Zweite Heimat – Die Reise der Celeste - Madeleine Puljic - E-Book
SONDERANGEBOT

Zweite Heimat – Die Reise der Celeste E-Book

Madeleine Puljic

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Schicksal der Menschheit liegt in ihren Händen ... Als die CELESTE mit den ersten Kolonisten zum Mars aufbricht, beschließt das außerirdische Volk der E'Kturi, dass eine Beobachtung der Menschheit aus der Ferne nicht länger genügt. Um die von den Menschen ausgehende Gefahr einzuschätzen, senden die Außerirdischen ebenfalls ein Schiff aus, das noch vor den Kolonisten den Mars erreicht. Lajunen, der Kapitän der CELESTE, erhält den Auftrag, für eine positive Beurteilung der E'Kturi zu sorgen – mit allen Mitteln. PERRY RHODAN-Autorin Madeleine Puljic entführt ihre Leser auf den Mars und stellt dabei eine der wichtigsten Fragen der Menschheit: Was ist, wenn wir im Universum nicht alleine sind?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 420

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MadeleinePuljic

Zweite Heimat

Die Reise der Celeste Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als die CELESTE mit den ersten Kolonisten zum Mars aufbricht, beschließt das außerirdische Volk der E’Kturi, dass eine Beobachtung der Menschheit aus der Ferne nicht länger genügt. Um die von den Menschen ausgehende Gefahr einzuschätzen, senden die Außerirdischen ebenfalls ein Schiff aus, das noch vor den Kolonisten den Mars erreicht. Lajunen, der Kapitän der CELESTE, erhält den Auftrag, für eine positive Beurteilung der E’Kturi zu sorgen – mit allen Mitteln.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel – ERDE2. Kapitel – CELESTE3. Kapitel – ORBIT4. Kapitel – MARS5. Kapitel – GEFANGENE6. Kapitel – SIEDLER7. Kapitel – KONTAKT8. Kapitel – FREUNDSCHAFT9. Kapitel – LÜGEN10. Kapitel – WAHRHEIT11. Kapitel – KOLONIE12. Kapitel – ZWIESPALT13. Kapitel – BEURTEILUNG14. Kapitel – SCHICKSAL15. Kapitel – GEISTER16. Kapitel – LEBEN17. Kapitel – ZUKUNFTDanksagung
[home]

 

 

 

Für alle Träumer, die den Mut haben, ihren Weg zu gehen. Und für alle, die ihn erst noch finden müssen.

[home]

1. Kapitel – ERDE

Ein einzelner Schweißtropfen lief Alvar Lajunen den Rücken hinauf. Alvar ignorierte das Kitzeln in seinem Nacken. Unter seinem Raumanzug trug er definitiv ein paar Schichten zu viel, er schwitzte wie in einer miesen Sauna. Dennoch arbeitete er konzentriert, ging mit routinierter Achtsamkeit vor. Noch zwei Schrauben, dann konnte er die Platte lösen und die Sicherung austauschen.

Er setzte den Inbusschlüssel in den Schraubkopf und bemühte sich, nicht auf das dumpfe Klacken zu warten, mit dem die Metallteile ineinandergriffen. Geräusche waren trügerisch. Mit langsamen Bewegungen drehte er den Schlüssel, löste die Schraube – und griff daneben. Die dicken Finger seiner Handschuhe verfehlten den Schraubkopf, und der trudelte nach unten.

»Perkele.«

Umständlich schob sich Alvar von dem Modul fort, um einen Blick nach unten zu erhaschen. Da, am Rand des Visiers, sah er das kleine Mistding am Boden liegen. Alvar seufzte. Er war wohl doch nervöser, als er gedacht hatte.

Er griff in die Tasche an seinem Werkzeuggürtel, um den Ausreißer zu ersetzen, als ein leises Knacken in seinem Helm erklang.

»Alvar?«

»Ich höre dich, Peter.« Alvar zog eine Ersatzschraube hervor und steckte sie in das Loch in der Abdeckplatte.

»Kulmer sucht dich. Du sollst in sein Büro kommen.«

»Jetzt gleich?« Mit ein paar raschen Drehungen zog Alvar die Schraube mit den Fingern an, ehe er erneut den Steckschlüssel ansetzte. »Ich bin gerade beschäftigt.«

»Jep. Er sagt, du sollst aufhören herumzuplanschen und deinen Hintern rüberbewegen, und zwar dalli.«

Alvar ließ sein Werkzeug sinken. »Und wie ist seine Laune?«

»Da fragst du mich was.« Peter lachte. »Komm einfach aus dem Becken und sprich selbst mit ihm.«

»Schon gut, ich bin dabei.« Alvar befestigte den Steckschlüssel an seinem Gurt, griff nach den Metallsprossen an der Außenseite des Moduls und zog sich nach oben. Was konnte so dringend sein, dass Kulmer ihn mitten aus einer Übung in sein Büro zitierte?

An der Oberseite des Moduls angekommen, hakte er die Sicherung in den Anzug ein. »Ziehst du mich hoch?«

Peter antwortete nicht, aber das Seil straffte sich und hob den Tauchanzug samt Alvar aus dem Wasser. Er hing noch mit den Knien im Becken, als das gesamte Gewicht seines Körpers und des Anzugs zurückkehrte. So schnell gelangte man nur in der Trainingshalle des Europäischen Astronautenzentrums vom Weltall auf festen Boden. Na gut, die Amis, Russen und Chinesen hatten ähnliche Tauchbecken, aber die hatte Alvar nie selbst getestet.

Umständlich schälte er sich aus dem Anzug. Das Shirt klebte ihm auf dem verschwitzten Rücken, ebenso wie die leichte Jogginghose. Nicht gerade der Aufzug, in dem man vor seinen Chef treten wollte, aber Alvar sprach gut genug Deutsch, um zu wissen, dass Ernst Kulmer niemand war, der »dalli« als leere Floskel betrachtete.

Also schnappte er sich ein Handtuch, wischte sich notdürftig über Gesicht und Hals und trabte auf den Ausgang der Halle zu.

Wenige Minuten später klopfte er an das opake Milchglas von Kulmers Büro. Die Tür ging auf. Es war jedoch nicht der Leiter des EAC, der ihm öffnete, sondern eine Frau im Trainingsshirt der ESA. Im Gegensatz zu Alvars T-Shirt war ihres frisch, die schwarzen Locken hatte sie nach hinten gebunden.

»Hana.« Verblüfft hob Alvar die Augenbrauen. »Was …?«

»Kommen Sie rein, Herr Lajunen.« Kulmer lehnte sich in seinem gepolsterten Sessel zurück und deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich.«

Hana zuckte mit den Schultern und nahm Platz. Alvar folgte dem Beispiel seiner Frau.

»Was gibt es?«, fragte er.

Kulmer war kaum älter als Alvar, doch im Augenblick schienen ihn die wenigen Jahre wie eine Last niederzudrücken. Seine Schultern hingen nach vorne. Auf seiner Glatze glänzte der Schweiß, und der Kragen des sonst stets makellosen Hemds war nicht zugeknöpft. »Ich habe wichtige Neuigkeiten.« Er legte die Hände ineinander und schob sie ein paarmal auf der Tischplatte hin und her, als würde er sich eine Kuhle suchen, in der er sie bequem ablegen konnte. »Für Sie beide.«

Unter dem Tisch schob Hana ihre Hand in Alvars und drückte sie sanft. »Ja?«

»Paris hat angerufen. Die Kommission hat eine Entscheidung getroffen.«

Augenblicklich war Alvar hellwach. Er umklammerte die Hand seiner Frau. »Und?«

Kulmer atmete langsam aus. »Sie wollen Sie als Kommandanten.«

Hana stieß ein leises Quieken aus. Alvar selbst hätte wohl einen Freudenschrei ausstoßen sollen, aber er fühlte sich, als hätte ihn eine Abrissbirne getroffen. »Als Kommandanten?«, wiederholte er stumpf. »Für die Celeste?«

»Allerdings.« Kulmer zog einen einzelnen Mundwinkel nach oben. »Ich darf Ihnen gratulieren.«

»Wow. Ich meine … danke.« Die Celeste war nicht nur das größte Raumschiff, das bisher gebaut worden war – sie war das erste seiner Art. Ein Pionierschiff, das die ersten Menschen auf den Mars bringen würde. Die ersten Kolonisten. Eine globale Zusammenarbeit von ESA, NASA, Roskosmos und CNSA. Astronauten der ganzen Welt hatten sich für diese Mission beworben.

