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Wir begleiten die Zwillingsschwestern Melissa und Vanessa durch einen kalten, schneereichen Winter, in welchem ihre unsichtbare Zwillingsbande zum überlebenswichtigen Verbund wird. Während sich ein Mädchen im Wald verirrt, kämpft ihre Schwester die Kämpfe der anderen, um ihr Überleben zu sichern und gerät dabei selbst in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2024
Z w i l l i n g e
b y
Crash Dunn
1
Mit einem lauten, freudigen Schrei erhob sich der Adler aus dem Baumwipfel in die frische Herbstluft. Nichts mochte er lieber, als die regenerierte, fast neugeborene Luft nach einer kalten Nacht. Langsam näherten sich die Temperaturen in der Nacht dem Gefrierpunkt, doch heute Morgen war es einfach nur befreiend, seine Schwingen in die sich langsam erwärmende Luft zu erheben. Er genoss die ersten Sonnenstrahlen und rief noch einige Male sein Glück und seine Freiheit in die unter ihm kleiner werdenden Baumwipfel. Schier endlos schienen sich die Wälder unter ihm zu erstrecken und je höher er stieg, desto klarer und reiner wurde die Luft. Gemächlich schwang er seine prachtvollen Flügel, in diesen Momenten fühlte er sich wahrlich wie ein König. Nichts konnte ihm anhaben, keiner traute sich höher als er. Es zählte nur der Moment, noch war er es leid, an den nächsten, bald hereinbrechenden Winter zu denken. Dieses Jahr würde er schnell kommen und lange bleiben. Es würde hart werden, dass spürte er. Doch er wollte noch nicht daran denken – noch nicht! Zu schön war die Freiheit an jenem Morgen und mit jedem Atemzug sog er die belebende Kraft des neuen Tages ein. Unter ihm flogen nun die Bäume dahin, nur am weit entfernten Horizont sah er eine kleine Rauchfahne, welche er dem großen Sägewerk zuordnete, ohne es wirklich als Sägewerk zu kennen. Meist mied er diesen Ort, war er doch von Menschen erschaffen, störte er doch die liebliche Ruhe des Waldes. Doch heute hielt er direkt darauf zu und schnell zeichnete sich die Silhouette aus den Bäumen hervor ab. Manchmal, wenn er sich besonders gut fühlte, stattete er den Menschen einen Besuch ab. Heute war für ihn so ein Tag. Schnell erreichte er das Gemäuer, aus welchem trotz der beträchtlichen Höhe, welche der Adler einhielt, das monotone Summen der Säge an sein Ohr drang. Es schmerzte ihm in den Ohren, trotzdem kreiste er mehrmals über dem Gebäude, bis er seinen Weg fortsetzte. Er folgte dem grauen Band, welches sich unter ihm durch den Wald schlängelte. Er hatte die Wahl, dem Band in zwei Richtungen zu folgen, aber er wählte stets, wenn er diesen seltenen Ausflug unternahm, den Flug der Sonne entgegen. Weit vor ihm lag noch eine Stadt, bis die Endlosigkeit der Natur für viele Flugstunden ihren unberührten Lauf nahm. Wie schon einige Male davor freute er sich auf diese kleine Ewigkeit der Wälder und bei der Vorfreude auf die Unendlichkeit des satten Grün unter seinen stolzen Schwingen verspürte er einen Anflug von Hunger, und dieses Gefühl gab ihm einmal mehr Recht, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er kannte die Stadt vor ihm sehr genau. Er kannte den See, welcher sich aus seiner Richtung kommend zu seinem linken Flügel erstreckte, nachdem eine große Wiese seine erste Mahlzeit des heutigen Tages bewahrte. Ein lang gezogenes Stück Grün, im Sommer stets mit den buntesten Blumen übersät, welches leicht nach Süden abfiel, war für ihn ein ideales Jagdgebiet, wenn er sich nicht die Mühe einer ausgiebigen Jagd machen wollte. So gern er sich den ganzen Tag der Jagd nach Mäusen und ähnlichen Leckerbissen hingab, heute wollte er einfach nur seinen Flug genießen. Sicher würde er einige Runden über der kleinen Stadt drehen, die Menschen beobachten, welche weit unter ihm herumwuselten und umtriebig ihrem Tagwerk nachgingen. Sorgenfrei würde er die Hektik dieser seltsamen Wesen beobachten, welches scheinbar stets von Hektik und Stress regiert wird. Menschen waren für ihn die seltsamsten Wesen, die er kannte. Ein Tier, welches in Blechkisten saß, um sich fortzubewegen, konnte er nicht verstehen, war doch die Bewegung in Freiheit das größte Gut überhaupt. Nur die kleinen Menschen spendeten ihm Freude, wenn sie meist fröhlich jauchzend unter ihm tollten, sprangen und rannten. Doch irgendwann, wenn der Mensch heranwuchs, schien er die Fähigkeit der unbeschwerten Freude zu verlernen, und das verstand er nicht.
