Zwillingstod - Michael Harjen - E-Book

Zwillingstod E-Book

Michael Harjen

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Beschreibung

Ein Pharmaskandal im fernen Brasilien, eine unbekleidete Tote mit einem seltsamen Gegenstand am Handgelenk, die nach der Havarie eines Segelbootes in einem Stausee treibend gefunden wird, ein perfider aber nicht ganz perfekter Mord, scheinbar unzusammenhängende Ereignisse, durch deren unsichtbare Fäden drei Menschen auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpft sind. Frühsommerliche Wärme liegt über dem Rheinland. Alissa Santos, eine aparte junge Frau, ist auf dem besten Weg, sich endlich aus den allzu engen Fesseln väterlicher Erziehung zu befreien und verliebt sich in Markus Larkin, einen charmanten Mann auf der Suche nach einem Neubeginn. Von Beruf Pharmareferent, hat er schwere Schuld auf sich geladen und kämpft mit allen Mitteln gegen die Aufdeckung seiner falschen Identität. Anton Kohler, ein Handwerker, dem Larkins alte Villa zwar unpassend groß erscheint für einen Single, der aber mit der Renovierung gute Geschäfte macht, durchschaut als Erster die unheilvollen Zusammenhänge. Er ersinnt einen todsicheren Racheplan und setzt ihn eiskalt in die Tat um - nicht ahnend, in welch verhängnisvolle Lage er sich selbst bringt. Von Larkin unbemerkt, taucht immer wieder ein schwarzer Jeep mit Berliner Nummer in seiner Nähe auf.. Die beiden Insassen, ein privater Ermittler am Steuer und eine mit großer Sonnenbrille und Kopftuch getarnte Frau im Fond scheinen eine Menge zu wissen um die Geschehnisse - aber offenbar noch nicht genug..

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Michael Harjen stammt aus Süddeutschland und lebt seit vielen Jahren in der Nähe von Düsseldorf. In seinem Beruf als Musikerund Pädagoge bewegte er sich auf nationalem und internationalem Parkett. Neben dem Bereich der Musik ist er kreativ auf den Feldern der Malerei und der Literatur. Der vorliegende Roman entstand in der Mitte der Nullerjahre unter dem Eindruck realer Geschehnisse, verknüpft sind Wirklichkeit, Phantasie und persönliche Erfahrungen.

Für Laura, die es nie gab.

„Alles aber steuert der Blitz" Heraklit

„Willst du die Götter zum Lachen bringen, erzähle ihnen von deinen Plänen!" Blaise Pascal

Inhaltsverzeichnis

FINALE

Frühjahr 1999

Così fan tutte - So machen es alle

Samstag, 17. Juli

Samstag, 31. Juli

Sonntag, 1. August

Montag, 2. August

Freitag, 13. August.

Freitag, 20. August

Samstag, 21. August

Sonntag, 22. August

Montag, 23. August

Mittwoch, 25. August.

Freitag 27. August

Samstag, 28. August

Montag, 30. August

Mittwoch, 1. September

Samstag, 4. September

Samstag, 11. September.

Sonntag, 12. September

Montag, 13. September

Dienstag, 14. September

Samstag, 18. September

Die Regeln einhalten

Sonntag, 19. September

Montag, 20. September

Mittwoch, 22. September

Donnerstag, 23. September

Freitag, 24. September

Samstag, 25. September

Montag, 27. September

Dienstag, 28. September

Mittwoch, 29. September

Donnerstag, 30. September

Freitag, 1. Oktober

Das Protokoll

Samstag, 2. Oktober

FINALE

Ich war mir meiner Sache absolut sicher, ein Plan wie in Stein gemeißelt, gereift binnen Sekunden. Der Ort des Geschehens war mir bestens vertraut: ein Schornstein, extrem überdimensioniert, wie vor hundert Jahren noch durchaus üblich, quadratischer Querschnitt, vielleicht vierzig mal vierzig Zentimeter, bei zwei Stockwerken plus Dachstuhl neun bis zehn Meter hoch. Der Einstieg war ein Kinderspiel: auf den Rand sitzen, Füße in den Schacht, Arme über den Kopf,gleiten lassen. Im Herzen lodernden Hass, eiskalten Triumph im Kopf, zwängte ich mich diagonal in die Öffnung, zu einem, wie ich überzeugt war, perfekten Finale.

Als passionierter Hobbykletterer beherrschte ich die Technik, sich in einem Felskamin zu bewegen, auch hatte ich nie Probleme mit der Enge in derartigen Spalten. Abwärts ist es kinderleicht, vollends, wenn die Wände plan und griffig sind, man reguliert die Geschwindigkeit durch Druck von Ellbogen, Knien, Füßen. Ich bin eins fünfundachtzig groß und schlank, der Schacht passte mir sozusagen wie angegossen. „Die Schlange“ war mein Spitzname als Jugendlicher. Bremsen musste ich kaum, mein schwarzer Overall aus grober Baumwolle sorgte für die nötige Reibung, ab und zu blieb ich sogar stecken und musste ein bisschen nachhelfen, indem ich mich wand und mit den über Kopf gekreuzten Händen schob. Der Schacht verlief kerzengerade, die obereÖffnung kannte ich vom Dach aus, unten im Haus mündete er in einen offenen Kamin mit ausladendem Rauchfang. Hüfthohe, großzügige Kamine wie in diesem Haus waren zu Zeiten, als Energiesparen noch kein Thema war, gang und gäbe, heute sind sie so wenig zulässig wie die Querschnitte ihrer Schornsteine. Unten würde ich wie die Wurst aus der Pelle schlüpfen, auf dem Feuerrost in die Knie gehen, den Kopf einziehen, herausklettern, ins Obergeschoss hasten und ihm beim Sterben zusehen.

Schätzungsweise etwas über eine Minute brauchte ich für die zehn Metera bwärts, und als meine Füße Halt fanden, wollte ich in der festen Annahme, ich sei unten, instinktiv die Knie anwinkeln und mich hinkauern. Was bequem hätte möglich sein müssen, ich kannte ja die lichte Höhe zwischen Feuerrost und Rauchfang. Etwas aber hinderte mich. Sehen konnte ich naturgemäß in der schwarzen Enge mitten in der Nacht nichts. Ich trug Spezialschuhe zur Dachbegehung, mit elastischen, extrem griffigen Sohlen. Schuhe der Größe dreiundvierzig sind circa dreißig Zentimeter lang, also blieben meinen Füßen ringsum ein paar Zentimeter Spielraum. Ich tastete, stocherte, trat, stauchte seitlich, vor und zurück. Überall feste Wand.

Ständiges Balancieren auf Dachschrägen und Firsten schult den Tastsinn der Füße ganz enorm. Ich konzentrierte mich auf meine Fußsohlen, krümmte suchend die Zehen, kippelte vom Ballen auf die Fersen und zurück, rollte die Knöchel aus- und einwärts – so lange, bis feststand, dass ich nicht den Feuerrost unter mir hatte, sondern eine Art Gitter, das mir den Weg versperrte.

Du hast einen fatalen Fehler begangen, blitzte es mir schockartig durchs Hirn, du steckst in einer absolut tödlichen Falle. Vor dem Einstieg den Schornstein nicht mit der Maglite auszuleuchten!

Triumph macht leichtsinnig. Und Panik ersetzt Kaltblütigkeit mit einem Schlag durch Irrationalität.

Zunächst verharrte ich vollkommen reglos, wie gelähmt, eine endlose Schrecksekunde lang, als ließe sich so alles ungeschehen machen. Vielleicht träumte ich ja. In einer infantilen Anwandlung hielt ich die Luft an, befürchtend, dass wenn ich mich auch nur im Geringsten rührte, irgendeine dunkle Macht, die mich sonst eventuell übersah, auf mich aufmerksam würde. Kinder halten sich die Augen zu und glauben, man sehe sie nicht. Rasch rebellierte meine Lunge, ich japste nach Luft, ein Schrei nach innen, kreischend, wie wenn Stoff zerreißt. Gleichzeitig brach mir der Schweiß aus allen Poren. Lebendig eingemauert, wirbelte es mir durch den Kopf, Das Fass Amontillado, eine von Edgar Allen Poe‘s Horrorgeschichten. Sie hatte mir schon als Jugendlichem klaustrophobische Alpträume beschert. Das zügige Passieren des Schachtes war geplant, absehbar, erträglich. Aber ein Verbleib darin, ein finales Eingesperrtsein? Die ultimative Katastrophe. Alle gewohnten Denkpfade führten plötzlich ins Nichts, blitzschnell durchgespielte Lösungsideen prallten am Gemäuer um mich herum ab, etwas in mir zerplatzte und ertränkte mich in Platzangst. Schlagartig hatte ich das Empfinden, mein Körper sei angeschwollen und passe nicht mehr in den Schacht. Du wirst hier sterben, rasten meine Gedanken wie toll, qualvoll verrecken, mit zweiunddreißig, kerngesund, glücklich verheiratet, Vater einer hinreißenden kleinen Tochter. Unbeschreiblich, unsäglich, noch sinnloser als jeder Verkehrsunfall.

