Zwerg und Überzwerg - Christian von Aster - E-Book

Zwerg und Überzwerg E-Book

Christian von Aster

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Beschreibung

Dunkel ist's im Zwergenreich. Pardon, im Ehernen Imperium –, und die Zwerge gehen ihrem gewohnten Alltag nach, graben Höhlen, stützen Gänge, ernten Erz und trinken einen über den Durst. Aber im Geheimen dräut die ruchlose Verschwörung einiger umstürzlerischer Sektierer. Im Ehernen Imperium tief unter der Erde bemerkt kaum ein Zwerg das drohende Ungemach eines geheimnisvollen Komplotts. Der neue Stahl will das Eherne Volk unterwerfen. Es droht nicht weniger als das Ende von allem, jedem und dem Rest. Einzig der Schicksalszwerg vermag dieses Verderben aufzuhalten (obwohl auch das alles andere als sicher ist) … Das Zeitalter der großen Erzferkelprophezeiung ist gekommen. Willkommen im Dunkel der Gänge. Verfolgen Sie aus erster Hand das Schicksal von Fazzgadt Eisenbart, Garstholm Flammrank, Grudgroll Schleuderstein und ihren sympathischen und hinterhältigen Freunden.

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Seitenzahl: 440

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Christian von Aster

Die große Erzferkelprophezeiung 1

Klett-Cotta

Christian von Aster dankt

seiner vertrauenswürdigen Quelle aus dem Volk der Zwerge,

seinen Patreon-Unterstützern, namentlich Joachim Bergt und Ramona Scherhaufer

und zuletzt der parakryptozoologischen Gesellschaft zu Leipzig,

die ihn für die Überarbeitung dieses Manuskriptes

freundlicherweise freigestellt hat.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung eines Fotos von © Federico Musetti

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98235-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11596-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Dem Zwerg in uns allen

KAPITEL I

Dass Fazzgadt Eisenbart nach dem siebten Humpen beherzt ausholte und seine haarige Zwergenfaust im kantigen Gesicht Hrodborrks des Jüngeren versenkte, war alles andere als ungewöhnlich. Genau genommen passierte es seit nunmehr 75 Jahren jeden Abend zwischen dem sechsten und achten Bitterwurzelbier.

Fazzgadt war Angehöriger des Erdclans, ein übellauniger Zwerg von kräftiger Statur, mit dem man sich unter normalen Umständen nur ungern angelegt hätte. Er gab nicht viel auf Bartmode oder moderne Helme, schätzte dafür aber sein Pfeifchen, das er Abend für Abend gemächlich mit einer eigenen Mischung aus Schattenzwirbel und Kupferkraut stopfte. Hernach pflegte er nach seiner Zunderbüchse zu greifen, um es sich anzuzünden.

Und auf ebendiesen Moment wartete Hrodborrk. Jeden Abend.

Hrodborrk war ein seltsamer Kerl. Unter seinen spärlichen, sorgsam gezwirbelten Augenbrauen blinzelten zwei kleine, braune, beinahe an ein Erzferkel erinnernde Äuglein hervor, und sein dünner blassroter Bart war stets nach der neuesten Mode frisiert. Seinen Helm hingegen polierte er nur selten, seine Arbeitsrüstung war an einigen Stellen geflickt und seine Spitzhacke aus zweiter Hand. Wenn es nicht gerade um seinen Bart ging, war Hrodborrk überaus geizig. Darüber hinaus gehörte er dem Stamm des Feuers an und war somit der festen Überzeugung, dass seine Vorfahren es dereinst mitsamt Glut und Flamme erfunden hätten. Weshalb alle Raucher des glorreichen Ehernen Imperiums, sobald sie sich des Feuers bedienten, in seinen Augen tributpflichtig waren.

Allabendlich machte der gut frisierte Hrodborrk dementsprechend seine Runden durch die Höhlen des Inneren Distriktes und trat an jeden Zunderbüchsenklopfer, Lagerfeuerbetreiber und Fackelschwinger heran, um ihn freundlich, aber bestimmt an die fälligen Abgaben zu erinnern.

Gewöhnlich lachte man ihn aus. Manchmal lud man ihn auf ein Bier ein. Oder man beschimpfte ihn und trieb ihn fort. Letzteres hatte auch Fazzgadt einst versucht, dabei aber einen entscheidenden Fehler begangen: Er hatte nämlich nicht nur die Rechtmäßigkeit des Abgabenanspruchs angezweifelt, sondern auch noch die Bartfrisur seines Gegenübers verhöhnt. Was Hrodborrk, den besagte Frisur drei Stein Gold gekostet hatte, freilich persönlich nahm.

Das war jetzt 75 Jahre her.

Seitdem trafen die beiden sich jeden Abend und gingen, nachdem Fazzgadt bekundet hatte, dass er keinen Tribut für gar nichts zu entrichten gedenke, zu ihrer persönlichen handgreiflichen Tradition über.

Diese verlief in vorgezeichneten Bahnen und variierte gewöhnlich lediglich im Finale: Gewann Fazzgadt, dann rauchte er seine Pfeife. Gewann Hrodborrk, zerbrach er ebendiese.

In der Regel gewann allerdings keiner von ihnen, und beide lagen bis zur nächsten Schicht bewusstlos am Boden der Höhle.

Kurz nach der heutigen Eröffnung entfuhr Hrodborrks Mund wie üblich ein schmerzhafter Laut, und er stürzte sich wehenden Bartes brüllend auf seinen Widersacher, um sich an ihm festzubeißen. Dabei erwischte er Fazzgadts rechtes Ohr, das, so wie es aussah, diese Erfahrung schon öfter gemacht hatte.

Zugleich schlang Hrodborrk, der uralten Choreografie ihres Zwistes folgend, seine haarigen Unterarme um Fazzgadts Hals.

Die übrigen Anwesenden in der Höhlentaverne Zur toten Funzel zollten dem Treiben der beiden Raufbolde inzwischen längst keine Aufmerksamkeit mehr. Einige Jahre lang hatten sie allabendlich versucht, die Streithähne zu trennen, später auf den Ausgang des Kampfes gewettet und zuletzt ein paar Jahre lang mal auf dieser, mal auf jener Seite eingegriffen.

Inzwischen langweilte es die meisten von ihnen nur noch.

Die Hrodborrk-und-Fazzgadt-Schau war beinahe durch den gesamten Inneren Distrikt getourt. Sie waren von der Blauen Ratte über Die schrundige Wurzel in den Knochenkeller und Dumpgrunts Bauch gezogen und schließlich in der Toten Funzel gelandet, nachdem sie sich Hausverbot in beinahe allen Schänken des Ehernen Imperiums erprügelt hatten.

Gornholds Bart etwa, die größte Taverne des Inneren Distriktes, hatten die beiden Raufbolde an einem besonders guten Tag binnen zweier Stunden zerstört. Die Einrichtung der Funzel hingegen bestand komplett aus Stein. Hier hätten die zwei vermutlich ewig weitermachen können, wäre an diesem Abend nicht etwas schiefgegangen.

Dieses Mal nämlich trug Hrodborrk im Gegensatz zu sonst keinen Helm.

Was Fazzgadt, der nach dem dritten Bier bereits Probleme hatte, seine eigenen Gliedmaßen auseinanderzuhalten, nicht bemerkte, sodass er wie gewohnt fortfuhr.

Er schrie, Hrodborrk würgte ihn, schlang die Beine um den Bauch seines Gegners und zerrte mit den Zähnen hingebungsvoll an dessen Ohr.

Dies war der Zeitpunkt, an dem sich die Schlägerei für gewöhnlich vom Tresen in den Raum hinein entfaltete. Heute aber zögerte Fazzgadt einen kurzen Moment.

Als er seinen Gegner nämlich wie üblich mit seinem gesamten Körpergewicht von sich stoßen wollte, gewahrte er hinter einem Humpen auf einem nahen Tisch das wohl abscheulichste Geschöpf, das er je gesehen hatte …

Eine Spinne, deren Widerwärtigkeit die aller, die ihm bislang untergekommen waren, bei Weitem übertraf. Sie war nicht nur größer, sondern auch so über die Maßen abstoßend, dass sie selbst von innen noch hässlich sein musste.

Reglos hockte sie dort hinter ihrem Steinkrug, den dunklen Blick lauernd auf die beiden raufenden Zwerge gerichtet. Sie war vielleicht faustgroß, von einem dünnen Pelz überzogen, und im Widerschein der Fackeln starrten ihre riesigen, dunklen Augen Fassgadt wie das leibhaftige Böse entgegen.

Er glaubte, ihm müsse der Bart ausfallen!