Und er hatte es nicht nur auf die Mission geschafft, er sollte sie auch noch leiten!

»In diesem Zusammenhang gibt es allerdings auch noch eine schlechte Nachricht«, warf Kulmer dazwischen. »Die Russen stellen den Bordpsychologen.«

Schlagartig verpuffte Alvars gerade erst aufkeimende Freude. »Was?«

Hana wurde blass. »Aber …«

»Es hieß doch, dass bei der Einteilung auf Angehörige Rücksicht genommen wird!«, fuhr Alvar auf. »Wir sollten den Siedlungstrupps gemeinsam zugeteilt werden, das war der Deal.«

»Ich weiß. Es tut mir leid.« Kulmer hob die Hände. »Die Russen haben uns eben ausgestochen. Frau Lajunen wurde für die Destiny eingeplant.«

»Aber die Destiny fliegt erst zwei Jahre später!« Alvar wollte es nicht glauben. Das musste ein Irrtum sein.

Kulmer schüttelte nur sacht den Kopf. »Wenn Sie auf den Kommandantenposten verzichten und stattdessen ins Team der Destiny möchten, habe ich vollstes Verständnis dafür. Allerdings bitte ich Sie, es zumindest in Erwägung zu ziehen. Das wäre eine große Chance für Sie.«

»Ich …« Alvar hatte absolut kein Interesse daran, auch nur irgendetwas dergleichen zu erwägen, doch Hana brachte ihn mit einem weiteren Händedruck zum Schweigen.

»Denken Sie drüber nach«, sagte Kulmer. »Sie haben drei Tage, dann muss ich Ihre Antwort nach Paris schicken. Überlegen Sie es sich gut.«

 

»Du solltest es tun.« Seine Frau wusch einen Teller ab und reichte ihn Alvar, damit er ihn abtrocknen und in den Schrank räumen konnte. »So eine Chance bekommst du nicht wieder.«

»Ich weiß.« Sorgsam stellte er den Teller auf den Stapel und nahm den nächsten entgegen. »Es fühlt sich nur falsch an.«

»Wegen mir?«

»Auch.« Alvar grinste, als er ihren vorwurfsvollen Blick empfing. »Hauptsächlich wegen dir. Aber da ist noch die andere Sache.« Er seufzte. »Es fühlt sich unverdient an.«

Hana ließ den Spülschwamm sinken. »Das verstehe ich nicht.« Sie drehte sich zu ihm um und wischte sich die Hände an der Hose trocken. »Was meinst du mit ›unverdient‹?«

Verlegen kratzte er sich hinter dem Ohr. »Realistische Einschätzung.« Da sie nur abwartend die Lippen verzog, erklärte er: »Dass sie mich an Bord haben wollen, sehe ich ja noch ein. Immerhin bin ich der beste Chemiker, den sie zur Verfügung haben.«

Hana lachte und spritzte etwas Spülwasser in seine Richtung. »Angeber.«

Geschickt wich Alvar ihrem halbherzigen Versuch aus. »Hey, realistische Einschätzung!«, lachte er. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Bester Chemiker vielleicht, aber bester Kommandant?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine politische Entscheidung, sonst nichts.«

»Du glaubst, dass du den Posten bekommen hast, weil du Finne bist?«

»Ja.« Alvar schloss den Geschirrschrank und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. »Was die Raumfahrt angeht, befinden sich die Amerikaner und die Russen immer noch im Wettstreit. Den Deutschen und Franzosen vergönnt es keiner, und den Chinesen erst recht nicht.« Er breitete die Arme aus. »Finnland ist unparteiisch, sowohl in der UN als auch in der Raumfahrt.« Mit beiden Daumen deutete er auf seine Brust. »Bingo.«

»Selbst wenn es so wäre – und ich sage nicht, dass es so ist!« Seine Frau wiegte den Kopf. »Sie hätten dich nicht ausgewählt, wenn du nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügen würdest. Und zwar nicht bloß in Bezug darauf, das Raumschiff zu fliegen. Ich meine auch den ganzen anderen Kram. Die Leitung der Expedition.« Alvar wollte etwas einwenden, doch sie brachte ihn mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen. »Also selbst wenn es eine rein politische Entscheidung wäre … finde ich, du solltest sie begrüßen.«

Irritiert runzelte er die Stirn. »Wieso das?«

Hana zuckte mit den Schultern. »Ganz einfach: Die Celeste gründet die erste Kolonie auf dem Mars. Wer auch immer die Mission leitet, legt den Grundstein für die erste menschliche Zivilisation außerhalb der Erde.« Sie trat auf ihn zu, legte die Hände um seinen Nacken und sah ihm in die Augen. »Du hast zwei Jahre, um die grundlegende Richtung festzulegen, nach der die Kolonie funktionieren soll, ehe die Destiny nachfolgt.«

»Vorausgesetzt, ich nehme das Angebot an«, wandte er ein.

Hana schmunzelte nur. »Zwei Jahre, um dieser zweiten Welt einen friedlichen Start zu ermöglichen. War das nicht der Grund, weshalb wir uns überhaupt für diese Mission beworben haben? Um etwas mitzugestalten, das besser sein soll als das, was wir hier haben?«

Alvar schluckte. »Schon.« Allerdings war das nur ein Teil der Wahrheit. Sie hatten sich gemeinsam beworben, weil es auf der Erde nicht sicher war. Nicht für jemanden, der mit offenen Augen durchs Leben schritt und nur allzu deutlich wahrnahm, wo diese Welt hinsteuerte. Nicht für jemanden, der sich Kinder wünschte – und einen möglichen Ausweg sah. Die Marskolonie war ihr Ausweg.

Sanft legte er seiner Frau die Arme um die Taille und zog sie zu sich heran, bis er das Gesicht in ihren Haaren vergraben konnte. »Aber so war das nicht geplant. Wir wollten zusammen fliegen. Nicht so. Wir wären über zwei Jahre getrennt.«

»Wir schaffen das.« Sie drückte einen schnellen Kuss unters Ohr. »Wie im Studium, weißt du noch?«

Er schnaubte. »Ja, nur dass das bloß zweieinhalb Flugstunden waren zwischen Helsinki und Zürich und nicht ein paar Millionen Kilometer. Mit Besuchen am Wochenende dürfte das etwas schwierig werden.«

Hana lehnte sich zurück und sah zu ihm auf. Der Schalk blitzte in ihren Augen. »Dann müssen wir die Wochenenden eben vorziehen.«

Alvar rollte mit den Augen. »Auch das noch.« Hastig fing er Hanas Kniff in seine Seite ab. Er zog sie fester an sich. »Also soll ich wirklich fliegen?«

»Würdest du es bereuen, wenn du es nicht tust?«

Er seufzte. »Das werden eine Menge Wochenenden.«

»Hundertzwölf.« Sie zwinkerte. »Also streng dich an.«

 

Mehr als ein Jahr später erwartete die Celeste ihn im Orbit. Ein Raumschiff, das nie den Boden der Erde berührt hatte, und das sie nun zum roten Planeten bringen sollte. Ein Jahr Training, um auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Eine Woche Quarantäne, damit er für die Reise bei bester Gesundheit war. Er und der Rest der Crew. Seiner Crew.

Alvar konnte es immer noch nicht glauben. Heute war der Tag. Er fühlte das Prickeln der Nervosität, das sich in seinem Bauch ausbreitete. Dabei war es nicht sein erster Flug ins All. Für niemanden von ihnen war es das. Aber ein kurzer Trip in den Orbit, selbst wenn der Einsatz ein paar Monate dauerte, war etwas verdammt anderes als die Gewissheit, mit dem Aufbruch ins All auch seinem Planeten endgültig Lebewohl zu sagen.

»Nervös?« Michael Harris, der stellvertretende Kommandant, grinste ihm zu.