Das war so nicht akzeptabel. Vor allem durfte nicht sein, dass er sich noch im Tode an mir rächte, dem Letzten von uns. Sammle dich, befahl ich mir, atme ruhig und gleichmäßig, es muss eine Lösung geben, es gibt immer eine Lösung. Ich riss die Augen auf, sah nichts als Schwarz und strengte mich an, aufzustampfen, vielleicht brach das Hindernis ja nach unten raus. Doch konnte ich die Knie nur geringfügig anziehen, und meine Tritte gerieten zu läppischen Tapsern ohne jede Wirkung. Abwärts also Endstation.

Aufwärts? Gegen die Schwerkraft? Wann reckt der Mensch die Arme über den Kopf? Ich kam auf Gewichtheben, Volleyball, Basketball, Aufschwung am Reck, hier und da beim Tanz. Und zum Triumph! Hatte ich zu früh triumphiert? In jedem Fall aber lässt man die Arme wieder sinken, dauerhaft emporgestreckte Arme sind extrem unbequem und im Blutkreislauf des Homo sapiens nicht programmiert.

Klimmzug. Sich hochziehen. Aufschwung am Reck. Utopisch ohne Ellbogenfreiheit. Also lebendig begraben, senkrecht in einen Schacht gepfropft wie der Korken in die Flasche. Gemessen an meiner Lage glich ein Sarg einem Ballsaal mit massig Bewegungsfreiheit für die Gliedmaßen, inklusive der tröstlichen Aussicht, in absehbarer Zeit an der eigenen verbrauchten Atemluft zu ersticken ...

Ich jedoch bekam reichlich Frischluft, nicht zufällig ziehen hohe Kamine besser als niedrige. Angesaugt von zehn Metern Höhe zwängte sich Luft kalt an mir vorbei, in einer Art Düseneffekt dort, wo mein Körper den Schacht nicht gänzlich verstopfte. Ich spürte meinen verschwitzten Rücken und mein Gesicht rasch auskühlen, und in Erkenntnis meiner Lage begann ich zu zittern. Soweit es die steinerne Hülse, in der ich steckte, zuließ, bog ich den Nacken zurück, presste den Kopf gegen die Schachtwand, hörte mein Haar im Ruß knirschen. Einen Moment nur zögerte ich, bevor ich zu dem ansetzte, was ich noch nie im Leben getan hatte: Ich schrie um Hilfe.

Jedes Material hat seine akustischen Eigenschaften: Meine Schreie klangen ärmlich, ohne Kraft und Reichweite, sie erstickten in der verrußten Schamotte wie in einer Dämmschicht. Ich strengte mich an, wieder und wieder, brüllte immer lauter, gab alles, bis an die Schmerzgrenze. Doch wer sollte mich hören, mir helfen? Er etwa, der inzwischen wohl tot war, oder zumindest kurz davor? Das Haus lag einsam und abseits, ohne direkte Nachbarschaft, und nach Mitternacht würde sich garantiert kein Spaziergänger in diese Gegend verlaufen. Selbst wenn, hören würde er mich nicht, Schall breitet sich wellenförmig aus, aber erst oberhalb der Kaminöffnung.

Niemand wusste, wo ich war. Ein Mord kann nur perfekt sein, wenn außer dem Täter keiner davon weiß. Ich ginge vor dem Schlafen noch kurz Luft schnappen, hatte ich zu meiner Frau gesagt, und sie: „Nimm dein Handy mit!“

Das Handy! Meine Rettung?

Das Ding steckte eingeschaltet in meiner Brusttasche, eine Handbreit nur unterhalb vom Kinn - in meiner Lage unerreichbarer als die fernste Galaxie. Wäre ich mit angelegten Armen eingefahren, hätte ich eventuell noch drankommen können, aber so? Aus Verzweiflung begann ich zu fluchen, auf Gott und die Welt, wurde wütend über mein beschränktes Repertoire. Normalerweise habe ich niemals kalte Hände, jetzt waren sie eiskalt. Alles Blut sank aus meinen Armen, wütendem Kribbeln Platz machend, Millionen eisiger Nadelstiche setzten mir zu, unbezähmbarer Bewegungsdrang begann mich zu foltern. Um mich zu sammeln, und weil ich wie verrückt schwitzte, presste ich die Stirn gegen die kühle Schachtwand, worauf sich Ruß mit Schweiß mischte, mir in die Augen sickerte und dort brannte wie Säure. Ich riss den Kopf zurück, prallte gegen die Wand dahinter und brüllte wie ein getroffener Stier. Ich weinte, heulte, panisch, wütend. Und weil ich mir die Augen nicht reiben konnte, blinzelte ich wie toll gegen die beißenden Tränen an.

Beruhige dich, brüllte ich mich an, tief ein und ausatmen! Und erst in jenem Moment registrierte ich, dass Ruß einen Eigengeruch hat. Berufsbedingt ist unsere Nase damit imprägniert und blendet ihn aus: auf gewisse Art fad würzig, bitter, leicht säuerlich, feucht. Und schwarz. Wenn etwas schwarz riechen kann, dann Ruß. Wellen der Übelkeit rollten durch meinen Magen, und mit einemmal überkam mich die absolute Dunkelheit tonnenschwer. Wo kann es dunkler sein, als bei Nacht in einem verrußten Schornstein? Die Nacht war zwar klar, doch mondlos. Würde mich der Anblick von ein paar Sternen beruhigen? Vorsichtig legte ich den Kopf in den Nacken und krampfte die Augäpfel aufwärts bis unter die Stirn, dass es schmerzte - und erblickte doch nur totales Schwarz.

Eine Lampe in der Tasche - und dann das! Warum zum Teufel diese Sperre im Kamin? Seinerzeit beim Kehren hatte es sie nicht gegeben, da war ich mir absolut sicher, ich hätte es unweigerlich an der Bürste gespürt. Wem also galt diese Falle? Ich konnte es nicht sein, unser ganzes Beziehungsgeflecht kannte er ja erst seit einer halben Stunde. Wem also dann? Tausendmal brüllte ich Panik in den Ruß, tausendmal verfluchte ich, nicht mit angelegten Armen eingestiegen zu sein. Und wusste doch, es hätte nichts geändert.

Schreien kostet Kraft und Nerven, also würde ich es bei Tag wieder versuchen. Bei Tag hieß: frühestens in sechs Stunden. Sechs Stunden! Dreihundertsechzig Minuten. Ich riss mich zusammen, zerbrach mir den Kopf, wie ich mich in dieser körperengen Steinhülse eventuell doch aufwärts bewegen konnte, stemmte wechselseitig Ellbogen, Hüften, Fersen in die Schachtecken und vollführte robbende Bewegungen wie in einer Zwangsjacke. Ein paar Zentimeter vielleicht, bis auf die Zehenspitzen, mehr war ohne Schultern nicht drin. Und die waren durch die gestreckten Arme blockiert. Verzweifelt ließ ich mich sacken und versuchte mich zu entspannen, rief mir Bilder von Entfesselungskünstlern und Zirkusakrobaten vor Augen, besann mich auf einen Kurs für autogenes Training, den ich vor geraumer Zeit besucht hatte, ohne großen Erfolg, weil mehr der attraktiven Trainerin halber denn aus Neugier. Jetzt rief ich mir die Anweisungen jener aparten Halbasiatin von damals ins Gedächtnis, fand sogar ihr Gesicht wieder, atmete ruhig und langsam, befahl meinen Gliedern Entspannung. Doch - wie fast gefühllose, zugleich schmerzende Arme entspannen, die nach nichts verlangten, als der Erlösung durch die Schwerkraft? Wie Beine beruhigen, angeschwollen von Blut, das in die Arme gehörte?

Es war zum Verrücktwerden.

Skelett in Schornstein entdeckt. Eine Zeitungsnotiz, einst von irgendeinem Witzbold an die Pinnwand der Berufsschule geheftet, geisterte mir durch den Sinn. Ich wusste den Text noch komplett auswendig: Bei Umbauarbeiten in einem Güterschuppen haben Bauarbeiter in Mülheim/Ruhr ein menschliches Skelett in einem Kamin entdeckt. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um die Überreste eines etwa 20- bis 30-jährigen Mannes, der vor fünf bis zehn Jahren vermutlich in den Kamin geklettert oder gefallen war. Das Skelett wurde mit angelegten Armen und senkrecht stehend gefunden. Der Mann war vermutlich unbekleidet gewesen. Reste von Kleidung wurden nicht entdeckt. Aufrecht stehend, mit angelegten Armen, unbekleidet - jedesmal, wenn ich daran dachte, regte ich mich über die Einfalt des Berichterstatters auf, so auch jetzt. Was für ein Schwachsinn! Als würde einer, wer auch immer, unbekleidet in einen Kamin klettern oder fallen! Keine Frage, hier war eine nackte Leiche entsorgt worden. Denn bis Textilien in einem trockenen Kamin verrotten, vergehen schon ein paar Jährchen. Im Gegensatz zu mir jedoch hatte dieser nie identifizierte Anonymus keine Sekunde lang gelitten, allenfalls vorher. Wer war dieser Haufen Knochen? Lief sein Mörder heute noch frei herum?

