damit er es gegen das Leintuch drücken konnte. Dann wurde es groß und nach einiger Zeit durchströmte ihn ein wonnigliches Gefühl. Das versuchte er der Mutter zu erklären, er nannte es Uttern und das überirdische Gefühl am Ende Schweben, sie verstand ihn, zeigte aber kein sonderliches Interesse dafür. Dass seine Schwester Anna kein solches Ding hatte, wusste er, weil er oft nackt mit ihr in der Badewanne saß oder an warmen Tagen im Garten mit ihr spielte, aber es war ihm gleichgültig. Die Mutter hatte auch keines. Die Mutter war eine Frau, Anna ein Mädchen und er ein Bub.

Wenn Ferdinand utterte, dann stellte er sich Insekten vor, denen er Flügel und Beine ausgerissen hatte. Er stellte sich ihre vergeblichen Bemühungen vor, sich fortzubewegen, das erregte ihn. Er stellte sich weder die nackte Anna noch den Busen seiner Mutter vor. Er kannte aber einen einbeinigen Buben aus der Ziegenburg, der einen Holzfuß hatte. Den stellte er sich manchmal auch beim Uttern vor. Er malte sich aus, wie der Bub ohne Holzbein und Krücken zu laufen oder auf einen Baum zu klettern versuchte. Er kannte auch ein älteres Mädchen, das mit der Zunge an den Schneidezähnen anstieß und statt eines S immer nur einen Lispellaut hervorbrachte. Auch das erregte ihn. Er nannte sie eine Fefe, weil der Lispellaut so ähnlich wie ein F klang. Ein anderer Bub, der bei der Nachbarin, der Frau Peck, einmal die warmen Monate verbrachte, konnte nicht sprechen. Man sagte, er habe einen Wolfsrachen und so entweiche ihm beim Reden die Luft immer durch die Nase nach draußen, weswegen er nur unartikulierte Geräusche hervorbringen könne. Ferdinand fürchtete sich vor diesem Buben und glaubte, er werde sich anstecken und auch einen Wolfsrachen kriegen, denn dass es ansteckende Krankheiten gab, hatte Ferdinand schon ganz früh gelernt und am eigenen Leib erfahren: Mumps, Masern, Röteln, Keuchhusten, Schafblattern – alles hatte er gehabt. Der Bub wollte mit Ferdinand spielen, aber er konnte sich nicht verständlich machen, und obwohl die Großeltern und die Mutter Ferdinand von der Harmlosigkeit des Nachbarbuben zu überzeugen versuchten, so spielte er doch nicht mit ihm, mied ihn aus Angst und räumte ihm beim Uttern keinen Platz ein.

Kapitel 3

Die Geschwister hatten irgendwann angefangen, miteinander zu spielen. Sie hatten auch viele gemeinsame Freunde in der Nachbarschaft. Noch lange ehe er zur Schule musste, besuchten sie an den Nachmittagen regelmäßig die drei etwa gleichaltrigen Mädchen der Familie Schwarz: Gabriele, Melissa und Renate, die gegenüber der Lenau’schen Villa in einem von einem kleinen Garten umgebenen, dunkel gebeizten Holzhaus mit rotem Ziegeldach wohnten. Anna und Ferdinand nannten die kleine Renate gerne Spinate, sehr zu deren Ärger. Herr Schwarz betrieb in der Stadt ein Farbengeschäft namens ‚Farben Lacke Schwarz‘ in dem auch seine Frau, die Mutter der drei Mädchen, arbeitete. Die Schwarz-Kinder waren also die meiste Zeit allein zuhause. Man spielte Blinde Kuh, Verstecken, Abschlagen, Abfangen, Schneider leich ma d’Scheer. Wenn es regnete, zeichnete man Bilder mit Buntstiften oder man spielte Doktor. Das war immer interessant. Dabei zogen sich die Kinder nackt aus und untersuchten einander. Immer wieder schlugen die Mädchen vor, bei ihnen Fieber zu messen. Dazu musste ein Farbstift – meist war es ‚die Rot‘ – in eine der Körperöffnungen gesteckt werden. Der Mund war nicht so interessant. Während sich Anna bei dieser Art von Spiel zurückhaltend verhielt, wurde Ferdinand als einziger Bub sehr genau unter die Lupe genommen! Man betastete sein Ding und zog daran und wunderte sich, dass es dabei manchmal anschwoll und sich verhärtete. So etwas hatten die Mädchen eben nicht aufzuweisen, was Ferdinand mit Stolz erfüllte.

Irgendwie waren diese Doktorspiele erregend; man wusste, man tat Verbotenes, denn über all das, was hier genau untersucht, sondiert wurde, durfte man sonst nicht einmal sprechen. Tragischerweise verbrannte Renate eines Tages: das elterliche Farbengeschäft wurde nämlich mit einem Kohleofen beheizt. Das Mädchen befand sich zufällig im Verkaufsraum, als ein Behälter mit hochexplosivem Farbverdünner umkippte und die Lösung bis zum Ofen hin rann, Feuer fing und im Nu das gesamte Geschäft in Brand setzte. Zwar gelang es dem Vater und der Mutter samt ihrer kleinen Tochter aus der Feuerhölle zu fliehen, doch Renate riss sich los, rannte den schockierten Eltern laut schreiend, lichterloh als lebende Fackel davon und erlitt derart arge Verbrennungen, dass sie noch am selben Tag im Landeskrankenhaus der Bezirksstadt Mürzzuschlag verstarb. Heute, mit den Mitteln der modernen Medizin hätte man sie vielleicht durchgebracht, doch bei etwa achtzig Prozent bis zu drittgradig verbrannter Oberfläche kann man nicht einmal das als wahrscheinlich annehmen. Das Gesicht soll zwar nicht geschädigt gewesen sein – doch wie hätte ihr Körper im Fall des Überlebens sonst wohl ausgesehen? Narbenstränge, wildes Fleisch – eine Außenseiterin wäre sie geblieben, so wie der Bub mit dem Wolfsrachen. Doch so weit ist es ja nicht gekommen. –