»Natürlich.« Alvar verzog den Mund zu einer unglücklichen Grimasse. »Zwei Jahre mit dir? Das ist eine furchtbare Vorstellung.«

Der Amerikaner lachte und streckte bereitwillig die Arme aus, damit die Suitup-Crew ihn in seinen Raumanzug stopfen konnte. Alvar tat es ihm gleich. Es waren routinierte Bewegungen. Sie wussten genau, wie sie sich drehen und winden mussten, um den Technikern das Umschnallen der Druckabsorber zu erleichtern. Jeder Handgriff war Hunderte Male geübt und einstudiert worden. Vielleicht war es gerade das, was es so unwirklich erscheinen ließ. Diesmal war es keine Übung.

»Sag bloß, die Erde geht dir jetzt schon ab«, scherzte Harris weiter.

Alvar brummte. »Die Erde nicht.« Der Verschluss an seiner Hüfte rastete mit einem vernehmlichen Klicken ein.

Nun wurde auch der Amerikaner ernst. »Aber deine Frau.«

In Harris’ Stimme schwang Mitgefühl mit. Doch Alvar wusste, dass sein Stellvertreter nicht wirklich nachfühlen konnte, wie sehr ihn die Aussicht auf zwei Jahre ohne Hana tatsächlich bedrückte. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Gründe gehabt, um sich für diese Mission zu bewerben. Er selbst wollte zum Mars, weil er hoffte, dort etwas zu bekommen, das ihm hier verwehrt war. Harris dagegen flog, weil es auf der Erde nichts gab, was ihn hielt. Er hatte keine Familie … Nur eine Vergangenheit, der er entfliehen wollte.

Alvar sah zu den anderen Crewmitgliedern. Ganz gleich, weshalb sie auf dieser Mission gelandet waren – die Zeit des Abschieds war gekommen. In wenigen Stunden würde sie das Spaceshuttle in den Weltraum befördern.

Alvar atmete langsam durch, beruhigte seinen Herzschlag. Wie in Trance nahm er die Scherze und Blödeleien der anderen wahr, hörte er das Ratschen und Klicken der verschiedenen Verschlüsse, die an den Raumanzügen geschlossen und gesichert wurden. Er warf einen Blick auf die Uhr, die an der Wand der Halle montiert war – zwei Meter groß, damit jeder sie sehen konnte. 04:32 Uhr. Noch zweieinhalb Stunden, ehe der Countdown begann. Es wurde Zeit.

Er spürte den abschließenden Klaps auf die Schulter, nickte dem Techniker an seiner Seite zu und setzte sich in Bewegung. Einen Schritt vor den anderen, durch die Halle, zum Tor hinaus. Den Journalisten zuwinken. Selbst das hatten sie geübt. Bloß nicht den Blick auf das Gesicht verwehren, die Welt brauchte Vorzeigefotos von ihren Pionieren. Alvar lächelte verkrampft, winkte und war froh, als er die paar Meter hinter sich gebracht hatte und in den vordersten der drei Busse einsteigen konnte, die sie zum Shuttle bringen würden. Er setzte sich auf den ihm zugeteilten Platz, hakte den Arm artig in die Haltestange ein und sah nach draußen.

Dort vorne, der kleine Leuchtpunkt in der Dunkelheit, weit hinter den blitzenden Lichtern der Fotografen – das war ihr Shuttle. Die Pioneer. Eine Velc-09, schlank, weiß, knapp fünfzig Meter hoch und an drei gewaltigen Treibstofftanks befestigt. Gebaut, um zwanzig Menschen in den Orbit und zur Celeste zu befördern. Die ersten zwanzig. Einhundert würden es für die Reise zur Kolonie werden, doch nur sechs von ihnen würden den gesamten Flug im Wachzustand verbringen. Der eiserne Kern.

Alvar schreckte aus seinen Gedanken, als er das Klacken von Stiefeln hörte. Harris nahm ihm gegenüber Platz, doch diesmal hatte der Amerikaner seine Aufmerksamkeit auf die Leiterin des Naturwissenschaftsteams gerichtet. Offenbar nahm er es mit der Besiedelung des neuen Planeten sehr ernst, denn Harris gab sich die größte Mühe, um die Französin mit seinen Scherzen zu beeindrucken. Alvar schmunzelte. Vermutlich fühlte Harris sich durch die Abwesenheit einer Delle an ihrem Ringfinger ermutigt – Imani Denaux war nicht verheiratet. Das bedeutete allerdings noch lange nicht, dass sie zu haben war. Alvar hatte einige Kurse an der Universität mit ihr besucht, und soweit er wusste, war sie ausschließlich an Frauen interessiert.

Abgesehen davon war Denaux ein schwieriger Mensch. Sie besaß einen IQ, mit dem sie ihn und mit ziemlicher Sicherheit auch Harris locker in die Tasche stecken konnte. Empathie dagegen war absolut nicht ihre Stärke. Es würde Alvar nicht wundern, wenn sie Harris’ Annäherungsversuche nicht einmal mitbekam.

Einen kurzen Moment lang erwog Alvar, dem Ingenieur ein unauffälliges Zeichen zu geben, doch er verwarf die Intention, als sich der Rest ihrer illustren Fahrgemeinschaft in den Bus schob. Harris würde bald merken, dass er sich umsonst abmühte. Denaux hatte ein gutmütiges Lächeln aufgesetzt und einen abwesenden Gesichtsausdruck, der selbst einem Amerikaner verklickern sollte, dass seine Worte zwar gehört, aber keineswegs beachtet wurden. Harris hatte sich eindeutig die Falsche ausgesucht.

Womöglich war er damit sogar besser dran als Alvar. Immerhin musste der Ingenieur niemanden auf der Erde zurücklassen. Jedenfalls hatte Alvar niemanden gesehen, von dem Harris sich verabschiedet hätte.

Hana und er hatten nur stumme Blicke ausgetauscht. Was zu sagen war, hatten sie einander bereits gesagt, bevor für ihn die Zeit der Quarantäne begonnen hatte. Alles andere wollten sie nicht vor den Augen der Öffentlichkeit aussprechen, durch eine Glasscheibe und vor Hunderten Kameras, die auf sie gerichtet waren. Dennoch wünschte Alvar, er hätte sie ein letztes Mal umarmen können, statt nur die Hand an die Scheibe zu legen und zu sehen, wie sie dasselbe auf der anderen Seite der Barriere tat.

Er unterdrückte ein Seufzen und sah wieder zum Fenster hinaus. Inzwischen färbte der erste Hauch von Rosa den Horizont. Die Tür des Busses schlug zu, der Elektromotor startete mit einem leisen Sirren. Ihre letzte Reise auf dieser Welt begann.

Sie passierten die Reihen der Journalisten, die sich hinter der Absperrung tummelten. Jetzt erst bemerkte Alvar, dass das bei Weitem nicht alle Leute waren, die gekommen waren. Außerhalb des Pressebereichs, hinter dem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun, drängte eine Masse an Demonstranten. Sein Magen verkrampfte sich, als er die Schilder sah, die in der Dunkelheit aufblitzten. Er kniff die Augen zusammen, um die Botschaften darauf zu lesen, nur um sie gleich darauf überrascht wieder aufzureißen. Keine Spur von den hasserfüllten Parolen, die er erwartet hatte. »Ihr seid unsere Hoffnung«, stand da. Und »Unsere Zukunft«.

Wie schlimm musste es um die Erde bestellt sein, dass jemand sich in aller Frühe aufmachte, um freundliche Botschaften zu verkünden? Alvar hätte es nur zu gerne auf die menschliche Güte geschoben, aber dazu kannte er die Menschen zu gut. Es war Angst, die sie hertrieb, nicht Hoffnung. Angst davor, dass die Celeste versagte, und es tatsächlich keinen Planeten B gab, wie die Klimaschützer ja schon seit geraumer Zeit mahnten.

Alvar versuchte, die Zahl der Demonstrierenden zu schätzen. Ein paar Hundert? Tausend vielleicht? Ihre Gesichter verschwammen, während der Bus an der Menge vorbeizog. Und dann waren sie plötzlich verschwunden. Die Marssiedler waren allein.

