Zwischen Bach und Baum - Ursula Dittmer - E-Book

Zwischen Bach und Baum E-Book

Ursula Dittmer

4,6

Beschreibung

Hier schleift ein Wasserfall eine verzauberte Welt, dort birgt ein blauer Stein unerwartete Legenden und im Feenwald geht es heiß her. Was hat eine alte Weide zu berichten? Wer boykottiert den Bau einer Therme? Werden Kastanien wirklich poliert? Und was veranlasst das Feenwasserwirtschaftsamt zum Einschreiten? Der Laubkönig lässt wieder erzählen: 12 kreativen Köpfen hat er Einblick in sein Reich gewährt. Entstanden ist eine magische, fantasievolle und vergnügliche Kurzgeschichtensammlung Zwischen Bach und Baum. Herzlich willkommen in der rauschenden Welt des Laubkönigs! In sein Reich entführen den Leser neben Herausgeberin Sinje Blumenstein die Autorinnen Ursula Dittmer, Liv Modes, A. C. Greeley, Anke Höhl-Kayser, Anna Dorb, Monika Kubach, Uschi Prawitz, Cornelia Aistermann, Julie Fritsche und Anna-Maria Weigelt und der Autor Markus Frost.

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Zwischen Bach und Baum

VorwortGroßvaters heimliche LiebeFiurGoldfischchenWolfssteinWintersonnenwende(K)ein RiesendingDas WeidenweibchenMutter Weide12 Uhr mittags - High Noon unter dem KastanienbaumDie Goldene LaterneZauberhafter NeuanfangDate mit Jack-in-the-GreenFimbulwinterUgulaiaWie "Zwischen Bach und Baum" entstand - Erinnerungen der HerausgeberinSüßes vom Untersberg - ein Extra von Anna DorbWarum Irrlichter? - ein Extra von Markus FrostDes Laubkönigs Hochzeit - ein Extra von Anna-Maria WeigeltBesondere Pflanzen - ein Extra von Ursula DittmerImpressum

Vorwort

Unter unseren Schritten knirschen die Steine. Überrascht empören sie sich, denn menschliche Tritte sind sie nicht gewohnt. Immerhin geben die Jahreszeiten sonst nur an wenigen Stellen den Blick auf das geschliffene graue Gesicht der Bachsohle frei. Doch der diesjährige Spätsommer ist zu trocken.

Nicht ein Pfützchen zeigt sich mehr, die bloßliegenden Wurzeln der Weiden werden nur von seichtem Wind umspült und sehen aus, als machten sie sich bereit, davonlaufen. Sie haben uns ebenso hier hineingelockt wie die Brombeersträucher, die ins Bachbett übergreifen und uns nur mühsam vorankommen lassen.

Trotz der Trockenheit genießen wir die Luft zwischen den Bäumen. Viel frischer ist sie hier als auf den Feldwegen. Dort häuft sich der Staub weich wie frisch gesiebtes Mehl bis an den Wiesensaum. Jeder Schritt lässt atemraubende Wolken aufsteigen.

Jetzt im unstaubigen Bachbett krallt sich eine Wildrose frech in mein Haar. Ein letzter Fingerzeig, dass wir wirklich mittendrin sind. Im Reich des Laubkönigs entdecken wir uns bislang verborgene Pfade, während daheim seine Geschichten warten.

2012 hatte uns der Laubkönig zuletzt Einblick in seine Welt gewährt. Tückische Hexenringe zeigten sich am Boden, während Gletschergeister im Eis ihr Unwesen trieben und der Mensch schließlich im Universum nach neuem Lebensraum suchte, weil er die wundersamen Wesen in Bäumen und Wäldern übersah und die Jahreszeiten Kriegsrat halten mussten.

Nun hat er ein weiteres Mal kreative Köpfe um sich geschart, elf Autoren und einen Autor, die mit offenen Augen bereitwillig sein zerbrechliches Zauberreich fernab ausgetretener Pfade auf sich wirken zu lassen. Bekannte wie neue Stimmen erzählen vornehmlich von jenem Element, das uns während der Entstehungszeit dieses Buches entweder im Übermaß begleitete oder schmerzlich vermisst wurde: Wasser.

Heute sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, herzlich eingeladen, in diese Geschichten einzutauchen, in denen die Natur in magischem, fantastischem, mitunter sogar eigenwilligem Licht zwischen Bach und Baum erscheint.