Ferdinand, der schon immer gerne gezeichnet hatte, verfertigte von da an eine Zeit lang, noch ehe er zur Schule ging, Bilder von brennenden Häusern, aus deren Fenstern und Dachstühlen schon hohe Flammen schlagen und ganz oben, unerreichbar für die Feuerwehr mit der großen Magirusleiter, reckt ein hilfloses, entsetzt schreiendes Mädchen die Arme aus der Flammenhölle. Er stellte es sich ganz genau vor, wie die Hitze im Rücken des Kindes ärger und ärger wird, wie die Kleider zu glosen beginnen und die Haut in Blasen zerplatzt. Das jagte ihm einen Schauer ungewohnter Erregung durch die Leisten, beinahe so wie beim Uttern und Schweben.

Kapitel 4

Am 6. April 1941 griffen Wehrmachtsverbände ohne vorherige Kriegserklärung mit insgesamt 680.000 Soldaten Griechenland und Jugoslawien an. Die deutsche 12. Armee stieß von Bulgarien aus auf Saloniki vor. Die 2. Armee und die Panzergruppe 1 mit 15 Divisionen operierten von der Steiermark, Ungarn, Rumänien und Bulgarien aus gegen Jugoslawien. Auch Flugzeuge wurden eingesetzt. Noch hatte der Führer den Endsieg nicht errungen, und niemand konnte wissen, wie lange dieser Krieg noch dauern würde. Im Radio kamen Sondermeldungen, angekündigt durch pompöse Musik von Richard Wagner, jenes Komponisten, den der Führer aus ganzem Herzen liebte und verehrte und für seine Vorhaben vereinnahmte, und war dann endlich die Musik verstummt, folgte eine geifernde, von Hass nur so sprühende Rednerstimme, – immer die eines Mannes, zum Beispiel die des Propagandaministers, – der das Volk, auch das der Ostmark, brüllend, drohend und lockend mit giftigen Sätzen beschwor, freudig durchzuhalten und alles Schwere leichten Herzens zu erdulden. Es gehe ja um den Führer und um das deutsche Volk. Die meisten Väter, Brüder, alle Geliebten, sie marschierten nun hin zum Balkan, wo sich eine neue Front aufbaute, und die anderen, die es nicht in den Süden gezogen hatte, die verreckten dafür im Sumpf, fraßen das Gras von unten, aber sie brannten auch ganze Dörfer nieder, denn Befehl ist Befehl und das Führerwort gleich dem Gesetz. Wer es brach, dem wurde das Genick gebrochen. Bomberverbände stiegen im Morgengrauen auf und ließen ihre Fracht über Städten fallen. Der Krieg war längst kein abstraktes Konstrukt mehr, er hatte Gestalt angenommen, eine drohende, schwarze Gestalt, war lebendig und sichtbar geworden, denn er kam näher, jeden Tag etwas mehr, er vertilgte Städte, aus denen Ruinen wurden, er verschlang gierig Menschen und verwüstete alle die Landschaften, die das Unglück hatten, in seiner Nähe zu sein. Er herrschte, er war der Vater aller Dinge.

Heil Hitler!

Eisige Kälte ließ im fernen Russland Flüsse, Morast, zarte Birkenwälder zu gläserner Pracht gefrieren, während Panzer rollten und ganze Dörfer im Feuer verschwanden. Es wurden Gräben ausgehoben, in die man Tausende mit Gewehrschüssen vor sich her trieb, bis sie ins Erdreich kippten. Und weil deutsche Soldaten warme Socken brauchten, auch Verbandszeug, handgestrickte Pullover, erklärte die Mutter, die beim Roten Kreuz eifrig mit dabei war, dass auch sie emsig stricken und altes Zeug sammeln müsse. So war es eben. Alle Frauen strickten unermüdlich oder zupften Werg. Im Papiergeschäft Kleinoschegg und beim Großkaufmann Fux fanden Lumpensammlungen statt, dorthin trug man also das Zerzupfte, das Alte, Unbrauchbare, alles für die tapferen Soldaten, damit sie nicht länger frieren müssten. So häuften sich in einer Ecke des dumpf nach Schweiß und Dreck riechenden Ladens ausrangierte Unterhosen, geflickte, alte Röcke, Fäustlinge mit Norwegermuster und speckige Männersocken neben anderen ausgemusterten Sachen.

Großmutter Sophie, mit Anna an der Hand und einem Sack Lumpen, sagte, den Laden betretend, sehr laut: „Grüß Gott, Heil Hitler!“, schaute sich um, „wir hätten da ein paar warme Sachen für unsere tapferen Burschen“, griff sich energisch Annas Kasperl, ein zerfleddertes Spielzeug, das Anna normalerweise ans Herz gedrückt bei sich trug und mit dem sie jede Nacht in ihrem gemütlichen Bett schlief, und warf es samt dem Lumpensack in hohem Bogen auf den Stoffhaufen in der Ecke.

Gellendes Geheul. Anna schrie wie am Spieß. Sie wehrte sich, schlug und trat nach der Großmutter, die ihrerseits Anna eine kräftige Ohrfeige verpasste.

„Wirst du wohl still sein, du ungezogenes Ding! Wer wird sich denn wegen einer schmutzigen Lumpenpuppe so wahnsinnig aufführen?“

Die in schwarzen Kitteln steckenden Verkäuferinnen begannen sich Blicke zuzuwerfen. Ob man denn dem kleinen Mädchen die Kasperlepuppe nicht doch lassen könnte? Brauchten denn die Soldaten an der Ostfront solches Spielzeug?