Etwas an dieser Kreatur verwirrte ihn. Sie erinnerte ihn an etwas. Etwas Altes, Bedrohliches, fast Vergessenes … Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er sie mit dem Humpen zerquetschen sollte. Als aber Hrodborrk ihm mit einem Ruck den oberen Teil seines Ohres abriss, besann er sich, und zu einem einzigen, wankenden, mit den Armen fuchtelnden Zwergenklumpen verschmolzen, taumelten die zwei durch die ganze Höhle, bis Fazzgadt schließlich seinen Bierkrug hob, um ihn wie üblich mit aller Wucht auf Hrodborrks Helm niedersausen zu lassen.

Noch während er dies tat, spürte er den unheilvollen Blick der Spinne.

Er griff den Krug fester …

Seit ehedem bildete die Humpen-Helm-Kombination den Endpunkt des ersten Drittels ihrer Auseinandersetzung.

Heute allerdings fehlte eine entscheidende Komponente …

Fazzgadts Humpen sauste nieder.

Hrodborrk ließ, kaum getroffen, von ihm ab.

Fazzgadt taumelte zurück und erwartete den Sprungangriff seines Gegners, der üblicherweise erfolgte, sobald dieser seinen verbeulten Helm zurechtgerückt hatte.

An diesem Abend jedoch schien das ungewöhnlich lange zu dauern.

Verwundert stand Fazzgadt dort, bis sich besorgte Zwerge um seinen am Boden liegenden Gegner versammelten und er das Blut bemerkte, das aus Hrodborrks Schädel floss.

Nachdenklich betrachtete Fazzgadt das rote Rinnsal, das sich langsam seinen Weg durch das verfilzte blassrote Haar und den Staub auf dem spröden Steinboden suchte.

Und da sah er wieder das unsäglich hässliche Spinnentier, das mit seinen haarigen Beinen inmitten der Blutlache hockte und von Hrodborrks reglosem Körper zu ihm hinübersah. Dann, von einem Moment auf den anderen, drehte es plötzlich um und tippelte, wobei seine Beine feine rote Spuren am Boden hinterließen, eilends davon.1

ZWISCHENKAPITEL

Ein vermummter Zwerg, den es eigentlich nicht gab, hastete durch den Stollen und hielt dabei ein Bündel mittlerer Größe eng an sich gedrückt.

Er war der erste Diener des Neuen Stahls, der Schatten seines Meisters, sein Wille und seine Faust. Und er hatte seinem Herrn einen Sieg zu verkünden. In einem eng anliegenden Anzug und einer Maske aus Felsnesselfasern, einem Stoff, dessen Farbe jener der Felsen glich, weshalb er in den Tunneln eine beinahe perfekte Tarnung abgab.

Der Stollen war eng, entgegen allen Regeln und Gesetzen mithilfe von Magie in den Felsen gehauen worden und noch keine vierhundert Jahre alt. Ein geheimer Gang, der zu einem komplexen System gehörte, das sich unbemerkt im Herz des Imperiums ausgebreitet hatte und einzig den Dienern des Neuen Stahls bekannt war. Von hier aus würden sie kommen, aus den Schatten und dem Dunkel, um eine neue Ordnung zu begründen.

An den Wänden steckten in silbernen Halterungen magische Steine, von denen ein unruhiges Licht ausging. Den Neuen Stahl scherte es nicht, dass der Gebrauch von Magie seit vielen hundert Jahren verboten war. Er benutzte sie wie gewöhnliche Zwerge die Spitzhacke.

Im magischen Zwielicht der verborgenen Gänge drückte der Vermummte sich an einigen Stützbalken vorbei, passierte die spärlich erleuchteten Schlafhöhlen und erreichte schließlich eine mächtige schwarze Tür, die von zwei vermummten, bewaffneten Zwergen flankiert wurde. Auf ihrer Brust schimmerte ein rundes, an zwergische Stammesabzeichen erinnerndes Medaillon. Das Emblem darauf aber war kein altes Zeichen, sondern das des Neuen Stahls. Das Zeichen einer neuen Zeit. Ihre Waffen hatten die beiden geschultert. Feuerschleudern, deren tödlichen Kern der Flammfackelflügler bildete, eine kleinere Drachenart, mit breiten stählernen Bändern auf einer Halterung befestigt, die es einem Zwerg erlaubte, nach Belieben zu zielen und zu feuern. Der Auslösemechanismus bestand aus einem Abzug, der einen kleinen Dorn in den ungeschützten Bauch des Drachens rammte und damit seinen Feuerreflex auslöste.2

Dem Kodex des Imperiums zufolge war es verboten, Feuer- und Schusswaffen gegen Angehörige des eigenen Volkes zu erheben. Aber auch das scherte den Neuen Stahl wenig.

Er würde erheben, was immer nötig war und gegen wen er es für nötig hielt.

Der Schatten blieb stehen. Er hatte sein Ziel erreicht. Die Höhle des Meisters im Dunkeln. Schnaufend kniete er vor der geschlossenen schwarzen Tür nieder und senkte das Haupt.

»Eine Nachricht für den Meister.«

Die Wachen traten zur Seite und öffneten die schwere zweiflügelige Tür.

Die Höhle dahinter lag in derartiger Finsternis, dass nicht einmal ihre Größe abzuschätzen war.

»Es ist vollbracht, Meister«, sagte der Schatten an die Dunkelheit gewandt.

Aus der Finsternis antwortete eine harte, heisere Stimme: »Sprich, Schatten, ist er tot?«

»Ja, Meister.«

»Dieser verrückte Narr. Er hätte nur abschwören und schweigen müssen über das, was er gesehen hat. Dann hätte es ihn nur seinen Bart gekostet …«

»Er war verstockt, Meister, alle wussten das. All sein Wahn mit dem Feuer …«

»Dann weiß sonst also niemand mehr von unserem Handel mit dem Wurzelmeister?«

»Der einzige Zeuge, der nicht Teil des Neuen Stahls war, ist tot. Wir haben ihm seinen Helm geraubt. Und wie Ihr es vorausgesagt habt, hat der andere ihn erschlagen.«

Der Zwerg öffnete das Bündel, das er bei sich trug, holte einen Zwergenhelm hervor und legte ihn auf die Schwelle der Höhle.

»Gut. Es wird nicht der Letzte sein, den wir nehmen. Habt ihr sichergestellt, dass die Spinne bemerkt wurde?«

»Einige Gäste in der Taverne und ein paar Zwerge in den Gängen haben sie gesehen.« Einen Augenblick lang schwieg das Dunkel, sodass der Schatten unsicher nachsetzte:

»Es wird sich herumsprechen. Seid gewiss.«

»Was ist mit dem Wurzelmeister und dem Kieferbieger?«

»Ihre Arbeit ist noch nicht vollendet.«

»Versprecht ihnen mehr Gold.«

»Wie Ihr wünscht, Meister.«

»Und wie steht es mit der Orakelhöhle?«

»Wir sind bereit.«

Aus dem Dunkel drang ein zufriedenes Lachen.

»Du bist wahrhaft Neuer Stahl, Schatten. Ich bin … zufrieden.«

Den Schatten durchlief ein wohliger Schauer.

Die Wächter schlossen die Tür, und in der Finsternis verklang das Gelächter des Meisters. Alles lief wie geplant, der Neue Stahl war unbemerkt bis in die innersten Höhlen des Ehernen Volkes vorgedrungen. Er war überall.

Im Schatten alter Prophezeiungen glomm ein neues Zeitalter herauf.

Das Zeitalter des Neuen Stahls.

Und nichts würde ihn aufhalten können.

KAPITEL II

Wie üblich hatte sich der Hohepriester, Vertreter der Felsen, Stimme des Steines und Wisser des Wissens, gefolgt von seinem zweibeinigen Gedächtnis am Ende der letzten Schicht ins Orakel zurückgezogen.

Die Wände der Orakelhöhle zierten grobe Felsreliefs, die die Entstehung des Ehernen Imperiums und eine Reihe göttlicher Heldentaten darstellten. Eine steinerne Treppe wand sich an den Felsbildern vorbei zu einer Empore hinauf, von der aus man in eine Art Brunnenschacht hinabblicken konnte, der tief in den Fels getrieben war.