Überzeugt, exakt so zu enden, begann ich am ganzen Leib zu schlottern, als es plötzlich in meine Panik schrillte: Hänschen klein, geht allein, in die weite Welt hinein. Dreizehn Töne, elektronisch gestanzt, gleich lang, ohne Rhythmus, hastig runtergedudelt. Mein Handy-Ruf, albern, nur meiner Tochter zuliebe eingestellt.

Kontakt. Funkkontakt. Ein warmer Strom der Hoffnung, meine Frau hatte mein Ausbleiben bemerkt, suchte mich jetzt. Meine Arme zuckten reflexhaft, alles an mir krümmte sich nach dem Ding an meiner Brust. „Hier“, brüllte ich mit aller Kraft - und schämte mich. Es war so töricht! Noch einmal Hänschen klein, dann übernahm die Mailbox.

Sie würde es wieder versuchen, unter Garantie, wieder und wieder, alle Hebel in Bewegung setzen ... Dann der erlösende Gedanke: Eingeschaltete Mobiltelefone lassen sich an ihren Sendeimpulsen orten. Solange der Akku reicht. Wie lange reichte mein Akku? Wann hatte ich ihn zuletzt geladen? Ich erinnerte mich nicht. Erneut piepte es. In wilder Hoffnung presste ich die Brusttasche mit dem Gerät gegen die Mauer, wand mich behutsam ein bisschen, vielleicht hatte ich ja Glück und traf die grüne Taste, oder die Wahlwiederholung. Doch, wen hatte ich zuletzt angerufen? Selbst wenn er noch antworten könnte - helfen würde er mir niemals!

Kein Glück. Zehnmal Hänschen klein. Zehnmal sprach ich die Worte lautlos mit. Zehnmal verhöhnte ich mich selbst.

„Hier bin ich“, zerschrie ich die Stille, und: „Helft mir!“ Kein Echo, kein Hall, nur stumpfes Gebrüll. Der Ruß stahl meine Schreie und behielt sie für sich. Der einzige Laut, der ab und zu in meinen steinernen Sarg drang, waren Käuzchenrufe, offenbar saß der nächtliche Jäger oben auf dem Kaminkranz und röntgte die Dunkelheit nach Beute. Der letzte Rest Mut floh meine Seele, meine Muskulatur zerfiel zu amorphem Fleischbrei. Sofort meldete sich meine Blase. Vor Angst in die Hose machen - so der Volksmund. Ich spürte meinen Urin heiß an Schenkeln und Waden hinabrinnen und in den Schuhen versickern. Oft wirst du nicht mehr pinkeln, dachte ich in einem Anflug von Galgenhumor und stieß ein irres Lachen aus, dein Körper wird austrocknen, rasch und total, und daran wirst du sterben. Nicht verhungern, dafür hat jeder genug auf den Rippen, auch nicht ersticken oder ersaufen oder an irgendeinem Gift verrecken, nein austrocknen, verdursten. Nicht mal den eigenen Urin konnte ich auffangen und ein paar Mal trinken, um die Frist zu verlängern. Ich ergab mich, besser gesagt, mein Körper machte nicht mehr mit. Wie ein Bergsteiger beim Schlafsackbiwak in der Steilwand hing ich schlaff in meinem steinernen Kokon,der sich überall dort, wo ich ihn berührte, mit schmerzhaften Druckstellen zur Wehr setzte.

Irgendwann muss sich mein Nervensystem ausgeklinkt haben. Wann ich aufschreckte, weil mein Handy wieder piepte, kann ich nicht sagen, unter solchen Bedingungen verliert man jedes Zeitgefühl, ohne Anfang und Ende gibt es nur andauernden Stillstand. Das mikroleise Ticken meiner Quarzuhr über meinem Kopf konnte ich zwar hören, wenn ich die Ohren spitzte, doch entzog sie sich meinem Blick. Wieder Hänschen klein ... meine Frau, sie hat die Polizei alarmiert, man sucht mich, man findet mich ... Dann ein Stich, kalt wie Stahl, vom Herzen bis ins Hirn: Zusammen mit mir, oder noch davor, würde man ihn entdecken! Die Polizei würde sich die Hände reiben: sämtliche Beweisstücke, die Requisiten meines perfekten Mordes, steckten in meinen Taschen! So oder so war ich verloren, also schrie ich, schrie, schrie. Irgendwann sickerte von oben minimale Helligkeit ein, hauchte dem perlschwarzen Ruß einen Überzug wie Grauschimmel auf. Morgendämmerung? Mittag? Abend? Alles war möglich, ich konnte weder das obere noch das untere Schachtende sehen. Längst spürte ich meine Arme nur noch wie Fremdmaterial, morsch, kalt, von einer Leiche amputiert und mir angeheftet. Wie konnte ich mich bemerkbar machen, jetzt, da mein Handy, das Allzeit-Erreichbar-Medium, zur Absurdität verkommen war? Nichts fiel mir ein. Mein Firmenwagen vielleicht? Musste der dort, wo er stand und nicht stehen durfte, nicht irgendjemandem auffallen? Derjenige würde es melden, man würde den Wagen identifizieren, meine Kundenkartei checken. Der Rest war Routine. Ich krümmte Zehen und Finger und vollführte pumpende Bewegungen, hörte Gelenke knacken, als bräche man Leichenstarre. Nach einer Weile wurden meine Arme zwar nicht wärmer, gehörten aber wieder ein bisschen zu mir.

Immer wieder geisterte mir das Skelett im Fabrikschlot durch den Sinn. Sicher, auch mich würde man finden. Frage nur, ob halb tot oder ganz. War das mit dem Firmenwagen nicht reiner Zufall, absolute Glücksache? Ich hatte ihn vorsichtshalber etwas weiter weg abgestellt, in einer Weidezufahrt, zwischen Bäumen. Nein, das Handy war meine einzige Hoffnung, letzte, unfühlbare Verbindung zur Welt, zu meiner Frau, zu meiner Tochter - eine Vierjährige, im Begriff, ihren Vater zu verlieren! Ich versuchte, solch zerstörerische Gedanken zu verdrängen, indem ich mir ein Zeitschema für meine Hilferufe zurechtlegte. Wie lautete das internationale SOS-Signal? Fortwährend zu schreien war sinnlos, kräftezehrend, malträtierte nur die Stimmbänder, also schrie ich jeweils dreimal, pausierte dann etwa fünf Minuten.Wie lange dauern fünf Minuten ohne Uhr? Ich zählte auf dreihundert, dreihundert Sekunden machen fünf Minuten.

Niemand zählt freiwillig bis dreihundert, und das mehrmals hintereinander. Nur wenige Male hielt ich durch, zwei, drei Mal vielleicht, ich verlor ständig den Faden, wusste nicht mehr, war ich bei einhundertundneun oder schon bei zweihundertneun. Ich zählte stumm und laut, flüsternd und schreiend, und spürte doch nur, dass mich das sinnlose Zählen dem Wahnsinn umso rascher näherbrachte. Jede Zahl ein Sandkorn meiner Lebensuhr. Ich hörte auf damit und schrie, wann es mir einfiel. Hunger bohrte, und noch schlimmerer Durst, in der Nase kribbelte es, schon bevor ich hier gestrandet war, hatte sich eine Erkältung angekündigt. Ich musste immer häufiger niesen und wusste: in der ständigen Zugluft, verschwitzt, in nassen Hosen, würde ich unweigerlich krank werden. Meine Nase schwoll rapide zu, meine Stimme wurde zunehmend heiser. Ich schrie so lange es ging, bis meine Schreie in tonlosem Krächzen erstarben, ich lachte wie ein Irrer, kratzig, keuchend, stoßweise. Das also war aus meinem perfekten Mord geworden: ein irre kichernder, bewegungsunfähig eingeklemmter Täter mit Rotznase, der nach Schweiß, Kot und Urin stinkend, qualvoll langsam verreckte.

Eine Zeitlang hellte sich der Lichtschein merklich auf, die Rußperlen vor meinen Augen schimmerten matt wie angelaufenes Silber. Ichkrampfte den Blick empor und es gelang mir tatsächlich, ein paar Meter über mir einen von Sonne beschienenen Sektor zu erhaschen. Ich wollte brüllen vor Glück, doch versagte meine Stimme. Steht die Sonne im Zenit, rechnete ich, dann ist es ungefähr Mittag. Ich starrte auf den schmutziggelben Fleck, bis meine Augen schmerzten, realisierte zum ersten Mal im Leben, wie rasch die Sonne wanderte. Sie hatte es eilig, wollte einem Mörder keinesfalls ein paar Strahlen schenken.