Sie passierten eine zweite Schranke, und die Busse fuhren hinein in das Niemandsland, das den Startplatz der Rakete umgab. Sicherheitszone. Alvar lehnte sich in seinem Sitz zurück. Entspannen konnte er sich nicht. Das war die letzte Stunde, in der er sich in der Sicherheit des relativen Alltags bewegte. Die letzte Stunde, in der ein anderer das Fahrzeug lenkte, ein anderer die Verantwortung trug.

Ich hoffe, du weißt, was du mir da angetan hast, Hana.

Er war nie der Mann gewesen, der anderen sagen wollte, was sie zu tun hatten. Aber vielleicht hatte seine Frau recht. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb er das Kommando übernehmen musste.

Die Fahrt zum Startplatz dauerte rund eine halbe Stunde. Aus dem winzigen Punkt am Horizont wurde ein majestätischer Gigant. Und das war nur das Shuttle. Der wahre Titan erwartete sie erst im All.

Langsam ratterten sie auf einer zugigen Plattform in die Höhe. Neben der weißen Glätte des Shuttles wirkte die Plattform grob und antiquiert. Je höher sie stiegen, desto heftiger wehte ihnen der Wind um die Nasen. Alvar erwog, einen Witz über die Unsinnigkeit der Quarantäne zu machen, wenn sie sich nun hier eine Erkältung einfingen. Stattdessen stieß er nur ein leises Brummen aus und zog die Schultern hoch.

Oben angekommen, öffneten ihnen die Techniker die Tür zum Shuttle. Alvar atmete ein letztes Mal die frische Luft der Erde ein. Den Metallgeruch der Anlage, den Staub in der Luft. Dann duckte er sich durch den Eingang und betrat die Kommandokapsel.

Er musste sich zwischen den Sitzen hindurchzwängen, was in dem massiven Raumanzug nicht so leicht war. Beim Aussteigen würde er dieses Problem nicht haben – die Schwerelosigkeit eröffnete eine ganz neue Dimension. Er hievte sich in den Sitz des Kommandanten und schnallte sich ordnungsgemäß an. Anschließend betätigte er die Taste, die den Funkkontakt zur Missionskontrolle herstellte. »Hier Lajunen. Kommandant der Pioneer an Bord.«

»Alles klar, Pioneer. Wie ist die Aussicht da oben?«

Vor Alvar lag nur Himmel, der sich mittlerweile irgendwo zwischen verwaschenem Grau und dezentem Blau eingefunden hatte. Er wandte den Kopf und sah seitlich durch die Frontscheibe des Shuttles. Treibstofftank, Gerüst und dahinter ebenfalls Himmel. »Ich würde ja sagen, dass die Erde von hier oben winzig aussieht, aber dazu müsste ich sie erst einmal sehen.«

Aus dem Lautsprecher drang ein blechernes Lachen. »Okay, dann beginnen wir jetzt mit den Checks. Bereit?«

»Immer doch.« Während sich die Plätze hinter ihm allmählich füllten, kontrollierten Start- und Missionskontrolle jede Einstellung, überprüften die Funktion jeder Schleuse, jedes Triebwerks. Alvars Zweifel und Grübeleien rückten in weite Ferne. In diesem Sitz war kein Platz dafür. Jetzt gab es nur noch die Handgriffe und Kommandos, die er nach all den Übungssimulationen in routinierter Kontrolle vollzog. Die Verbindungen standen, einer nach dem anderen gaben die Astronauten ihr GO für den Einsatz. Es fehlte nur noch das der Kontrollzentren.

»Wir bewegen links noch mal.«

Alvar antwortete nicht, starrte nur gebannt auf die Kontrollleuchten vor sich. Drei Minuten bis zum Countdown. Seine Nervosität prickelte nicht länger. Mittlerweile lag sie ihm wie ein Stein im Magen und drückte auf seine Eingeweide.

Irgendwo hundert Meter unter ihm kreiste ein Triebwerk und kehrte dann reibungslos in seine Ursprungsposition zurück. Noch konnte die Mission vertagt werden. Noch waren sie in Sicherheit, falls etwas nicht wie gewünscht funktionierte. Angespannt wartete er ab, zwang seinen Atem zur Ruhe. Keine Fehlermeldung.

»Sieht gut aus von hier«, meldete die Startkontrolle.

»Von hier auch«, gab Alvar zurück.

»In Ordnung. Dann leiten wir jetzt die Startsequenz ein. In fünf, vier, drei … GO.«

Der Gigant, in dessen Bauch sie saßen, erwachte zum Leben. Mit einem lauten Röhren starteten die Hilfstriebwerke. Die Vibration war bis in den Sitz des Kommandanten zu spüren.

»Noch zwei Minuten«, drang es aus dem Lautsprecher. »Helme schließen.«

Alvar nickte, auch wenn es niemand sehen konnte. Er klappte sein Visier hinunter und ließ es einrasten. Sein Blick war auf die Uhr gerichtet. Die Sekunden krochen dahin, die Minuten rasten.

»Wir schalten um auf interne Energieversorgung.«

Damit waren sie nun auf sich allein gestellt. Eine Minute. Fünfundfünfzig Sekunden. Fünfzig. Vierzig. Zwanzig. Bei sechs Sekunden zündete das Haupttriebwerk. Alvar atmete aus. Langsam, gezielt. Trotzdem traf ihn der Schub mit der Wucht eines Rammbocks, als der Zähler die Null erreichte und der Shuttle startete.

Die Außentriebwerke brüllten, der gesamte Shuttle wurde durchgerüttelt, während sie höher und höher stiegen, bis sie schließlich kippten. Der Shuttle rollte herum und richtete sich zum Orbit aus, während er zugleich immer weiter beschleunigte. Alvar wurde in den Sitz gepresst und so heftig durchgerüttelt, dass er seinen Kopf aus der Polsterung des Sitzes stemmen musste, um die Anzeigen ablesen zu können. Flughöhe, Winkel, Position … Mit jeder Veränderung der Werte ratterten hundert Protokolle durch seinen Kopf, spielte er jede Eventualität durch, jede Übung, die er im letzten Jahr und in den Jahren davor absolviert hatte.

Jeder Handgriff saß. Die Crew wusste genau, was sie tat. Die Routine bescherte Alvar ein entrücktes Gefühl, so als würde nicht er seine Gedanken und Bewegungen lenken, sondern die Missionskontrolle irgendwo weit unter ihm. Und zugleich hatte er sich nie fokussierter und gegenwärtiger gefühlt als jetzt.

Der Druck auf seine Brust wurde immer stärker, bis Alvar um jeden Atemzug kämpfen musste. Der Himmel über ihm wurde dunkelblau, dann schwarz. Sterne flammten auf. Alvar hatte das Gefühl, zwischen seinem Sitz und dem Nichts zerquetscht zu werden.

Und dann, mit einem Mal, war alles vorbei. Das Tosen der Antriebe erstarb, der Druck auf seiner Brust verschwand. Schwerelose Stille hüllte sie ein. Wie von selbst lösten sich seine Hände von den Armlehnen seines Sitzes und trieben empor, so als gehörten sie nicht länger zu seinem Körper. Inmitten der Sterne war er erfüllt von absoluter Leichtigkeit.

Ein erhabener Augenblick, der jedoch nicht lange währte.

»Heilige Scheiße«, meldete Harris. »Das ist mal ein Anblick.«

Der Amerikaner musste nicht weiter ausführen, was er meinte.

Über ihnen ragte das gigantischste Schiff auf, das die Menschheit bisher gebaut hatte. Die Arche, die den Grundstein einer neuen Zivilisation bilden sollte. Ihr Schiff.

Im gleißenden, ungefilterten Sonnenlicht glänzte das Metall der Celeste silbrig und weiß, durchbrochen nur von schmalen Sichtfenstern, die sich wie dunkle Bänder um den Schiffsrumpf zogen. Ein niedriger Diskus, vierhundert Meter im Durchmesser und auf der Hauptebene zwanzig Meter hoch. Massiv genug, um der geringen Schwerkraft auf dem Mars standzuhalten, und doch von einer ästhetischen Leichtigkeit, die verriet, dass dieses Schiff im Orbit und nicht auf der Erde konstruiert worden war. Der Aufbau zog sich in drei breiten, abgerundeten Stufen zum Zentrum hin, wo sich der Kevlarschirm wie eine Kappe wölbte. Fünf Verbindungsschächte führten aus dem Hauptschiff zu dem abgeflachten Ring, in dem sich die Frachtmodule befanden und der den Diskus umschloss. An jeder der fünf Verbindungsstellen befand sich ein Dock, um einen der Shuttles aufzunehmen.

