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Yukimi Kawaki und Lilya Evergreen geraten nach vielen unerklärlichen Ereignissen in einen schrecklichen Unfall. Sie erwachen in einer Welt, in der sie permanent von ihren schlimmsten begangenen Taten begleitet werden. Diese sind immer zu spüren und werden abhängig davon gemacht, wie man gelebt hat und wie gut geschlossen die Tür ist, welche die Monster der Vergangenheit hinter dem Türrahmen zurückhält. Sitzt gezwungenermaßen immer ein Feind oder doch gelegentlich auch ein Freund hinter ihr? Zeit ist nicht länger existent. Regen kann sich anfühlen wie eine erholsame Massage, aber auch wie Feuer, welches die Haut schmerzvoll verbrennt. Kawaki und Lilya lernen sich selbst auf eine neue Weise kennen. Finden sie den passenden Schlüssel, der ihnen den Weg zurück ins Leben ermöglicht?
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-546-1
ISBN e-book: 978-3-99146-547-8
Lektorat: BA
Umschlagabbildungen: Elena Schweitzer, Naiauss, Altitudevs | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Kapitel 1
Wer ich bin?
1.1
„… Wenn ich diese Tür nicht geöffnet hätte …“
„Wo ich bleibe? Was kann ich dafür, wenn die Zeit für das Meeting so überzogen wird?“, klagt ein Mann, während er die riesige verglaste Eingangstür eines übergroßen Gebäudes öffnet. „Ich sehe dich nicht!“, beendet er seine Klage mit suchender Mine. „Ich stehe um dieselbe Zeit und genauso gelangweilt hier herum wie sonst auch“, schnarcht eine Frau mit braunen Haaren und einer überragenden Brille auf der Nase auf der anderen Seite der Leitung. „Sprich bitte nicht so einen Müll! Ich habe üble Kopfschmerzen. Ach ja, und solltest du nicht eigentlich wissen, dass man nicht so mit dem Mann sprechen sollte, der einen finanziert?“, entgegnet er der Frau stumpf. „Ich weiß ja … du bist empfindlich gegenüber Lautstärke, aber Kopfweh hast du normalerweise nie“, macht sich die Frau direkt Sorgen und blendet seine nachgeschobene Anmerkung aus. Daraufhin entdeckt der Mann sogleich die winkende, ausgestreckte Hand auf der anderen Straßenseite. Diese steigt gerade aus dem Auto aus. „PASS AUF! WEICH AUS!“, ruft der erschrockene Mann ins Telefon. Fast wurde seine Gesprächspartnerin von einem, wie aus dem nichts aufgetauchten, zu schnellen Autofahrer über den Haufen gefahren. „Ohne mich wärst du verloren. Das ist klar“, legt der Mann voll Heldenmut auf. Nachdem die Frau dem Tod um ein Auge entkam und ihr Chef mit Herzrasen zügig auf sie zueilt, gähnt sie kalt, als sei nichts passiert: „Wird ja auch mal Zeit, steig schnell ein.“ Sie öffnet ihm die Autotür und rennt danach schnell, aber vorsichtig, auf die andere Seite der teuren Limousine. „Gehts etwas schneller???“, mault er die Frau harsch an. „Ist der Held aus dir schon wieder verschwunden? Ich mach ja schon. Man, wieso muss ich immer so viel Stress aushalten. Wieso bin ich freiwillig zu deiner Managerin geworden?“ „Wie gesagt, weil du ohne mich … aufgeschmissen wärst.“ Der Mann springt förmlich in das lange Fahrzeug ein, seine Managerin tut es ihm gleich.
„Wir haben nur noch 15 Minuten. Bitte wählen Sie die schnellstmögliche Route“, krächzt er in Eile. Der Chauffeur, der vorne im Auto sitzt, streckt schlaff seine Arme aus: „Alles klar, Mr. Kawaki.“ Jedoch hört er ihm nur auf einem Ohr zu, denn was im Radio läuft, ist viel interessanter.
„Und jetzt die News für Donnerstag, den2. November 2022“,erklingt das Radio.