Gehen Sie hinaus, verlassen Sie die altbekannten Wege und finden Sie in glitzerndem Moos, säuselnden Bächen und nektarvollen Blüten eigene Geschichten.

Herzlich willkommen im Reich des Laubkönigs!

Großvaters heimliche Liebe

Bertram »Berthel« Horgaseder stellte sein Auto ab, hängte den Rucksack um und nahm Großvaters Säge und Axt in ihren mit Öl getränkten Futteralen aus dem Kofferraum. So beladen kämpfte er sich durch das Gebüsch am Waldrand. Zwischen den Bäumen lag der Schnee weniger hoch als draußen auf den Feldern, sodass er gut vorankam. Mit gesenktem Kopf und langen Schritten durchquerte er zielsicher den Wald.

Als er die Hütte erreichte, war er durchgeschwitzt. Mit zitternden Fingern fischte er den Schlüssel aus seinem Versteck. Das rostige Schloss sperrte und die Tür klemmte beim Aufziehen. Drinnen war es finster und die abgestandene Luft roch nach Schimmel. Daran merkte er, wie lange er nicht hier gewesen war. Er öffnete die Fenster und drückte die Fensterläden auf. Zuletzt schürte er im kleinen Kanonenofen ein Feuer. Als es munter brannte, klappte er die Fenster zu, packte die Werkzeuge aus und verließ das Häuschen.

Der erste Baum fiel rasch. Berthels Wut steigerte seine Kraft. Schlag für Schlag versetzte er dem Stamm und sägte, bis ihm der Schweiß in den Augen biss. Als die Buche genau im richtigen Winkel zwischen zwei Nachbarbäumen hindurchstürzte, nickte Bertram zufrieden.

Er war froh, die Kettensäge zu Hause gelassen zu haben, denn die schwere Waldarbeit tat ihm gut.

Der erste Zorn war abgeklungen – er beschloss, eine Pause einzulegen, bevor er sich an das Zerlegen des Baumstammes machte.

In der Hütte hing die Kälte noch in jeder Ritze, doch die Luft war bereits angewärmt. Berthel schob ein dickes Buchenscheit in den Ofen. Er holte sich die Schnapsflasche vom Wandbord, trank einen kräftigen Schluck und nahm sie mit hinüber zum Bett. Er setzte sich und kramte die Dosenravioli aus dem Rucksack. Er öffnete den Deckel und stellte sie auf die Ofenplatte. Unfähig, zu warten, bis das Essen heiß war, nahm er schon nach kurzer Zeit die Dose wieder herunter. Lustlos löffelte er das matschige Nudelgericht lauwarm in sich hinein. Er kippte einen Mundvoll Schnaps hinterher und sank aufs Bett zurück. Erst jetzt brach – wie ein Sturm – sein ganzes Elend über ihn herein.

Der Streit zwischen ihm und seinem älteren Bruder war heftig wie nie zuvor gewesen. Wahrscheinlich war dessen Nasenbein gebrochen, als er ihm diesen Faustschlag verpasste. Es hatte geknirscht, und das Blut war Georg nur so aus der Nase gespritzt. Um Schlimmeres zu verhindern, war er aus dem Haus gestürmt und in den Wald geflohen.

Dieses blutüberströmte Gesicht … Berthel ballte die Hände zur Faust. Der Hieb tat ihm unendlich leid. Doch das schlechte Gewissen vertrieb nicht seine Enttäuschung über den Vertrauensmissbrauch. Wieso hatte Georg hinter seinem Rücken so weitreichende Entscheidungen getroffen?

Vorerst würde Berthel in der Hütte bleiben, bis sein Bruder auf ihn zukam.

Mit wütender Entschlossenheit erhob sich der junge Mann, um draußen seine Arbeit zu beenden. 

Als er das letzte Stammstück bis zum Holzplatz geschleppt hatte, begann es zu dunkeln. Er beschloss, erst am nächsten Morgen die Äste zu zerkleinern und den Platz aufzuräumen.

Erschöpft setzte er sich auf den Holzstoß und ließ den Blick schweifen. Er liebte die Hütte und die Lichtung, auf der sie stand. Schon als Kind war er gerne hier gewesen. Meist mit Großvater, dem er bereits als kleiner Junge im Holz geholfen hatte.