Das gigantische Sonnensegel im Schlepptau der Celeste bildete auf jeder Ebene einen Kontrast zu dem Schiff, das es mit Energie versorgte: ein schwarzes Sechseck aus dünnen Solarpaneelen, das sich auch während des Flugs zur Sonne ausrichten ließ. Am Solarsegel vorbei blickte Alvar direkt in das gewaltige Ionentriebwerk an der Unterseite des Schiffes. Noch war es schwarz und stumm, aber schon in wenigen Tagen, wenn der letzte Shuttle angedockt hatte, würde es aufleuchten und die ersten Siedler zum irdischen Nachbarplaneten tragen.

Die Schilder der Demonstranten kamen ihm in den Sinn, und in Alvar breitete sich ein stilles Gefühl von überwältigender Freude aus.

Wir sind die Zukunft.

[home]

2. Kapitel – CELESTE

Das gleichmäßige, unangenehm schrille Piepen des Alarms riss Alvar Lajunen aus dem Schlaf. Er fuhr hoch, soweit es ihm die Gurte um seinen Schlafsack erlaubten, und stöhnte. Während er sich noch mit dem Verschluss der Schlafsicherung abmühte, verstummte das Piepen wieder. Aber es half nichts. Er musste nachsehen.

Alvar griff an den Rand seiner Koje, zog sich aus dem Schlafsack und dirigierte seine schwerelose Bewegung gleich weiter in Richtung Kommandozentrale. Hundertachtzig Tage befanden sie sich nun schon im All, und das war bereits der dritte Alarm in dieser Woche. Auch wenn ein technischer Defekt sie auf dem Mars ebenso leicht umbringen würde wie an Bord der Celeste – Alvar war froh, dass sie in ein paar Wochen wieder festen Boden unter den Füßen spüren würden. Nach fünf Monaten der Reise hatte er allmählich genug von der Schwerelosigkeit des Alls.

Er stieß sich ab und driftete den kurzen Gang hinab, der seine Kabine mit der Hauptachse des Schiffes verband, und schlüpfte durch den Eingang zur Zentrale. Es überraschte ihn nicht, Michael Harris dort am Steuercomputer vorzufinden. Selbst wenn der Chefingenieur keinen Wachdienst hatte, hielt er sich bevorzugt dort auf, wo er sich am nützlichsten fühlte. Alvar argwöhnte, dass Harris insgeheim gehofft hatte, der Kommandantenposten würde ihm zufallen. Er war eine Autoritätsperson, souverän, befehlsgewohnt … Was möglicherweise an seinem militärischen Hintergrund lag. Und das war der Grund, warum Alvar froh war, dass er die Verantwortung trug und nicht Harris. Der Amerikaner war witzig, offenherzig, charmant – aber er hatte auch im Krieg gedient, hatte sich freiwillig für den Einsatz im Nahen Osten gemeldet, wie er sich auch für die Mission der Celeste gemeldet hatte. Und Alvar hatte Hanas Worte noch deutlich im Kopf: Kriege gab es auf der Erde bereits genug, der Mars musste ihnen eine neue Chance einräumen. Eine bessere Zukunft.

Doch ganz gleich, was Alvar von Harris’ bisherigem Berufsweg halten mochte, seine Kompetenz als Ingenieur schätzte er durchaus. »Was war das für ein Alarm?«

»Ein Meteoroid«, erklärte Harris, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. Er warf sich einen Kartoffelchip zum Mund und fing den frei schwebenden Snack mit einem Biss. »Ist am Schirm vorbei und hat eine Platte am Frachtring beschädigt.«

Alvar nickte. »Müssen wir sie austauschen?«

»Das werden wir sehen. In einer Stunde circa sollte ich die Messwerte reinkriegen. Wenn es einen Energieverlust gibt, seh ich mir das Ganze von außen an.«

»Danke. Nimm Mei mit, wenn du das tust.«

»Aye, Captain.« Harris salutierte und zwinkerte ihm zu, ehe er sich den nächsten Kartoffelchip zuwarf. »Sonst alles klar?«

»Sicher.« Alvar rieb sich die Müdigkeit aus dem Gesicht. Er spürte die rauen Bartstoppeln an der Handfläche und zog eine Grimasse. »Wenn ich schon mal auf bin, kann ich den Tag auch starten, nicht wahr?« Er stieß sich von der Wand ab und schwebte zu seinem eigenen Computer.

»Vorsicht, Cap. Du mutierst noch zum Workaholic.«

»Klar.« Als ob sein Zeitplan ihm da irgendwelche Freiheiten erlaubte. »Dann beginne ich den Tag eben am Trainer, das sollte die Gefahr mindern.« Er wollte nur eben sehen, ob die Post eingetrudelt war, ehe er sich auf die Tretmühle schnallte.

Die digitale Uhr auf seinem Bildschirm, die ihm die Lokalzeit in Houston anzeigte, zeigte kurz nach zehn Uhr vormittags. Eigentlich müsste das Datenpaket von der Erde bereits eingetroffen sein. Alvar stieß ein nachdenkliches Brummen aus, als er die Nachrichten durchsah, die in seinem Posteingang gelandet waren. Meist war es nur eine, heute dagegen gleich drei: der tägliche Brief von Hana, das Status-Update der Missionsleitung – und eine weitere Nachricht. Diese trug den Absender des UN-Hauptquartiers und war als vertraulich markiert.

Dass die UNO selbst ihn kontaktierte, machte Alvar stutzig. Das bedeutete, dass es nicht ihren Flug, sondern die Kolonie betraf. Noch ungewöhnlicher als der Absender war allerdings der Betreff. »Aktualisierung Missionsziel Celeste«, stand da.

Alvar runzelte die Stirn. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass Harris in seine eigenen Analysen vertieft war, ehe er die kurze Nachricht überflog. Er stutzte, las den Text noch einmal – und verwarf seinen Vorsatz mit dem Sportprogramm. Hastig schloss Alvar die Nachricht. Er atmete tief durch. Etwas war geschehen. Etwas so Gewaltiges, dass er es unmöglich für sich behalten können würde. Die UNO stellte ihm frei, seine Mannschaft zu informieren. Und das würde er müssen, bevor sie es auf andere Weise erfuhren. Erneut rieb Alvar sich über das Gesicht. Die Müdigkeit war verschwunden, er fühlte sich, als würden tausend Nadeln unter seiner Haut prickeln.

Sie hatten noch vier Wochen vor sich, ehe sie den Mars erreichten. Vier Wochen voller Angst, wenn er die Information preisgab. In zwei Wochen sollte eigentlich das Bremsmanöver eingeleitet werden. Ganz gleich, wie es weiterging – die Mannschaft war auf ihre Konzentration angewiesen.

Auf keinen Fall sollte er alle zugleich informieren. Erst einmal nur … Unsicher sah Alvar zu seinem Stellvertreter. Harris war immer noch mit den Energiewerten und seinen Chips beschäftigt. Das war jedoch nicht die Art von Nachricht, bei der man anschließend einen Weltraumspaziergang hinlegen sollte, selbst dann nicht, wenn es dabei nur um die Steuerung einer Drohne ging.