„Oh, und …“, fällt Mr. Kawaki ein, nachdem er die Stimme des Nachrichtensprechers vernimmt, „bitte schalten Sie das Radio aus, ich habe jetzt absolut keine Nerven für schlechte Nachrichten, geschweige denn gute oder für die viel zu oft gespielten Lieder im Radio“, befiehlt er seinem Chauffeur inständig. „Alles klar, Mr. Kawaki!“, antwortet dieser traurig, denn gleich würde sein Lieblingslied im Radio laufen. „Und bist du bereit? Heute wird sich zeigen, ob sich deine Mühen gelohnt haben“, erkundigt sich die Managerin mit ihrer sehr hohen Stimme, woraufhin der im Anzug gekleidete Mr. Kawaki sie plötzlich mit noch gestressteren Augen ansieht. Kawaki ignoriert diese Worte. Heute macht er anscheinend noch dichter als sonst. Deshalb kommt die Managerin zu dem Entschluss, ihm heute, ausnahmsweise, nicht seinen vollgepackten Terminkalender vorzutragen. Erstens wollte sie nicht wieder eine Diskussion über ihre Stimme auslösen und zweitens wusste sie, dass Kawaki heute mehr als nur aufgeregt ist. Auch wenn er seine Gefühle, wie eigentlich immer, alles andere als zeigen möchte. Gedanklich war er nicht in einer fahrenden Limo. Gedanklich führt er eben keine Konversation mit einer für ihn zu engagierten Person, was er generell am liebsten immer vermeiden würde. Was natürlich nicht daran liegt, dass er seine Managerin oder seinen Chauffeur nicht leiden könne. Zumindest nicht ausschließlich. Der Chauffeur geht ihm schon etwas auf die Nerven, da er ihm nie widerspricht und immer genau macht, was er soll. Seine Managerin liest ihm immer wieder aufs Neue seine langweiligen Termine vor, was ihm so dermaßen auf den Sack geht, ihr könnt es nicht glauben. Es ist wie ein Lied, welches man eigentlich gerne hört.
Hört man es allerdings jeden Tag, beginnt es, einem irgendwann aus dem Hals rauszuhängen. Es nervt ihn so sehr, dass immer das Gleiche drinnen steht. Er kann schon fast seinen kompletten Terminkalender im Schlaf aufsagen.
Genau deshalb ist er der Managerin dankbar, dass sie genau dieses morgendliche Ritual heute ausfallen lässt. Denn heute passiert etwas, was sonst nie passiert. Sein Terminkalender hat heute, am 2. November 2022, nämlich andere Pläne für ihn vorgesehen. Heute soll Kawaki einen fetten Job an Land ziehen. Er hat einen sehr wichtigen, in bereits elf Minuten beginnenden Vortrag, über die Struktur eines geplanten Einkaufszentrums. Kawaki ist mittlerweile schon seit ein paar Jahren als Architekt, in der vom Markt angeführten ingenyours Company, berufstätig. Er soll heute seinen ausgearbeiteten Plan über die innen Umstrukturierung eines Forschungsinstitutes, welches schon seit einiger Zeit nicht mehr in Betrieb ist, vorlegen. Jenes Gebäude wurde vor ein paar Jahren an eine Baufirma verkauft und nun soll es zu einem Einkaufszentrum umfunktioniert werden. Noch trägt dieses Gebilde den Namen REwind. Wir werden sehen, ob es auch bei diesem Namen bleiben wird. Kawaki muss es in seiner Präsentation schaffen, sich so gut wie möglich zu verkaufen. Wenn er diesen Auftrag bekommt, könnte dies zu seiner lang ersehnten Anerkennung in seiner Company führen, für welche er schon lange kämpft. Er bekommt immer nur die kleineren Aufträge, aber dieser Auftrag könnte für ihn ein Sprungbrett ins richtige Becken bedeuten.