Nein, die Großmutter blieb hart, es komme nicht in Frage, auch ein Kind müsse das Verzichten lernen. Sie zerrte die sich windende, heulende Enkelin auf die Straße, heimwärts. In die Küche. Wo das Geheule weiter ging. Weil man ihr das Allerliebste genommen hatte, warf Annas Mutter ihrer eigenen Mutter vor. Wo die kleine Anna doch gerade ihren Vater verloren hat!

Das eine, entgegnete die Großmutter, ob der Weichheit ihrer Tochter erzürnt, habe mit dem anderen nichts zu tun. Das Kind müsse erzogen werden. Oder etwa nicht? In diesen schweren Zeiten solle man ja zum Märtyrer heranreifen. Die gesamte deutsche Jugend müsse in die Hitler-Jugend, und damit dem Herrn von Schirach überantwortet werden. Es gebe kein höheres Ideal, fuhr die Großmutter, sich eifernd, fort, das sich zu verfolgen lohne, als das eines starken Geistes in einem gesunden Körper, und nirgendwo werde dieser Vorgang systematischer umgesetzt als bei uns, im Dritten Reich, zitierte sie. Die Hitlerjugend-Bewegung werde sogar von der englischen Presse lobend betrachtet. „Ja! Ich hab’s gerade in der Zeitung gelesen. Die Delegation, die aus Experten mit einem speziellen Interesse an körperlichem Training zusammengesetzt war, wirft einen freundlichen Blick auf die beeindruckenden Schritte, die das Reich in Richtung organisierter Ertüchtigung unternommen hat. Wir können stolz sein! Weißt du, Ingrid, wie man es umschreiben könnte? Kümmere dich um deine Muskeln, der Rest folgt von selbst.“

„Wo bleibt dann aber der Verstand? Und was hat das alles mit Annas Kasperl zu tun?“

„Die freie deutsche Jugend, zu der auch Anna zählt, wenn sie auch für die wirkliche Aufgabe in der Hitlerjugend noch zu klein ist, besitzt Verstand genug. Denn sie kennt den Opfergeist. Mit einem hohen Maß an Freiheit und Verantwortung verbunden. Das gilt auch für die kleine Anna. Mein Gott, wäre ich doch selbst damals mit dabei gewesen“, seufzte Großmutter Sophie Lenau, „beim Adolf-Hitler-Marsch der HJ (sie sprach es ‚Haa-Jot‘ aus), sie kamen aus allen Teilen des Reichs zum Parteitag in Nürnberg und weiter nach Landsberg. Der Schirach hat etwas sehr Kluges gesagt. Jugend wird durch Jugend geführt! Aber da war ich ja schon beinahe Sechzig …“ und sie lachte ein wenig.

„Kann schon sein“, antwortete die Mutter zornig, warf die Schürze über einen Stuhl, packte Annas Hand, stürmte mit ihrer Tochter aus der Küche und in die Stadt, zurück in jenes Geschäft mit der Lumpensammlung, um den armen Kasperl zu retten. Er lag ja noch da, wenn auch schon halb verdeckt von anderem Zeug. Anna konnte ihn nach Hause tragen.

„Wir kriegen Einquartierung“, sagte der Herr Gewerke Lenau eines Tages zu seiner Frau Sophie, als sie sich alle an den Mittagstisch gesetzt hatten, Sophie und ihr Mann Hermann, Ingrid mit ihren Kindern Anna und Ferdinand, ihr gegenüber Gerda, ihre jüngere Schwester, die jüngste Lenautochter und Onkel Heinrich, der älteste Lenausohn.

„Einquartierung?“, fragte Sophie erstaunt, „wie denn das?“

„Es handelt sich um einen sehr sympathischen deutschen Offizier. Die Partei war auf der Suche nach einem geeigneten Quartier. Also habe ich zugesagt“, erklärte Hermann Lenau , blickte von seinem Teller auf, lächelnd, seufzte dann und griff wieder nach dem Besteck, um schweigend weiter zu essen. Hermann Lenau war ein großer, schlanker Mann von etwas über sechzig Jahren, mit festem Körper und freundlichem Auftreten. Zwei strahlend blaue, freundliche Augen erweckten den Anschein, als lächle er immerfort seinen Gesprächspartnern zu. Er trug ein akkurat gestutztes Oberlippenbärtchen, das die Farbe von englischem Tabak hatte, und um den Kopf einen noch dunklen Haarkranz, der restliche Schädel war kahl. Wenn er unter dem grauen Rock, den er zumeist zu tragen pflegte, seine kräftigen Schultern hob, sah man, wie sich seine gut trainierten Muskeln in Bewegung setzten. Herr Gewerke Lenau, ein energiegeladener Mann von deutschnationaler Gesinnung, war der Besitzer mehrerer Hammerwerke, einige davon noch mit Wasserkraft betrieben, in denen nach althergebrachter Manier Schaufeln, Hauen, Hacken, Krampen und anderes Werkzeug produziert wurden, doch spielte er auch neben der Funktion des Hammerherrn im öffentlichen Leben der Industriestadt Mürzzuschlag eine gewichtige Rolle.

Zur Zeit der Monarchie hatte sich die Firma Lenau über mangelnden Absatz nicht zu beklagen brauchen, da die Produkte von vorzüglicher Qualität waren, und das Verhältnis zwischen den Arbeitern und der Betriebsführung als vorbildlich galt. In der Periode danach hatte sich das allerdings geändert, es hatte finanzielle Not geherrscht, verschiedentlich wurde das Verhältnis zwischen Arbeitern und der Betriebsführung auf schwere Proben gestellt. Doch seit dem Anschluss 1938 hatte sich das Blatt Gott sei Dank wieder gewendet. Und nun ging ja alles wieder, wie vom Führer versprochen, aufwärts, an Aufträgen und Arbeit herrschte kein Mangel.