Berthel erinnerte sich mit Freude an diese Zeit. Johann Horgaseder hatte ihm die Liebe zur Natur, vor allem zum Wald, vermittelt.

Dort drüben am Wildwechsel hatten sie ‚Laubhaufen‘ gespielt.

Dabei hatten sie sich auf die Erde gelegt und der Opa hatte Buchenlaub über ihnen aufgeschichtet. Dann hatten sie gewartet.

Oft genug war gar nichts geschehen. 

Doch einmal war eine Rotte Wildschweine vorübergezogen. »Da hast du Glück gehabt, Bertram«, hatte der Alte gemeint: »Kindernasen sind eine Delikatesse für Schweine.«

Hinauf in die Wipfel schauen, Wolkenbilder und Vögel beobachten und die vielfältigen Gerüche genießen … Er, Berthel, war in diesen Momenten ein Teil des Waldes gewesen. Ein Waldwesen, welches, gut versteckt, über die Lichtung wachte.

Berthel schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er musste noch Wasser holen, bevor er sich ausruhen konnte. Er ging in die Hütte, legte Holz nach und nahm die verbeulte Milchkanne von ihrem Haken hinter der Tür.

Heller Dampf stand über dem flachen Hügel, aus dem die Quelle entsprang. Das warme Quellwasser gefror selbst in harten Wintern nicht. Der junge Mann setzte sich auf die Einfassung und tauchte die Hand in die Brunnenschale. Das mineralstoffhaltige Wasser war eine Wohltat für die Blasen, die ihm die schwere Arbeit mit Säge und Axt beschert hatte.

Sein Ururgroßvater, Ignaz Horgaseder, hatte die Ablaufrinne des Brunnens gefasst und einen Quellstein darübergelegt, um das Becken immer sauber zu halten. Ignaz‘ Enkel Johann und dessen Enkel Bertram hatten so manchen Sommerabend damit verbracht, dem Findling eine Form zu geben. Nach und nach hatte der alte Mann ein ‚Weiberl‘, eine nackte Frau, aus dem Stein geschält. Berthel hatte einen schlafenden Marder gemeißelt, der zusammengerollt zu ihren Füßen lag. Sogar sein Bruder hatte sich verewigt. Er hatte am Überlauf Querrillen angebracht, sodass die Quelle nun leise plätscherte.

Die Äste der Buchen knarrten leise im Wind. Der leuchtende Schnee verlieh der Lichtung ein unwirkliches Aussehen. Berthels Blick wanderte hinüber zu der Stelle, an der sie die Urne begraben hatten. Unwillkürlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er spülte die Kanne aus und kippte das Wasser schwungvoll in Richtung Grab.

»Der Girgl will verkaufen, Großvadder«, schrie er mit tränenerstickter Stimme. »Den Wald und die Quelle. Hilf mir! Was soll ich nur tun?« 

Die Welt hielt für einen Moment den Atem an. Es wurde totenstill. Jede Bewegung schien eingefroren. Aus dem verschütteten Spritzwasser stieg Nebel auf, der herüberzog und sich mit den Schwaden aus der Quelle mischte. Ein Geräusch drang an Berthels Ohr – wie ein lang gezogenes Ausatmen.

Ein eisiger Windstoß brach den Zauber. Er durchfuhr die Lichtung und wirbelte den Pulverschnee auf. Die winterstarren Äste und Zweige der Buchen rieben sich erneut aneinander. Gänsehaut kroch über Bertrams Rücken. Doch die Kälte, die ihn zittern ließ, kam nicht vom Eiswind. 

Unwillig schüttelte er den Kopf. Seine nasse Hand pochte, als hätte er sich verbrüht. Er füllte die Kanne bis zum Rand mit Wasser und eilte zur Hütte.

Drinnen war es inzwischen wohlig warm. Im Vorbeigehen presste er mit der Faust den Stoffbeutel zusammen, der neben dem Ofen hing. Als die Kräuter darin ihren würzigen Duft verbreiteten, lächelte er. Die vertraute Geste beruhigte ihn. Bei seiner Großmutter hatten im ganzen Haus Kräutersäckchen gehangen. »Da! Ein Gruß vom Sommer!«, hatte sie fröhlich verkündet, wenn sie auf ein Säckchen drückte.