»Kleine Planänderung«, sagte Alvar deshalb. »Mei geht alleine.«

»Was?« Nun hatte er Harris’ volle Aufmerksamkeit. »Was soll das, Cap? Es ist meine Schicht und –«

»Halt die Klappe und sieh dir das hier an.« Alvar deutete auf seinen Rechner. »Das ist wichtiger.«

Der Amerikaner runzelte die Stirn. Er stieß sich von seiner Station ab und schwebte zu Alvar. Eine Weile starrte er ungläubig auf die Nachricht. »Soll das ein Scherz sein?«

»Ich wünschte, es wäre einer.«

»Aktualisierung Missionsziel Celeste«, stand da. »Ein weiteres Raumschiff bislang unbekannter Herkunft scheint ebenfalls Kurs auf den Mars genommen zu haben. Falls der Mars das Ziel ist, wird es unseren Berechnungen zufolge in weniger als sechs Tagen dort eintreffen. Behalten Sie den Kurs bei, bis ein Funkkontakt hergestellt werden kann. Berechnungen für Ausweichmanöver folgen, falls erforderlich. Information der Mannschaft nach eigenem Ermessen.«

»Was soll das heißen, sie wissen nicht, woher das Scheißschiff kommt?«, brauste Harris auf. »Die müssen doch mitbekommen haben, wenn irgendwer eine Rakete losgeschickt hat. Erst recht, wenn sie bereits in sechs Tagen ankommt! Entweder sind die vor uns losgeflogen, oder sie ballern Unmengen an Treibstoff raus. Warum sagt man uns das erst jetzt? Und wieso Ausweichmanöver?«

Alvar ließ ihn ausreden. Dann öffnete er die Datei, die sich im Anhang befunden hatte. »Sieh dir die Koordinaten an.« Die Flugbahn und die Geschwindigkeit sprachen für sich.

Das Raumschiff war unbekannter Herkunft, weil es nicht von der Erde stammte.

***

Michael Harris, Kampfpilot der Air Force und seit 181 Tagen Chefingenieur der Celeste, hatte gedacht, auf jedes Problem vorbereitet zu sein, das ihnen auf dieser Mission begegnen könnte. Die kleine, harmlos wirkende Grafiksequenz, die Lajunen ihm zeigte, belehrte ihn eines Besseren.

Er starrte ungläubig auf das Display des Kommandanten und bemerkte erst, dass er abtrieb, als er mit der Schulter gegen die benachbarte Steuerkonsole stieß.

Michael stieß einige Schimpfworte aus, was der Finne mit seiner gewohnt stoischen Miene zur Kenntnis nahm. Dann zog er sich zu seiner eigenen Arbeitsstation und gab die Kennung von Chen Meis Funkhörer ein. Nach dem zweiten Piepen nahm die zweite Ingenieurin das Gespräch an.

»Ja?«

»Hi, Mei. Tut mir leid, ich weiß, deine Schicht hat noch nicht begonnen, aber ich brauche hier kurz deine Hilfe.«

»Wieso so ernst? Geht’s dir nicht gut?«

»Nein.« Michael biss die Zähne zusammen. Er war froh, dass sie ihn nur hörte und ihn nicht sah. Die Anspannung in seinem Gesicht hätte er wohl kaum verbergen können. »Alles in Ordnung.«

»Na, wenn du das sagst.« Sonderlich überzeugt klang Chen nicht. »Ich bin gleich da.«

»Danke.« Dann wandte er sich wieder seinem Kommandanten zu und brummte: »Und was jetzt?«

»Wir fliegen weiter«, meinte Lajunen. »Was sollen wir denn sonst tun?« Er tippte auf das Display und ließ die unheilvolle Nachricht verschwinden. »In sechs Tagen landet dieses außerirdische Schiff.« Er sagte das, als wäre daran nichts außergewöhnlicher als an einem verfluchten Meteoroideneinschlag in der Außenhülle. »Es ist völlig gleichgültig, welches Manöver die Missionskontrolle und die UNO berechnen. Wir haben nicht genug Treibstoff, um einfach umzukehren. Deshalb sollen wir den Kurs beibehalten – es ist unsere einzige Option.«

Das war es nicht, was Michael gemeint hatte. Dass sie nicht umkehren konnten, war ihm klar. Die Celeste war nie für den Rückflug konzipiert worden, sie sollte auf dem Mars als Operationszentrale verbleiben. Unbemannte Missionen hatten bereits eine Menge Zeug auf dem Planeten abgeladen. Verpflegung und Rohstoffe, die sie in der ersten Zeit am Leben erhalten sollten, bis die Kolonie einigermaßen autark funktionierte. Treibstoff für einen Notfall, der die Evakuierung der Marssiedler erforderte, war ebenfalls dabei. Um an diesen heranzukommen, müssten sie allerdings erst einmal landen.

»Trotzdem«, beharrte Michael. »Die können uns nicht einfach zum Mars fliegen lassen, als wäre nichts gewesen.«

»Das tun sie auch nicht. Wenn du mich fragst, tüfteln sie an einer Lösung, wie sie uns Treibstoff und Vorräte für einen Heimflug zukommen lassen können.« Sonderlich erfreut schien Lajunen über diese Aussicht nicht zu sein.

Michael war es jedenfalls nicht. »Dazu müsste ihnen erst einmal eine neue Rakete zur Verfügung stehen«, sinnierte er. »Selbst eine unbemannte braucht ein paar Monate zum Mars, und die Konstellation wird mit jeder Woche mieser.«

Die Celeste war unter günstigsten Konditionen von der Erde gestartet und nun bereits seit fünf Monaten unterwegs. Inzwischen hatte sich der Abstand der beiden Planeten vervierfacht. Eine günstige Startkonstellation würde es erst wieder in gut anderthalb Jahren geben. Lajunen hatte recht. Es war völlig gleichgültig, welche geniale Idee auf der Erde für sie ausgeheckt wurde – für die nächsten Jahre waren sie wohl oder übel auf sich allein gestellt.

»Also schön, Captain. Du bist der Boss. Was tun wir?«

Lajunen rieb sich nachdenklich über die Wange. Auf der Stirn des sonst so beherrschten Finnen erschienen tiefe Falten. »Vorerst gar nichts«, entschied er schließlich. Er seufzte. »Solange wir keine Details kennen, können wir an unserer Situation ohnehin nichts ändern. Wir informieren die Crew, sobald Mei zurück ist.«

»Und was ist mit den anderen?«, fragte Michael irritiert. »Willst du sie nicht aufwecken?«

Lajunen schüttelte den Kopf, erst langsam, dann nachdrücklich. »Das wäre keine gute Idee.«

»Spinnst du?« Das konnte der Finne doch nicht tatsächlich ernst meinen! »Sollen sie etwa auf dem Mars feststellen, dass wir ihnen das da verschwiegen haben?«

»Und was genau willst du ihnen sagen?« Lajunen schnaubte frustriert. »Noch wissen wir zu wenig«, behauptete er. »Wenn wir die Habitate vorzeitig aktivieren, bedeutet das einen enormen Energieaufwand, ganz zu schweigen davon, dass unsere Vorräte nicht darauf ausgelegt sind, wochenlang einhundert Passagiere zu verköstigen.«

Ungläubig sah Michael seinen Freund und Kommandanten an. »Das ist deine Priorität? Dass es weniger Kosten verursacht, die Leute in den Schlafkapseln zu lassen?«

Sein Vorwurf ließ Lajunen verärgert die Augenbrauen zusammenziehen. »Es geht nicht um Kosten«, entgegnete er scharf. »Aber solange wir die Berechnungen der Missionskontrolle nicht kennen, will ich keine Energie vergeuden. Was bringt es, die anderen aufzuwecken, nur um sie womöglich völlig unnötig in Panik zu versetzen? Wir wissen nicht, was dieses Schiff vorhat. Oder was uns die Missionsleitung aufträgt.«

»Spielt das eine Rolle? Du hast selbst gesagt, dass die auf der Erde nichts tun können. Und wenn diese Aliens nicht bloß die Gravitation des Planeten nutzen, um abzudrehen, werden sie in sechs Tagen auf dem Mars landen. Etwas anderes lässt ihr Kurs gar nicht zu. Die werden uns erwarten!«

»Und die anderen jetzt aufzuwecken ändert daran rein gar nichts, außer dass wir sie einer quälenden Ungewissheit aussetzen.« Lajunen schüttelte den Kopf und seufzte. »Warten wir ab, was uns die UNO vorschlägt. Vielleicht drehen die Außerirdischen ja ab. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.«

***

Eine tiefe Unruhe erfüllte Alvar, die er trotz aller Ausbildung und Fokussierung nicht bezwingen konnte. Er wusste nicht, worauf er hoffen sollte: dass die UN Entwarnung gaben? Dass sie ihnen einen Ausweg präsentierten, wie sie einer Begegnung mit den Außerirdischen entgehen konnten?