Sophie hatte Erdäpfel mit Spinat und Spiegeleiern serviert, alles aus dem eigenen Garten und dem Hühnerstall. Hermann Lenau, der Großvater Annas und Ferdinands, fuhr nun folgendermaßen fort: „Der Deutsche stammt aus Kassel und scheint sehr gebildet und gediegen zu sein, er kommt schon heute Nachmittag zu uns, ich hoffe, Mutter, dass du nichts dagegen hast.“ Er nannte seine Frau Sophie immer ‚Mutter‘.

„Wie lange soll er bleiben, der Kassler? Wo wir doch nichts zu essen haben oder nur wenig …“, entgegnete sie an Stelle einer spontanen Zusage.

„Genau weiß ich es nicht, aber mache dir keine Sorgen, dieser Joachim Müller ist anscheinend wirklich ein feiner Kerl und erwartet sich ja nichts Besonderes. Schließlich ist er mit der schweren Lage bestens vertraut. Er soll übrigens am Balkanfeldzug teilnehmen, mehr weiß ich auch nicht, denn ich habe ihn ja nur ganz kurz in der Bezirkshauptmannschaft getroffen. Doch wisst ihr, wem er ähnlich sieht?“

Nun legte der alte Herr das Besteck auf den Teller, mitten in den Spinat, und blickte erwartungsvoll von einem zum anderen. Heinrich schnitt eine fragende Grimasse. Ingrid machte ein würdevolles Gesicht und bettete ihren schlanken Arm um Ferdinands Schultern. Ihr Sohn, der Ferdl, war ja ihr Herzblatt, der kleine goldbraune Bub, ihr Sohn und der des Verstorbenen, dessen Namen er trug, und um den sie ihr Leben lang trauern wollte. Neben ihr saß die Tochter Anna, blass, mit eingezogenen Schultern, sie fürchtete wieder, ihre Mutter würde sie nicht genug lieben. Anna baumelte mit den Beinen und hielt nach irgendetwas Ausschau, das sie aus ihrem Zustand reißen könnte. Vor irgendetwas hatte sie Angst, sie fühlte sich unbehaglich. Sie erinnerte sich, schon wieder, immer wieder, beinahe zwanghaft, wusste, dass der Vater mit dreiunddreißig Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war, der Todesengel hatte ihn geholt, doch dass das englische Penicillin ihn hätte retten können, und sie wusste auch, dass es damals weder in Österreich noch in Deutschland irgendeine Medizin gegeben hatte, die den Vater hätte heilen können. Hier gab es das Penicillin noch nicht.

Der Feind, wer auch immer das war, – ob die Engländer, die grausamen Russen, die ja immer hinter jeder Gräueltat, hinter jedem Tod und Unglück steckten, – wer sonst als die hatten es zu verantworten, dass ihr wunderbarer Vater, an den sie keinerlei Erinnerung besaß, tot und dass die Mutter deshalb immer traurig war. Der Vater war an einem grauen Tag im Februar begraben worden. Anna erinnerte sich an jenen Tag. Zwar war sie noch nicht einmal ganz zwei gewesen, aber die Erinnerung an jenen Tag der Trauer würde für immer bestehen. Dass sie in der Obhut eines blonden Dienstmädchens im Haus zurückbleiben musste, auch dass sie mit dem Weinen nicht aufhören konnte und deshalb in der Küche bei dem fremden Mädchen etwas essen sollte, was sie nicht schlucken konnte, wusste sie auch noch. Das Dienstmädchen hatte Kartoffelsuppe gekocht und versucht, Anna davon löffelweise einzuflößen, doch Anna wollte nicht. Was wirklich geschehen war, warum der Todesengel den Vater weggeholt hatte, begriff sie nicht ganz, fühlte jedoch trotz ihres jungen Alters die Trauer aller als schneidenden, bedrückenden Schmerz. Das Kleinkind Anna war weinend im Haus umhergelaufen, dabei nach einer lebendigen Katze rufend, die selber laufen konnte, also kein Spielzeug war, aber die hatte sie nicht bekommen, und sonst war da niemand im vom Schmerz versteinerten Haus gewesen, der sie in ihrem schweren Schicksal hätte trösten können. Die Mutter hatte sich in Schwarz gehüllt. An der Hand des Großvaters hatte sie in wankenden Schritten das Haus verlassen, mit zuckenden Schultern, beim Gehen gestützt. Trauer hatte das Haus erfüllt wie schwarze Wolken und wollte nicht mehr vergehen.

Als im Mai, drei Monate nach dem Tod des Vaters der kleine Ferdinand geboren wurde, kehrte zum ersten Mal wieder etwas wie freudigere Stimmung ein. Anna liebte zwar den kleinen Bruder vom ersten Tag an, doch war seither auch Eifersucht im Spiel. Denn Ferdl, vergöttert von allen, dieser Ferdl saß jetzt da bei Tisch eng an die einzigartige Mutter gepresst wie eine schnurrende Katze oder wie ein absoluter Monarch, sodass für Anna, wie diese meinte, zu wenig übrig blieb. Niemand würde es wagen, diesen goldbraunen Buben zu kritisieren, er, der Kleine mit dem ‚Strohdach‘, wie die Mutter sein honigblondes Haar nannte, der konnte tun und lassen, was auch immer, im Gegensatz zu ihr. Anna, den Blick von ihrem Bruder abwendend, betrachtete nun Tante Gerda, und sah, dass dieselbe auf der Kante des Stuhles saß und mit nervöser Konzentration aus ihren grünen Katzenaugen auf den bereits geleerten Teller starrte.