So unerbittlich, wie die Erde rotierte, spulte sich mein Lebensfaden ab. Wie viele Umdrehungen noch? Dinge gingen mir durch den Kopf, an die ich nie geglaubt hatte, oder jedenfalls seit Urzeiten nicht mehr: Ich betete zu Gott, er möge mich sehen und erretten. Überzeugt, dass wenn meine Augen auch nur einen einzigen Millimeter Himmel erhaschten, werde auch er mich sehen, presste ich den Kopf in den Nacken.

Ich fand den Himmel nicht.

Wütend wechselte ich die Seite, wandte mich an den Teufel, beschwor ihn, mich umgehend zu holen. Hatte ich nicht ausreichend gesündigt? Ich erhielt prompte Antwort: Er sei längst bei mir, ob ich seine Krallen der Höllenqual, der Rache, der Folter, des Auge um Auge, des Fegefeuers nicht spüre? Ich lachte tonlos irre, nickte mir die Stirn an der Wand blutig: Ich hatte es wirklich verdient - nur vor der Tat nicht an die Existenz der Hölle geglaubt.

Wie wohl die meisten Erwachsenen, hielt auch ich Geister und Gespenster für Humbug, Stoff für kindliche Gruselgeschichten. Jetzt lernte ich: Es gibt sie. Im Wachzustand benötigt das menschliche Gehirn Sinnesreize, empfängt es keine, springt die Phantasie in die Bresche. Der kalte Luftzug, der an mir empor strich, als nehme er Maß für mein Leichenhemd, fächelte mir flüsternde Geister in die Ohren. Ohne die Hände kann der Mensch die Ohren nicht schließen wie die Augen, doch selbst mit geschlossenen Lidern sah ich ständig etwas: mal abstrakte Kringel und Linien in ständiger Bewegung, schlierig verschwimmend, dann wieder schwirrten entlegene Bilder von früher durch Szenen der jüngsten Vergangenheit, ein Kaleidoskop, geschüttelt ohne meinen Einfluss, rasant geschnittene Videoclips meines Lebens. Riss ich die Augen auf und bohrte den Blick in das Schwarz vor mir, entdeckte ich monströse Fratzen aus dem Ruß grinsen, formlose Gestalten schwollen aus den Wänden, machten mir den Platz streitig, spießten mir eisige Nadeln in den Leib.

Um die Erscheinungen zu verscheuchen, rief ich mir das Gesicht meiner Tochter vor Augen, und das meiner Frau. Vergebens, ihr Bild kam nicht zustande. Nie Gedachtes zermarterte mein Hirn, giftiger Argwohn gegen die da draußen quälte meine Seele. Jeder Mensch ist ersetzbar. Ich war nichts mehr, und ohne mich ging alles weiter. Wer macht schon Anfang Dreißig sein Testament! Was würde nach meinem Tod geschehen? Würde meine Frau, mit der ich mich glücklich verheiratet wähnte, in die Arme eines Lovers sinken, von dem ich nichts wusste? Gelegenheit hatte sie schließlich zur Genüge, ich war fast täglich auf Montage und unsere Tochter vormittags regelmäßig im Kindergarten. Wie gut kannte man seinen Partner überhaupt? Sie wusste nicht alles von mir und wird es umgekehrt nicht viel anders gehalten haben. Und meine Tochter? Würde sie, einmal zum Teenager gereift und als Halbwaise verunsichert, nicht dem erstbesten Dealer in die Hände fallen? Nahm man Glück nicht viel zu selbstverständlich, hielt sich am Unglück anderer auf, statt dem eigenen Glück zu misstrauen?

Meine Qualen verliefen in rhythmischen Wellen. Abwechselnd fühlte ich, wie sich mein Organismus abschaltete, als verordne er sich eine Flaute vor dem nächsten Orkan. Ich durchlebte Phasen der Betäubung, verklärter, verzückter Trance, wo ich weder Schmerzen fühlen musste noch Zerstörerisches denken, dann verebbte dieser Zustand und mein eingekeilter Leib rebellierte. Eine gewalttätige Brandung aus stechenden Schmerzen und rasender Wut zwang mich in einen rabiaten Kampf. Ich wand mich, robbte, drückte, presste gegen den Schacht - und handelte mir doch nur schmerzhafte Schürfungen ein. Ich lästerte Gott, haderte mit der Welt und mir selbst: Ich war im Recht und schwor bei allen Heiligen, wieder zu tun, was ich getan hatte. Hatte sich der Sturm aus Schmerzen erschöpft, kehrte erneut jene entrückte Ruhe ein, dann fühlte ich meinen Körper wie unter einer wundertätigen Droge nicht. Ich betete wahllos, ungeordnet, inbrünstig wie ein Kind, das daran glaubt. Auch wenn das Handy an meiner Brust piepte, reagierte ich nicht mehr. Hänschen klein, geht allein, in die weite Welt hinein - ich bewegte die Lippen lautlos mit und beschwor den Akku liebevoll, durchzuhalten, bis ich diese Welt verlassen hätte. Hänschen klein ... eine Botschaft aus einer Welt, mit der ich nichts mehr zu tun hatte, eine kindliche Welt, eine mit Chancen auf die Zukunft. Ich war zwar noch jung, aber meine Zukunft war beendet. Weinend lauschte ich den jeweils zehn Melodien, hinter denen Grabesstille lauerte wie ein würgendes Schlinggewächs. Unvorstellbar, wie still es in einem Schacht dieser Länge ist! Kein Geräusch dringt von außen herein, und von innen, aus dem Haus eines Toten, konnte keines kommen. Ich spitzte die Ohren nach irgendwelchen Geräuschen, freute mich über vereinzeltes Rieseln von Rußpartikeln. Eine längere Starkwindphase genoss ich wie ein Konzert mit wahnhaften Assoziationen an waghalsige Segeltörns, an einsame Kletterpartien an windumtosten Felswänden. Um die Schachtöffnung hoch über mir jaulten Böen, akustischer Balsam in meiner steinernen Verlassenheit, Zugluft brauste durch den Schornstein, meinem Körper die letzte Wärme stehlend, ein Wummern in meinem Brustkorb wie von einem mächtigem Orgelbass.

Ab und zu, wenn sich oben eine Amsel niederließ und von Freiheit und Fliegen zwitscherte, wusste ich: Jetzt war es Tag. Ich lächelte, dankte dem Schöpfer für das Zeichen und beschwor die Amsel, der Welt mein Drama zu verkünden. Ich fuhr mit der trockenen Zunge über meine schuppig aufgeplatzten Lippen, spitzte sie unter Schmerzen und versuchte mich in pfeifender Zwiesprache mit dem Vogel. Nicht mehr als ein armseliges Pusten.

Einmal knatterte ein Hubschrauber übers Haus. Sofort war ich überzeugt, man habe mich geortet und suche nach mir. Mein Puls flatterte, meine Blase entließ ein spärliches Quantum, mein ausgetrockneter Mund produzierte ein bisschen zähen Speichel, ich wippte freudig auf den Zehenspitzen und meinte, mich aus dem Schacht schnellen zu können. Der Hubschrauber kam nicht wieder.

So sehr ich auch den Silberhauch auf dem Samtschwarz vor mir anstarrte, irgendwann erstarb er und überließ mich dem Vakuum der Nacht. Wenn weder Gott noch Teufel halfen, dann sterben, möglichst rasch, möglichst schmerzlos. Noch gar nicht lange her, dass du als Erster sterben wolltest, lachte der Teufel schrillen Hohn in meinem Kopf, jetzt hast du es! Ich durchpflügte mein Gehirn nach Techniken der Selbsttötung - doch welche standen mir in dieser Lage schon zur Verfügung? Ich brauchte nicht lange für die bittere Einsicht, dass ich soeben dabei war, meine ganz persönliche Suizidmethode zu kreieren. Eine Katze, die wir einst hatten, fiel mir ein, sie hatte einen Eingeweidetumor und leckte im Endstadium ständig Asche aus der Feuerstelle im Garten. Instinktive Suche nach Heilung? Oder nach Erlösung?