Der Wasserkessel begann zu summen. Berthel mischte verschiedene Kräuter und streute sie in die Teekanne. Während der Tee zog, lümmelte er sich auf das Fensterbrett.

»Vollmond! Kein Wunder …«, brummte er, als er den Mond über dem Schalksberg aufgehen sah.

Großmudder würd‘ verstehen, was ich gerade erlebt hab‘, fügte er in Gedanken hinzu. Aber der Georg? Der würde mich für verrückt erklären! Für ihn bin ich immer noch der kleine Bub mit seiner blühenden Fantasie. Haben wir eigentlich außer der Arbeit noch andere Gemeinsamkeiten?

Doch da fiel ihm ein, wie streng Johann Horgaseder mit Georg, dem Hoferben, umgegangen war. Der Alte hätte mit Georg niemals ‚Laubhaufen‘ gespielt.

Bioholunder und Artischocken!, dachte Berthel und grinste. Der Großvadder würd’ sich im Grab umdreh’n.

Er bewunderte den Geschäftssinn seines Bruders und unterstützte ihn tatkräftig. Der Hof und die Waldwirtschaft warfen jetzt genug ab, um sie beide gut zu ernähren. Seit einiger Zeit ergänzte Georgs Freundin Steffi ihren Männerhaushalt. 

Alles war in bester Ordnung gewesen – bis zum Morgen dieses Tages. Sein Bruder hatte ihm beim Frühstück wortlos einen Schnellhefter mit Analysen des Quellwassers in die Hand gedrückt, sowie Baupläne und das Kaufangebot eines Investors. 

Der Mineralstoffgehalt genügte für eine Anerkennung als Heilquelle. Der Wald sollte zum Erholungsgebiet werden, auf der Lichtung war ein Hotel mit Wellnessbereich geplant. Fassungslos hatte Berthel seinem Bruder in die vor Begeisterung strahlenden Augen gestarrt.

»Mit dem Verkaufserlös vergrößern wir die Obstanbauflächen und investieren in eine Biokelterei. Diese Neuorientierung ist eine Chance für die ganze Region, Bertram!«

Berthel stieß unwillig die Luft aus. Der volle Mond beleuchtete die Waldschneise; es war taghell. Ein feines Geflecht aus Goldfäden überspannte die Schneefläche. Es erinnerte ihn an Vermessungsschnüre. Schaudernd wandte er sich ab. 

Er rüttelte die Bodenplatte des Ofens, zog den Aschekasten heraus und trug ihn ins Freie. Die glühende Asche kippte er in den Blecheimer neben der Tür. 

Die Nacht war klirrend kalt. Über der Lichtung lag noch immer dieses Goldfadengespinst. Er sah aber nur kurz hinüber. Es war besser, sich mit derartigen Erscheinungen nicht näher zu befassen. 

Der Großvater hatte ihn gewarnt … damals.

Merkwürdig, dass ihm dieser Vorfall ausgerechnet heute wieder einfiel. Dem kleinen Berthel war beim Spielen an der Quelle plötzlich eine junge Frau in triefend nassen Sachen erschienen, die ihm wundersame Geschichten über Wasserwesen erzählte. 

»Falls du ihr zuhörst oder sie genauer anschaust, gerätst du unweigerlich in ihren Bann. Wenn du nicht aufpasst, dann passiert dir das Gleiche wie deinem … Du wirst nie wieder alleine zur Quelle gehen!« 

Johann Horgaseder hatte ihn hart an den Oberarmen gepackt gehabt und ihm ernst in die Augen gesehen. 

Von wem der Alte damals wohl gesprochen hatte?

Nachdrücklich schloss der junge Mann die Tür hinter sich. Er schob den Aschekasten in den Ofen zurück und legte Holz nach. Die Ofenklappe ließ er offenstehen. Er zog einen Stuhl heran und goss sich Tee ein.

Versonnen schaute er in die Flammen. 

Eine Chance für die Region, dachte er. Damit hat Georg natürlich recht.

Nachdem zwei Großbetriebe in die Insolvenz gegangen waren, gab es viele Arbeitslose. Das Hotel, aber auch Obstanbau und Kelterei würden neue Arbeitsplätze schaffen. Alles ergab Sinn. Dennoch: Allein der Gedanke daran, dieses Fleckchen Erde in fremde Hände zu geben, die es nicht wertschätzten, verursachte ihm Übelkeit.