Dementsprechend kamen auch die Nervosität und die Angst vorm Versagen, die bei Kawaki eher eine Seltenheit sind. Nachdem die Managerin (deren echter Name übrigens Carol lautet) seine kalten Füße bemerkt, gibt sie sich die Aufgabe, Kawaki etwas aufzuheitern und aufzulockern. „Hier sind sie!“, quietscht Carol freudig und legt ihm etwas auf seinen Schoß. Mit starrem Blick aus der Autoscheibe und seiner im Gegensatz zu Carol relativ eindösenden Stimme kommt nur ein schlaffes: „Wer ist da?“, aus ihm heraus. Anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben, stupste sie ihn an und deutet auf seinen Schoß. Ihr fragt euch bestimmt, was es wohl sein kann. Möglicherweise etwas zum Abbau von Stress oder sind es vielleicht Tabletten gegen Kawakis Kopfschmerzen (die im Übrigen schon völlig vergessen wurden)?
Fast richtig geraten. Es sind und jetzt haltet euch fest … BRIEFE. Morgens entnimmt Carol, pünktlich um halb sieben, vor Kawakis Haus seine Briefe aus dem Briefkasten. Zwischen seinen Meetings liest er, falls er nach der Tagesplanung noch Kraft dafür hat, diese Briefe häufig. Normalerweise würde er sie nicht vor so einem wichtigen Ereignis öffnen, aber um mental etwas runterzukommen, entscheidet er sich dazu, das Lesen der Briefe heute nicht ausfallen zu lassen. Meistens sind es nur Stromrechnungen oder irgendwelche Werbungen. Doch es kann ja nicht schaden nachzusehen. Der erste Blick auf die Briefe ladet direkt Tonnen von Gefühlen auf seinen, bereits mit Anfang zwanzig, belasteten Rücken. Das Erste, was er erblickt, ist ein Verlängerungsvertrag auf seine befristete Stelle in der Company. Carol sieht zu ihm und kann sich den Lacher nicht verkneifen: „Auf die nächsten fünf beschissenen Jahre!!!“ Kawaki ist nicht zu Lachen zumute. Vor ein paar Wochen wäre er fast aus der Company ausgetreten, doch aus verschiedenen Gründen konnte er sich dies nicht leisten. Ein weiterer Brief kommt zu aller Überraschung ebenfalls aus seiner Firma. „Die haben mir noch nie einen Brief geschickt und jetzt gleich zwei auf einmal?“ Verwunderung macht sich in ihm breit. Dieser Brief stammt jedoch nicht von irgendwem. Er stammt höchstpersönlich von seinem Chef, der einzigen Person, von der er sich etwas sagen lässt. Sein Chef trägt den Namen Mr. Chabi. Er ist, um ehrlich zu sein, die schlimmste Art von Chef, die man sich vorstellen kann. Wie der zum Chef geworden ist, wäre für Außenstehende unerklärlich. Von der Arbeit versteht er zwar etwas, vom Umgang mit seinen Mitarbeitern leider rein gar nichts. Es gibt wirklich fast keinen aus der Firma, der sich traut, länger als drei Sekunden in seine braunen Augen zu schauen. Auch wenn Augenkontakt mit ihm herzustellen, allein schon an sich eine unmögliche Aufgabe ist. Mr. Chabi ist zu KEINER Zeit des Tages erreichbar. Früher war es anders und Kawaki und er haben viel miteinander durchgestanden. Schade allerdings das dies meist nur im negativen Kontext verlief. Kawaki ist gespannt und ängstlich was ER von IHM, in Briefform, erhalten könnte. „Bestimmt hats etwas mit Geld zu tun“, überlegt er laut. „Oder vielleicht auch mit dem Job, den du gleich absahnen wirst“, vermutet Carol. Doch bevor er genauer nachsehen kann, was er ihm nun zu sagen hat, kommt das Fahrzeug zum Stillstand. Er blickt somit vom spannendsten Brief aller Zeiten auf. „Was ist denn jetzt?“, macht er seinen Chauffeur zickig an und sieht zur selben Zeit, dass jede Menge Fahrzeuge vor ihm ebenfalls zum Stillstand kommen. „Ich glaub, hier ist eine Baustelle, Sir“, klärt der Chauffeur ihn auf. „Eine Baustelle?? Sowas musst du doch wissen!!! Seit wann ist hier eine Baustelle?