Ich musste es versuchen. Längst war meine Nase komplett zu, zäher Rotz lief heraus und mir über die Lippen, ich leckte das salzige Zeug ab, zählte doch jeder Tropfen Flüssigkeit. Ich atmete rasselnd durch den Mund, mein wüstentrockener Rachen brannte wie Feuer, Fröstelanfälle schüttelten mich in Schüben durch, zweifelsohne hatte ich Fieber. Ich löste meine Zunge, ein gedunsener Klumpen Fleisch zwischen den Zähnen, reckte den Kopf vor, bis ich mit der Zunge an die Schachtwand kam. Wie Ruß wohl schmeckte? Widerstrebend begann ich zu lecken. Und schmeckte nichts. Eine trockene Zunge ist nicht mehr als ein mechanisches Instrument ohne Geschmackssinn. Gegen das erste Schlucken wehrte sich mein Magen mit heftigen Würgereflexen, ich hielt inne, wartete, dass meine Eingeweide sich beruhigten, machte dann weiter. Es musste sein, es war die einzige Option. Mit äußerster Willenskraft rang ich um Speichel, zwang meine Zunge über Schleimhäute wie Pergament, über Zähne stumpf von pelziger Plaque. Erst die Vorstellung, der Biss in eine Zitrone, half. Und dann, als meine Zunge halbwegs feucht war, nahm auch der Ruß Geschmack an: bitter, süßlich durchsetzt, ansonsten unbeschreiblich, anders als alles Bekannte. Keuchend wie ein Besessener leckte ich das erreichbare Areal ab und wartete. Was würde passieren? War Ruß überhaupt giftig?

Todesangst grub sich mir ins Herz. Was, wenn es tatsächlich funktionierte mit dem Ruß? Krepieren, unter qualvollen Krämpfen? Hatte ich voreilig gehandelt? Was, wenn man mich demnächst aufspürte? Dann als einen Toten, der sich selbst vergiftet und vorher nicht mal sein Testament gemacht hatte? Ich horchte in mich hinein: Richtete der Ruß irgendetwas an? Mein Schädel dröhnte vor schwarzer Stille, ich hörte mein Blut pechschwarz und zäh durch die Adern schieben. Piepte das Handy, feixte ich hämisch, wie einer, der beim Versteckspiel das ultimative Versteck gefunden hat. Sie werden dich niemals finden, wen der Teufel in der Kralle hat, den findet man nicht! Hoch über mir begann der Kauz wieder mit seinen ziehenden Klagen. Also war es mindestens elf Uhr, Käuze sind einsame Nachtarbeiter. Hilf mir, flehte ich und führte kindlich stumme Zwiesprache mit ihm.

Wie viele Tage, wie viele Nächte? Der Tod wird mich nicht lebendig erwischen! - ein Bonmot von Francoise Sagan auf einem Kalenderblatt in meinem Büro. Irgendwann schälte sich dieser Spruch aus meinem geistigen Nebel, und ich kicherte tonlos: Bei mir hatte er es hingekriegt! Außerstande einzuschätzen, wie lange ich schon so hing, lehnte, steckte, spürte ich mich vergehen, verlöschen, verwesen. Was Mensch an mir war, war längst durch den Schacht entflohen, der Rest eine pestilenzartig stinkende, fiebernde, hilflose Biomasse, darauf wartend, dass der stolze Tod einfuhr. Dankbar, das eiskalte Stechen und Kribbeln nicht länger erdulden zu müssen, spürte ich meine Arme längst nicht mehr, ahnte sie nur noch als das Vorhandensein von taubem Fleisch. Ein erster Sektor meines Körpers war verendet, Tod in Abschnitten. Wie viele würde ich noch bei Bewusstsein mitbekommen?

Wie oft wünscht man sich, die Zeit möge stehenbleiben! Man sollte es niemals tun, auch in den glückhaftesten Momenten nicht, Stillstand bedeutet Aussichtslosigkeit. Heute weiß ich: Über sechzig Stunden hat damals meine Zeit stillgestanden, sechzig Stunden Fieberstürme, Stürme quälend trockenen Fiebers, das nichts mehr zu schwitzen hatte, Stunden wirren Halluzinierens von horizontalem Liegen, von nicht endenwollenden Stürzen rückwärts Kopf voraus ins Bodenlose, Wachträume von entmaterialisierter Schwerelosigkeit. Ein letztes Mal noch trieb mich ein Hirngespinst auf einen einsamen Gipfel der Panik: Plötzlich war ich überzeugt, ja besessen davon, beißenden Rauch zu riechen, Gluthitze an den Fußsohlen zu spüren. Jemand machte Feuer unter mir! Wie wahnsinnig stieß ich mit den Fußspitzen durch das Gitter, um die Flammen auszutreten. Dabei verlor ich einen Schuh. Danach setzte die finale und grauenhafteste Phase ein, an deren Ende ich das Bewusstsein verloren haben muss. Ein gänzlich neues, nicht zu steigerndes Entsetzen schlich sich in mein Elend: Der Schacht erwachte zum Leben. Ich spürte, wie sich das tote Gemäuer um mich in einen geschmeidigen Organismus verwandelte, der mit mir verwuchs wie ein siamesischer Zwilling, ein aus dem Schlaf erwachter steinerner Verdauungstrakt dehnte und verengte sich konvulsivisch, exakt im Rhythmus meiner Atmung, jedoch gegenläufig. Atmete ich ein, hielt er dagegen, presste mir Brustkorb und Schultern zusammen, atmete ich aus, ließ er los, dass ich ins Bodenlose zu stürzen glaubte. Eine steinerne Lunge beatmete mich, eine Schamottehülse, die das letzte Quäntchen Leben aus mir herausquetschte. Ich wand mich wie toll, das kleine Bisschen, das ging, auch wenn die Druckstellen umso quälender wehtaten, doch schenkte mir der Schacht nichts: Er schmiegte sich an mich, vollzog meine Bewegungen mit, wand sich mit mir, ein gnadenloser Ballettmeister des Grauens. Ich riss Mund und Augen auf, brüllte tonlos und wusste: die Schwelle zum Wahnsinn. Intuitiv unternahm ich einen letzten Versuch, den Schacht zu überlisten. Bewegte ich mich nicht, würde auch er sich nicht rühren. Ich verbot meiner Lunge, Luft zu holen, atmete klammheimlich so flach wie möglich, und spürte doch genau, wie der hinterhältige Schacht nur auf meinen nächsten Atemzug lauerte.

Dann, mit einemmal, begriff ich: ein Fingerzeig des Teufels! Die Luft anhalten, bis zur erlösenden Ohnmacht! Ich konzentrierte mich, atmete restlos aus, hielt die Luft an und zählte. Bis dreißig. Weiter ging es nicht. Ich zwang mich, nur minimal einzuatmen und wiederholte die Prozedur. Jedes Mal kam ich ein paar Zähler weiter, dafür wurde mir schwindlig und in meinem Schädel dröhnte ein gewalttätiger Brummkreisel.

Heute weiß ich, es geht nicht, der Atemreflex ist unbezwingbar. Dass der Mensch sich aus dem Leben stehle, so er nur möchte - das sieht die Natur nicht vor, Schmerz, Qual, Leiden stehen auf dem Programm, sofern nicht ein gnädiger Blitz des Zufalls tötet. Beim zehnten Versuch revoltierte meine Lunge, blähte sich wie ein Ballon, ich japste wie ein Marathonläufer, der sich zu viel zugemutet hat, Schüttelfrost rüttelte mich, hauchte mir eisige Feuchte auf die Stirn, dann explodierte mein Magen. Ohne Vorwarnung stieß er sauer brennenden, zähen Schleim aus, der den Weg aus mir heraus nicht ganz schaffte, sondern in der Kehle kleben blieb, auf der Zunge, den Lippen. Ich würgte und spuckte und schüttelte den Kopf wie toll, um das ekelhafte Zeug loszuwerden. Vergeblich auch diese Hoffnung: Ruß war kein Gift, allenfalls ein Brechmittel.

Erstaunlich, wie lange der Mensch durchhält, jetzt aber gab mein Geist endgültig auf. Ein letzter Dammbruch spülte mich in ein Meer der Verzweiflung, ich flennte, fiebrig, krächzend, tränenlos. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist ein einziges allgegenwärtiges allumfassendes Weiß, ich sah weiß, fühlte, hörte, schmeckte weiß, Weiß, nur noch Weiß, zuckend, gellend, blendend, Magnesiumblitze, unerträglich grell, undefinierbare Klangschlieren hallten durch meinen Schädel und gallertig schwappende dumpfe Echos, alles Feste um mich herum löste sich auf, kein Gitter mehr unter den Füßen, nur noch Euphorie und entmaterialisiertes Schweben.

Und einmal noch hörte ich den Kauz…

***

„Schreiben Sie es auf! Das kann Ihnen helfen, das Trauma zu verarbeiten. Nicht umsonst spricht man von: Sich etwas von der Seele schreiben.“

Kann helfen - hatte Dr. Schlohmann betont und dabei gelächelt. Insgeheim vermute ich hinter seinem Rat die Neugier auf Etwas, das selbst innerhalb seines weiten Erfahrungshorizonts einmalig sein dürfte. Wer hat nicht alles versucht, die Hölle darzustellen! Hieronymus Bosch, Dante, Liszt – alle Meister der Phantasie. Dass sich aber jemand die reale Hölle, der ich entronnen bin, auch nur ansatzweise auszudenken vermag, bezweifle ich. Allenfalls ein tagelang verschüttetes Erdbebenopfer. Auch können meine Worte nur eine vage Ahnung vermitteln, und den Versuch unternehme ich nur Dr. Schlohmann zuliebe. Weil ich weiß, er möchte es wissen. Und warum nicht ihm, dem ich so viel verdanke, diesen Gefallen tun?