Der Großvater hob die Stimme: „Damit ihr es wisst, – ihr könnt es ja nicht erraten. Der Deutsche sieht unserem Ferdinand ähnlich, es ist … als ob der Tote wieder auferstanden wäre, beinahe wie dessen Bruder hat er auf mich gewirkt! Ihr werdet ihn garantiert mögen!“

Aber Ingrid schleuderte ihre Serviette zornig neben den Teller. Sie furchte die Stirn und sagte beinahe tonlos: „Das kann nicht sein, ich glaube dir nicht, Vater! Mein Ferdinand war einzigartig und niemals wird er von den Toten zurückkehren.“ Und sie kehrte in ihr Schweigen zurück.

Alle überlief ein Schauer. Onkel Heinrich hob den Kopf. Sophie Lenau bekräftigte die Worte ihrer Tochter mit einem Nicken, kniff die Augen zusammen und schauderte abermals. Ingrid, die nun eine Weile schweigend am unteren Ende des Tisches gesessen und dem nun beginnenden Gespräch, in dem es um den Balkanfeldzug ging, kaum zuhörte, so fern war sie in ihren Gedanken, schien endlich wie aus einem Traum zu erwachen und blickte, doch neugierig geworden, zu ihrem Vater hin, der etwas so Verheißungsvolles wie eine Ähnlichkeit eines deutschen Offiziers mit dem Verstorbenen angesprochen hatte, dass es sogar sie in ihrer finsteren Trauer zu Spekulationen anregte. Und was wäre wenn? Ob es überhaupt stimmte? Ihr Vater nickte ihr lächelnd zu. Ingrid hatte das Gefühl, ihr Herz würde wieder einmal stehen bleiben, aber sie sagte nichts, sondern aß schweigend weiter.

„Wie lange soll er denn bleiben, dieser Herr – wie heißt er doch?“, erkundigte sich Gerda, die interessiert an weiteren Informationen schien, „und wo wollt ihr ihn einquartieren?“

„Müller. Joachim Müller. Im Fürstenbergzimmer unterm Dach“, antwortete Hermann Lenau, „das Zimmer steht ja leer. Warum also sollten wir nicht helfen?“

Gerda hob das Kinn etwas an und blickte dem Vater ins Gesicht.

Kapitel 5

Und so geschah es auch. Joachim Müller aus Kassel war auf dem Wege nach Griechenland, um dort die Partisanen zu bekämpfen. Mürzzuschlag bedeutete für ihn nur eine Zwischenstation. Der Deutsche hatte tatsächlich etwas an sich, das an den Toten gemahnte, Ingrid bemerkte diese Ähnlichkeit sofort. Er trat auf mit einem Strauß Rosen, die er der Großmutter überreichte, obwohl die Bäume im Hintergrund dürr und kahl waren. Woher hatte er die frischen Blumen? Der natürliche Eifer in seinen Bewegungen besaß nichts Förmliches, und die Adjutanten, mit denen er das Haus betreten hatte, verabschiedeten sich schon zehn Minuten später. Er aber gab der Mutter zwar zeremoniell, jedoch von aufrichtiger Herzlichkeit durchdrungen die Hand, und als sie ihm in die Augen schaute, war es, als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachte. Der Großvater machte eine einladende Handbewegung ins Haus hinein, und Joachim folgte ihm nach einer korrekten Verbeugung. Man setzte sich in die Bibliothek. Joachim zündete sich eine Zigarette an. Die Mutter trug Schwarz, die Großeltern hatten sich in Schale geworfen, ja sogar Tante Gerda hatte sich herausgeputzt und saß mit übereinander­geschlagenen Beinen in ihrem blauen Kleid mit weißem Spitzenkragen da wie eine Diva.

In etwas steifer Haltung saßen sie dem hohen Gast gegenüber in weich gepolsterten Fauteuils und versuchten, möglichst angenehme Konversation zu machen. Man gab sich eben Mühe, perfekte Gastgeber zu sein. Kein Wunder! Denn dieser vom Führer höchstpersönlich gesandte Deutsche hatte etwas von einem Erzengel Gabriel, und es muss gesagt sein, er gefiel ihnen durch die Bank. Man hielt ihn für etwa fünfunddreißig. Er hatte etwas Feines, Großes, Edles von einem waschechten deutschen Herrenmenschen an sich, ja hätte er nicht sogar, so spekulierte Ingrid voller Bewunderung, auch als Diplomat auftreten können? Zur Wehrmachstuniform trug er glänzend polierte schwarze Schaftstiefel und einen braunen Ledergürtel um die schlanke Mitte. Sein eher dünnes mittelbraunes Haar begann von der Stirn aufwärts schütter zu werden, – auch Ferdinand, Ingrids verstorbener Mann, hatte genau solches Haar gehabt, das heißt, nur sehr wenig, spärlich über den Kopf gesätes. Wenn das kein Zeichen des Schicksals war!

Während des Abendessens begann die junge Witwe zu leuchten, ihr Lachen erfüllte den ganzen Raum. Der spätnächtliche Himmel erstrahlte beinahe wie der Sternenhimmel über Griechenland. Es sei zu verhindern, erklärte Joachim nachdenklich, dass Großbritannien oder die Sowjetunion in dieser für das Deutsche Reich wichtigen Region Südeuropas Fuß fassen und von dort – Sie verstehen – den geplanten deutschen Angriff auf die Sowjetunion bedrohen könnten. Wir wollen doch vor Wintereinbruch Moskau einnehmen! So sagte er und redete weiter über den Konflikt zwischen Rumänien, Ungarn und Bulgarien, und wie brillant der Führer im Wiener Schiedsspruch am 30. August 1940 denselben gelöst habe. Der Führer, so fuhr er fort, sei eben wirklich ein genialer Stratege!