Noch war nichts entschieden. Es lagen erste Ergebnisse vor, aber ansonsten existierten nur Planspiele. 

Berthel klappte die Ofentür zu. Er legte sich aufs Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. 

Der Schnee reflektierte das Mondlicht; in der Hütte war es fast so hell wie am Tag.

Biohotel – Heilwasser – Naturlehrpfad – Holzschnitzen und Steinhauen – Laubhaufen spielen – Kräuter, die aus dem Sommer grüßen – die Römer … eine junge Schönheit im nassen Kleid.

Berthel fuhr aus einem leichten Schlummer hoch. Sein Herz klopfte wild. Sein linker Arm war eingeschlafen und kribbelte schmerzhaft, als er ihn hinter dem Kopf hervorzog. Er wollte sich gerade aufrichten, als ihm eine seltsame Reflexion an der Zimmerdecke auffiel. Sie sah aus wie die Goldfäden, die er über dem Schnee gesehen hatte.

Langsam sank er zurück und ließ das Bild auf sich wirken. Dieses Muster aus Licht war nur Zufall! Der Mond spiegelte sich in der Quelle und dem kleinen Bachlauf, den sie nährte. Der Rest entstand durch Schnee und Eis … 

Doch da draußen war etwas, dem er sich endlich stellen sollte. Irgendetwas hütete die Quellen, auch wenn Bertram seit seinen Kindertagen niemanden mehr dort getroffen hatte.

Nein, kein »Etwas«, sondern ein Quellweiberl, wie es der Großvater aus Stein gehauen hatte. 

Berthel biss sich auf die Lippen. 

Dieser merkwürdige Moment, als er das Wasser auf Großvaters Grab geschüttet hatte … seine Starre und der seltsame Nebel …

Er schloss die Augen und rollte sich zur Seite. Nur um sich kurz darauf auf die andere Seite zu werfen.

Selbst wenn er akzeptierte, dass der Brunnen von einer Quellnymphe bewohnt war, was sollte das mit den Goldfäden und der Reflexion an der Decke? 

Berthel schnellte hoch.

»Der Großvadder hat sie gekannt!« 

Er sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster. 

Der Mond war weitergewandert und schien durch den Dampf über der Quelle. Ein Windhauch bewegte den Nebelschleier wie ein Mädchen, das sich im Tanzschritt dreht. 

Bertram lachte leise. 

So war das also: der alte Horgaseder und das Quellweiberl! 

Die Ähnlichkeit zwischen der Skulptur und der Frau im nassen Kleid hätte ihm eigentlich schon viel früher auffallen können. 

Wahrscheinlich sollte er das Verhältnis des Großvaters zum Quellweiberl nicht romantisieren. Von einem Bann hatte dieser gesprochen und dabei eher zornig als glücklich gewirkt. 

War er ihr verfallen gewesen? Vielleicht sogar über den Tod hinaus?

Der junge Mann schüttelte missmutig den Kopf.

»Auf was für Gedanken man bei Vollmond kommt!«

Er verließ den Platz am Fenster und warf sich aufs Bett. Als sein Blick erneut auf das Muster an der Decke fiel, formte sich in Berthels Kopf eine Idee.

Er entzündete das Öllicht und einige Kerzen.

In der Tischschublade fand er einen alten, nach Schimmel riechenden Malblock, einen Bleistiftstummel und eine Blechschachtel mit Buntstiften. 

Er skizzierte, kritzelte, schraffierte. Er drehte und wendete das Blatt, malte von oben und von unten, zerriss und zeichnete neu. 

In den frühen Morgenstunden begann er, zu beschriften.

Bertram saß am Tisch und schlief, als Georg leise die Hütte betrat. Er beugte sich vorsichtig über den Schlafenden, dessen Oberkörper einen Zeichenblock halb verdeckte. Römische Therme stand da in großen Lettern über der Seite. Darunter erkannte er einen Plan und einige Skizzen. 

War das nicht das Quellweiberl?

Belustigt schüttelte Georg den Kopf. 

Dann legte er Holz nach und stellte frisches Wasser auf. 

Berthel erwachte, als ein Stuhl an den Tisch gerückt wurde. Als er die Lider aufschlug, sah er in ein grinsendes Gesicht, das durch einen großen Verband und ein blaues Auge völlig entstellt wirkte. 