Oder sollte er sogar darauf hoffen, dass sie miteinander in Kontakt kamen? Der erste Kontakt mit Leben, das nicht von der Erde stammte – intelligentem Leben, ihrer Fluggeschwindigkeit nach zu urteilen technisch deutlich weiter entwickelt, als die Menschen es waren?

Was, wenn sie ihnen feindlich gesinnt waren? Wussten sie überhaupt von der Erde? Zumindest die Celeste mussten sie doch orten können. Aber warum steuerten sie dann den Mars an? Warum nicht die Erde?

Alvar schloss die Augen und atmete durch. Er musste es seiner Mannschaft sagen. Jedenfalls der Crew, dem Teil, der wach war. Die Leute hatten ein Recht darauf, zu wissen, dass ihre Reise nicht wie geplant verlief, ganz gleich, ob sie in Kürze Aliens gegenübertreten oder einfach wieder zur Erde zurückkehren würden. Mit dem Auftauchen des fremden Schiffes war ihre Mission gescheitert, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Er hatte kein Recht, ihnen diese Information vorzuenthalten.

Doch was sollte er ihnen sagen, solange sie nichts Genaueres wussten? Noch war nicht sicher, ob dieses fremde Schiff überhaupt irgendwelche Auswirkungen auf ihren Flug haben würde, geschweige denn, wie diese aussehen würden. Sie hatten keinen Einfluss darauf, was sie auf dem Mars erwartete. Das Wissen über das fremde Schiff änderte nichts an den Wochen, die sie noch auf der Celeste zubringen mussten. Und Alvar brauchte sich bloß anzusehen, was die Nachricht über das fremde Raumschiff bei ihm selbst ausgelöst hatte. Die Anspannung machte ihn nicht fahrlässig – aber seine Gedanken kreisten unablässig um die beunruhigenden Neuigkeiten.

Aber wer war er, andere Leute zu bevormunden? Er war ihr Kommandant, seine Aufgabe war es, die Crew zusammenzuhalten – nicht, Zensur zu betreiben und ihre Eigenständigkeit zu beschneiden.

Den schlafenden Teil der Mannschaft musste er vorerst in ihren Schlafkapseln belassen. Sie aufzuwecken würde ihnen nicht helfen, im Gegenteil. Damit würden sie das gesamte Hauptschiff aktivieren müssen. Heizung, Strahlenschutz, Luftaufbereitung, ganz zu schweigen von Sanitäranlagen, Küche und dem ganzen Rest. Sechs Leute benötigten nur einen Bruchteil des Schiffes, einen Bruchteil der Energie. Sie wussten nicht, wie lange sie noch an Bord der Celeste ausharren mussten. Möglicherweise würden sie jeden Funken Energie bitter nötig haben.

Aber wer wach war, sollte die Wahrheit erfahren. Schweren Herzens berief Alvar eine Besprechung ein.

Die Schiffsmesse lag auf dem Hauptdeck, im Zentrum der Celeste. Ein runder Raum von zwanzig Metern Durchmesser. Selbst mit den Tischen, die in kleinen Gruppen auf dem Boden festgeschraubt waren, war der Speisesaal groß genug, um alle hundert Besatzungsmitglieder aufzunehmen. Im Augenblick wirkte ihre Mannschaft darin allerdings ziemlich verloren. Selbst die sechs Personen, die den harten Kern seiner Besatzung bildeten, hatte Alvar noch nie alle zur gleichen Zeit hier gesehen. Zwei Frauen, vier Männer. Chen Mei, die zweite Technikerin, Imani Denaux, die Physikerin. Dazu Victor Fernandez, der Mediziner, und Alexej Suchanow, ihr Psychologe – und natürlich Harris und er selbst. Der Übersicht halber saßen sie auf den Stühlen, die Füße in die Verankerungen gesteckt, statt frei im Raum herumzuschweben, was den Anblick erst recht ungewohnt wirken ließ.

Die Anspannung in der Messe war beinahe greifbar. Leise Gespräche drifteten durch den Raum, Spekulationen, Ungeduld und eine berechtigte Besorgnis. Es war das erste Mal, dass er sie hierherbestellt hatte, und die nächste Etappe ihrer Reise lag noch mehr als zwei Millionen Kilometer vor ihnen. Sie fragten sich sicher, was auf sie zukam. Alvar dagegen fragte sich, wie sie die Neuigkeiten aufnehmen würden.

Schließlich gab es keinen Grund mehr, länger zu warten. Er klatschte in die Hände, woraufhin das leise Murmeln verstummte.

»Danke, dass ihr gekommen seid«, begann er die Rede, die er sich grob zurechtgelegt hatte. »Ich weiß, ihr wollt alle an eure Posten zurück oder in die Ruhepause. Ich versuche, mich kurz zu fassen und alle Fragen zu beantworten, soweit ich kann.« Er blickte in die ernsten Gesichter, sah sie alle an, einen nach dem anderen, selbst Harris. Der Amerikaner nickte ihm kaum merklich zu. »Die UNO hat uns darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein außerirdisches Raumschiff in unser Sonnensystem eingedrungen ist.«

Entsetztes Schweigen war die Folge. Fernandez lachte, unsicher, ob er das ernst meinte.

»Das ist noch nicht alles«, fuhr Alvar fort. »Ausgehend von ihrem Kurs ist davon auszugehen, dass diese Außerirdischen ebenfalls den Mars ansteuern.«

Nun schien die Bedeutung seiner Worte langsam bei ihnen anzukommen. Erste Stimmen wurden laut, die Fragen riefen oder die Wahrheit seiner Worte schlichtweg leugneten. Alvar hob die Hände, um noch einmal für Ruhe zu sorgen, doch das gelang ihm nur bedingt.

»Ich weiß, dass das beunruhigende Nachrichten sind«, rief er. »Aber noch gibt es keinen Grund zur Sorge.« Als ob er das selbst glauben würde. »Harris und ich stehen im Austausch mit der Missionskontrolle, um ein Manöver vorzubereiten, das es uns erlaubt, mit der Celeste zur Erde zurückzukehren, sofern das notwendig werden sollte. Bislang wissen wir noch nicht, was diese Fremden von uns wollen, aber die UNO ist zuversichtlich, bald den Kontakt herstellen zu können. Bisher schweigen die Unbekannten allerdings noch.«

»Warum steuern sie den Mars an?«, rief Fernandez. »Warum nicht die Erde?«

»Vermutlich aus demselben Grund, aus dem sie nur ein Schiff senden«, antwortete Harris. »Sie sind uns nicht feindlich gesinnt, sondern suchen vorsichtigen Kontakt.«

Alvar nickte seinem Stellvertreter anerkennend zu. Vielleicht brachte eine militärische Denkweise doch ein paar Vorteile mit sich.

»Aber warum senden sie dann nichts?«, fragte Fernandez weiter.

Diese Frage vermochte keiner von ihnen zu beantworten.

Denaux hob die Hand. »Wissen wir, woher das Raumschiff stammt?«

»Nicht aus unserem Sonnensystem, so viel ist klar.« Alvar seufzte. »Über den Rest können wir bislang nur Vermutungen anstellen. Wenn wir optimistisch sind und behaupten, sie kämen aus dem Centauri-System …«

»Dann wären sie damit immer noch über vier Lichtjahre geflogen«, fuhr Denaux fort. »Kennen wir ihre Fluggeschwindigkeit?«

Alvar nickte. Er wusste, worauf die Physikerin hinauswollte, und die Antwort würde ihr nicht gefallen. »Sie fliegen mit halber Lichtgeschwindigkeit. Tendenz stark fallend. Sie bremsen also bereits ab, was bedeutet, dass ihre ursprüngliche Geschwindigkeit wesentlich höher war.« Er atmete ein letztes Mal durch. »Falls sie tatsächlich aus unserem Nachbarsystem kommen, wie ihre bisherige Route nahelegt, könnten sie durchaus nach uns gestartet sein.«

Erneut brausten die Stimmen auf, alle redeten wild durcheinander. Angst breitete sich aus, denn wenn die Außerirdischen erst nach ihnen aufgebrochen waren, gab es keinen Zweifel daran, was sie auf den Plan gerufen hatte: sie selbst. Die Celeste war ihr Ziel. Und diese Aussicht war alles andere als beruhigend.