“, brodelt es immer mehr in ihm. Carol ist von diesen Umständen auch nicht gerade begeistert und ein Blick auf die Uhr, die sie vor Kawaki verdeckt, macht es auch nicht gerade besser. Ihre Verzweiflung muss groß sein, denn es rutscht ihr etwas Unpassendes über die Lippen, was sie sonst niemals mit einem so respektlosen Unterton ausdrücken würde. Sie spricht die provozierenden Worte: „Genau deshalb hört man Radio beim Autofahren, da wird man vor solchen Baustellen gewarnt.” Kawaki, dessen nächste Anstrengung es war, Carol nicht den Hals umzudrehen, stellte sich panisch die Frage: „Toll und was jetzt? Wie soll ich es denn jetzt noch schaffen? Ich darf einfach nicht zu spät erscheinen. Ich vermiese gleich den guten und wichtigen ersten Eindruck.“ Für Kawaki ist „zu spät kommen“ keinesfalls unhöflich. Es ist seiner Meinung nach schlichtweg unprofessionell. Nach ein paar Sekunden Bedenkzeit stopft er die ganzen Briefe in seine Aktentasche, öffnet hektisch die Autotür und springt doppelt so schnell aus dem Auto, wie er eingestiegen ist, wieder heraus. Alles ohne auch nur ein Wort zu verlieren. „Was wird das, wenn’s fertig ist?”, hinterfragt Carol. „Wie, was wird das? Ich laufe zur Baufirma! Das ist meine einzige Chance, noch einigermaßen rechtzeitig anzukommen!“ Carol erwidert daraufhin nichts. Sie zieht bloß ein überraschtes Gesicht und denkt sich heimlich: „Laufen …, du …? Dass ich nicht lache.“ „Mr. Kawaki, wissen Sie denn überhaupt, wo es lang geht?“, möchte der Chauffeur sicherstellen, dass Kawaki sich nicht verläuft. Er deutet auf ein Schild, welches neben einer der aufgestellten Baustellenampeln steht. Es zeigt den hoffentlich schnellsten Weg zur Baufirma an. „Also dann, bis später“, schreit er (noch motiviert von seinem Vorhaben), bevor die Autotür zum Donnerschlag wurde. In Windeseile spaziert er auf und davon. Was er nicht wusste, war: Der Stau legte sich schnell wieder, da die Ampel, kurze Zeit nachdem er abzischte, wieder Grün anzeigte. Davon bekommt Kawaki, zu Carols Glück, nichts mehr mit. Er rennt, so schnell er kann, den Ausschilderungen nach. Dabei gibt er wirklich sein Bestes die Menschen, welche seinen Weg kreuzen, nicht zu überrennen.
Was sich nicht gerade als einfach herausstellt. Er schlängelt sich durch eine Gruppe von Senioren, weicht unzählig vielen Kinderwägen aus, bei denen ihm immer der Gedanke in den Kopf springt: „Wer hat heutzutage noch die Zeit, Bock und vor allem den Nerv für Kinder?“ An den Cliquen der heutigen „coolen“ Teenager (von denen er eine Ladung Rauch ins Gesicht kriegt, was seiner Unsportlichkeit nicht gerade zum besseren verhilft) kann er auch nicht vorbei. Alle diese Menschen interessieren ihn als Architekt nicht halb so viel wie die verschiedenen Gebäude, die an ihm vorbeiziehen. Er zieht sogar an Gebäuden vorbei, bei denen er an der Konstruktion mitbeteiligt war. Eines davon ist ein China Restaurant. Dieses Restaurant blieb ihm, als einer seiner schwersten Aufträge, im Gedächtnis. Nicht etwa, weil es von der Konstruktion oder dem Zeichnen her kompliziert war. Nein. Wenn er danach gehen würde, wäre es sogar einer seiner leichtesten Aufträge gewesen. Es lag an den Kunden. Diese wurden immer anspruchsvoller und konnten nie zufriedengestellt werden. Doch leider ist im Grunde der Kunde immer der König. Ein paar Häuser weiter kommt ein weiteres Gebäude, bei dem er viel mitgeholfen hatte. Er wird fassungslos. Er glaubt, seine Augen spielen ihm einen Streich: „Die haben daraus jetzt einen Bücherladen gemacht? Ernsthaft?“ Sein entsetztes Gesicht lässt sich nicht verstecken: „Warum ausgerechnet dieses schöne Gebäude? Und nicht einmal informiert werde ich“, traurig wendet er seine Augen von der Enttäuschung ab. Es war sein erster richtiger Auftrag als Architekt.