Und dort verharrte er nun, der Flammende unter den Glimmenden, der Wissende unter den Staunenden, der Höchste Priester der Zwergenheit. Er war einer der wenigen Tausendjährigen und sein Bart so makellos weiß wie das Licht eines Glühlindwurmes. Nur die Augen des Höchsten der Hohen waren schlecht geworden, und die geschliffenen Gläser, die auf seiner Nase klemmten, nahm er nur noch selten ab. Sein Prachtumhang wog schwer. Außerdem verursachte sein ausladender Zeremonienhelm ihm Kopfschmerzen. Daran waren zwei Dutzend stählerne, auf Hochglanz polierte Wurzeln festgeschmiedet, die die Verbundenheit des Ehernen Volkes mit den Felsen symbolisierten. Darüber hinaus zierten den Helm die Stammeszeichen der vier ehrbaren Häuser – Feuer, Erde, Fels und Stahl – und das des Großen Verwalters, das Hammerzepter.

Das Gewicht von Helm und Umhang sollte den Hohepriester stets an die Last seiner Verantwortung erinnern. Und diese Aufgabe erfüllte beides so gut, dass er regelmäßig sowohl das eine als auch das andere verfluchte. Dennoch war er der Steinvater, der höchste Priester der hintersten Höhle und der Gebende unter den Nehmenden, dessen Titel komplett aufzuzählen ganze zwei Tage in Anspruch genommen hätte. Ein Umstand, der nicht zuletzt auf die Titler zurückzuführen war, Zwerge, die nicht mehr in den Tunneln arbeiten konnten und nun drei Kiesel Gold für jeden Titel bekamen, den sie für ihren Hohepriester ersannen.

Diese Titel gingen schließlich in voller Gänze auf den nächsten Hohepriester über, der daraufhin noch mehr anhäufte und diese wiederum an seinen Nachfolger weitergab, sodass sich im Laufe der vergangenen zweitausend Jahre einiges angesammelt hatte. Die Titel waren zu großen Teilen wenig geistreich, mitunter sogar vollkommen sinnentleert, aber dennoch ein bedeutsamer Bestandteil der zwergischen Kultur.

Da aber das Eherne Volk in den glorreichen Tagen vor der Aufkunft noch nicht über den Segen der Schrift verfügte, oblag es dem zweibeinigen Gedächtnis des Hohepriesters, diese Titel zu bewahren.

Bei besagtem Gedächtnis handelte es sich in der Regel um einen Zwerg, der sich im Aufsagen der schier endlosen Ahnenreihen hervorgetan und die immense Erinnerungsfähigkeit der Zwerge vervollkommnet hatte. Für Letztere gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen waren Zwerge überaus nachtragend. Und zum anderen konservierte Alkohol die Gedanken. Mit den Jahren hatte das zweibeinige Gedächtnis des Allerüberhöchsten Priesters das Vergessen nahezu verlernt. Es kannte jeden einzelnen seiner Titel und sämtliche Mythen und Legenden des Ehernen Volkes, in allen erdenklichen Varianten von fast nüchtern über trunken bis volltrunken.3

Und so bewahrte das zweibeinige Gedächtnis das komplette geistige Erbe der Zwerge.

In einer Welt, in der die meisten Geschichten bereits in der Mitte mit »Ach was soll’s, lass uns lieber einen trinken!« endeten, war das zweibeinige Gedächtnis ein Außenseiter.

Es folgte dem Hohepriester auf Schritt und Tritt. Ein kleiner, unauffälliger Zwerg, der gewöhnlich in das schlichte Ornat der Erinnerung gehüllt war und sich alles einprägte, was für den Einen unter den Vielen von Bedeutung sein konnte. Tatsächlich gebraucht wurde das Gedächtnis allerdings nur selten. Im Grunde nur bei den großen Zeremonien wie der Wurzelweihe, der Eierweihe und der Bartweihe, wo es in das Ornat der Verkündung schlüpfte und die Titel des Hohepriesters komplett rezitierte.

Da man während der Deklamation dieser hochheiligen Titel nicht trinken durfte, war das zweibeinige Gedächtnis einer der meistgehassten Zwerge des Reiches.

Im Augenblick stand es in angemessenem Abstand, gut drei Bart, hinter dem Höchsten der Hohen und stierte, während es, um sich die Zeit zu vertreiben, im Geiste einige uralte schlüpfrige Lieder rezitierte, Löcher in die Luft der Orakelhöhle.

Das einzige Licht an diesem Ort stammte von einem brummenden Leuchtkäfer, den der Hohepriester an einen Stab gebunden in die Höhe hielt und in dessen Widerschein der Glorreiche unter den Ruhmreichen und Wunderwirkendste aller Wunderwirker ungläubig von der Empore aus in den Schacht hinabblickte.

Am Grunde des Schachtes befand sich das Orakel. Es bestand aus zwei Dutzend in Stein geritzte Runen, die alles repräsentierten, was im Leben des Ehernen Volkes eine Rolle spielte.4 Seit mehr als zweitausend Jahren lagen die Runensteine in fast der gleichen Formation am Grunde der Orakelhöhle. Sie waren das Werkzeug der Weissagung. Sie und ein blinder Olm aus der Gattung der Grottengrantler. Ein bleicher, hässlicher, beinahe durchsichtiger und beinahe ausgestorbener Lurch, dessen kurze Beine ihn an Land nicht weit trugen und der mit den Letzten seiner Art in einem überaus heiligen Tümpel in den Gemächern des Allerüberhöchsten lebte.

Die Zwerge erachteten den Olm als ein Werkzeug der Götter. Für sie hatte jedes Tier eine Bedeutung, denn sie gingen davon aus, dass die Götter jedem Einzelnen eine bestimmte Aufgabe zugedacht hatten. Dementsprechend ernährte sich das Eherne Volk überwiegend von Wurzeln, Knollen und Pilzen und achtete die Geschöpfe, mit denen es die Gänge teilte. Die größte Achtung aber wurde dem Olm zuteil.

Um das Orakel zu befragen, setzte der Hohepriester, der den Schacht unter keinen Umständen betreten durfte, das Tier vor dem Olmloch am Fuß der Treppe ab und beobachtete dann von der Empore aus seinen Lauf. Sobald der Olm die Höhle einmal durchmessen hatte, musste der Hohepriester jede Rune, die er auf seinem Weg berührt hatte, in seiner Weissagung berücksichtigen. Seit Urzeiten bestimmte der Lauf des Olms das Schicksal der Zwerge. Er war es, der dem Hohepriester die Augen öffnete.

Heute aber wollte dieser seinen Augen nicht recht trauen. Denn die Steine, die das Tier berührt hatte, missfielen ihm sehr. Vor allem, da er sie nur zu gut zu deuten wusste.

Inzwischen blinzelte das Tier schon zum dritten Mal an diesem Tag aus seinen großen blinden Augen zu ihm hoch. Der Olm war beinahe so alt wie der Hohepriester selbst und inzwischen bereits viel zu lange an Land. Nichtsdestotrotz würde der Hohepriester ihn noch ein weiteres Mal losschicken. Denn den Weg, den der Olm an diesem Tag genommen hatte, hätte er eigentlich nicht einschlagen dürfen.

Bei der Hohen Höhle, dem heiligen Geröll und dem größten aller Steine.

Es war unmöglich, vollkommen unmöglich!

Wieder und wieder hatte der Hohepriester den Olm genommen, ihn an seinen Ausgangspunkt gesetzt und von Neuem durch die Höhle laufen lassen.

Doch es blieben die gleichen Steine. Immer wieder die gleichen Steine.

Vier Runen, deren Verbindung ihn schaudern ließ.

Zumal eine von ihnen zu den zweien gehörte, die seit Jahrhunderten unberührt in der Mitte des Orakels geruht hatten.

Wenn die Vorhersage stimmte, dann war das letzte Zeitalter des Ehernen Imperiums angebrochen, das Ende von Zwerg und Zwergeszwerg …

Nachdenklich zwirbelte der Priester seinen weißen Bart und ließ die kunstvoll geflochtenen Strähnen durch seine Finger gleiten, während sein finsterer Blick durch die schimmernden Augengläser auf ein weit entferntes Nirgendwo hinter der Felswand gerichtet schien. Leise summte der Leuchtkäfer am Ende seines Stabes über dem Grund der Höhle.

Das war vollkommen unmöglich. Undenkbar!

Ein Fehler. Ein Irrtum.

Und er würde es beweisen!

Der Hohepriester hob seinen Stab und wirbelte derart plötzlich herum, dass sein Gedächtnis erschrocken zusammenfuhr.

Das Licht des summenden Käfers über dem höchstpriesterlichen Helm des Findenden unter den Suchenden warf zuckende Schatten auf dessen sorgenvolle Miene. Sein Gedächtnis vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten, was aber auch nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Es hatte einzig gelernt, zu gehorchen und sich Dinge einzuprägen. Und im Augenblick ging es darum, zu gehorchen.