In der Ferne konnte er nun bereits sein Jagdrevier erkennen, während sich unter ihm weiterhin der von Menschenhand geschaffene Weg für ihre Blechkisten wie eine gigantische Nabelschnur zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Hin und wieder sah er einer dieser Dinger auf dem Band entlang huschen, in einer Geschwindigkeit, welche für ihn der Lächerlichkeit nahe kam. Endlich tauchten die ersten Behausungen der Menschen zwischen den Bäumen auf und schnell tat sich die kleine Stadt unter ihm auf, welche sich wie ein wahnwitziger Embryo um die künstlich geschaffene Nabelschnur drängte. Interessiert ließ sich der Adler einige dutzend Meter nach unten fallen, um das Leben in dem Nest der Menschen besser beobachten zu können. Aufgeregt wuselten diese seltsamen Lebewesen weit unter ihm hin und her und dieser Anblick bestätigte ihn in seiner grenzenlosen Freiheit einmal mehr. Wie gerne würde er ihnen zurufen, wie schön es hier oben in den Lüften ist, wie unglaublig kostbar die Freiheit sein kann, doch der Gedanken, diese Kreaturen würden auch seinen Lebensraum verseuchen, ließen diesen Übermut schnell abklingen. Für nichts auf der Welt würde er sein königliches Dasein riskieren oder gar aufgeben. Schon gar nicht, wenn er seine Freiheit mit diesen Menschen teilen müsste. Sicher würde es nicht lange dauern, bis sie hier oben ihre Wege bauen würden, bis sie mit ihren lärmenden Gefährten seine klare Luft vernebeln würden, bis auch hier oben kreischende Gebäude stehen würden. Zum wiederholten Male beschloss er, seine Gefühle und Gedanken für sich zu behalten, war er sich auch gar nicht sicher, ob dieser primitiven Wesen ihn verstehen würden. Nach einigen Runden über den Menschenbehausungen beschloss er, ein kleines Frühstück einzunehmen und wollte sich gen Norden wenden, als das Lachen einer
Kinderschar an seine sensiblen Ohren drang. Neugierig ließ er sich noch einige Meter nach unten fallen, bis er die kleine Gruppe sah, welche aufgeregt durcheinander lief. Schnell wuchs die Gruppe an und das fröhliche Lachen ließ unseren Adler ein intensives Gefühl von Glück empfinden. So stellte er sich das Leben vor, so fühlte es sich richtig an. Doch mit dem Glück beschlich auch Wehmut sein Herz. Der Gedanke, dass auch diese Kinder bald mit steigendem Alter diese Unbeschwerdheit vergessen würden, stimmte ihn traurig, aber das lag wohl in der Natur dieser traurigen Geschöpfe. Mit einigen kurzen Schreien begrüßte und verabschiedete er die fröhliche Gruppe und einige von ihnen blickten neugierig zum ihm hinauf. Während er zu seinem Buffet abdrehte, erkannte er einige kleine Hände, welche zu ihm hinaufzeigten und glücklich drehte er über ihnen eine letzte Acht und begab sich dann mit einigen wenigen Flügelschlägen zu der saftigen Wiese, über welcher er nur kurz still verharren musste, bevor er sich auf seine ahnungslose Beute hinabstürzte. Eine wohlgenährte Maus stellte an diesem Morgen sein Frühstück dar und während er sich auf dem nächsten Baumwipfel niederließ und seinen Fang genoss, verlassen wir unseren Reisegefährten und überlassen ihn seinen nächsten glücklichen Tagen, bis der Winter hart und erbarmungslos seine Existenz bedrohen wird. Erfolglos, soviel sei gesagt!
2
„Vanessa! Melissa! Schnell, das fahrende Kino ist in der Stadt!“
Schnell drückten sich die Zwillinge die Nasen an der Scheibe platt, jede wollte zuerst sehen, wer sie da voll Euphorie anrief. Draußen stand ein Junge, ungefähr zehn Jahre, wie sie selber auch.
Eine grasgrüne, selbst für diesen kühlen Herbstmorgen viel zu warme Mütze auf dem Kopf, einen ebenso grünen Schal eng um den Hals geschlungen, so dass man fürchten muss, er würde jeden Moment Tod durch Ersticken erfahren, und eine Jacke, welche scheinbar jede Bewegung unmöglich zu machen schien, sowie eine ebenfalls viel zu dicke Skihose ließen ihm die Schweißperlen auf der Stirn erblühen. Doch er schien es selber nicht zu bemerken, viel zu aufgeregt rief er nach den Mädchen, welche dann auch wenige Sekunden später hinaus auf die Strasse stürmten, nur halb so dick angezogen wie der Junge, und trotzdem war ihnen jetzt schon viel zu warm.
„Ted, hat deine Mutter dich wieder Polarsicher gemacht?“ lachten die Zwillinge ihn freundlich und etwas mitleidig an. Ted zog kommentarlos die Augenbrauen nach oben und versuchte erfolgreich von seinem Nanga-Parbat- Expedition- Kostüm, wie er es selber heimlich nannte, abzulenken:
„Das Kino ist wieder da, ich habe den LKW soeben bei uns vorbeifahren sehen. Kommt schnell!“
Jubelnd liefen die Kinder die Strasse hinunter, wo sich in der Zwischenzeit immer mehr Kinder eingefunden hatten und gespannt zum Marktplatz liefen, wo sich schnell ein größerer Pulk versammelt hatte. Alle riefen aufgeregt durcheinander, einige lachten, andere sahen mit offenem Mund auf den Lastwagen, dessen Bordwand in gelben Lettern das „fahrende Kino“ ankündigte. Jeden zweiten Monat besuchte dieses Highlight in der Kindheit eines jeden in Forrest Lake Aufwachsenden die kleine Stadt. Auch wenn sie alle das Kino kannten, war es jedes Mal etwas absolut Besonderes, wenn der Truck auf ihrem Marktplatz auftauchte. Immer mehr Kinder drängten sich nun in der Nähe des Neuankömmlings, und die Geräuschkulisse schwoll mit jedem neu eintreffenden Kindes um einige Dezibel an. Über ihnen durchbrach nur kurz ein Schrei das Lachen und einige ließen sich ablenken und reckten ihre Köpfe nach oben, wo sie einen stolzen Adler seine Kreise ziehen sahen. Doch schnell zog das „fahrende Kino“ ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Endlich stieg der Fahrer aus und die Kinder konnte nichts mehr halten und schnell hatte die Gruppe den Mann mittleren Alters umringt. Die Kinder kannten ihn nur unter dem Namen Onkel Bob, und das war er auch für sie, ein guter, liebevoller Onkel. Stets hatte er zur Begrüßung eine Tüte Bonbons für seine kleinen Freunde parat, welche ihn jetzt wie jedes Mal und wie hunderte andere Kinder in dutzend anderen einsamen Städten mit Fragen bombardierten. Die meisten Fragen kannte Bob schon auswendig und ebenso hatte er schon unzählige Male den Freudenschrei gehört, wenn er den mitgebrachten Film verkündete.
„Ich habe dieses Mal Ice Age mitgebracht, ich hoffe, ihr kennt den Film noch nicht!“ Natürlich kannte sie den Film noch nicht, das nächste richtige Kino ist immerhin fast eine Autostunde entfernt und entsprechend laut ertönten auch dieses Mal die Freudesbekundungen. Schwerlich konnte sich Bob durch die Kindermenge hindurchkämpfen, sein herzliches Lachen schallte laut über den ganzen Marktplatz.
„Jetzt mal langsam, ihr Lieben. Lasst mir doch noch etwas Luft, sonst gibt es keinen Film heute Abend. Dann liege ich blau angelaufen auf eurem Markt und sage keinen Piep mehr. Ich baue gleich alles auf und heute Abend, um 18 Uhr dürft ihr wiederkommen und euren Film schauen. Und wenn ihr ganz brav seid, gibt es auch Popcorn – vielleicht!“
Erneut brach ein ohrenbetäubender Jubel aus, aber schnell teilte sich die Menge in viele kleine Gruppen, welche aufgeregt durcheinander redeten. Bob nutzte die Gelegenheit und machte sich vorerst aus dem Staub, um sich einen Hamburger im nahe gelegenen Restaurant zu kaufen. Auch dort wurde er freudig begrüßt, jeder in der Stadt kannte ihn und jeder wusste, was seine Ankunft bedeutete, denn Bob hatte natürlich nicht nur Kinderfilme auf Lager, ab 22 Uhr hatte er auch etwas Unterhaltung für die „großen Kinder“, wie er sie liebevoll nannte. Aber auch, wenn es wesentlich anstrengender war, die richtigen Kinder zu beruhigen, waren diese ihm immer noch am liebsten. Er liebte die Neugier und das Strahlen in ihren Augen, wenn er seinen mitgebrachten Film preisgab. Die Erwachsenen waren nie so neugierig, hätte er ihnen doch sowieso nie verraten, welches Erwachsenenprogramm er im Gepäck hatte.
Doch auch die erwachsenen Einwohner von Forrest Lake mochten diesen fröhlichen Gesellen, hatte er doch auch stets die neuesten Geschichten der umliegenden Städte auf Lager. Bob wusste alles, wer krank oder gar gestorben war, wer ein Kind bekommen hat, wer geheiratet hat und was es sonst noch an wissenswertem und nichtwissenswerten Klatsch und Tratsch gab. Das meiste erzählte er aber erst vor der eigentlichen Filmvorführung, so dass er sich immer die Möglichkeit frei hielt, in Ruhe sein Kino „aufzubauen“ und gemütlich seinen traditionellen Hamburger in Forrest Lake zu sich zu nehmen.
Das Kino war eigentlich ein größerer Truck, dessen Bordwand nur aufgeschoben und wie eine Ziehharmonika eine Tribüne herausgezogen wurde. Wenn diese Tribüne komplett ausgezogen war, bot sie immerhin für fast einhundert Gäste Platz. Für den Fall, dass der Wettergott ihm nicht gut gesinnt war, konnte Bob die Bordwand einmal um die Tribüne herumziehen und mit Bolzen im Boden verankern. Darüber zog er dann eine Zeltplane, welche das Wasser von oben abhielt. Natürlich diente diese Plane auch als Sonnenschutz, wenn im Sommer die Kindervorstellung lief. Sein Kino war so stets gut gefüllt, war es doch alles andere als Witterungsabhängig, und seine Eintrittspreise gestaltete er auch entsprechend günstig, so dass sich kein Elternteil herausreden konnte, sein Kind, welches natürlich bei seinem auftauchen bettelnd und bittend seine Eltern malträtiert, zu Hause zu lassen. Er nahm für ein Kind zwei Dollar, worin auch eine Tüte Popcorn enthalten war, für Erwachsene verlangte er vier Dollar. Das war gut für Bobs Geldbeutel und noch besser für das Nervenkostüm der Eltern.
Nachdem er seinen Snack zu sich genommen hatte, und alles mit einem zweiten Becher Coke herunter gespült hatte, machte er sich routiniert an den Aufbau, wo er von vielen dutzend gespannten Kinderaugen beobachtet wurde.
3
Gespannt beobachteten Vanessa und Melissa den Minutenzeiger auf der Küchenuhr, welcher sich nur quälend langsam weiterbewegte. Die Vorfreude auf das Kino ließ sie nicht mehr los und ihre Mutter lachte herzlich über ihre zwei Mädchen, waren sie doch in diesen Momenten wieder richtige Kinder. Zu schnell wurden sie ihr erwachsen, und so genoss sie die Spannung der Mädchen besonders.
Franka liebte die Mädchen über alles und mit jedem Geburtstag der Zwillinge überkam sie eine gewisse Melancholie, ihre Engel wachsen und älter werden zu sehen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden sie ihre Größe erreicht haben, nicht das Franka besonders groß wäre, aber der Gedanke machte sie doch etwas traurig. Sie war jung Mutter geworden, gerade zwanzig Lenze zählte sie damals, doch als vor zwei Jahren der Vater der Kinder starb, wuchs sie über sich hinaus und ließ sie die vielen anfänglichen Probleme überstehen. Der Tod ihres Mannes hatte sie endgültig zur Frau gemacht. Nicht, das sie wirklich plötzlich allein dastand, damals hatte ihre beste Freundin Mia ihr beigestanden und geholfen, wo es nur ging. Trotzdem kämpfte sie für sich und ihre Kinder. Jetzt war sie stolz auf das Geschaffte und ebenso stolz betrachtete sie jetzt ihre Kinder, Kinder, die nur sie unterscheiden konnte, sah doch die Eine wie die Andere aus, nur ein kleiner Leberfleck in Melissas Nacken ließ sie voneinander unterscheidbar machen.
„Habt ihr Hunger?“ fragte Franka die Zwei, die ihre Augen immer noch nicht von der tickenden Küchenuhr lassen konnten. „Ihr habt noch genügend Zeit zum Essen, euer Film beginnt erst in fünf Stunden!“ lachte Franka. „Was läuft heute eigentlich?“ puschte sie die Mädchen weiter auf.
„Ice Age!“ kam es wie aus einem Mund und die Kinder sahen sich freudig an und mussten dann lauthals lachen.
„Na, das klingt ja nach einem spannenden Kinoabend, aber das wird nur etwas, wenn man vorher gut gegessen hat!“ erwiderte Franka augenzwinkernd, nachdem sich die Mädchen wieder beruhigt hatten.
„Wir müssen nichts essen, dort gibt es doch Popcorn!“ begann Melissa Einspruch zu erheben. Vanessa nickte heftig zustimmend, doch ihre Mutter schüttelte energisch den Kopf.
„Das könnte euch so passen, auf jetzt, Tisch gedeckt und hingesetzt!“ Franka nahm den Protest nicht ernst und etwas missmutig machten sich die zwei Kinder daran, die Teller und das Besteck auf dem Tisch zu verteilen.
„Was gibt’s denn?“ wollte Melissa wissen, spürte sie nun doch ein zaghaftes Knurren in ihrem Bauch.
„Corned Beef, euer Lieblingsessen!“
Begeistert jubelten die Kinder erneut auf, dieses Mal in freudiger Aussicht auf ihre Leibspeise. Kaum hatten sie alles auf dem Tisch verteilt, trieben sie schon ihre Mutter an, sich zu beeilen. Aufgeregt rutschten sie auf ihren Stühlen hin und her, während sie zusahen, wie sich ihre Teller mit dem duftenden Essen füllten. Franka lachte, glücklich, ihre Kinder doch noch zum Essen überredet zu haben. Hektisch schlangen die Mädchen ihr Essen herunter, die mahnenden Worte ihrer Mutter, sich etwas Zeit zum Essen zu lassen, überhörten sie gekonnt. Nachdem jedes der Mädchen sich einen kräftigen Nachschlag aus dem Topf geangelt hatte, sprangen sie nervös auf und begannen, ihre Jacken überzuziehen.
„Langsam, ihr Zwei!“ bat Franka um etwas weniger Aufregung.
„Ihr habt noch genügend Zeit, setzt euch doch bitte wieder hin, dann habe ich vielleicht auch noch etwas für euch!“
Neugierig sahen sich Vanessa und Melissa an, legten dann ihre Jacken wieder weg, setzten sich auf ihre Plätze und sahen gespannt zu, wie ihre Mutter fast aufreizend langsam ihren Teller leerte. Als sie endlich damit fertig war, bat sie die Kinder, doch einmal im Kühlschrank nachzusehen, was sie denn dort finden würden. Schnell liefen sie zum Kühlschrank, öffneten ihn übermütig und brachen dann erneut ihn Jubelschreie aus. Stolz kamen sie an den Tisch zurück, jede von ihnen einen Schokoladenpudding in der Hand, welche sie dann gierig verschlangen. Schnell war von dem Pudding nichts mehr zu sehen, außer zwei völlig verschmierte Münder, welche sich die Mädchen beim auslecken ihrer Schüsseln geholt hatten. Zufrieden schickte Franka ihre Kinder ins Bad zu einer gesichtsseitigen Grundreinigung, während sie in ihrem Portemonaise nach dem passenden Geld kramte. Als die Kinder frisch gereinigt zurückkamen, lagen für jedes Mädchen zwei neu aussehende Dollarscheine auf dem Tisch.
„So, nun macht, dass ihr fortkommt. Ich kann euch eh nicht mehr halten!“ lächelte Franka sie an und reichte ihnen das Geld.
„Danke, Mama!“ schallte es im Chor und schon waren die Kinder mit einem Arm in der Jacke durch die Tür verschwunden.
Eilig liefen sie zum Marktplatz, wo sich langsam eine Horde Kinder sammelte, alle redeten wild durcheinander, als ob sie noch vom Morgen dort stehen würden. Melissa entdeckte in der fröhlichen Runde auch Ted und winkte ihm fröhlich zu. Ted ließ seine Zahnlücke aufblitzen und winkte zurück. Er hatte inzwischen seine Mütze und seinen Schal abgelegt und das Modell „Unbeweglich“ gegen die Jackencollection „Fast bequem“ eingetauscht.
„Hat deine Mom keine Angst, dass du dich erkältest?“ fragte Vanessa ihren Freund, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. Die Sonne schien mit aller Herbstkraft auf Forrest Lake herab und Ted hatte mit Schweißperlen zu kämpfen, welche ihm ständig in die Augen liefen und dort ein kleines Feuerwerk entfachten.
„Daniel, Anne und die Brown Kids sind auch schon da!“ informierte Ted die Zwillinge, nachdem er ein weiteres Mal seine Augen gerieben hatte.
„Wenn du so weiter machst, wirst du bis zum Film erblindet sein!“ kommentierte Melissa lachend die roten Augen ihres Kameraden. Resigniert zuckte Ted erneut mit den Schultern, doch schnell erschien ein neues Lächeln in seinem Gesicht. Freudig zeigte er auf die gegenüberliegende Seite des Platzes.
„Da kommt auch Stotter – Ken!“
Eigentlich hieß er Ken Miller, aber solange dieser nicht dabei war, nannten ihn alle Kinder Stotter – Ken. Einige lachten ihn wegen seiner Sprachstörung aus, aber die meisten akzeptierten ihn mit seiner Macke, hatte Ken doch meistens die besten Spielideen. Immerhin war er es, der den legendären „Forrest -Ball“ erfunden hat. Zu diesem Spiel treffen sich jeden Samstag pünktlich um 15.00Uhr alle Kinder auf dem Marktplatz, bildeten zwei Mannschaften und kämpften dann um die wöchentliche Meisterschaft. Es galt, den Ball, welcher in der Mitte des Marktes platziert wurde, in das Tor der gegnerischen Mannschaft zu befördern. Stets spielte das blaue gegen das gelbe Team, das Tor der „Blauen“ war das Kirchentor; das Tor der „Gelben“ bildete das ehemalige Stadttor auf der gegenüberliegenden Seite. Das Spiel wurde schnell zur Tradition in Forrest Lake, an welchem fast alle Kinder teilnahmen (eigentlich alle außer Ted, dessen Mutter es ihm ausdrücklich verbot, könnte sich der Junge doch eine Schramme holen), und die Eltern am Rand standen und auf ihre Kids wetteten. Ted war stets auserkoren, als Schiedsrichter die Einhaltung der Spielregeln zu überwachen. Genau genommen musste er nur aufpassen, dass niemand kratzte, biss oder schlug, ansonsten war alles erlaubt.
Das Spiel zog sich an guten Tagen über mehrere Stunden hin, bis eine Mannschaft ein Tor erzielt hatte, meistens lagen sämtliche Kinder in einem riesigen Knubbel auf, unter und neben dem Ball, bis alle aus Erschöpfung aufgaben und jemand die letzte Kraft mobilisierte und das lang ersehnte Tor erzielte.
Doch heute bestand der Mittelpunkt der Kinder aus dem Truck, welcher inzwischen komplett aufgebaut war, das Spiel war erst in zwei Tagen wieder aktuell.
„Hallo Ken!“ begrüßten Vanessa, Melissa und Ted den Neuankömmling wie aus einem Munde.
„Ha – Ha – Hallo!“ Ken hob zum Gruß seine linke Hand, Gesten lagen ihm wesentlich mehr als das gesprochene Wort.
„I-I-Ich bin sch - sch- sch - sch - schon gespannt!“ er deutete mit seinem Arm auf den Truck und die Mädchen nickten beipflichtend. Allmählich wurde die Kindergruppe immer größer und das Stimmengewirr schwoll immer weiter an.
Endlich war es dann soweit und Bob öffnete die Türen seines Kinos. In blitzesschnelle schob sich eine kreischende und lachende Traube zur Kinokasse.
Einige Male mussten Bob sie zur Ruhe rufen, wenn das Gedränge gar zu groß wurde. Endlich hatte er auch dem letzten Kind seine Karte verkauft und die Tüte Popcorn feierlich übergeben und der Vorführung stand nichts mehr im Wege.
4
Fast zwei Stunden hörte man in Forrest Lake nur ein paar Vögel singen, einige Bewohner, die in ihren Gärten werkelten, ab und zu ein Flugzeug, welches in Schwindel erregender Höhe seinen Kondensstreifen zog und … einige dutzend Kinder, welcher mit ihrem schallenden Lachen den Marktplatz erfüllten. Pünktlich mit Einbruch der Dämmerung gab das improvisierte Kino seine Innereien in Form von fröhlich strahlenden Kindern wieder frei. Alle sahen glücklich aus, lachten über das ganze Gesicht und viele von ihnen schauten mehrmals zu dem Chromglänzenden Truck zurück, welcher in der untergehenden Sonne noch um einiges imposanter wirkte. Die Kinder wussten, dass es jetzt wieder eine gefühlte Ewigkeit dauern würde, bis das Kino sie wieder besuchen würde.
Zwischen dem fröhlichen Pulk lachender Kinder kämpfte sich eine korpulente Frau, welche nur durch ihren Umfang, keineswegs aber durch ihre Größe von den Kindern hervorstach. Wie eine kraftvoll geworfene Bowlingkugel kämpfte sie sich durch die Gruppe und rief mit ihrer krächzenden Stimme:
„Teddy! Teddy, wo bist du, mein Engel!“
„Ted, ich glaube, da vorn kommt deine Mutter!“ sagte Vanessa zu ihrem Freund und reckte den Hals, konnte aber beim besten Willen nicht die Besitzerin der krächzenden Stimme entdecken.
„Sch – sch – schnell, m –m – m – mach deine Ja – Ja – Jacke zu!“ warnte Ken und beschrieb mit seinen Armen einen großen Kreis um seinen Körper. Hinter ihnen kicherten zwei ältere Mädchen, welche Vanessa aus der Schule als Ina und Marge erkannte. Resigniert seufze Ted und zog schnell den Reisverschluss nach oben, bis er sich fast sein Kinn einklemmte. Kaum war ihm dies gelungen, stand auch schon die dicke Frau vor ihnen und küsste Ted auf die Wange.
„Da bist du ja, mein Engel!“ sagte sie und wischte ihrem Sprössling mit einem höchstpersönlich angefeuchteten Taschentuch ein Stück Popcorn aus dem Mundwinkel.
„Iiiiiiiiiihhhh! Mama, lass das!“ protestierte Ted, aber da hatte er schon das feuchte Tuch mitten im Gesicht. Die Mädchen hinter ihm kicherten wieder vor sich hin.
„Ich werde nicht zulassen, dass du mit einer halben Tüte Popcorn im Gesicht durch die Gegend läufst. Außerdem ist es einer jeder Mutter Pflicht, ihr Kind sauber zu halten. Frag doch deine zwei netten Freundinnen, deren Mutter macht es bestimmt genau so, oder?“ Ted’s Mutter sah jetzt die Zwillinge an, welche schweigend zu Boden sahen und versuchten, nicht mit Marge und Ina loszukichern. Sie würden niemals ihren Freund auslachen, aber die Frage seiner Mutter war zu lächerlich. Endlich konnte sich Vanessa überwinden und sah Miss Burdon (wenn die Zwillinge älter gewesen wären, hätten sie sicher behauptet, dass sie nicht nur so hieß, sondern auch so roch, aber bis ihnen das bewusst werden könnte, fehlten ihnen noch einige Jahre) an und nickte vorsichtig. Sie log eigentlich nie, aber sie kannte Ted’s Mutter gut genug, um weiteren peinlichen Fragen aus dem Weg zu gehen.
„Verabschiede dich jetzt von deinen Freunden, wir müssen jetzt gehen!“ sagte Miss Burdon, ohne die Antwort des Mädchens zu beachten. Während hinter ihnen der Strom von Kindern zügig nachließ, drehte sich Ted zu Vanessa, Melissa und Ken um und wünschte ihnen einen guten Heimweg.
„Bis Morgen!“ rief er ihnen noch zu, während er von seiner Mutter am rechten Arm über die Strasse gezerrt wurde.
„Armer Ted!“ kommentierten die Zwillinge nur und Ken winkte ihm stumm nach.
„Wir müssen jetzt aber auch los, sonst bekommen wir zu Hause auch Ärger!“ sagte Melissa zu ihrer Schwester, nicht ohne mit den Augen zu zwinkern. „Tschüss Ken, bis spätestens Samstag!“ sagten sie wie aus einem Mund und dann trennten sich auch ihre Wege.
„War ein toller Film, besonders Sid war echt lustig! Findest du nicht auch?“ freute sich Vanessa über den gelungenen Nachmittag und Melissa bestätigte sie mit einem fröhlichen Nicken, dass ihr Pferdeschwanz nur so auf und ab flog. „Das müssen wir unbedingt Mom erzählen!“
Kaum waren sie daheim angekommen, überfielen sie ihre Mutter mit der kompletten Geschichte, und wie im Theater spielten sie einige Szenen fast wortgetreu nach, bis sie völlig verausgabt und müde ins Bett fielen.
5
Der Vollmond stand hoch am Himmel und ließ an der Wand gespenstische Schatten entstehen. Die Schatten des Baumes, welcher direkt vor dem Fenster der Mädchen im Herbst seine süßen Äpfel spendete, erinnerte Melissa an schreckliche Krallen, die jeden Moment zupacken könnten. Die lustigen Vögel, die sie mit ihrer Schwester gebastelt und an das Fenster geklebt hatten, wirkten bei diesem Schattenspiel wie riesige Flugsaurier, jeden Moment bereit, sich auf die schlafenden Kinder zu stürzen und sie in sein Nest zu verschleppen. Nichts erinnerte in diesen schwarzen Kreaturen an die lustigen Sperlinge, welche sie unter viel Gekicher ausgeschnitten hatten. Doch diese Schatten waren nicht der Grund, das Melissa aufwachte. Die grün leuchtende Digitalanzeige ihres „Hallo – Kitty“ - Weckers zeigte Punkt drei Uhr. Da war es wieder, sie hatte sich doch nicht verhört. Jemand winselte da neben ihr, ganz leise, aber doch laut genug, um Melissa aus dem Schlaf zu reißen. Natürlich konnte es nur ihre Schwester sein, die da weinte. Melissa machte ihre Nachttischlampe an und musste einige Sekunden warten, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, dann sah sie ihr gemeinsames Zimmer deutlich vor sich. Sofort fiel ihr Blick auf das Bett neben ihr, wo ihre Schwester schlief.
Oder schlafen sollte.
Ihr Bett war leer, und Melissa begriff zuerst nicht richtig dass da niemand lag, dann sah sie Vanessa am Fußende des Bettes zusammengekauert sitzen. Sie hatte die Beine zu sich herangezogen und Tränen tropften ihr auf die Knie. Leise winselte sie vor sich hin, während sie mit weit aufgerissenen Augen vor sich hinstarrte. Melissa kroch schnell auf sie zu und nahm sie in den Arm. Doch kaum hatte sie ihre Schwester berührt, schrie diese auf.
„Nein! Geh weg, lass mich in Ruhe!“
„Vanessa! Vanessa, es ist alles gut, du hast nur geträumt!“ Melissa sah ihrer Schwester tief in die Augen, doch sie schien glatt durch sie hindurch zu sehen.
„Vanessa!“ jetzt wurde sie schon etwas lauter, doch immer noch war es nicht mehr als ein Flüstern, sie wollte auf keinen Fall ihre Mutter wecken, welche nur ein Zimmer weiter schlief.
„Vanessa, wach auf!“ sie schüttelte ihre Schwester sanft durch, aber sie zeigte keinerlei Regung.
„NEIN!“ schrie sie wieder auf, so dass Melissa eine Gänsehaut bekam.
„Vanessa!“ nun wurde Melissa auch laut und wenige Augenblicke später ging die Zimmertür auf und ihre Mutter kam herein.
„Was ist los? Was schreit ihr so?“ der ängstliche Blick, welcher bei dem dämmrigen Licht fast genau so unheimlich wirkte wie die Schatten vor wenigen Minuten, unterstrich ihre Sorge.
„Nichts Mom, Vanessa träumt bloß schlecht! Ich bekomme sie einfach nicht wach.“ Melissa sah ihre Mutter jetzt Hilfe suchend an.
„Mein Schatz, wach doch auf, dann ist auch dein Traum vorbei!“ sanft fuhr sie ihr durch das Haar, dann nahm sie Vanessa in den Arm, während Melissa ihre Hand hielt.
„Vanessa, alles ist gut!“ versuchte auch Melissa noch einmal ihr Glück.
„NEIN!“ schrie sie wieder auf, dann schreckte Vanessa auf und sah sich verwirrt im Raum um. Nachdem sie ihre Sinne sortiert hatte, sah sie ihre Mutter fragend an.
„Das war so schrecklich. Mom, ich hatte Angst!“
„Du hast geträumt, aber jetzt ist es gut!“ beruhigend wiegte sie Vanessa im Arm und Melissa wischte ihre Tränen ab, welche auf den Wangen ihrer Schwester wie kleine Edelsteine im Licht der kleinen Lampe glänzten.
„Willst du deinen Traum erzählen? Das hilft meistens!“ sagte Franka, doch ihre Tochter schüttelte stumm den Kopf.
„Ich hol dir ein Glas Wasser, das wird dir gut tun!“ Franka stand auf und verließ den Raum um kurz darauf mit einem halb gefüllten Glas Wasser zurück zu kommen, welches Vanessa in einem Zug leerte. Melissa beobachtete wortlos mit interessiertem Blick ihre 23 Minuten jüngere Schwester.
„Alles wieder gut?“ erkundigte sich die Mutter und als Vanessa sich wieder ins Bett legte und die Decke bis zum Kinn zog, war sie sich sicher, dass der Traum endgültig verflogen war.
„Dann schlaft gut! Bis morgen früh!“ sie gab jeder noch einen liebevollen Kuss (nicht die Sorte Kuss, die Mrs. Burdon ihrem Sohn zu geben pflegt – nass und laut, sondern mehr ein Hauch als ein Kuss) und dann ging sie zur Tür hinaus in ihr eigenes Bett zurück.
Als Melissa sicher war, dass ihre Mutter nicht noch einmal herein kommen würde, drehte sie sich Vanessa zu und sah sie einige Sekunden an.
„Was hast du geträumt? Willst du es mir sagen?“ leichte Besorgnis lag in ihrer Stimme und Vanessa sah ihr tief in die Augen, bis sich eine weitere Träne aus den Augenwinkeln drückte.
„Ich denke, dass weißt du genau. Er war wieder da, dieser Traum!“
„Träumst du immer noch davon? Ich hatte gehofft, dass es vorbei ist!“
„Es war heute das erste Mal wieder, aber dieses Mal war etwas anders.“
Melissa setzte sich neugierig auf und wartete darauf, dass ihre Schwester weiterreden würde. Nach einer wortlosen Minute sprach sie weiter.
„Es war alles wie immer, unser Zimmer in Louisian, der lange, dunkle Flur, die schlurfenden Schritte. Aber als die Tür aufging und die Gestalt meine Decke wegzog, war da nicht Dad. Vor meinem Bett stand Sid!“
„Sid? Der Sid aus dem Film heute?“
Vanessa nickte.
„Was hat das zu bedeuten? Was soll das?“ Vanessa begann wieder zu weinen und Melissa umarmte sie liebevoll, bis der Tränenfluss versiegt war.
„Was hat Sid denn gemacht? War es dasselbe wie in deinen anderen Träumen auch?“ Wieder nickte Vanessa.
„Ich glaube schon, ich bin dieses Mal früher aufgewacht, das habe ich dir zu verdanken!“ endlich huschte ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht und dankbar nahm sie Melissa in den Arm.
„Sag aber Mom nichts davon, du weißt doch, es ist unser Geheimnis!“ bat Vanessa und Melissa nahm einen imaginären Schlüssel, verschloss damit ihren Mund und tat so, als würde sie den Schlüssel wegwerfen.
„Danke, du bist die beste Schwester, die man haben kann!“
„Es ist unser Geheimnis, und das soll es immer bleiben!“ entgegnete Melissa, dann umarmten sich die Schwestern noch einmal. Melissa legte sich fürsorglich zu Vanessa ins Bett und eng umschlungen schliefen die Mädchen schnell wieder ein.
6
„Es schneit, hurra!“ Melissa riss innerhalb weniger Sekunden ihre Schwester aus dem Schlaf. Sie schüttelte sie kräftig durch und schrie ihr freudig ins Ohr.
„Vanessa, steh auf, es schneit!“ Es ging ihr nicht schnell genug, Vanessa zum Fenster zu schieben und ihr die fröhlich tanzenden Schneeflocken zu zeigen. Noch etwas schlaftrunken lies Vanessa sich willenlos durch ihr Zimmer schieben und von Melissa den Tanz der Schneeflocken zeigen. Die gepuderte Wiese vor ihrem Haus entzündete nun auch in Vanessa erste Aufregung. Es war bisher nur ein leichtes schneien, aber wie sie schon in den letzten zwei Wintern hier erlebt hatte, wusste sie, dass es schon bald alles Schnee bedeckt sein wird. Vielleicht konnten sie schon heute Nachmittag den Schlitten herausholen. Vielleicht!
„Nach der Schule gehen wir Schlitten fahren!“ als könnte Melissa Gedanken lesen, verkündete sie das, was Vanessa schon seit einigen Tagen erwartet hatte. Der Winter hatte doch länger auf sich warten lassen, als es die letzten Wochen hatten vermuten lassen. Nicht nur einmal sah der Himmel nach dicken Schneefällen aus, aber jeden Morgen wurden die Kinder aufs Neue enttäuscht. Doch diesen Morgen war es anders. Endlich hatte sich der Wettergott entschieden, die Welt in sein zartes Weiß zu tauchen. Die Zwillinge fielen sich glücklich um den Hals und führten einen kleinen Freudentanz auf.
„Es schneit, es schneit, es schneit!“ sangen sie dabei immer wieder, bis plötzlich ihre Mutter in der Tür stand und versuchte, die Euphorie zu bremsen.
„Zuerst geht es in die Schule, dann sehen wir, ob ihr Rodeln gehen könnt.“ Ein Lachen konnte sie sich angesichts der glücklichen Kinder trotzdem nicht verkneifen.
„Jetzt kommt erst einmal frühstücken, und dann ab zum Lernen!“ Nachdem die Mädchen mit einem einstimmigen „Och Mann!“ kurz protestiert hatten, zogen sie sich schnell um und saßen schon bald frisch und munter am Frühstückstisch und löffelten gierig ihre Flakes. Ihre Milch tranken sie in einem Zug aus, kramten dann ihre Schultasche hervor und stürzten mit offenen Schuhen und halb offenen Jacken zur Tür hinaus.
„Moment!“ konnte ihnen Franka eben noch hinterher rufen, als auch schon die Haustür ins Schloss fiel. Schnell lief sie den Mädchen nach und als sie die Tür öffnete, schlug gerade der erste Schneeball des Winters neben ihrem Kopf in der Hauswand ein. Ein fröhliches Jauchzen begleitete die kalte Kugel und Franka sah gerade noch Ken seinen Ball in Richtung der Zwillinge werfen, als sie einen Ball direkt ins Gesicht bekam. Schnell herrschte erschrockene Stille, bis Ted neben Franka stand und sie beschämt ansah.
„Entschuldigung, Mrs. Herman!“ mehr brachte der erschrocken Ted nicht über seine vor Schreck zitternden Lippen. Franka sah in mit einem bösen Blick wütend an und sagte dann leise, das gerade Ted sie verstehen konnte „Lauf!“
Überrascht begriff Ted erst nicht, was sie von ihm wollte, doch als sich Franke bückte und eine Handvoll Schnee aufhob, nahm er die Beine in die Hand und begann zu rennen, soweit seine Polarausrüstung es zuließ. Doch er kam nicht sehr weit und Frankas Schneeball traf ihn am Rücken. Endlich erwachten auch die anderen Kinder aus ihrer Starre und fröhliches Gejohle drang durch die Strasse. Schnell gesellten sich die Zwillinge zu ihrer Mutter und zu dritt versuchten sie, sich den Angriffen der restlichen Kinder zu erwehren. Schon bald gesellten sich weitere Kinder zu der Meute dazu und schnell sahen sich die drei einer Übermacht gegenüber, dass ihnen nur noch der Rückzug ins Haus blieb. Atemlos, aber glücklich schloss Franka die Tür hinter sich und sie hörten eine ganze Armada Schneebälle gegen die Tür knallen. Alle drei brachen nun in ein herzhaftes Lachen aus und nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, ging Franka in die Küche und gab den Zwillingen ihre Pausenbrote in die Hand.
„Hier, die habt ihr vergessen!“