„AUA! Passen Sie doch auf, wo sie hinlaufen.“ Beschwert sich der Boden? Kawaki erschrickt fast zu Tode und schaut hinab. Er stieß mit einer Frau zusammen, aus deren kaputter Tasche ihr kompletter Inhalt herausfiel. Was zu ihrem Aufatmen nur wenige Gegenstände sind. Kawaki ist gerade nicht wirklich zum Aufatmen zumute, sondern eher zum Ausatmen (wie ein 82-jähriger Opa). Seine Tasche fiel bei dem Zusammenprall ebenfalls auf den Boden und er kann sie leider nicht aufheben (wegen seiner Rückenschmerzen). Da er die Frau von Anfang an wegen ihrer Tasche nicht für voll nimmt, besitzt er doch tatsächlich die Dreistigkeit sie anzuweisen: „Geben Sie mir meine Tasche!“
„Sagen Sie mal …, gehts noch? Wie können Sie es wagen, mich umzustoßen, sich dafür nicht einmal zu entschuldigen und mir dann auch noch Befehle zu erteilen? So eine …“ Man kann sie (zurecht) gar nicht mehr bremsen. Er ignorierte sie einfach, so gut wie es ihm, bei ihren beleidigenden Worten, möglich ist. Die Frau erträgt sein ignorantes Gesicht langsam nicht mehr: „Gut, ich gebe Ihnen die Tasche, wenn SIE mich darum B-I-TT-E-N.“ „Sie haben recht. Entschuldigen Sie mein unangemessenes Verhalten. Natürlich werde ich Ihnen zuallererst hoch helfen, bevor irgendwas anderes passiert.“ Er hält seine Hand, als wolle er ihr den Frieden anbieten, vor sie. Die Frau möchte ans Gute im Menschen glauben, weswegen sie ohne zu zögern nach der „helfenden“ Hand greift. Kawaki nimmt sie, richtet die Frau bis zur Hälfte wieder auf, kommt mit seinem Gesicht ihrem gefährlich näher und flüstert: „Muss wohl Ihr Pechtag sein. Erst fallen Sie zu Boden, dann Ihre Tasche …“ Kawaki lässt die arme, verwirrte Frau wieder auf den Boden plumpsen … „Und schwups gehts wieder von vorne los.“ Gebeugt hebt er seine Aktentasche selber auf, erweist der Frau seinen letzten Respekt: „Passen Sie nächstes Mal besser auf sich auf“, und schlendert einfach so weiter, als wäre nichts gewesen. Diese Demütigung, dieses Verhalten von diesem Mann, kann die Frau im ersten Moment erst nicht so richtig fassen. Sie legt erst impulsiv los, als Kawaki schon meterweit entfernt ist: „HEY! Was soll der Mist! Sie sind der schlimmste Mensch, der mir je begegnet ist!!!! So eine FRECHHEIT.“ Wenn Blicke töten könnten … Man kann es ihren zornerfüllten, grünen Augen nicht übelnehmen. Kawaki geht auch nach diesem Ausruf weiter, ohne zurückzusehen. Glaubt mir, das laute Organ dieser Frau kann man unmöglich überhören. Sogar die für Kawaki gruseligsten Tiere, die Tauben, schrecken auf der anderen Straßenseite auf. Ganz zu schweigen von den Menschen, von denen die meisten nicht davor zurückschrecken, ihr Getuschel offen preiszugeben. „Der hat sie bestimmt abserviert“, vermuten die meisten unter ihnen. Kawaki dreht sich, nachdem er wahrnimmt, wie einer diese Behauptung aufstellt, das erste und letzte Mal um. Er kommuniziert, ohne zu sprechen, deutlich: „Ich kenne diese Verrückte nicht.