»Tut mir leid!«, kam es von beiden wie aus einem Mund. 

Georg zuckte mit den Schultern. »Hatte ich wohl verdient. Irgendwie. Ich wusste, dass du ausrasten würdest, aber ich hatte eher mit Gebrüll gerechnet als mit einem Faustschlag.« Er deutete auf den Zeichenblock: »Und was soll das werden?«

»Immer vorausgesetzt, du hast nicht nur Analysen eingeholt, sondern auch berechnet, wie ergiebig die Quelle ist …« Berthel wartete ab, bis sein Bruder nickte. »Gut. Ich habe abgewogen: die Chance für die Region und den Schutz des Waldes. Bioholunder und Saft … alles schön und gut, aber dafür unseren wirklichen Schatz verhökern?« 

Er nahm Georg den frisch gefüllten Becher aus der Hand und trank einen Schluck Tee. 

»Erinnerst du dich an den Geschichtsunterricht in der Schule? Hier in der Gegend siedelten die Römer. Unsere Quelle ist nicht nur mineralstoffreich, sondern auch warm. Sicher ist sie tiefer unten sogar heiß. Womöglich gab es zur Römerzeit an genau dieser Stelle eine Therme. Es würde also hierher passen, ein römisches Bad zu errichten. Unabhängig davon …« Er drehte das Blatt um und wies auf ein Haus im römischen Baustil. »Da wir die Landwirtschaft sowieso schon auf Bio umgestellt haben, wäre ein Biohotel denkbar. Die Küche beliefern wir mit eigenen Produkten, soweit es geht. Darüber hinaus wird es nicht nur Heilwasser, Therme und gesunde Ernährung geben, sondern auch Kräuterführungen, Walderlebnistouren und solche Sachen wie Schnitzen und Bildhauern …«

Bertram hatte sich heißgeredet, jetzt brach er ab. »Was meinst du dazu?«

»Puh!«, Georg blies die Wangen auf. »Ich weiß nicht … Das hört sich wunderbar an, aber wie willst du das denn finanzieren?«

»Den Hotelbetrieb kann von mir aus dein Investor übernehmen. Doch wir werden nicht verkaufen! Wie hast du es genannt? Chance für die Region? Gerne! Dafür muss das Projekt aber in unserer Hand bleiben!« Er drehte den Malblock um und präsentierte seinem Bruder eine Liste mit Namen, ortsansässigen Institutionen und Firmen. »Die holen wir alle ins Boot.«

»Du bist verrückt!«

*

Vier Jahre später …

Die Eröffnungsfeier für Römermuseum und Hotel fand im Konferenzsaal des Hotels statt. Hier gaben große Fenster den Blick auf ein beeindruckendes Panorama frei: einen naturbelassenen Garten mit dem Nachbau eines Tempels. Aus dem Tal grüßten die barocken Türme der Ortskirche.

»Ich glaube, die letzten Jahre waren die aufregendsten unserer Gemeinde seit ihrer Gründung vor fast einem Jahrtausend.«

Der Bürgermeister blickte in seiner launigen Rede auf zahllose Kämpfe mit dem Landesamt für Denkmalpflege und die aufreibende Bauphase zurück. 

Wie Berthel vermutet hatte, waren in zwei Metern Tiefe Reste eines Römerbades zum Vorschein gekommen. Man hatte den Bau abbrechen müssen, um einem Trupp Archäologen Platz zu machen. 

Das Ausgrabungsteam hatte nicht nur ein komplett erhaltenes Bodenmosaik gefunden, sie hatten auch Säulen und Kapitelle, die Statue einer Quellnymphe, Keramik, Münzen und Schmuck zutage gefördert. 

Dieser Fund hatte die Pläne geändert. Die Gemeinde hatte einen Teil des Waldes erworben, um das Museum zu errichten. Seitlich davon sollte in Zukunft weitergegraben werden, denn alles deutete darauf hin, dass hier ein Kastell und eine römische Ansiedlung zu finden waren. 

Das Mosaik hatten sie mit einer dicken Glasfläche überbaut und mit den Säulen in die Therme integriert. Darüber hatten die Brüder Horgaseder das Biohotel errichtet. Museum und Hotel bildeten ein einzigartiges Konzept, welches historische Substanz nicht nur als nüchterne Ausstellungsfläche darbot, sondern ihr neues Leben einhauchte. 