Die Mutter war ganz Aug und Ohr und ihm ging es nicht anders. Dass er auf dem Wege nach Griechenland sei, um dort die Partisanen zu bekämpfen, erklärte er abermals in dieser geselligen Runde bei einem Glas Rheinwein, das der Großvater servierte.

„Ich muss in die Nähe von Thessaloniki, ins Tempe-Tal. Tembi nennen die Griechen heute das steile Durchbruchstal des Flusses Peneios zwischen dem Olymp- und dem Ossa-Gebirge in der nordgriechischen Landschaft Thessalien“, erklärte der Deutsche, „seine Länge beträgt etwa 8 km. An der engsten Stelle ist die Schlucht angeblich nur 40 Meter breit, landschaftlich außergewöhnlich schön und ganzjährig grün. Eine interessante, traumhafte Gegend, die ich lieber unter anderen Umständen kennenlernen würde, aber man hat eben nicht immer die Wahl. Ich habe nämlich auch ein bisschen klassische Archäologie studiert“, sagte er, „und mein Altgriechisch kann sich sogar in gewisser Weise hören lassen.“

Er lachte erstmals ein wenig verlegen, schlug ein Bein übers andere, zupfte die Bügelfalte zurecht, stellte das Glas mit dem gelben Wein auf ein mit Schildpatt ausgelegtes, türkisches Tischchen neben den Fauteuil, in dem er, ohne sich anzulehnen, saß. Im Gegensatz zu seiner etwas steifen Haltung waren seine Gesichtszüge weder starr noch förmlich, sondern von freundlicher Lebhaftigkeit und Anteilnahme geprägt. Seine Ansprache klang nicht allzu schneidig und trotzdem nicht scheu oder zaghaft, so als fürchte er, die schöne Ingrid Roth, die blonde Witwe, könnte sich über seine leicht gelehrte Ausdrucksweise lustig machen. Er hüstelte und begann weiter zu erzählen, noch bevor sich zwischen ihnen peinigendes Schweigen hätte ausbreiten können: „Das Tal dort besaß schon in archaischer Zeit große strategische Bedeutung, denn hier verlief eine der wichtigsten Straßen zwischen Griechenland und Makedonien. Leonidas, der sagenhafte König der Spartaner, soll dort die Perser aufgehalten haben, noch bevor es zur denkwürdigen Schlacht auf den Thermopylen gekommen war. Und stellen Sie sich vor, liebe gnädige Frau Lenau, wie schön es gewesen sein muss, ich meine in antiker Zeit! Denn am östlichen Ende des Tales befand sich damals ein berühmtes Apollon-Heiligtum. Der Legende nach soll sich Apollon hier von seiner Schuld reingewaschen haben, die er durch die Tötung der in Delphi herrschenden Pythia auf sich geladen hatte. Dabei verliebte sich Apollon in die Nymphe Daphne, die jedoch in einen Lorbeerstrauch verwandelt wurde! Noch heute nennen die Griechen den Lorbeer Daphne.“

Und hier betrachtete er Ingrid, die ihm gebannt zuhörte. Unter ihrem weizblonden Haar strahlten Joachim zwei dunkelblaue Augen aus einem ovalen Gesicht mit hohen Backenknochen an, die nun lächelnden, zartrosa Lippen gaben eine Reihe fester Zähne frei.

Joachim Müller faltete ausatmend die Hände über den Knien, so als suche er sie wie zum eigenen Schutze festzuhalten. Wurde er scharf beobachtet? Eine solch liebliche Erscheinung wie diese junge Frau, die mit ihrer Rechten durch ihr volles Haar strich, hatte er eigentlich noch nie vorher gesehen, und er fühlte sich wie in einer anderen Welt. Die junge Frau trug Schwarz, eine Farbe, die ihr nicht gut stand, doch am oberen Rand des Kragens blendete ein zarter Hals. Sie musste Anfang Zwanzig sein.

Joachim hüstelte abermals, lehnte sich akkurat nach vor und sprach endlich weiter: „Apollon, dieser geheimnisvolle Gott, brach einen Zweig von dem Strauch und brachte ihn nach Delphi, wo er ihn einpflanzte. Zur Ehrung dieses Ereignisses gab es alle acht Jahre eine Prozession von Delphi ins Tempe-Tal. Zuerst unterzog sich ein Jüngling einer rituellen Waschung, dann schnitt man Lorbeerzweige und brachte sie nach Delphi, das ist doch ein schöner, alter Brauch, meinen Sie nicht auch?“

„Hervorragend dargestellt, Herr Müller!“, erwiderte Hermann Lenau mit all der ihm zur Verfügung stehenden Freundlichkeit.

Der Deutsche schenkte nun allen ein forsches Lächeln: „Danke für das Lob, Herr Gewerke! Ich wollte noch hinzufügen, dass an demselben Ort Eurydike an einem Schlangenbiss gestorben sein soll!“

„Mein Gott, mein Gott!“, stieß Tante Gerda aus, wobei sie die Hände zusammenschlug, „was Sie nicht alles wissen! Ich bin begeistert. Nein wirklich, Sie sind ja so unglaublich kultiviert!“

Ingrid aber flüsterte nur: „Wie traurig … die arme Eurydike!“

„Traurig? Stimmt! Heute ist eben dieses Tal umkämpft. Auch ein schmerzlicher Gedanke …“ und alle nickten wie im Chor. Joachim Müller versank ein paar Sekunden in Gedanken weit entfernt in diesem grünenden Lorbeertal mit dem verschwundenen griechischen Heiligtum, dessen dorische Säulen er golden in der antiken Sonne glänzen sah. „Es ist alles sehr traurig, denke ich jedenfalls.“

„Obwohl unser Führer doch genau weiß, wo’s lang geht“, warf nun Tante Gerda besserwisserisch ein, „ich kenne ihn schließlich, zwar leider nicht persönlich, aber … Sie verstehen doch, was ich meine. Auch in der Rassenfrage. Ich stimme vollkommen mit ihm überein. In jeder Hinsicht.“

„Sie machen ja auch einen sehr vernünftigen Eindruck“, gab Joachim höflich zur Antwort, „haben Sie denn hier ein Problem mit der jüdischen Bevölkerung?“

„Eigentlich nicht“, antwortete der Großvater unbehaglich, „hier hat es ja nie welche gegeben. Nein, wir haben diesbezüglich keinerlei Probleme, Gott sei Dank! Denn es wäre fürchterlich!“

Dazu nickte Onkel Heinrich und es wirkte überzeugend.