“ Wenn diese „Verrückte“ es gerade nicht selber eilig hätte, wäre sie nach diesem letzten Gesichtszug von Kawaki (welcher sie am meisten ankotzte) vor Zorn wahrscheinlich auf Kawaki losgegangen. Doch als ihre gesamte Aufregung über ihn (nicht nur in Gedanken) dem Ende naht, beginnt sie sich wieder um die wichtigen Fragen des Lebens zu sorgen. Sie lenkt sich von ihren „bösen“ Gedanken ab: „Habe ich vergessen, den Herd auszuschalten?“ Als sie auf diese Frage nach einigen Abläufen, wie sie in die Küche rein und raus ging, eine Antwort findet, kommt sie endlich dazu, ihre Sachen vom Boden aufzuheben. Diese Sachen bestehen, um ehrlich zu sein, bloß aus ihrem Geldbeutel (in dem kein Cent mehr zu finden ist). Aus diesem verranzten Beutel fallen noch Bilder ihrer Geschwister, ein längst abgelaufener Essensgutschein für ihr Lieblings-China-Restaurant und mit diesem auch die Frage: „Wie konnte ich es nur wagen? Wie konnte ich es wagen, diesen Schatz nicht zu verwenden?“ heraus. Als Letztes hebt sie noch ihren Personalausweis auf. Dieser zierte den Namen „Lilya Evergreen.“ Da sie nun alles aus ihrem Geldbeutel stammende aufhob (Warum hatte sie eigentlich die Tasche dabei?), macht sie sich nochmal flüchtig ein paar Gedanken zu diesem Mann gerade. Ihn zu verdrängen war doch nicht so einfach, wie sie glaubt. „Wenn ich den jemals wiedersehen sollte, reiß ich ihm den Kopf ab.“
Sie hofft, ihre Gedanken nie wieder an so jemanden wie ihn und vor allem nicht mehr an den nicht gültigen Chinarestaurantgutschein zu verschwenden. Nach der ganzen Aufregung und den letzten Idioten, die sich über diese Situation gerade lustig machen, hat sie endlich vor, ihren Weg fortzusetzen. Der soll in das rosa angestrichene Gebäude, auf der Straßenseite der Tauben, führen. Als allerdings der erste Schritt getan ist, fällt ihr etwas auf, was auf dem Boden liegt: „Ein Brief? Der kann nicht von mir sein“, ist ihr auf der Stelle klar. Damit liegt Sie richtig. „Dann kann er ja nur von DEM sein …“ Sie lächelt vor Schadenfreude und spricht das einzige Wort, das dieser Situation gerecht wird, aus: „Karma.“ Nach unten gebückt nimmt sie den Brief in ihre Hand. Ihr erster Blick wandert natürlich zum Empfänger des Briefes oder besser gesagt dem Übeltäter, welcher das Wort „Entschuldigung“ nicht kennt. „Yukimi Kawaki.“ Nachdem Lilya diesen Namen liest, ist sie unerklärlicherweise etwas weniger sauer. „Dieser Name … der kommt mir sehr bekannt vor … Yukimi? Hmm“, grübelt und grübelt sie, doch stößt auf keinen Nenner, „als ob ich den kenne. Als ob ich jemanden kenne, der so drauf ist wie der.“ Danach wandern ihre Augen sofort zu Kawakis Adresse, woraufhin ihr gleich der unvermeidbare Gedanke in den Kopf schießt: „Der wird sich noch umgucken.“ Von seinem getragenen Anzug entnimmt sie, dass er wohl ein Mensch mit sehr viel Geld sein muss. Sie fängt schon damit an, Pläne zu schmieden, wie sie sein sehr teures Auto mit Eiern bewerfen oder sein Haus in Klopapier einwickeln könnte. Wie sehr dieser Gedanke sie auch zufriedenstellt, muss er zu dem Gedanken umgewandelt werden: „Wenn ich mich jetzt nicht beeile, komme ich noch zu spät. Das wäre unhöflich und würde den guten ersten Eindruck zerstören.