Immer weitere Fragen drängten auf sie ein, doch weder Harris noch er konnten mit Antworten aufwarten. Sie wussten einfach zu wenig.

Wir hätten warten sollen, dachte Alvar. Bis wir Kontakt zu den Außerirdischen aufgenommen haben. Bis wir wissen, was sie von uns wollen und wie unsere Mission weitergeht – falls sie nicht ohnehin bereits hinfällig ist.

Aber es gab keine Garantie dafür, dass überhaupt ein Kontakt zustande kam, und das Manöver der Missionskontrolle würde darauf hinauslaufen, dass sie die Gravitation des Mars als Umkehrhilfe nutzten, sofern sie nicht im Orbit selbst ausharren mussten. Hätte er warten sollen, bis die Aliens ihnen zum Fenster hereinschauten?

Dennoch hatte Alvar ein mieses Gefühl, als er die aufgewühlten Gesichter sah, mit denen die Crewmitglieder die Messe verließen. Noch sechs Tage, bis das fremde Schiff auf dem Mars eintraf. Noch sechs Tage der Ungewissheit.

[home]

3. Kapitel – ORBIT

»Die Berechnungen sind da.« Michael öffnete die Nachricht der Missionskontrolle und war wenig überrascht, dass Denaux sich an seine Seite zog, um ebenfalls einen Blick darauf zu erhaschen.

»Lass mal sehen.« Die Physikerin tippte auf seinen Bildschirm und rief die Parameter für das Bremsmanöver auf. Michael ließ sie gewähren. »Hm.«

»Sag bloß, du findest einen Fehler«, scherzte er. Als sie nicht gleich antwortete, bereute er seine Worte. Ein Fehler in den Berechnungen der NASA war schließlich das Letzte, was sie gebrauchen konnten.

»Ich muss mir das genauer ansehen.« Denaux aktivierte die Tastatur und begann, wilde Zahlenkolonnen zu tippen, von denen selbst Michael nur die Hälfte verstand. Angespannt betrachtete er abwechselnd den Bildschirm und ihr ernstes Gesicht. Sie war schön, wenn sie lächelte. Jetzt hingegen wirkte sie eher beängstigend.

Ein leichtes Runzeln zeigte sich auf der Stirn der Physikerin. Sie tippte noch ein paar Befehle und wiederholte ihr »Hm«, ehe sie sich von dem Computerterminal löste und mit verschränkten Armen neben ihm schwebte.

»Kein Fehler«, meinte sie schließlich. »Nur nicht sonderlich elegant gelöst.«

Michael stieß ein freudloses Lachen aus. »Irgendwie beruhigt es mich, dass meine Arbeit nicht die einzige ist, der du nicht traust.«

Denaux sah ihn verwundert an. »Ich wollte dich nicht kritisieren. Ich fühle mich nur sicherer, wenn ich verstehe, was andere berechnen, und …« Sie brach ab.

»Und du es selbst nachgerechnet hast, um sicherzugehen, dass sie keinen Mist bauen?«, schlug er vor. Ertappt presste sie die Lippen zusammen, was ihr das Aussehen eines schüchternen Frosches verpasste. Michael schmunzelte. »Ich nehme es dir nicht übel, keine Sorge. Wir machen hier alle nur unseren Job.« Er wartete ihr Nicken ab, ehe er wieder auf die Berechnungen für das Ausweichmanöver zurückkam. »Was sagst du dazu? Abgesehen davon, dass es unelegant ist?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Unsere Mission habe ich mir anders vorgestellt, als ewig durchs All zu gondeln, nur um dann zur Erde zurückzukehren, ohne irgendetwas erreicht zu haben.«

Ewig bezog sich in diesem Fall auf weitere fünfhundertsiebzig Tage, zuzüglich der drei Wochen, die sie noch für die verbleibende Reise zum Mars benötigen würden. Das Manöver sah vor, die Gravitation des Planeten als Bremskraft zu nutzen, in einen Orbit einzudringen und den Mars so lange zu umkreisen, bis sie mit dem letzten Treibstoff, der ihnen zur Verfügung stand, in einer günstigen Konstellation wieder Richtung Erde starten würden.

Die Japan Aerospace Exploration Agency stellte eine Rakete zur Verfügung, die ihnen entgegenfliegen und sie mit neuem Treibstoff für den Abbremsvorgang zur Erde hin versorgen sollte. Ein schwieriges Unterfangen. Die Celeste würde bei dem Bremsmanöver am Mars fast ihren gesamten Treibstoff verbrauchen und somit weitestgehend manövrierunfähig sein, die Rakete der JAXA war dagegen aufgrund der Distanz von der Erde aus nicht zu kontrollieren. Die Celeste würde die Steuerung übernehmen müssen – sofern sie nah genug herankam. Bei einer Entfernung von mehreren Millionen Kilometern genügte die winzigste Abweichung, um sie zigtausend Kilometer weit aneinander vorbeidriften zu lassen.

Immerhin hätten sie Zeit genug. Denn ohne Treibstoff würde es ein verdammt langsamer Flug werden.

»Es ist irgendwie schade, findest du nicht?«, durchbrach Denaux seine Gedanken. Die Physikerin betrachtete verträumt eine Ansicht des roten Planeten.

»Dass wir nicht die ersten Siedler auf dem Mars sein werden?«

Sie lächelte. »Nein. Die Außerirdischen.« Denaux strich eine blonde Strähne, die ihr vor dem Gesicht schwebte, zur Seite und sah Michael an. »Wir hätten viel von ihnen lernen können.«

»Oder sie hätten uns aus dem Sonnensystem pusten können.«

Denaux verzog den Mund. »Wenn sie uns feindlich gesinnt wären, hätten sie längst agiert.«

»Und wenn sie mit uns hätten kommunizieren wollen, hätten sie auch das längst getan«, hielt er dagegen.

Denaux gab nur ein helles Seufzen von sich. Sie hob die Hände und wandte sich wieder ihrer eigenen Arbeitsstation zu.

Michael bewunderte sie für ihren Einsatz. Die Mission der Celeste war gescheitert, außerirdisches Leben war aufgetaucht und hatte ihnen auf die unaufdringlichste Weise demonstriert, wie klein und unwissend die Menschheit war – und Denaux führte ihre Experimente fort, als wäre überhaupt nichts geschehen. Entweder war sie tatsächlich so abgeklärt, wie sie tat, oder sie hatte gewaltig einen an der Klatsche. Michael mochte sie trotzdem. Vielleicht auch gerade deshalb.

Ein leises Piepen ertönte, das seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Rechner lenkte. Eine weitere Nachricht der Missionskontrolle – an ihn und den Kommandanten. Michael ahnte, was sie enthalten würde. Dennoch kostete es ihn Überwindung, die Nachricht zu öffnen und die vernichtenden Zeilen zu lesen.

Das unbekannte Raumschiff war gelandet. In unmittelbarer Nähe zu Istar II, jener Bodenstation, die von der letzten Aufklärungsmission der NASA zurückgeblieben war.

Ihrem eigenen Landeplatz.

***

Hanas Sohlen trafen die Erde in einem steten Takt, ihr Atem ging keuchend, aber immer noch gleichmäßig, während sie durch den Park joggte. Trockenes Laub raschelte unter ihren Füßen, in den Rhythmus ihrer Schritte mischte sich das leise Klacken von Benjis Krallen. Der Rottweilermischling, den sie aus dem Tierheim zur Pflege übernommen hatte, lief so eng neben ihr her, dass er immer wieder ihr Bein streifte, während sie durch den Park joggte. Hana war das nur recht.

Ihre Kollegen hielten sie für großherzig, weil sie den grimmig dreinblickenden Hund bei sich aufgenommen hatte, solange sie noch auf der Erde weilte, und Hana ließ sie in dem Glauben. Es war jedoch nicht der einzige Grund.