»Das Quellweiberl wirkt zwar etwas rustikal in all der römischen Pracht, aber ist es nicht ein wunderbarer Spiegel unserer Geschichte? Die meisten von uns sind heute Bauern, doch anscheinend bauten unsere Vorfahren ihr Höfe mit den Überresten römischer Prachtbauten in einem bekannten Heilbad der damaligen Zeit.«

Berthel lümmelte an einem der Stehtische. Er hatte bereits zwei Biere intus und führte gerade das dritte Glas zum Mund, als seine Schwägerin Steffi neben ihn trat und ihm den Arm um die Schultern legte. 

»Hey, schau nicht so«, meinte sie gutmütig. »Es ist doch heute ein besonderer Tag. Für dich, für die Gemeinde …« 

»Ach, ist schon alles in Ordnung, Steff, nur …« Er griff zum Bierglas und stürzte den Inhalt in wenigen Schlucken hinunter. 

»Berthel! Es geht mich zwar nichts an, aber …«

»Richtig, es geht dich nichts an.«

Bertram sah ihr mit hochgezogenen Brauen nach, als sie sich verärgert abwandte. 

Doch sie kam zurück und fragte: »Was ist los? Seit einer Woche kann man es kaum mehr aushalten mit dir! Was ist passiert?« 

Berthel hob die Hand, um bei der Bedienung noch ein Bier zu ordern. 

Eine Woche. 

Das kam ziemlich genau hin …

Vor etwa einer Woche hatten die Gedanken um die bevorstehende Einweihung des Hotels Berthel die halbe Nacht wach gehalten. Schließlich hatte er sich angezogen und war im hellen Licht des Vollmonds den Hügel zum Hotel hinaufgegangen. Er hatte das Haus umrundet und war durch den Garten gestreift. Der Gesang der Nachtigallen, ein leichtes Lüftchen, das Geplätscher des Weiberlbrunnens: ein Idyll! 

Ab nächster Woche ist der Frieden vorbei, hatte er wehmütig gedacht. Auf der Terrasse und den Balkonen werden Menschen lachen und reden, Autos werden den Berg herauf- und hinunterfahren … 

Er war durch das feuchte Gras hinüber zu dem kleinen Hügel geschlendert. Dort thronte in einem kleinen römischen Tempel Großvaters Quellweiberl.

Hoffentlich haben wir nicht einen furchtbaren Fehler gemacht und die Chance für die Region bedeutet den Verlust unserer Identität.

Berthel hatte sich über das Becken gebeugt und mit der hohlen Hand Wasser geschöpft, um einen Schluck zu trinken. Plötzlich war das warme Heilwasser heftig aus dem Stein geschossen und ihm ins Gesicht und über den Kopf gespritzt.

Verwirrt hatte er sich mit seinem Jackenärmel abgetrocknet. 

Was hatte diese Fontäne ausgelöst? 

In diesem Augenblick hatte er ein Geräusch gehört. 

Ein … Kichern?

»Wer ist da?« 

Berthel hatte nach diesem Erlebnis weder Zeit noch Lust gehabt, sich mit einem Eindringling zu beschäftigen. Reglos hatte er in die Nacht gelauscht, doch außer den Nachtigallen und dem Wind war nichts zu hören gewesen. 

»Ach, leckt’s mich doch!«, hatte er schließlich gebrummt und war geflohen. Im Laufschritt war er den Berg hinunter nach Hause geeilt. 

Dort hatte er noch lange nachdenklich am Fenster gestanden. 

Trotz all der Hektik am Bau hatte er das Quellweiberl nicht vergessen können. 

Wie auch: Das verfluchte Weibsbild hatte ihn in jeder Vollmondnacht mit Träumen geplagt. In ihnen war oft ein römischer Tempel zu sehen gewesen. Also hatte er einen solchen über ihrer Quelle errichten lassen. Doch anscheinend hatte ihr das nicht gereicht.

Am nächsten Morgen war die Quelle versiegt gewesen. Fassungslos hatte Berthel vor dem leeren Brunnentrog gestanden. Er war in die Brunnenstube hinuntergestiegen, hatte aber keine Erklärung gefunden. Auch der herbeigerufene Techniker hatte nur mit den Schultern gezuckt.

Erst am Abend hatte das Wasser wieder gesprudelt. 