“ Weil Lilya ebendas vermeiden möchte, steckt sie den Brief in ihre Hosentasche (ihre Handtasche ist nicht mehr zu gebrauchen). Darauffolgend sprintet sie zügig in das Gebäude, welches zufälligerweise genau gegenüber ihres Lieblingsbücherladens liegt. Es ist ein altrosafarbig angestrichenes Bauwerk, welches bestimmt um die fünf Stöcke vorweisen kann. Sie schwebt die steile Treppe zu Stock 3 förmlich hinauf, geht den langen Gang entlang und vor dem Büro einer gewissen Frau Vorenz begibt sie sich zum Stillstand. Lilya strotzt nur so vor Aufregung und Furcht. Furcht vor dem, was in den nächsten Minuten alles passieren könnte. Denn die Frau in diesem Büro muss sie von sich überzeugen. Sie wird hoffentlich zu ihrer neuen Arbeitgeberin. Lilya hat sich für eine Stelle in einem Forschungsinstitut beworben. Frau Vorenz ist die Leiterin dieses Institutes. Trotz unvollständiger
Bewerbungsmappe, muss man anrechnungsvoll sagen, lud sie Lilya zu einem Bewerbungsgespräch ein. Bevor Lilya jedoch den Mut findet, anzuklopfen, kontrolliert sie noch, ob sie ihr Handy auf „stumm“ gestellt hatte. Das Szenario, wie es während des Gespräches klingelt, bereitete ihr vergangene Nacht Albträume. Sie zieht ihr Handy aus der linken Hosentasche. Zu ihrem Schreck ist es nicht ihr Handy, das sie nun vor sich hat, sondern der Brief von Kawaki.
„Verloren? Verloren? … Ver …“, befürchtet sie, „dann kann es wenigstens nicht klingeln …“ Es vibriert in ihrer rechten Hosentasche. „Gott sei Dank.“ Dieses Handy gewann Lily bei einem Basketballspiel auf dem vor Jahren das letzte Mal hier stattgefundenen Frühlingsfest.
Wäre Sie nicht so gut im Körbewerfen, würde sie sicher bis heute kein Handy besitzen. Auf dem Sperrbildschirm ploppt gerade eine neue Nachricht auf:
„Ich weiß … dein Bewerbungsgespräch geht gleich los. Ich wollte dir nur nochmal viel Erfolg wünschen. Sei nicht zu aufgeregt, das hast du nämlich überhaupt nicht nötig.“
Lilya ist mehr als froh über diese lieben Worte. Doch das Ende der Nachricht soll sich das ganz schnell ändern:
„Außerdem machst du immer so ein komisches Gesicht und redest so viel, wenn du dich aufregst oder aufgeregt bist. Also beruhig dich. Du willst sie ja nicht gleich vergraulen.“
Zuerst wird sie etwas sauer und fragt sich: „Wie kann man so gut anfangen und es dann noch so sehr vermiesen? Die Liste der Personen, an denen ich mich rächen muss, wird ja nicht gerade kleiner. Von wem kommt diese Nachricht überhaupt?“ Wichtiger als diese Fragen war allerdings: „Ist die Nachricht ernst gemeint? Sieht mein Gesicht wirklich so hässlich aus?“ Ein paar selbstkritische Gedanken später bemerkt Lilya, wie ihre Nervosität durch die Nachricht deutlich sinkt. Zumindest bis sich schließlich die alte weiße Tür von Frau Vorenz‘ Büro, öffnet. Aus ihr trat ein etwas älterer, pummliger und sehr böse dreinschauender Herr hindurch.