„Ja, man wird des Themas müde. Weil das, was geschieht und worüber keiner laut zu sprechen wagt, in der Tat entsetzlich ist und unsereins noch dazu zu feige … das werfe ich mir vor, verdammt nochmal!“, stieß Joachim auf einmal wütend aus, „Sie dürfen mich aber nicht verraten …“ Er glaube nämlich nicht an den Endsieg, gab er, vom Wein beflügelt, ehrlich zu, denn er sei ein Skeptiker. „Wir werden den Krieg wahrscheinlich in ein paar Jahren verlieren! Wir haben bereits entsetzliche Schuld auf uns geladen“, sagte er und wurde plötzlich todernst.

Langes, betretenes Schweigen.

Er ist intelligent, dachte die Mutter, aber darf man solche Gedanken denn laut aussprechen? Wir könnten ihn theoretisch ja verraten. Hochverrat ist das, dachte sie, aber sie lächelte ihm nur zu. Ja, der Mann war einer von den Intelligenten, doch nützte ihm diese kluge Einstellung nicht im Geringsten, was er aber noch nicht wissen, ja höchstens ahnen konnte, wenn er es überhaupt wollte. Dieser Joachim, er besaß übrigens eine Kaffeepflanzung in Deutschostafrika, war eigentlich Lehrer von Beruf, obwohl er sich lieber als echten Pflanzer sah, der, sollte er nicht gerade in der grauen Uniform der deutschen Wehrmacht auftreten, gern die weißen Tropenanzüge der höheren Gesellschaft Ostafrikas trug. In etwas professoralem Ton erläuterte er des Langen und Breiten die Problematik um die deutschen Schutzgebiete. Dass im Versailler Vertrag das Deutsche Reich zum Verzicht auf alle Rechte aus überseeischen Besitzungen und Kolonien gezwungen worden sei. Und dass die Schutzgebiete rechtlich als Mandatsgebiete des Völkerbundes behandelt, faktisch jedoch dem Kolonialbesitz der Mandatsmächte eingegliedert worden seien. Dass Deutsch – Ostafrika daher britisch und zu Tansania geworden sei, doch dass der Führer seine Hände schützend über alles Deutsche im schwarzen Kontinent breite. Deshalb hege er, Joachim Müller, auch berechtigte Hoffnungen, nach dem Ende des Krieges wieder dorthin zurückkehren zu können. Die Reise gehe bis Daressalam, was auf Arabisch ‚Haus des Heils‘ bedeute, und von dort an die Ufer des herrlichen Tanganyikasees, in dessen unmittelbarer Umgebung sich seine Pflanzung befinde. „Es ist ein großartiges Land, dieses Afrika!“, sagte er wehmütig.

Sobald Joachim die Bibliothek betreten hatte, in der übrigens ein türkisch-osmanischer Einfluss neben dem altdeutschen herrschte, musterte er wohlgefällig die unzählbaren ledernen Buchrücken, die feinsäuberlich aufgereiht riesige Regale füllten, angebracht an einer ganzen Wand der Bibliothek vom golden schimmernden Parkett bis zum schneeweißen Plafond. Er stand so davor, die Beine leicht gegrätscht mit rückwärts ineinandergelegten Armen, die auf dem mit grauem Tuch bekleideten Rücken ruhten, stand so nachdenklich oder gar bewundernd oder vielleicht von einem anderen Leben träumend, in dem es keinen Krieg gab, vor der Masse der Bücher, las wohl diesen oder jenen Titel, Homer, Hesse, Kant, Schopenhauer, die Klassiker, Eichendorff, Nietzsche, einige Reihen in Schwarz gebundene Lexika mit Golddruck, und natürlich gut sichtbar an hervorragender Stelle „Mein Kampf“ von Adolf Hitler, ein schon ziemlich zerlesenes Exemplar, in dem vor allem Tante Gerda immer wieder Neues entdeckte, bis sich der deutsche Gast, Spiel- und Standbein wechselnd mit einem Seufzer langsam abwandte, um das schwarzgerahmte Porträt eines grauhaarigen Herrn mit Spitzbart und rosiger Gesichtshaut einer längeren Musterung zu unterziehen. Der porträtierte alte Herr mit dem Spitzbart trug eine von vielen Orden dekorierte k. u. k. Uniform, hatte ein sympathisches Gesicht, er schien sogar verschmitzt zu lächeln.

Dieser Herr, ein ehemals berühmter Professor der Anthropologie, dessen Schriften gerade zu dieser Zeit in der Welt der Wissenschaft unter gleichgesinnten Experten erneut viel Anklang fanden, beziehungsweise zum Nachdenken anregten und manches experimentelle Gedankengut der Moderne beflügelten, dieser Herr Doktor Weisbach war der verstorbene Vater der Großmutter Sophie, die ihm ziemlich ähnlich sah.

„Er hat sich als Forscher bemüht, innerhalb des Menschengeschlechtes eine hierarchische Struktur zu beweisen“, erklärte nun Sophie, die ganz leise neben Joachim herangetreten war. Dann lachte sie. „Und wissen Sie was? Es ist für ihn außer Frage gestanden, dass die gesamte Menschheit vom Affen abstammt!“

„Interessant! Ein Darwinist also!“, schnarrte Joachim, der herausgeputzt in grauer Uniform vor dem Porträt stand. „Dass ich nicht lache, ist ja köstlich, wirklich köstlich! Was war Ihr Herr Vater denn von Beruf?“

„K. u. k. Regimentsarzt. Er hat das Werk ‚Körpermessungen an Individuen verschiedener Menschenrassen‘ verfasst. Auch besaß er eine der größten Schädelsammlungen, die ist heute im Besitz der Medizinischen Fakultät der Universität von Wien. Die Daten hatte er an Rekruten, aber auch an weiblichen Angehörigen der Völker der Donaumonarchie und später als Direktor des Nationalspitals in Konstantinopel gesammelt! Sogar Goethes Schädel hat er vermessen und auch den von Friedrich Schiller.“

„Ist ja faszinierend!“, rief Joachim Müller, „und glaubte er wie unser Führer an eine immanente Hierarchie der Rassen?“

„Natürlich, ja er war davon sogar fest überzeugt. In der oberen Hälfte seiner Klassifikation rangieren die hellen, weißen Rassen der Monarchie, in der unteren die dunklen, schwarzen Rassen der Kolonien!“

„Nun ja, er muss sie ja nicht wirklich gekannt haben, die Schwarzen, denn sie haben doch auch manch eine gute Eigenschaft. Klar, sie sind – gemessen an der deutschen Arbeitsmoral – faul, viele ziemlich dumm, ich muss das schon sagen, denn ich kenne ja vieles aus meinen praktischen Erfahrungen als Pflanzer, da erlebt man schon so einiges …“ und er lachte nun, „man muss sie quasi treten, damit was voran geht, doch bin ich mir sicher, dass sie bei guter Haltung brauchbare Menschen abgeben. Aber was hat Ihr Herr Vater von den Juden gehalten? Ich meine damals …“

„Soweit ich mich erinnere, tauchen die Juden in seinen Schriften als ‚Rasse‘ der Monarchie auf, die er als Allerweltsnation ohne spezifische anatomische Merkmale bezeichnet. Aber er hat ihnen den Platz an der Grenze zwischen kolonialen dunklen und europäischen hellen Menschen zugewiesen. Er beurteilte sie nämlich als das Mischungsprodukt par excellence, und Mischung interpretiert er als biologische und kulturelle Degeneration!“ Sophie sah Joachim Müller prüfend an.

„Aha, aha, ein bedeutender Gelehrter also!“, murmelte dieser anerkennend, „sicher wegweisend. Was sollte ich sonst wohl zu dieser Wissenschaft sagen, mich äußern, wenn Sie so wollen, liebe gnädige Frau, aber ich denke und gebe zu bedenken, dass ich mich hier im Hause einer sehr kultivierten Familie befinde!“

Damit hatte der deutsche Gast durchaus Recht. Der Deutsche mochte die Ostmark und die Österreicher mochte er insgesamt, wenngleich er auch ihre Aussprache manchmal ein wenig kritisieren musste, aber wer konnte von sich schon behaupten, perfekt zu sein? So dachte er, dieser gute Ritter, der Ingrids Kindern manchmal sogar Schokolade schenkte und ihnen versprach, sie eines Tages nach Kriegsende mit ihrer Mutter nach Deutsch-Ostafrika zu den Negern mitzunehmen.

Kapitel 6

Doch der kleine Ferdinand bekam von all dem nicht das Geringste mit. Dazu war er noch zu jung. Fast noch ein Baby – gewissermaßen. Seine Seele aber, die beherbergte – wie bereits erwähnt – einen geheimen Winkel voller Unrat, von dem er wohl wusste oder eher ahnte, dessen Unbehagen verbreitende Potenz ihm aber in seinen Kinderjahren nicht vordergründig auffiel. Auf dieser Welt gab es hauptsächlich solche, deren Seelen im Dreck badeten. In dieser Hinsicht war er keine Ausnahme. Er war also sicher nicht allein mit solchem mentalen Müll – doch muten seine als Kleinkind verschuldeten Vergehen harmlos an gegenüber jenen, die Ältere begehen. Wenn er, der kleine Ferdinand, zum Beispiel einen Vogel mit der Hand fing und ihn dabei verletzte oder tötete, so war er sich zwar durchaus bewusst, etwas Verbotenes getan zu haben, doch begriff er nicht die grundlegende Abartigkeit seiner Handlung, nämlich ein kulturell extrem stark fixiertes Tabu gebrochen und damit die Grundsätze der familiären, ja der gesamten abendländischen Ethik aufs Gröbste verletzt zu haben. Er lernte und akzeptierte zwar, dass er für derlei Bösartigkeiten bestraft und dass er nirgendwo Sympathisanten für sein Handeln finden würde, nicht hingegen verstand er, warum das so war. Obwohl er also begriffen hatte, dass er in seiner perversen Lust einsam in der Familie dastand, konnte – und wollte – er davon nicht ablassen, denn er war noch unfähig zu erkennen, was daran so schlecht sein sollte, wie man es ihm beizubringen keine Mühe scheute. Misshandelten nicht Menschen andere Menschen? Wo lag da der Unterschied? Sein Weltbild bestand vornehmlich aus der eingezäunten, abgeschirmten Welt, in deren Mitte die Lenau’sche Villa hingepflanzt stand. Nichts von dem, was in der Welt geschah, berührte ihn. Er hörte wohl dies und das, aber er verstand es nicht, weil es jenseits seiner Vorstellung lag.