Dank seines Gutachtens laufe ich vorerst als Sonderfall im Strafvollzug. Um nicht zum Präzedenzfall zu werden, deklariert man meine Behandlung offiziell als ,Vorläufigen Versuch‘ und tut alles, diesen nicht an die große Glocke zu hängen. Für mich klammheimliche Genugtuung sowie der Beweis, dass mein Fall selbst gewieften Juristen Kopfzerbrechen bereitet. Dass dem Gesetz prinzipiell Genüge getan werden muss, verstehe ich. Leute wie mich lässt man gewöhnlich hinter den Mauern einer forensischen Anstalt verschwinden - mir jedoch wurde Haftverschonung gewährt. Vorläufig. „Das erlittene Trauma wird sich durch die Enge einer Zelle auf dramatische, nicht zu verantwortende Weise verschlechtern“ - so Dr.Schlohmann, ein renommierter und über jeden Zweifel erhabener Gutachter, außerdem bestehe „keine Fluchtgefahr“. Ihm folgte das Gericht, indem es eine Therapie anordnete mit dem Ziel, „die Haftfähigkeit des Verurteilten herzustellen“. Kein Arzt ist bereit, den extremen Beschuss von Psychopharmaka, dem ich während der Phase nach der Wiedererlangung des Bewusstseins sowie während der nachfolgenden Untersuchungshaft unterlag, auf Dauer zu verantworten. So lebe ich derzeit, überwacht mittels einer elektronischen Fußfessel, in einem lichtdurchfluteten Zelt im Garten hinter meinem Haus, mit der strengen Auflage, das Grundstück nicht zu verlassen. Zeltwände sind nachgiebig, bewegen sich im Wind, nachts verbreitet der Widerschein der Stadt ein beruhigendes Dämmerlicht. Nur dort halte ich es seit jenem Vorfall aus. Betrete ich hingegen einen ummauerten Raum unterhalb einer gewissen Größe, raste ich regelmäßig total aus. Verfahrenshindernis, so lautet offenbar der juristische Fachterminus für eine derartige Sachlage. Mein Verteidiger und Dr. Schlohmann haben ihn schon häufig zitiert.

Dr. Schlohmann, vierundsechzig, ist eine imponierende Erscheinung. Die seidige Silbermähne, die seiner hohen, sonnengebräunten Stirn entspringt, fällt ihm bis auf die Schultern, drahtige Haarbüschel sprießen aus seinen beträchtlichen Ohrmuscheln. Diese und seine Eigenart, beim Sprechen die Augen zu schließen, die Brauen jedoch aufwärts zu biegen, verliehen ihm etwas Eulenhaftes. Beim Zuhören lässt er die Augen offen, verblüffenderweise ohne jemals zu blinzeln. Er ist gutmütig und vor allem äußerst geduldig. Und verständnisvoll. Ich lese aus seinem Blick warmherzige, ja verschwörerische Solidarität mit mir, und jedes Mal, wenn er mich mit Handschlag begrüßt, spielt ein väterlich gütiges Lächeln um seinen Mund.

Anfangs irritierte mich seine Bereitschaft, meine Therapie zu übernehmen. Wie einen psychiatrischen Experten seines Kalibers hinters Licht führen? Würde er nicht rasch durchschauen, dass ich das Ziel der Haftfähigkeit niemals erreichen wollte? Bald jedoch dämmerte mir, dass seine Tätigkeit einer Art Betreuung glich, einer sicher um besagtes Ziel herumführenden Hand, und erst durch ihn erschloss sich mir das Geheimnis von Suggestivfragen: Er legt mir die richtigen Antworten quasi in den Mund. Er wird es zwar niemals aussprechen, trotzdem bin ich mir sicher: Im Grunde billigt er meine Tat.

Der Staatsanwalt hatte auf Höchststrafe wegen heimtückischen Mordes plädiert, die Verteidigung erfolgreich die familiäre Betroffenheit des Angeklagten ins Feld geführt, das Gericht auf acht Jahre wegen Totschlags entschieden. Bei guter Führung und Ausschöpfung aller Rechtsmittel können sich die acht Jahre auf sechs reduzieren. Dann bin ich Ende Dreißig, heutzutage kein Alter für einen Mann.

Jener Vorfall hat mein Leben in zwei Abschnitte zerlegt, in ein Davor und ein Danach. Werde ich jemals wieder ein normales Leben führen können, frei von dem Horror, der mich quält? Vereinzelt gibt es Stunden, in denen ich ihm entrinne, aber sie sind selten und liegen weit auseinander.

Frühjahr 1999

Etwas war anders als bei früheren Gelegenheiten.

Was, hätte er nicht definieren können. Das vage Gefühl im Nacken, beobachtet zu werden? Ein rascher Blick über die Hausfront: acht Fenster, jeweils vier auf beiden Etagen, zwei davon auf Kipp. Also wohnte hier tatsächlich wieder jemand. Nirgendwo ein Gesicht, kein Vorhang in verräterischer Bewegung, kein Schatten, der zurückzuckte. Nur einmal ein kleines Geräusch, undefinierbar, weit weg. Einbildung also, nur wegen eines Zettels in der Brusttasche? Hofweg 2 neu belegt, so die Kehranweisung des Bezirksschornsteinfegers.

So aufgeräumt, dass es fast unheimlich ist, dachte er, keine unordentlichen Haufen Spaltholz mehr ums Haus herum wie einst, weg der wuchtige Spaltklotz mit den eingetrockneten Bluttränen. Stets hatte eine blitzende Axt griffbereit in dem kniehohen Wurzelstock mit den amputierten Wurzeln gesteckt. Er löste die Spanngurte am Dachträger seines weißen Ford- Transit mit dem blauen Firmenlogo Anton Kohler, Heizung, Lüftung, Klima, und nahm eine Aluminiumleiter sowie eine Holzleiter mit gewölbten Sprossen herunter.

Eine aufgerollte Kehrbürste über der linken Schulter, über der rechten die Leitern, überquerte Anton Kohler das Kiesrondell vor dem Haus, ging um die Ecke, stapfte durch das Meer aus Brennnesseln und Kletten an der Rückfront und setzte die Alu-Leiter an der gewohnten Stelle ab. Den strengen Geruch von Holundergehölz in der Nase, schob er die Dreifachleiter auseinander. Erneut ein Blick über die Rückfront: Fenster, Umgebung - niemand.

Es gab einen scheppernden Missklang, als die Alu-Leiter gegen die kupferne Regenrinne hoch über ihm prallte. Ein paar Mal stampfte er heftig auf die unterste Leitersprosse, prüfte den Stand, indem er rüttelte, dann begann er mit dem Aufstieg, die Aussicht vom First des Hauses auf die ländliche Umgebung von Norf vor Augen: die alten Pappeln entlang des Norfbachs, überragt vom Turmhelm der Sankt-Andreas-Kirche, der Müggenburg, dem Wasserturm. Schon über ein Jahr stand das um die Jahrhundertwende erbaute Haus leer, und ebenso lange hatte er hier nicht mehr gekehrt. Leicht erhöht und isoliert lag es am Ende des Hofwegs, einen Wust alter Bäume im Rücken, darunter Obstbäume, deren verfilztes Geäst, seit Jahrzehnten ohne fachmännischen Schnitt, graue Flechtenbärte trug.

Oben prüfte er die Festigkeit der Regenrinne, hängte die Holzleiter in die Fanghaken ein und kletterte vorsichtig weiter zum First. Hier, auf der Schattenseite, waren die altertümlichen Biberschwanz-Dachpfannen teils bemoost und vom Morgentau noch gefährlich glitschig, denn die Sonne stand noch nicht hoch, auch hauchte man zu dieser Stunde noch rasch vergängliche Atemwölkchen in den taublitzenden Junimorgen, ein Morgen, so recht für gute Laune. Kohler, in aller Regel gut drauf, hob den Kopf aus dem kühlen Firstschatten in die Wärme der Sonne. Die jenseitige Dachschräge war bereits abgetrocknet. Weil er sich alleine wähnte und niemandem Schwindelfreiheit demonstrieren musste, schob er sich, einen Bossanova summend, rittlings über den First in Richtung des vordersten der drei Schornsteine, wuchtige Türmchen mit rußgeschwärzten Abzugsöffnungen wie Schießscharten. Schmutziggraue Kottränen von Nachtvögeln verunzierten den einst weißen Putz der Türmchen. Seit sich auf den einstigen Äckern des Umlands eine Baumschule und ein Golfplatz breitgemacht hatte, gab es in dieser Gegend sogar vereinzelt wieder Käuze.