Sein Herr, der Träger aller Titel und der Verwirrende unter den Verwirrten, offenbarte ihm, dass er zu meditieren wünsche. Er wollte seinen Geist dem des großen Steines gleich machen, und dafür bräuchte er Ruhe. Jene Form von Ruhe, wie sie die Anwesenheit eines Gedächtnisses − gleich wie viele Beine es hatte − nicht zuließ. Weshalb auch der Hohepriester seinen Getreuen nun der Orakelhöhle verwies.

Kaum dass sein Gedächtnis fort war, schlug der Höchste der Hohen seinen Umhang zurück, schnallte sich seinen Stab samt Käfer auf den Rücken und stieg schnaufend und schlechten Gewissens die schrundige Felswand zum Grund des Orakels hinab.

Das war nicht die rechte Betätigung für einen Tausendjährigen. Seine alten Beine schmerzten, während seine Füße nach kleinen Vorsprüngen in der Wand tasteten und er langsam seinen Weg nach unten fand.

Es war dunkel genug, um sich im Nachhinein einreden zu können, dass das, was gleich geschehen würde, niemals passiert sein würde. Außer ihm wusste niemand um die Anordnung der Runen. Und wenn er am Ende des Abends genug trank, würde vermutlich sogar er vergessen, was er gleich getan haben würde.

Die Hohepriester logen nicht. Niemals. Sie beugten lediglich ein wenig die Wahrheit.

Schnaufend sprang der Träumende unter den Schlafenden von der Felswand in die Orakelhöhle hinab, glättete seine Robe und zog seinen Käferstab hervor.

Er hielt das summende Tier direkt über den Boden und schritt in dem grünlichen Widerschein vorsichtig zwischen den Steinen umher.

Aus dem Dunkel heraus funkelten ihm die blinden Augen des Olms entgegen.

Von der Wurzelrune aus ging der Hüter alles zu Hütenden weiter zum Bierstein, der direkt neben dem des Tieres und der Rune der fragmentarischen Erkenntnis im weichen Sand des Höhlenbodens lag. Unweit dieser drei lag halb eingesunken der Hammer des Lebens und einen Bart weiter der Stein des Ehernen Volkes.

Hier bückte sich der Hohepriester das erste Mal und griff, nicht ohne einen unsicheren Blick über seine Schulter in Richtung des Olms zu werfen, nach einer der Runen.

Das Schicksal war eine merkwürdige Angelegenheit.

Es ließ sich nur schwer in bestimmte Bahnen lenken.

Und wenn jemand es versuchte, fürchtete er stets, dabei ertappt zu werden.

Der Meister der Meister und Freund der Felsen schwenkte seinen Käferstab hin und her und entdeckte eine weitere Rune. Hastig ergriff er den Stein und schaute sich nach dem nächsten um, während er die ersten beiden in den Händen wog.

Die Drachenrune, Magma und der ewige Schmied. Zwei Bart weiter lagen die Runen für Ernte und Gold. Gleich dahinter die Körperrunen: Kopf, Fuß, Herz und Hand, die zugleich für die vier ehrbaren Häuser des Imperiums standen.

Schon hatte er die dritte Rune aufgelesen.

Wo die letzte lag, wusste er genau.

Die nämlich hatte er sich exakt eingeprägt. Denn sie war die schlimmste von allen.

Mit zittrigen Knien schritt er vorsichtig durch die übrigen Steine und bückte sich ein letztes Mal. Dann blickte er sich um und überlegte, wo er die Runen am besten platzieren konnte, um den Lauf des Olms zu ändern.

Er entschied sich für zwei entgegengesetzte Ecken der Höhle, vergrub die dritte Rune sogar ein wenig im Sand und legte die letzte, um ganz sicherzugehen, schließlich unter eine andere.

So lenkte man das Schicksal. Es hatte früher funktioniert und es würde wieder funktionieren. Denn eine der sieben eisernen Weisheiten lautete, dass alles, was in den alten Tagen richtig gewesen war, in den neuen nicht falsch sein konnte.

Fluchend schob er sich schließlich den Stab wieder auf den Rücken, packte den verdutzten Olm und machte sich daran, die Höhlenwand wieder emporzusteigen.

Er hörte seine Knochen knacken und spürte kalten Schweiß unter seinem Zeremonienhelm. Gleich aber würde sich, vermaledeit noch eins, zeigen, wie es um die Zukunft des Imperiums wirklich bestellt war.

Auf der Empore angekommen, lehnte der Eine unter den Anderen, der zugleich auch der Andere unter den Einen war, sich erschöpft an die Wand. Wenig später eilte er ein weiteres Mal zum Olmloch und setzte das Tier davor ab.

Wenn all das vorüber war, hatte er sich eine gute Pfeife verdient.

Und während der Beste unter den Guten, der Strahlende unter den Leuchtenden und die Größte Geistige Zierde der Zwergenheit noch an sein Pfeifchen dachte, entging ihm der Schatten, der sich hinter seinem Rücken von der Felswand löste und lautlos die Empore hinaufhuschte.

Drei Augenblicke später stand der Ewige, Bedeutsame und Unglaubliche wieder über dem Orakelschacht und reckte seinen Käferstab hinein, um seine alten Augen den berichtigten Lauf des Olms schauen zu lassen.

Vorsichtig tapste das Tier in die Höhle, schien sich einen Moment lang verblüfft umzusehen, stemmte dann die kurzen Beinchen in den Sand und begann, sich langsam und unsicher voranzubewegen.

In den letzten hundert Jahren war der Olm faul geworden. Außerdem wollte er in seinen Tümpel zurück. Darum rechnete der Erkennende unter den Zweifelnden auch fest damit, dass er den kürzestmöglichen Weg nehmen würde. Die Runen entlang dieses Weges bedeuteten eine gute Wurzelernte, eine kleine Feuersbrunst und besseres Bier.

Links oder rechts des Wegs lag die Möglichkeit, auf eine große Goldader, Trollprobleme oder eine Fledermausplage zu stoßen.

Aber alles in allem würde es eine gute Prognose sein.

In Gedanken war der Weiseste der Weisen schon wieder bei seiner Pfeife, als er plötzlich hochschrak.

Aus unerfindlichen Gründen hatte das Werkzeug der Weissagung sich seiner Faulheit zum Trotz in die hinterste Ecke der Höhle begeben, dort den ersten der Steine berührt und stakste nun weiter zur gegenüberliegenden Ecke!

Der Olm lief dieselben Runen wie zuvor ab!

Unmöglich. Undenkbar!

Nachdem das Tier wenig später die zweite Höhlenecke hinter sich gelassen hatte, kroch es unsicher durch die verbliebenen Steine. Es wankte und schwankte, berührte dabei aber nicht einen einzigen von ihnen. Zumindest, bis er sein schmales feuchtes Maul unvermittelt in den Sand stieß.

Genau an der Stelle, wo der Würdigste aller Würdigen die dritte Rune vergraben hatte.

Absolut unmöglich. Vollkommen undenkbar!

Und dann, einige wenige Schritte später, blieb der Grottengrantler-Olm vor der kleinen Anhäufung zweier Steine stehen.

Das aber war nun wirklich ganz und gar unmöglich.

Dafür hatte der Außerordentlich Einzigartige gesorgt. Es waren flache Runensteine, und der Segen der Götter lag oben. Weder diesem Tier noch irgendjemandem sonst konnte es gelingen, die untere Rune zu berühren!

Der Olm wartete.

Der Standhafte unter den Wankelmütigen bangte.

Und da begann die Erde zu zittern!

Es war lediglich ein kleines Beben.

Kaum mehr als zwei leichte Erdstöße, gerade stark genug, um einen flachen Stein von einem anderen zu werfen. Dann war alles wieder still.

Und im nächsten Augenblick brach der Olm wie vom Hammer getroffen zusammen, berührte dabei den nun freiliegenden unteren Stein … und war tot.

Der Heilsbringer, der Alleserfasser schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Kraftlos sank sein Arm herab.

Sein Stab knallte auf die Brüstung der Empore, die Schnürung an seiner Spitze lockerte sich, und dem Leuchtkäfer gelang es, sich zu befreien. Panisch flog er zur Decke hinauf, kreiste dort wie wahnsinnig umher und warf dabei ein flackerndes, wirres Licht auf die Wände der Höhle und die groben Reliefs alter Götter.

Der Hohepriester bemerkte es nicht.

Hinter seinen geschlossenen Lidern tosten Visionen vom Ende der Welt.

Vier Runen.

Die schlimmste der schier unzählbaren Konstellationen.

Zähne. Gold. Schwarz. Spinne.

Ihn schauderte.