Einigermaßen beruhigt hatte Berthel der Brunnenfigur den Arm getätschelt und war über die Wiese davongegangen. 

Er war schon fast am Hotel angelangt gewesen, als es hinter ihm weithin hörbar geknackt hatte. 

Laut fluchend war er zum Tempel zurückgeeilt. 

Zunächst war ihm nichts Besonderes aufgefallen, aber dann hatte er einen breiten Riss in der Decke entdeckt. 

Er hatte den Vorfall für sich behalten, obwohl er ständig daran denken musste. 

Was hätte er auch sagen sollen: »Ach, übrigens, in der Quelle lebt eine Nymphe, und sie ist aus irgendeinem Grund sauer auf uns?«

»Na bravo!«, nuschelte Berthel. 

Er stupste Steffi an und deutete nach draußen, wo sich das Tempelchen langsam zur Seite neigte und wie in Zeitlupe in sich zusammenfiel. 

Unter den Anwesenden entstand ein Tumult. Einige Frauen schrien auf, die meisten Gäste drängten sich vor den Fenstern zusammen. Einige eilten ins Freie. 

Berthel lachte und orderte ein weiteres Bier und einen Schnaps.

Kurz darauf gelang es ihm, seine Träume und die Ereignisse in Einklang zu bringen.

»Du bist komplett verrückt!«, brummte Georg. »Das wusste ich im Grund schon immer.« 

»Und deswegen magst mich so gern, oder?« 

Bertram hielt Georg seine Bierflasche entgegen. Sein Bruder stieß mit seiner Flasche dagegen. Sie tranken. 

Die Brüder saßen nebeneinander auf der Bank vor ihrem Haus und beobachteten die jungen Katzen, die fauchend einen Disput miteinander ausfochten. 

Seit dem Einsturz des Tempels war die Quelle versiegt.

Bertram hatte eine gute Woche lang mit sich gerungen, ob er seinem Bruder von seinen Erlebnissen erzählen sollte. 

Heute hatte er sich dafür entschieden, weil Georg mit hohem technischen Aufwand nach einer neuen Quelle suchen wollte.

Natürlich glaubte der ältere Horgaseder nicht an magische Wesen, die einen Wasserlauf beeinflussen konnten. 

»Unser Grand Old Man war in eine Nymphe verliebt? Haha! Der Witz ist gut!«

»Und warum glaubst du, dass ausgerechnet ein Mann wie er zu Hammer und Meißel gegriffen hat, um mitten im Wald eine nackte Frau aus dem Stein zu hauen? Jemand oder etwas muss ihn doch dazu gedrängt haben.«

Doch Georg schüttelte den Kopf und machte sich weiter über Berthel lustig. Spät in der Nacht siegte seine Abenteuerlust. 

»Also gut, ich bin dabei. Aber denk nicht, dass ich dir dein Märchen glaube! Ich mache nur mit, weil ich besoffen bin und mir nichts Besseres einfällt, um unser Projekt zu retten.«

Und so kam es, dass in der nächsten Vollmondnacht zwei Männer eine Urne in ein blumengeschmücktes Loch neben der Quelle versenkten. 

Sie hatten ihren Großvater soeben ein drittes Mal beerdigt: Das erste Mal hatten sie ihn – seinem Wunsch gemäß – auf der Waldlichtung begraben. In der Bauphase hatten sie ihn auf den Friedhof umgebettet, und heute hatten sie ihn von dort zurückgeholt.

»Und jetzt?«, meinte Georg, als sie die Erde über dem Grab festgetreten hatten und die vorher ausgestochene Grassode darüberlegten.

»Warts ab«, meinte Berthel und begoss die Stelle mit Quellwasser. 

Fiur

Ich erschrak im Schlaf, weil ich träumte. Eigentlich sollte mein Gehirn dazu gar nicht in der Lage sein, denn Feen wie ich gehörten zu den niederen magischen Wesen. Trotzdem nahm ich die Bilder hinter meinen geschlossenen Lidern wahr. So musste es bei den Elfen sein, diesen arroganten Salatfressern, die glaubten, ihre Wahrträume entstünden durch ihre vegetarische Ernährung. Feen aßen nun einmal Fleisch. Und konnten sich offenbar auch im Schlaf über die Elfen aufregen. Das war wohl genetisch bedingt.