„Hallo! Morgenstund‘ hat Gold im Mund!“

Verblüfft von dem unerwarteten Zuruf, zuckte Kohler zusammen. Ein reflexhafter Blick auf die Uhr: acht Uhr zweiunddreißig. Ein Blick rechts am Schornstein vorbei: Weiter vorne, auf einer Gaube, kauerte ein Mann in weißen Jeans und blauem Polohemd und winkte fröhlich, vor sich hatte er ein paar Dachpfannen, Werkzeug sowie eine graue Satellitenschüssel liegen, neben ihm ragte ein verzinkter Antennenmast durch die Dachlatten.

„Guten Morgen!“ grüßte Kohler mit Verspätung zurück. Und wunderte sich: auf ein Dach klettern, in weißen Jeans! Er schob sich vollends bis zum Kamin, stand auf, nahm die Kehrbürste von der Schulter und fädelte sie in den Schornstein ein.

„Den brauchen Sie nicht, hier kommt ’ne Gasheizung rein!“ Der Mann, den weißen Jeans nach bestimmt kein Handwerker, gestikulierte in Richtung des Kamins.

Der Eigentümer? „Leider Vorschrift“, erwiderte Kohler und horchte auf das metallische Schaben der Drahtborsten. „Gebäude, die länger leer gestanden haben, müssen ...“

„Ja, ja, das Land der tausend Vorschriften“, lachte der Mann spöttisch. „Vorschriften beachten ist hierzulande der reinste Fulltimejob!“

Kohler ging nicht darauf ein. Warum Worte verlieren über Unvermeidliches?Wenn hier eine Gasheizung... Sollte er, wo er den Mann überhaupt nicht kannte? Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. „Die Heizung ..." setzte er an und ließ die Bürste erneut sausen, „die könnte ich Ihnen machen. Falls Sie möchten“, schränkte er ein und überschlug im Kopf den Profit. „Aber wie es aussieht, machen Sie eh alles selber.“ Weil der Mann in den weißen Jeans nicht reagierte, schickte Kohler ein Verlegenheitslachen hinterher. „Ichmeine, die TV-Schüssel und so.“

„Sehe ich so aus?“ Die Frage klang ironisch und ein bisschen laut. „Ich würd’s ja glatt versuchen, wäre meine Zeit nicht so wertvoll“, sagte der Mann, der damit beschäftigt war, zwei Schraubklemmen über den Mast zu stülpen. „Ich meine, beim Heimwerken verdient man nichts.“

„Man spart, und das ist auch verdient.“

„Auch wieder richtig.“ Der Mann lachte kurz auf. „Ne Frage des Stundensatzes, würd’ ich sagen.“

Ein Besserverdiener also. Umso besser. Wegen der Heizung. „Schön, dass wieder Leben einkehrt in das Schloss hier!“

„Naja, Schloss ist für den Kasten reichlich übertrieben.“

Schlank, sportiv, schwindelfrei, ein Frauentyp, äußerlich jedenfalls, dachte Kohler, als der Mann in den weißen Jeans aufstand und mit den Fingern durch sein kurzes, dunkles Haar fuhr. „Die Leute hier nennen Ihren Kasten Das Schloss“, erklärte er.

„Aber nicht das von Kafka?“ lachte der Mann wie über ein gelungenes Bonmot.

„Irgendein Industriebaron der ersten Generation soll sich hier ins Grüne abgesetzt haben, heißt es“, fuhr Kohler fort, dem die Kafka-Anspielung nichts sagte. „Damals war das noch richtig weit draußen vor der Stadt, mit der Hummelbach-Aue als Garten.“

„Städte sind Moloche“, nickte der Mann. „Ein Glück, so ein Grundstück mit unverbaubarer Aussicht.“

Kohler ließ die Bürste ein drittes Mal sausen, holte sie dann ein. Würde er hier wohnen wollen, derart abgelegen, umgeben von Holunderdickicht, verfilzten Bäumen und Brennesseln? Den nächsten Schornstein im Visier, balancierte er über den First weiter, diesmal aufrecht, die Arme locker abgespreizt. In Höhe der Gaube ging er in die Knie und streckte dem Mann mit den weißen Jeans seine rechte Hand hin. „Anton Kohler, Heizung, Lüftung, Klima. Und Ihr Schornsteinfeger.“

Der Mann schielte flüchtig auf die fremde rußige Hand, dann auf seine weißen Hosenbeine. „Markus Larkin“, lächelte er verbindlich und ließ seine Hände, wo sie waren. „Freut mich.“

„Greifen Sie ruhig zu!“ Unbeirrt hielt Kohler seine Rechte hin. „Sie wissen doch: Schornsteinfeger bringen Glück. Die Chance kriegen Sie nur zweimal pro Jahr!“

„Glück kann ich brauchen!“ Larkin drückte Kohlers Hand etwa mit der Beherztheit, mit der man eine Kröte vom Kopfkissen entfernt.

„Wollen Sie hier Schinken räuchern?“ Kohler deutete in die schwarze Kaminöffnung, wo ein offensichtlich frisch montierter Haken fabrikneu glänzte, an dem ein Edelstahlblock mit Doppelrolle hing. Auf dem Kaminkranz lagen ein Akku-Bohrer sowie eine Rolle dünnes Stahlseil. „Auf die Dinger müssten mal Hauben drauf “, meinte er, weil Larkin nichts sagte. „Wegen dem Regen.“

Wegen des Regens, verbesserte Larkin bei sich und sah sich für die Dauer eines Augenblicks am Strand bei Flensburg auf die aufgewühlte schwarze Ostsee starren. „Schinken räuchern!“ prustete er mit Verspätung und schüttelte den Kopf. „Ein Windmesser kommt hier dran, mit Fernanzeige.“

„Ein Windmesser ...“, wiederholte Kohler. Eine Umlenkrolle für einen Windmesser? „Dann sind Sie wohl Drachenflieger, was? Oder Surfer?“

„Als Drachenflieger wäre ich ja wohl nach Oberstdorf gezogen“, meinte Larkin in herablassendem Ton. „Nein, ich segle gerne, und dafür gibt’s in der Umgebung ja genug Möglichkeiten.“

„Rhein und Segeln?“ Kohler kratzte sich hinterm Ohr. „Man soll zwar wieder essbare Fische angeln können, aber Segeln, bei der Strömung und dem Schiffsverkehr?“

„Der Rursee in der Eifel, der ist Klasse. Hinter Maastricht gibt’s auch Seen. Sind Sie auch in dieser Richtung aktiv?“ erkundigte sich Larkin.

Kohler nickte versonnen. „Segeln, gerne, ja, wie Sie. Aber noch lieber Klettern.“ Er schob den Akku-Bohrer beiseite und führte die Bürste in den zweiten Schornstein ein.

„Den können Sie sich aber wirklich sparen.“ Larkin klang gereizt. „Den werde ich eh nie benutzen, offene Kamine verqualmen einem nur die Bude.“

„Meinen Sie, ich möchte schuld sein, wenn Sie da unten ersticken, weil das Ding verstopft war?“ Unbeirrt ließ Kohler die Bürste sausen. Irgendwie schien sein Tun Larkin nicht in den Kram zu passen.

„Der und verstopfen! Da passt der Nikolaus samt Sack durch.“

„Schonmal was von Kaminbrand gehört?“

Larkin zuckte mit den Schultern.

„Wenn Sie wüssten!“ Kohler holte die Bürste ein. „Ihr Vorgänger hat hier halbe Wälder durchgejagt!“

„Echt?“ Jetzt schien Larkin interessiert.

„So ein Achtundsechziger-Althippie mit Pferdeschwanz, hockte jeden Abend vorm Kamin und dröhnte sich mit Hasch zu. Und mit Pearl Jam. Der hat so lange von Woodstock geträumt, bis er den Anschluss verpasst hatte. Seitdem er weg ist, wurde hier nicht mehr gekehrt.“ Kohler kramte die Anweisung heraus und hielt sie Larkin hin. „Sie glauben ja nicht, wie es hier aussah! Klafterweise Holz, ganz Berge ums Haus herum. Der hatte 'nen Draht zur Straßenmeisterei, wenn irgendwo Böschungen ausgeholzt wurden, war er zur Stelle. Und ständig ’ne blanke Axt im Spaltklotz. Mit Blut dran!“ Er feixte und verdrehte die Augen. „Wirklich! Hinterm Haus, wo jetzt die Brennnesseln wuchern, da hielt er sich eine Horde Mistkratzerli. So, wie die gelegt haben, müssen dem die Eier zu den Ohren rausgekommen sein! Verkauft hat er sie nämlich nicht, soviel ich weiß. Bei Bedarf hat er dann eins von den Gackhühnern ' nen Kopf kürzer gemacht!“

„Okay, okay, kehren Sie soviel Sie müssen“, lachte Larkin lauwarm und machte eine abwiegelnde Geste. „Haben Sie den Mann persönlich gekannt?“

„Gekannt ist zuviel gesagt für so einen Sonderling, dem musste ich jedes Mal die Kehrgebühren aus dem Kreuz leiern. Nur einmal hat er mich reingelassen, da wollte er nämlich was von mir. Im Haus ziehe es wie Hechtsuppe, wegen dem offenen Kamin, ob man da nichts machen könne? Kein Wunder bei dem Querschnitt, hab ich gesagt, er solle ’ne Rauchklappe einbauen lassen. Aber er wollte nichts berappen dafür, und die Erbengemeinschaft, die den Kasten vermietet hat, erst recht nicht. Also hat’s halt weiter gezogen.“

Wegen des Kamins, dachte Larkin wieder und sagte, ohne zu wissen, was er damit meinte: „Das wird sich ändern.“

„Mieten Sie auch, wenn man fragen darf?“ fragte Kohler an Larkins Blick vorbei. „Oder haben Sie ...?“

„Nur Idioten schmeißen ihr Geld Vermietern in den Rachen“, tönte Larkin prahlerisch.