Wenn der Zwerg, der kein Bier trinkt, seine Hand dem Zwerg reicht, der das Licht der Gänge mit goldenen Zähnen erblickt hat, und die Immerschwarze wiederkehrt, dann ist das Ende gekommen von allem, was da ist und geheißen wird das Eherne Imperium.

Nichts war so unmissverständlich und grauenhaft wie die Gewissheit, die aus diesen vier Runen sprach: Das Zeitalter der großen Erzferkelprophezeiung hatte begonnen.

Das Ende des Ehernen Imperiums, das Ende von Zwerg und Zwergeszwerg, von allem, jedem und dem Rest. Bevor der Verkünder aller Verkündungen die unheilvolle Botschaft jedoch verkünden konnte, trat von hinten im unruhigen Licht des umherschwirrenden Käfers eine finstere, in Felsnessel gehüllte Gestalt an ihn heran und schloss ihre Hände unerbittlich um seinen Hals …

Fazzgadt befand sich auf dem Weg der Erneuerung. Er war so betrunken wie lange schon nicht mehr, und das bereits seit beinahe fünf Tagen.

Er trug ein stabiles, mit dichten Netzen aus Bitterginster umsponnenes Eisengestell auf dem Rücken, zwei Beutel mit einigen Kiesel Gold und dazu ein Dutzend Tonflaschen, die ihm an faserigen Seilen von den behaarten Schultern baumelten.

Bei zwölf Flaschen wäre ein gewöhnlicher Zwerg längst zusammengebrochen. Doch Fazzgadt war stark. Und seine Trauer war es auch.

Stärker als fünf oder zehn jämmerliche Flaschen.

Seit dem Ende der Frauen5 war der Weg der Erneuerung der wichtigste Gang des Ehernen Imperiums und der zentrale Bestandteil des heiligen Ritus zur Mehrung seines Ruhmes und Volkes. Es war der längste gerade Stollen, den Zwergenhände je gegraben hatten, und er reichte vom tief gelegenen magmaumspülten Kern des Ehernen Imperiums bis in die eisig kalten, höher gelegenen Höhlenregionen. Das untere Ende des Ganges bildete das Feuerloch, wo Geburt und Tod so nahe beieinander lagen wie nirgendwo sonst. An seinem oberen Ende hingegen befand sich der kalte Schoß, jener heilige Ort, an dem die Letzten der Ungeborenen des Zwergenvolkes ruhten.

Fazzgadt blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Schnaufend griff er nach einer der Flaschen, hob sie im dämmrigen Zwielicht der schimmernd phosphoreszierenden Wände an die Lippen und trank, wie unzählige Male zuvor während der vergangenen Tage, auf Hrodborrk, den besten Freund, den ein Zwerg hatte haben können.

Nie hatte er eine ehrlichere Faust im Gesicht gehabt und keine Wunden mit mehr Stolz getragen als jene, die er sich allabendlich gegen diesen Zwerg erkämpft hatte.

»Auf dich, Hrodborrk!« Seine Stimme hallte den vor ihm liegenden Gang entlang. Scheinbar endlos warfen die Wände den Namen des Toten zurück, bis die Erinnerung an ihn noch tausend Bart weiter schallte.

Der zweite Teil seines Trinkspruches war ungleich besinnlicher:

»Auf dass du droben in der großen Höhle stets einen Dummen finden mögest, der für das Feuer bezahlt, das deine Ahnen einst erfanden!«

Fazzgadt setzte die Flasche ein weiteres Mal an. Der Trauertrunk war das Stärkste, was die zahllosen Brauhöhlen und Brennereien des Imperiums zu bieten hatten. Heiß rann er seine Kehle hinunter. Fazzgadt trank und schluckte hastig, um die Tränen in seinen Augen auf das tiefschwarze Gebräu schieben zu können.

Dumpf hallte sein Schlucken von den Wänden des Ganges wider. Der Stollen stieg stetig an und war etwa sechs Tagesmärsche lang, während in regelmäßigen Abständen einzelne kleine Höhlen davon abgingen. Dort befanden sich die Brauereien der Großwurzelmeister, wo jener abscheuliche Trauertrunk hergestellt wurde, mit dem ein Zwerg seiner Betrübnis über das Ableben eines Bartbruders Ausdruck verleihen konnte.

Je mehr Flaschen pro Tag, desto größer die Trauer.

Gewöhnlich lag sie bei fünf Flaschen, die am Ende der Schicht, wenn der Trauernde volltrunken und schnarchend mitten im Gang lag, gegen einen entsprechenden Obolus wieder aufgefüllt wurden. Die Großwurzelmeister füllten den Trauernden die Flaschen und leerten ihre Taschen. Der Weg der Erneuerung war kein billiges Unterfangen.

Aber der Trauertrunk war es wert.

Es gab nichts, womit es sich besser hätte trauern lassen.6

Das Gesöff brannte in Fazzgadts Kehle, und zwei kaum sichtbare Tränen flossen in seinen Bart. Es war das erste Mal, dass er den Weg der Erneuerung beschritt. Und der Weg war einsam. Kein Ort für einen geselligen Schürfbruder wie ihn. Was für eine Zeitverschwendung, alleine und betrunken durch die Gänge zu wanken, während man sich doch mit seinem besten Freund hätte prügeln können …

Aber Hrodborrk war tot. So tot, wie ein Zwerg nur sein konnte.

Nicht so tot, wie man es nach dem zwanzigsten Humpen Bitterwurzelbräu, einigen Pfeifen verbotenen Grinswurzes7 oder einer Prise gestoßener Schattenknolle8 war. Sondern endgültig und unumkehrbar tot und in jenem Zustand, der einem Zwerg den Weg in die Hohe Höhle ebnete. Danach kam bloß noch das Feuerloch.

In Erinnerungen versunken, kämpfte Fazzgadt mit zwergischem Trotz gegen eine weitere aufsteigende Träne an. Verbittert blickte er über seine Schulter zurück in das grünlich schimmernde Dunkel. Das Feuerloch lag am anderen Ende des Ganges, knapp fünf Tagesmärsche entfernt. In seiner Erinnerung aber war es allgegenwärtig. Denn er war dort gewesen, als die Totensenker Hrodborrk ins Feuer hinabgelassen hatten.

Friedlich hatte sein Freund dort gelegen, inmitten seiner sieben Hämmer, die gewiss noch zwanzig hätten werden können, wenn die Götter ihm genügend Zeit gelassen hätten. Er hatte seine schwarze Rindenrüstung getragen. Bis auf den Helm. Der Helm, Ursprung dieses ganzen Unheils, war immer noch nicht wieder aufgetaucht.

Fazzgadt wurde wütend, wenn er daran dachte. Ein Zwerg ohne Helm war beinahe wie ein Helm ohne Zwerg. Undenkbar. Ja, geradezu sinnlos.

Und irgendein dunkles Schicksal wollte Hrodborrk seinen Platz in der Halle der Helme verwehren. Doch das würde er nicht zulassen! Er, Fazzgadt Eisenbart, Bartbruder Hrodborrks des Jüngeren, würde der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, was mit dem Helm seines Freundes geschehen war! Sobald er seine Pflichten erfüllt, den Weg der Erneuerung beschritten und dessen Söhne zur Welt gebracht hatte …

Und auf ebendiesem Weg begleitete ihn die schmerzhafte Erinnerung an Hrodborrks letzten Gang. Wie er dort gelegen hatte, ein prächtiger Zwerg, ein trefflicher Freund, auf einer geflochtenen Bahre, die sich langsam auf die sengende Lava hinabgesenkt hatte. Fazzgadt hatte mit angesehen, wie die Glut Hrodborrks blassroten Bart ergriffen hatte, wie seine Haare, feinen Zündschnüren gleich, verglüht waren und sein Körper schließlich mitsamt der Hämmer im leuchtenden Rot der alles verschlingenden Hitze verschwunden war.

Und so war Hrodborrk, der Hunderte von Jahren darauf beharrt hatte, dass seine Ahnherren das Feuer erfunden hätten, in die Flammen eingegangen.

Abgesehen von den Totensenkern war nur Fazzgadt vor Ort gewesen, der Hrodborrks Einäscherung beigewohnt hatte. Doch er hatte es sich nicht nehmen lassen, eingedenk ihrer schönsten Zeiten, blauen Flecke, zersplitterten Humpen und verbeulten Helme, eine traditionelle Begräbnisrede auswendig zu lernen, deren genauer Wortlaut exakt überliefert und viele tausend Jahre alt war: »Prost!«

Er hatte den Humpen gehoben, ihn in einem Zug geleert und in die Flammen hinabgeschleudert.

Rituale wie dieses spendeten Trost.

Die Erinnerung schmerzte Fazzgadt beinahe ebenso wie seine Knochen. Zwölf Flaschen waren viel, selbst für einen kräftigen Zwerg wie ihn.

Der Weg aber war seine Pflicht und seine Trauer gewiss nicht geringer als zwölf Flaschen. Manche Dinge mussten eben getan, manche Pfade beschritten werden.

Und darum hätte er in diesem Moment nirgends sonst sein können als hier, auf dem Weg der Erneuerung, dem reinsten und ursprünglichsten Ort des Ehernen Imperiums, wo es einzig Zwerge und ihre Trauer gab.

Seit dem Ende der Frauen waren die Regeln dieses Weges so hart wie Feiertagsstahl und so unumstößlich wie die Säulen in der Halle der Helme: Für jeden Zwerg, der in die Hohe Höhle einging, schenkte der Weg mithilfe eines Bartbruders zwei neuen das Leben. Das war eine kluge Regelung, denn auf diese Weise vermehrte sich das Eherne Volk, ohne den knappen Raum der nur langsam größer werdenden Höhlen zu überschwemmen.

Die Zahl der Ungeborenen war seit dem tragischen Ende der Frauen begrenzt. Der kalte Schoß leerte sich stetig, und bald würde Fazzgadt ihm ebenfalls zwei seiner Kinder entreißen.

Auch wenn es noch eine Weile dauern würde, war das Ende der Zwerge abzusehen, obwohl dank ihrer immensen Lebenserwartung mitunter Hunderte Jahre vergingen, bevor ein weiterer Bartbruder den Weg der Erneuerung beschritt.

Fazzgadt blinzelte in den Gang, der von einem spärlichen grünen Leuchten erfüllt war. Es rührte von den Wänden her und ließ die Schatten darin beinahe greifbar wirken. Zwielicht. Aber was für ein Licht hätte sonst auf dem Weg zwischen Tod und Leben herrschen sollen?

Erschöpft taumelte Fazzgadt gegen die Wand des Ganges und lehnte sich mit seinem Gestell daran an. Leise schlugen die Flaschen gegen den Fels, während auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges etwas entlanghuschte, das mehr Beine hatte als er. Der Zwerg nahm es nicht einmal wahr.

Er spürte bereits die Kälte der hintersten Höhle, des Kalten Schoßes. Dazu kam die Erschöpfung. Es konnten höchstens noch zwei Tage sein, die ihn von seiner Aufgabe trennten.

Fazzgadt schloss die Augen und strich versonnen über die dünnen, glasähnlichen Splitter, die die Wände des Ganges bedeckten.

Von ihnen ging das unwirkliche Leuchten aus. Unzählige kleine Scherben, die über eine Strecke von vielen tausend Bart in die Wände des Ganges eingelassen waren − die Überreste des traurigsten Krieges der Geschichte des Ehernen Volkes. Des einzigen Krieges, dessen Auswirkungen auch ohne den Einfluss von Bitterwurzelbier und Pathos verheerend gewesen waren.

Es waren die zerstoßenen Schalen von Splitterspinnen.

Bis in die hintersten Höhlen waren die Zwerge einst vorgedrungen, um auch noch das letzte ihrer Eier zu zerschmettern, ihre Kinder und Kindeskinder zu vernichten und sie in den finsteren Abgrund des Vergessens zu stoßen.

Die schwarze Splitterspinne, das achtbeinige Ungetüm, die Zwergenfresserin, die Botschafterin des Untergangs. Sie war es gewesen, die das Volk der Zwerge zu diesem langsamen und qualvollen Ende verurteilt hatte. Und dafür hatten die Spinnen gebrannt. In Zwergenöfen, auf Scheiterhaufen und in riesigen Höhlen. Neun Jahre lang hatten zahllose Rauchkäfer Tag für Tag aberhundertfach den beißenden Qualm zuckender Spinnenkadaver gefressen.

Mit schwerer werdenden Lidern starrte Fazzgadt die trübe leuchtende Wand des Ganges entlang. Dann fielen ihm die Augen zu, und sein Kopf sackte auf die Brust hinunter. Der braunschimmernde Bart fing ihn ab, sodass das Kinn beinahe sanft auf seine Rüstung hinabsank.

Doch Fazzgadt hatte Vorkehrungen getroffen: Unter seinem Hals, direkt über seinem Stammeszeichen, das seinen Umhang zusammenhielt, ragte ein halbes Dutzend Nägel hervor, die sich in diesem Moment schmerzhaft in sein Kinn gruben.

Mit einem Aufschrei kam er wieder zur Besinnung.

Er durfte nicht ausruhen. Seine Schicht war noch nicht vorbei!

Ihm blieb noch eine Flasche bis zum Schlaf.

Das war er Hrodborrk schuldig!

Sich insgeheim für seine Idee mit den Nägeln lobend, schleppte er sich weiter voran.

ZWISCHENKAPITEL

Im Zwielicht der geheimen Gänge herrschte Stille.

Einzig der Schatten des Meisters hastete geschäftig unter dem blauen Licht der magischen Steine entlang. Er fluchte leise. Natürlich ging es voran, natürlich war das Zeitalter des Neuen Stahls gekommen, natürlich würde sie nichts aufhalten und natürlich war der Plan des Meisters unfehlbar. Dennoch war die Botschaft, die er ihm brachte, keine gute.

Die Pläne des Schicksals schienen sich von denen der Verschwörer zu unterscheiden. Vor allem, was den Zeitplan anging.

Denn der Olm hatte bei seinem Lauf tatsächlich die Zeichen der Prophezeiung berührt. Ein Mitglied des Neuen Stahls war in der Orakelhöhle dabei gewesen, hatte verborgen im Dunkel alles mit angesehen und war sogar Zeuge geworden, wie der Hohepriester die heiligen Regeln des Orakels gebeugt hatte. Vergebens. Denn das Schicksal war stärker gewesen.

Drei Teile dieser Prophezeiung waren dem Ehernen Volk bekannt:

Wenn der Zwerg, der kein Bier trinkt, seine Hand dem Zwerg reicht, der das Licht der Gänge mit goldenen Zähnen erblickt hat, und die Immerschwarze wiederkehrt, dann ist das Ende gekommen von allem, was da ist und geheißen wird das Eherne Imperium.

Der Neue Stahl stand im Begriff, jeden einzelnen Teil der Prophezeiung wahr werden zu lassen. Doch sie waren noch nicht bereit. Einzig über die Spinne verfügten sie bereits. Bald würden sie auch den Goldbezahnten und den Untrunkenen haben.

Und dann würde der Neue Stahl das Eherne Volk wissen lassen, dass das Ende von Zwerg und Zwergeszwerg angebrochen war …

Doch eine vorlaute Laune des Schicksals hatte dem höchsten Priester der Ehernen etwas zugeraunt und der Neue Stahl hatte Sorge tragen müssen, dass er es nicht weiterraunte, hatte eingreifen und ihn zum Schweigen bringen müssen.

Das aber würde der Meister, der kein Freund schlechter Neuigkeiten war, nur ungern hören. Nachrichten aber, gleich ob sie gut oder schlecht waren, mussten überbracht werden. Und eben das war die Aufgabe des Schattens. Eine ehrenvolle Aufgabe, ganz ohne Zweifel. Obwohl er seinen Tätigkeitsbereich auf längere Sicht gern aufgeteilt hätte. Weil alles einfacher werden würde, sobald er die Zuständigkeit für schlechte Nachrichten an jemand anderen abtreten konnte. Gegenwärtig hatten sie allerdings noch mit personellen Engpässen zu kämpfen. Die Diener des Neuen Stahls wuchsen nicht in Stollen. Bis jetzt entstammten die wenigsten tatsächlich dem Ehernen Volk. Er selbst jedoch war vor langer Zeit einmal Teil jenes Volkes gewesen. Hatte einen Namen gehabt. Einen Ruf. Macht. Bevor der Große Verwalter ihm das alles genommen hatte.

Die meisten Diener des Neuen Stahls waren Schlüpflinge, die in den geheimen Gängen geboren und im Geiste des Meisters im Dunkeln aufgezogen und niemals von den Gesetzen des Imperiums verdorben worden waren.

Und davon wiederum gab es so wenige, dass der Schatten die schlechten Nachrichten noch selbst überbringen musste.

Er dachte daran, wie sich die Dinge während der letzten Jahrhunderte verändert hatten. Einst war er selbst Herr über zahllose Knechte gewesen, ein Lehrer und Meister. Dann hatten die Launen des Verwalters ihn zu einem Nichts gemacht. Bis ihn der Meister im Dunkeln gefunden und ihn in den Neuen Stahl aufgenommen hatte. Und dafür hatte der Schatten ihm sein ganzes Wissen anvertraut. Er hatte dem Neuen Stahl die Geheimnisse der Magie zu Füßen gelegt und war so zum ersten Diener seines Herrn geworden, gehörte inzwischen mit Kopf und Herz so sehr dem Neuen Stahl, dass er sich beinahe ebenso stählern wie der Meister selbst fühlte.

Dutzende Stützpfeiler, zwei Biegungen und eine Kreuzung später erreichte der Schatten ein weiteres Mal den Eingang zur Höhle des Meisters. Die Wachen hoben ihre Feuerschleudern und musterten ihn verwundert. Sein letzter Kniefall vor dem Meister war noch nicht lange her, und gewöhnlich vermied man es, ihm häufiger als nötig unter die Augen zu treten.

Der Schatten funkelte sie an, während er vor der schweren schwarzen Tür niederkniete. Leise murmelte er:

»Öffnet. Ich habe Nachricht für den Meister.«

Langsam öffneten die Wächter die schweren Flügel der Tür und gaben den Blick auf das unergründliche Dunkel des dahinterliegenden Raumes frei.

Der Bote zögerte. Bis ihn aus der Finsternis heraus eine Stimme anherrschte:

»Was willst du, Schatten?!«

Kein guter Einstieg. Der Meister war ungehalten.

Schweren Herzens setzte der Schatten die Zündschnur in Brand.

»Meister, es ist etwas vorgefallen …«

»Sprich.«

»Das Orakel, Meister, es … es …« Der Schatten spürte förmlich, wie sich der Zorn des Meisters im Dunkeln aufbaute. Er beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten.

»Der Olm. Er hat die Runen der Prophezeiung berührt.«

»Das ist nicht möglich!« Die Stimme des Meisters war bestimmt, und es klang tatsächlich so, als ob das Tier niemals diesen Weg hätte nehmen können. Wie gern hätte sein Schatten ihm zugestimmt. Doch er wusste es besser.

»Verzeiht Meister, aber unser Posten hat es gesehen. Er war dort, als der Olm gelaufen ist. Es waren die Runen der Prophezeiung. Ohne jeden Zweifel. Gold, Zahn, Spinne, Schwarz. Und der Priester der Ehernen hat sie gedeutet …«

Für den Bruchteil eines Schlages erhellte ein greller magischer Lichtblitz die Höhle, fegte den Schatten von den Füßen und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand des Stollens, dass die Stützbalken bebten.

»Das kann nicht sein! Wir sind noch nicht bereit. Wir haben weder den Goldbezahnten noch den Untrunkenen! Bloß die Spinne, und die wird nicht reichen, um den Willen des Ehernen Volkes zu brechen! Wie kann das Schicksal es wagen …«

Der Schatten hatte sich aufgerappelt, war mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück zum Eingang der Höhle gekrochen und kniete nun, ein rauchendes, faustgroßes Loch im Felsnesselwams, wieder vor seinem Meister.

»Wir haben uns des Problems angenommen, Meister. Der Allerpriesterlichste wird schweigen. Niemand wird erfahren, dass das Zeitalter der Prophezeiung bereits angebrochen ist.«

»Gut. Denn ich allein bestimme, wann es anbricht! Ich bin der Untergang des Ehernen Volkes und das Schicksal mein geringster Knecht!« Die wütenden Worte des Meisters im Dunkeln hallten durch die Gänge hinter den Gängen. Dann war nur noch Schweigen zu hören. Ein unangenehmes Schweigen. Bis der Meister fragte:

»Wie weit sind wir?«

»Die Aufträge des Wurzelmeisters und des Kieferbiegers sind beinahe vollendet.«

»Gut. Ich will sie hier haben. So schnell wie möglich. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«

Das folgende Schweigen zog sich hin.

Der Meister war verschwunden.

Doch sein Schatten wusste, was zu tun war.

KAPITEL III

Die Halle der Helme war hell erleuchtet.

Eine Felsenkathedrale von gigantischen Ausmaßen, die größte Höhle des gesamten Imperiums, die regelmäßig, wenn der Große Verwalter seine Audienz abhielt, sämtliche Angehörige der ehrbaren Stämme beherbergte.

Die entzwergten Stämme, die Häuser Erz und Sand, die das Eherne Volk einst verraten hatten und hinter den Abgrund des Vergessens verbannt worden waren, waren von diesen Zusammenkünften freilich ausgeschlossen. Weil Shmogk Feizstein, der Häuptling des Sandes, einst die ältesten Gesetze gebrochen und seinen Stamm Magie gelehrt hatte und Grogk Kieselbruch, der Herr des Erzes, den Großen Verwalter hatte stürzen wollen. Seitdem blieb ihnen und den ihren der Zutritt zur Halle der Helme verwehrt.

Die Seiten der Höhle wurden auf zwei höher gelegenen Ebenen von mächtigen Balkonen gesäumt, von denen man die kunstvoll bearbeiteten Relieffliesen am Grund der Halle erkennen konnte. Diese bildeten monumentale Bilder, die sich dem Betrachter erst auf der höchsten Ebene vollkommen erschlossen.

An der Nordwand erhob sich am Ende eines Dutzends grobbehauener Stufen ein Plateau mit dem rituellen, von vier priesterlichen Vertretern jeweils eines der ehrbaren Stämme umstandenen Drachenhorn.

Am Fuß jener Stufen befand sich eine massive stählerne Falltür. Neben ihr waren mehrere Winden im Fels verankert, über die wuchtige Ketten liefen, die durch zwei von schmiedeeisernen Ringen eingefasste Öffnungen im Boden verschwanden. Besagte Winden in Bewegung zu versetzen, bedurfte es sechs mächtiger Kurbeln und eines entsprechenden Kraftaufwandes.

Im Zentrum der Halle befanden sich vier in scheinbar perfekter Symmetrie angeordnete Säulen, auf denen in schwindelerregender Höhe die steinerne Decke ruhte. Auf halber Höhe prangte jeweils eines der Clanszeichen: Feuer, Erde, Fels und Stahl. Zwischen jenen vier Säulen waren die halbzerfallenen Überreste zweier weiterer Säulen zu erkennen.

Entlang der Höhlenwände, die mehr als tausend Bart in der Länge maßen und bis auf drei Zwerg Höhe mit kunstvoll verworrenen Mustern verziert waren, standen, ebenso wie auf den Balkonen, riesige steinerne Becken mit brennendem Öl, aus denen unruhige Flammen an den rußschwarzen Felswänden emporleckten. Unter der Decke baumelten darüber hinaus an eisernen Ketten stählerne Fackelkörbe.

Zwerge mit brennenden Zundergurten, die sogenannten Fackler, kletterten an jenen Ketten entlang und entzündeten die Körbe einen nach dem anderen.

Dünne Rauchfäden stiegen auf und mischten sich zu dichten Schwaden aus Ruß und Qualm, die der Decke entgegenstrebten, ohne sie jedoch zu erreichen. Denn in dem Kettengeflecht über den Balkonen der Höhle hingen zwischen den Fackelkörben Käfige mit Rauchfresserkäfern. Die meiste Zeit lagen ihre schmutzigbraunen, augenlosen Panzerleiber mit den gestutzten Flügeln reglos da. Nun aber, da der Rauch zu ihnen hochstieg, begannen ihre Fühler unruhig zu zucken. Langsam öffneten sich ihre fusselbewehrten Hornmäuler und begannen leise rasselnd, den aufsteigenden Rauch einzusaugen.

Das Licht der Fackelkörbe mischte sich mit dem der Ölbecken, und erst jetzt, da die Schatten in der Höhle schwanden, entfaltete sich die Erhabenheit dieses Ortes vollkommen: An der Nordwand brach sich das Licht in zahllosen Helmen, den Helmen aller Zwerge, die jemals den Hammer niedergelegt hatten und in die Hohe Höhle eingezogen waren. Diese Wände bewahrten ihre Geschichte. Tausende Jahre Zwergengeschichte, Tausende9 Helme, von denen jeder Einzelne einem Helden10 gehört hatte.

An diesem Ort war der Geist der Ahnherren spürbar.

Diese Halle war das rituelle und kulturelle Zentrum der Zwergenheit, das Herz des Ehernen Imperiums. Von hier aus brachen Expeditionen auf, hier wurde Recht gesprochen, wurden Neuerungen eingeführt oder abgelehnt und Zwistigkeiten geschlichtet.

Die Helmer hatten gute Arbeit geleistet. Die Helme an der Nordwand glänzten prächtig, geradezu stolz im Widerschein der knisternden Fackeln. Zehn Tage hatten sie gebraucht und im Akkord poliert, um die Würde der Ahnherren in jedem einzelnen der Helme zu bewahren.

Die Helmer waren ein ehrbarer Stand. Ihre Aufgabe bestand darin, die Helme der Väter für den Einzug des Großen Verwalters vorzubereiten. Kein Stäubchen und kein Steinchen wurde von ihnen geduldet. Pelzbesätze wurden gestriegelt, Stahl, Hörner und Leder auf Hochglanz gebracht.

Die Helmer, aus allen ehrbaren Stämmen zusammengewürfelt, waren stolze Zwerge. Sie hatten eine ehrenvolle Aufgabe, die vom Vater auf den Sohn übertragen wurde,11 sodass sie seit nunmehr siebenhundert Jahren die Helme für die Audienz des Großen Verwalters polierten. Die fand alle zehn Tage statt, was in der Regel genau die Zeit war, die sie brauchten, um alle Helme wieder auf Hochglanz zu bringen, nachdem diese bei der vorangegangenen Audienz vollgerußt worden waren.

Die Handhabung der rußenden Fackeln und Ölbecken oblag derweil den Facklern, die allesamt dem Feuerclan entstammten und dementsprechend die Flamme in ihrem Stammeszeichen trugen.

Während die Halle der Helme neun Tage lang allein vom dumpfen Summen der Leuchtkäfer erfüllt wurde, unter deren grün glimmendem Flügelschlag die Helmer ihrem Handwerk nachgingen, verlangte die Tradition am zehnten nach der Reinheit der Flamme. Audienz und Rechtssprechung mussten im Licht der Väter vonstattengehen, und das bedeutete: Fackeln und Öl.

Hätte man freilich einen Helmer nach dieser Tradition gefragt, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, von der Reinheit der Flamme zu sprechen. Feuer machte Dreck. Tradition hin oder her. Ob es nun die Toten der Zwerge aufnahm oder ihre Nachkommen ausbrütete, es machte Dreck. Dreck, der sich zigtausendfach auf den Helmen der Vorfahren niederschlug und von Hand wieder entfernt werden musste. Und zwar von ihrer Hand. Aus diesem Grund hatten die Helmer ein etwas gespaltenes Verhältnis zum Feuer an sich und zu den Facklern im Besonderen.

Dass dieses gespaltene Verhältnis wechselseitiger Natur war, lag am sogenannten Treuetrunk. Der nämlich war ursprünglich die einzige Möglichkeit gewesen, die einstmals kaum wertgeschätzte Frauenarbeit des Helmpolierens für einen anständigen Zwerg attraktiv zu machen. Den Treuetrunk zu erlangen, bedeutete ein kleines Fass bestes Bitterwurzelbier für jeden einzelnen Helmer. Oder eben Fackler. Denn der Treuetrunk musste im Wettbewerb gewonnen werden und konnte nur der Gruppe zuteilwerden, die für eine Audienz die bessere Arbeit geleistet hatte. Die Entscheidung, wer den Trunk schlussendlich bekam, oblag dem Großen Verwalter, der sich dafür sehr genau umzuschauen pflegte. Und so stand das Funkeln der Helme alle zehn Tage in direkter Konkurrenz zum Lohen der Fackeln. Wie gewohnt gingen die Fackler ihrer Arbeit nach. Einige ihrer besten Kletterer entzündeten hoch oben noch die letzten Fackelkörbe, dann war es so weit:

Die Priester in ihren von Erzfäden durchwirkten Roben, die, um die Einheit der Stämme zu symbolisieren, an den Säumen miteinander vernäht waren, traten einer nach dem anderen an das Drachenhorn und setzten im Schatten ihrer ausladenden Zeremonienhelme die Lippen an die Mundstücke.

Dann hallte ein bis in die Knochen und ins Erz dringender Ton, wie er in den Grenzen des Imperiums nicht seinesgleichen hatte, durch die Weite der Höhle. Während der Widerhall des Drachenhorns von den Wänden zurückgeworfen wurde, begann die Luft zu vibrieren. Auf allen Ebenen der Höhle öffneten dienstbeflissene Zwerge unter dumpfem Knirschen die schweren kupferbeschlagenen Tore, und das gesamte Eherne Volk – abgesehen von jenen, die sich auf dem Weg der Erneuerung oder auf Expeditionen befanden – strömte in die Halle, um dem Einzug des Großen Verwalters beizuwohnen.

Sie alle trugen das Zeichen ihres Stammes – eine Brosche aus Stahl, auf der deutlich erkennbar ihr jeweiliges Clanszeichen prangte: Flamme, Hügel, Menhir und Amboss. Feuer, Erde, Fels und Stahl.

Einfache Männer, Schürfer, Brecher und Titler, aber auch Erzbarone und Eisenfürsten. Hier waren sie alle gleich. Nachfahren der Altvorderen, die stolz die Zeichen ihrer Stämme und Gilden trugen und den Ahnen und dem Großen Verwalter ihre Ehrfurcht bezeugen wollten.

In ihrer Mitte verbargen sich jedoch auch einige wenige, die nur zum Schein das Knie beugten. Der einzige Weg, sie zu erkennen, wäre ein genauer Blick auf ihr Stammeszeichen gewesen. Diese Zeichen nämlich waren beseelt von verbotener, unheiliger Magie und schienen, wenn man ein zweites Mal hinsah, die Gestalt zu wechseln und zu einem gänzlich anderen Zeichen zu werden. Wer aber hätte auch nur ein zweites Mal hingeschaut? Und so versteckte sich inmitten des Ehernen Volkes eine Handvoll Verschwörer, die aufmerksam ihre Augen und Ohren offen hielten.

Von ihrem angestammten Platz aus, rechts neben dem Drachenhornplateau, beobachteten die Helmer, wie die Fackler ihr Handwerkszeug zusammenpackten und sich, während das Volk der Zwerge weiter in die Halle strömte, auf ihren Platz zur Linken des Plateaus zurückzogen.

Mit finsterer Miene betrachtete ein jüngerer Helmer namens Dorrnwoldt den sich zur Decke emporwindenden Rauch und sprach schließlich aus, was seine Kameraden dachten:

»Glaubt’s mir, diese Dreckschürfer tun etwas ins Öl, damit es richtig rußt.«

»Pah, das tun sie schon seit hundert Jahren«, ließ Krimmgroll, ihr Anführer, lapidar verlauten und blickte ebenfalls zu den Rußschwaden empor, die sich an den frisch polierten Helmen vorbei zur Decke hinaufwanden.

»Ja, aber was immer es ist, sie entwickeln es weiter!«, ergänzte Dorrnwoldt.

Nun blickten sie alle zur Decke und stellten sich vor, wie über ihnen die Rauchfresserkäfer Qualm und Ruß verschlangen und sich ganz allmählich aufblähten.

Tatsächlich wirkte der Rauch heute dichter, der Ruß schwärzer.

Mit etwas Pech würde sie der dunkle Rauch an diesem Tag ihren Treuetrunk kosten. Zornig spien die Helmer aus und blickten über die noch immer in die Halle strömende Zwergenmenge hinweg zu den Facklern hinüber.

Lächelnd stellte sich Bolk Fettbart, der Erste der Fackler, in Pose und wandte sich dann an seine Männer:

»Wir rußen heute aber besonders hübsch, wie mir scheint.«

Fhizz Noddwoldt, seine rechte Hand, grinste stolz.

»Zerstoßene Felsblattern auf den Fackeln und Schattenschnecke in den Becken.«

»Fantastisch, das wird ihnen zeigen, was Ruß ist. Scheint dichter zu rauchen als der Knochenbeerensud.«

»Schnecke rußt schmieriger, Herr …«

»Und was hat die Wischlappenbrigade uns heute eingebrockt?«

Fhidgroll, ein rothaariger Zwerg von kleinem Wuchs, der ein guter Kletterer war, trat einen Schritt vor.

»Haben ein Dutzend Fackeln auf der unteren Ebene sabotiert und auf der zweiten in eines der Ölbecken gepisst. Alles rechtzeitig erkannt und behoben, Herr. Sie lernen nicht dazu. Tunken die Fackeln in Bier und hoffen, dass wir es nicht merken.«

Fettbart nickte und betrachtete zufrieden den Rauch, der sich an den Helmen der Ahnen emporschlängelte.

»Wunderbar, dann wird das heute unser Trunk.«

Plötzlich drängten sich drei seiner Leute aus der Menge und kamen zu ihm herüber.

»Er scheint nicht da zu sein«, sagte einer von ihnen an Fettbart gewandt.

Der Erste der Fackler hob misstrauisch eine Braue. Das konnte nicht sein.

»Das wäre das erste Mal seit über hundert Jahren.«