„Das hättest du mir auch VORHER ERZÄHLEN KÖNNEN!!! Jetzt bin ich für den Dreck hergefahren… Du solltest mir wenigstens meine Spritkosten bezahlen. Das Geld wächst leider nicht auf Bäumen.“ Dieser zornige Mann brüllt nicht nur ins Büro hinein, vor allem landet sein Gebrüll in Lilyas Ohr, welches versteckt hinter der Tür rausragte „Man öffnet diese Tür nach außen?“, kreisen schmerzende Sternchen über ihrem Kopf. „Immer nur rummeckern! Du gehst mir echt auf den Zeiger“, dringt eine mürrische Stimme aus dem Büro. „Für so einen Mist bin ich echt nicht zu haben“, wird die Konversation von der zugeschlagenen Türe beendet. Sie wird übrigens mit einer solchen Wucht zugeschlagen, dass sie sich von selbst wieder aufschlägt. Frau Vorenz, die sich aus ihrer aggressiven Haltung zurück in ihren Stuhl fallen lässt, bemerkt Lilya trotz ihres kleinen „Aua“ nicht. Sie kaut sauer auf einem ihrer Kugelschreiber herum. Lilya klopft an der bereits offenstehenden Türe an. „Hallo, ich bin Lil-ya E-ve-rgr–een. Wir haben um diese Uhrzeit ein Bewerbungsgespräch“, spricht sie so höflich, wie es ihre blutende Nase erlaubt. Frau Vorenz springt bei dem Angeklopfe gleich wieder unruhig auf, da sie glaubt, der Mann von eben sei wieder
zurückgekommen. „Ah richtig!“, atmet sie erleichtert auf, „kommen Sie doch herein. Ich muss mich wirklich bei Ihnen entschuldigen, mussten sie das mitansehen? Oh je! Sie bluten. Bewegen Sie sich nicht, ich gebe Ihnen ein Taschentuch.“ Voller Schuldgefühle im Nacken zückt Frau Vorenz ein Taschentuch. „Alles gut. Ist halb so schlimm, wie es aussieht (OH DOCH). Sie können ja nichts dafür, wenn andere ihr Temperament nicht zügeln können. Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann der Herr von gerade. Mir ist heute auch sowas Ähnliches passiert. So ein unverschämter Mann hat mich umgestoßen und ha-“, abrupt beendet Lilya ihr viel zu schnelles Gerede. Sie entschließt sich dazu, den Satz nochmal von Neuem zu beginnen: „Ich bin sehr aufgeregt, wissen Sie. Ich blute immer aus der Nase, wenn ich so aufgeregt bin wie jetzt“, belächelt Lilya selbst ihre schlechte Erklärung, wie es angeblich zu dem Blut gekommen ist. Dabei überprüft sie ihren Gesichtsausdruck an der großen Fensterscheibe von Frau Vorenz (was nicht viel bringt, da das Taschentuch fast alles verdeckt). Sie wollte checken, ob die Nachricht (die mit dem hässlichen Gesicht) gerade ernst gemeint war (ja, musste sie schmerzlicherweise feststellen). „Habe ich mich schon vorgestellt? Wenn nicht, ich bin Frau Vorenz. Freut mich sehr“, schüttelt sie Lilyas auch mit Blut bekleckerte Hand, „Haben Sie wirklich Nasenbluten, wenn sie aufgeregt sind? Wenn dem so ist, kann sich das Blut verziehen. Sie müssen überhaupt nicht aufgeregt sein. Wir unterhalten uns nur ein bisschen über Sie und in ungefähr zehn Minuten ist das Gespräch sowieso wieder vorbei.“ Rücksichtsvoll und behutsam begleitet sie Lilya zu ihrem Schreibtisch. „Nehmen sie doch bitte Platz“, deutet Frau Vorenz mit ihrer Hand auf den leeren Stuhl. Lilya setzt sich hin und Frau Vorenz läuft noch etwas im Büro herum (Vielleicht um die letzte Aggressivität von sich abzuschütteln?). „Bevor wir anfangen, hätte ich gerne noch die restlichen von Ihnen versprochenen Bewerbungsunterlagen“, bittet Frau Vorenz. Lilya trifft gedanklich wahrlich die nächste Tür ins Gesicht. Jetzt weiß sie, warum sie sich die ganze Zeit schon so fühlt, als habe sie etwas Wichtiges vergessen. Doch gewiss weiß sie, dass sie jetzt schlecht sagen kann: „Die habe ich zu Hause vergessen.“ Das würde genauso rüberkommen wie früher, wenn man vor seinen Lehrern behauptet hat: „Mein Hund hat die Hausaufgaben gegessen.“ „Einen Moment bitte, ich hole sie kurz aus meiner Tasche.“