„Man muss es sich leisten können“, entgegnete Kohler trocken und holte die Bürste ein.

„Okay, okay“, lenkte Larkin ein. „Würde ich sonst eine neue Heizung einbauen lassen?“

„Darf man fragen ...?“ Kohler, der seit längerem mit dem Gedanken an ein Eigenheim im Grünen spielte, zögerte. „Wie viel muss man heutzutage für sowas berappen?“

Scheinbar angestrengt nachdenkend, fasste sich Larkin sekundenlang an die Stirn. „Ich sag Ihnen was: Ich hab’s glatt vergessen“, meinte er mit unbewegter Miene und nahm dann ruckartig die Hand weg. „Aber soweit ich mich erinnere, war es längst nicht so teuer, wie Sie vielleicht vermuten.“

Kohler stach der Hafer. „Wie viel vermute ich denn?“

Verblüfft von soviel Chuzpe, lachte Larkin lauthals. „Wissen Sie, das Grundstück, auf dem des Haus steht, durfte geteilt werden, die Hälfte habe ich gleich verkauft. Das hat das Ganze gewaltig erleichtert. Außerdem sind die Hypothekenzinsen momentan extrem günstig.“

„Verstehe.“ Kohler spitzte beifällig die Lippen. „Manmuss im richtigen Moment zur Stelle sein.“

„Das gilt fürs ganze Leben“, sagte Larkin. „Abgesehen davon: Solche heruntergewohnten Kästen weit draußen sind nicht Jedermanns Sache, wenn erst mal auf Teufel komm’ raus renoviert werden muss. Und wer kann schon mit so vielen Zimmern was anfangen?“

„Haben Sie Familie?“

Einen Moment lang blickte Larkin, wie es Kohler vorkam, melancholisch in die Ferne, dann schüttelte er den Kopf. „Ich arbeite daran“, sagte er. „Jetztmal im Ernst: Ich hab ein bisschen Kohle gemacht, im Ausland und so.“

„Wo denn, wenn man fragen darf?“

„Ooch, Europa, hier und dort, vorher auch Südamerika.“

„Südamerika“, wiederholte Kohler und hatte bestimmte Bilder im Kopf. „In Brasilien, da ..., schönes Land, was?“

„Brasilien und schön?“ Larkins blaue Augen blitzten in der Morgensonne glashart, als er erstaunt die Brauen hob. „Schön ist gar kein Ausdruck. Toll! Phantastisch!“ schwärmte er, plötzlich erregt. „Rio, der Amazonas, Iguacu, der Regenwald. Und nicht zu vergessen: die Samba-Girls!“

Kohler lächelte auf seine schwarzen Schuhe. „Klingt nach Experte auf dem Gebiet.“

„Experte, ich?“ Als beabsichtige er für längere Zeit unterzutauchen, zog Larkin hörbar Luft ein. „Ich bin der Vater des Jahres achtundneunzig“, sagte er und berührte ein kleines goldenes Medaillon im Ausschnitt seines blauen Polohemds. Mit der Rechten klopfte er sich vor die Brust, dass er aus dem Gleichgewicht kam und sich am Antennenmast festhalten musste. „Ich hab‘ den Papst auf meiner Seite.“

War der Typ irgendwie ein bisschen meschugge? Kohler lächelte verständnislos. Larkins Grinsen kam ihm gekünstelt vor, fast gequält.

„Quatsch!“ winkte dieser ab, wobei ein Schatten durch seine Miene huschte. „Nehmen Sie mich bloß nicht ernst, sonst denken Sie noch, bei mir sei ’ne Schraube locker!“ Er nahm eine Knarre zur Hand und setzte eine Nuss ein. „Apropos Frauen, Sie müssten doch in der Gegend den Überblick haben: Wie sieht es damit in diesem Kuhdorf aus? Ich bin ja noch nicht lange hier, würde aber sagen: Zuckerrüben und Mais. Aber Frauen?“

Mit flinken Schritten tänzelte Kohler zum dritten Schornstein auf dem kurzen Seitenflügel. „Weckhoven und Norf waren mal Kuhdörfer, inzwischen haben sie sich gemausert. Schickimicki-Schlafstädte von Neuss und Düsseldorf. Jede Menge grüne Witwen samt Töchtern. Schauen Sie sich mal Gut Vellbrüggen an, oder die Müggenburg! Nobel, nobel, Schöner Wohnen in der Scheune.“

„Die grünen Witwen sind versorgt“, erwiderte Larkin, „und für die Töchter bin ich übers Verfallsdatum.“

„Sind Sie auf der Suche, wenn man fragen darf?“

Wenn man fragen darf! Was noch alles? Für Sekunden blieb Larkins Blick seltsam starr. „Wenn einem die Frau durchbrennt…“, sagte er schließlich, ließ den Satz aber offen. Es klang bitter.

Peinlich berührt, lächelte Kohler auf die Kehrbürste. Soviel Privates, gleich im ersten Anlauf? „War’s wegen der Samba- Girls?“

Larkin setzte die TV-Schüssel, Modell SatAn von Kathrein, auf den Mast und zog die Klemmen fest. „Nicht nur, aber auch“, sagte er. „Zu oft auf Geschäftsreise und so.“

Kohler schmunzelte: Satan für eine TV-Schüssel! Selbstironie des Herstellers? Er ließ die Bürste sausen und horchte. So gut wie kein Ruß. „Und jetzt wollen Sie häuslich werden?“ rief er, bevor er ein zweites Mal bürstete.

„Falls ich die Richtige finde.“

„Was machen Sie denn beruflich?“

„Vertreter.“

„Ist doch genau der richtige Job für Kontakte.“

„Wenn das mal so einfach wäre. In meinem Alter ist man zwischen allen Altern, weder jung noch alt.“

Ende Dreißig etwa, schätzte Kohler, während er zurück zur Gaube tänzelte. „Ich müsste dann im Haus noch den Ruß entfernen.“

„Das hat Zeit.“ Larkin hängte eine Dachpfanne ein. „Tun Sie’s, wenn Sie die Heizung einbauen. Ich muss das Ding hier noch justieren.“

„Naja ...“ Kohler zögerte. „Und wenn Ihnen mein Angebot nicht zusagt?“

Larkin zwinkerte ihm zu. „Ich glaube, wir kommen schon zusammen.“

Kohler gab sich ein bisschen verlegen. „Ich müsste dann aber mal die Räume ausmessen, damit ich ...“

„Kann ich Ihnen auch so sagen, ich hab’s im Kopf. Zweihundertzwanzig Quadratmeter, Raumhöhe zwei sechzig, zwei Geschosse. Reicht das?“

„Fürs Grobe ja.“

„Hören Sie mal ...“ Larkin hielt kurz inne. „Wenn ich demnächst mal segeln gehe, würden Sie da mitkommen?“

Kohler setzte den Fuß auf die oberste Leitersprosse. Klang die Frage nicht bittend, wie auf der Suche nach Kontakt? Die Nähe zum Kunden! Warum nicht einmal segeln für die Komplettmontage einer Heizung? „Meine Telefonnummer steht auf der Kehrrechnung“, lächelte er verbindlich. „Ich werfe sie in den Briefkasten. Okay?“

„Okay“, sagte Larkin fröhlich, „man sieht sich.“

„Ich denke doch!“

Beim Abstieg zog Kohler Bilanz: Der potentielle Kunde Larkin, zweite Hälfte Dreißig, Neuling in der Gegend, litt eindeutig unter gesteigertem Mitteilungsdrang. Wie so viele Singles. Dabei war er ein gewitzter Bursche: Wie er die Frage nach dem Preis für das Haus abgebogen hatte! Offenbar musste er nicht mit der Mark rechnen, sonst würde er mehrere Angebote für die Heizung einholen, aber falls er die Firma Kohler beauftragte, war Larkin ein guter Mann. Auch wenn er ihm nicht wirklich sympathisch war. Irgendwie schien er ein ganz bestimmtes Bild von sich abgeben zu wollen. Mit ihm segeln würde er allerdings nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ.