Zwischen den Zeiten leuchtet der Schnee - Wiete Lenk - E-Book

Zwischen den Zeiten leuchtet der Schnee E-Book

Wiete Lenk

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Beschreibung

Januar 1968: Es schneit ohne Unterlass, als Großvater Anselm stirbt. Für seine Enkeltochter war er der außergewöhnlichste Mensch auf der ganzen Welt. Das war er auch für seine Frau Hanna Jo. Diese beginnt der Achtjährigen zu erzählen: von skurrilen, heiteren und tragischen Momenten aus der Vergangenheit und Geschichten ihrer sächsisch-erzgebirgischen Fabrikantenfamilie. Und von ihrem Ehemann, Großvater Anselm. Es ist ein unvergesslicher Tag für die Enkeltochter, deren kindliche Trauer die Wirklichkeit zum Traum werden lässt …

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Wiete Lenk

Zwischen den Zeiten leuchtet der Schnee

Roman einer Familie

Impressum

Nicht alle Geschehnisse sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind dennoch rein zufällig.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Geolina163

CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Museum_sächsisch-böhmisches_Erzgebirge_Posamenten.jpg

ISBN 978-3-8392-7692-1

Widmung

Meinen Großeltern

Gedicht

Und immer sind da Spuren,

und immer ist einer da gewesen,

und immer ist einer noch höher geklettert,

als du es je gekonnt hast, noch viel höher.

Das darf dich nicht entmutigen.

Klettere, steige, steige.

Aber es gibt keine Spitze.

Und es gibt keinen Neuschnee.

Kurt Tucholsky

Großvater Anselms Tod

Ich war acht Jahre und einen Tag alt an jenem Januarmorgen 1968, als Großvater Anselm starb. Draußen schneite es. »Du musst dich nicht fürchten«, sagte Großmutter zu mir, nahm Großvaters Joppe und legte sie um mich. Ich fror trotzdem. Frierend stand ich neben dem Bett und sah zu, wie sich Großmutter über das reglose Antlitz beugte, um die Augen des Toten zu schließen. Ich hielt den Atem an. Großvater Anselm lag ruhig da.

»Hoch sollst du leben, Schnaps sollst du geben«, hatten wir zwei noch gestern gesungen. Das heißt, zuerst hatte nur Großvater das Lied mit dem Schnaps gesungen. Dann, nach dem »Dreimal Hoch«, war auch ich eingefallen. Wir hatten gesungen. So laut und rebellisch, dass Großmutter ihr Gesicht verzog und sich die Ohren zuhielt. Großvaters Bass war durch den Gesangsverein gut geschult gewesen.

»Wann werden sie kommen, Ohme?«

Großmutter, die ich meist liebevoll »Ohme« nannte, blickte nicht auf. Noch immer stand sie über den Toten gebeugt. Vor einer Stunde hatte sie telefoniert. Ich war zusammengezuckt, als sie von Großvater als einem Toten sprach. Mit ruhiger Stimme hatte sie Straße und Name genannt. »Der Leichenwagen zur Goethestraße, bei Krüger.« Es war keine Bitte, es war eine Meldung gewesen, die unvermeidlich schien.

»Es schneit«, antwortete Ohme unbestimmt. Ich presste die Stirn an die Fensterscheibe. Alles war weiß. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Auf der verschneiten Straße würde der Leichenwagen nur mühsam vorwärtskommen. Für alle Küstenregionen hatte der Radiosprecher schon gestern vor einer Katastrophe gewarnt. Jetzt hatte sie uns erreicht, über Nacht. Von hier bis zur Ostsee war es ein gutes Stück.

Die Kühle der Fensterscheibe legte sich auf meine Stirn. Seit heute Morgen schneite es also. Mantel und Hut des Notarztes, ein Mann mit wulstigen Tränensäcken und schwerem Atem, waren voll Schnee gewesen. Umständlich hatte er sich vor unserer Haustür abgeklopft. Ein Flockengestöber. Beim Gehen hatte er mir in flüchtigem Ton noch alles Gute gewünscht. Alles Gute? Sagte man das so, wenn jemand gestorben war? Oder hatte er mir nur im Nachhinein zum Geburtstag gratulieren wollen?

Mit einem Seufzer richtete sich Ohme auf. Die Lider des Toten waren endlich geschlossen. Großvater. Seine klugen, fröhlichen Augen, ihr schalkhaftes Blitzen, wenn er mit dröhnendem Bass einen Witz hervorgebracht oder eine jener erstaunlichen Begebenheiten zum Besten gegeben hatte, von der kein Mensch gewusst hatte, ob sie der Wahrheit entsprach oder nicht. Dass er so mir nichts, dir nichts gestorben war … Ich fühlte mich müde und schrecklich enttäuscht. Großvater Anselm hatte mich einfach im Stich gelassen.

Hinter meinem Rücken rumorte es. Ich drehte mich um. Großmutters Trauer war einer fieberhaften Geschäftigkeit gewichen. Geräuschvoll räumte sie ihre zahlreichen Pflanzenstöcke beiseite, um das Fenster zu öffnen. Ich war überrascht. In den Wintermonaten achteten meine Großeltern darauf, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Meist stopfte Ohme noch Decken und Filzstreifen zwischen die Doppelfenster. Großvaters Tod schien alles durcheinandergebracht zu haben. Ohme knöpfte sich ihre Jacke zu. Die Kälte des Januarmorgens strömte durchs Fenster. Ich wickelte mich fester in Großvaters Joppe und schluckte an meinen Tränen.

»Wir brauchen noch passende Sachen für ihn«, erklärte Großmutter, während sie eine Tür des großen, dreiseitigen Kleiderschanks öffnete. Unentschlossen schob sie die Bügel, auf denen die Anzüge hingen, hin und her. Großvater Anselms Anzüge: ein teurer schwarzer mit glänzendem Futter, ein blauer mit doppelreihigen Messingknöpfen, ein heller Zweiteiler aus Popeline. Ohme wählte den schwarzen Anzug, zog ein Hemd aus dem Sonntagsstapel und suchte die Ärmelhalter heraus. Als sie den neuen Seidenschlips auf das Sonntagshemd legte, zupfte ich an ihrem Rock.

»Ohme, ich glaube …«

Fragend sah sie mich an. Ich hielt ihr die Joppe hin.

»Die hätte er lieber genommen. Und seine Hosenträger.«

»Du Ugelick!« Großmutter schloss die Schranktür und wandte sich um. »Glaub mir. Krawatte und Anzug sind durchaus angemessen.«

Ich senkte den Kopf. Du Ugelick, hatte Ohme gesagt. Das sagte sie stets, wenn sie aufgeregt oder verärgert war. Ugelick, was so viel wie Unglück bedeutete.

»Erzgebirgisch«, hatte mir Großvater Anselm einmal erklärt und augenzwinkernd hinzugefügt: »Das ist eine ganz besondere Sprache. Mordsmäßig schwer.«

Meine Unwissenheit, was die Kleiderwahl eines Verstorbenen anging, schien Großmutter zu missfallen. Sie rieb sich in einem fort ihre Handgelenke und schwieg. Gekränkt zog ich mich in Großvaters Joppe zurück. In der Seitentasche steckten noch seine Brille und ein zusammengefaltetes Taschentuch. Das Taschentuch roch nach Tabak und Teer. Ich nahm es und begann, die Brille zu putzen. Blank geputzt legte ich sie auf das Hemd.

»Hol mir ein Handtuch«, bat Ohme.

Ich rannte ins Bad. Außer Atem kam ich zurück. »Ich hab das gute genommen!«

Ich hielt ihr ein hellgrünes Frotteetuch hin, eins, das mit blauen Rosen und roten Drachen bedruckt war; ein chinesisches. Ich hoffte, sie würde meine Wahl loben, und sah sie erwartungsvoll an. Doch Ohme bemerkte mich nicht. Ihre Schultern zuckten, während sie sich an eine der hölzernen Bettkugeln des Ehebetts klammerte. Es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah. »Gevatter Tod hat ihn mitgenommen«, flüsterte sie.

Gevatter Tod. Bisweilen hatte ich Ohme und Ohpa von ihm erzählen hören. Das taten sie stets mit respektvollem Ernst. Gleichzeitig konnte man in ihren Worten eine gewisse bange Vertrautheit spüren. Ganz so, als wäre von einem fernen Verwandten die Rede. Einem, der launisch und listig war, dem man nicht trauen konnte. »Ein geriss’ner Gesell, der Gevatter. Man weiß nie genau, was er vorhat«, hatte Großvater Anselm gesagt und sich lang und vernehmlich geschnäuzt.

»Habt ihr ihn schon mal gesehen?«

Nur Ohme hatte genickt. Sie hatte mir von ihrer Schulkameradin erzählt, die zehnjährig an einer Krankheit, die Halsbräune hieß, gestorben war. »Die Halsbräune hat dem Gevatterchen viele Kinder beschert. Und später, da haben der Krieg und die Spanische Seuche ihm noch viel mehr eingebracht. Nein, keinesfalls nur die Kinder. Auch Frauen und Männer. So viele Menschen, alte und junge. Mir kam es vor wie ein Abzählreim. Der Tod hat seine Opfer abgezählt: Der ja, der nein. Und dann … im Handumdrehen der nächste Krieg …«

Ich schluckte. Gevatter Tod. Er hatte seinen Knochenfinger ausgestreckt. Der ja. Und Großvater Anselm mitgenommen.

Ich selbst war dem Gevatter noch nie begegnet. Nur dann und wann, wenn ich mit Ohme und Großvater auf den Friedhof in Ohmes Heimatort gefahren war, schien mir seine Gegenwart nahe.

Ich erinnerte mich. Es hatte geknirscht, wenn wir zu dritt über die Kieswege gelaufen waren. Großmutters kurzer, energischer Schritt, Großvaters schwerer. Meist rauchte er eine Zigarre dabei. Ich rauchte ebenfalls. Meine Zigarre bestand aus einem Tannenzapfen. Das war Großvaters Einfall gewesen. Tannenzapfen gab es hier im Gebirge zuhauf. Großmutter fand das nicht schicklich. Beides. Dass Großvater rauchte und ich solch einen Unfug machte. Der heimische Friedhof schien Ohme in eine andere zu verwandeln. Leichtfüßig, wie ein junges Mädchen, eilte Ohme von Grab zu Grab; ein lang ersehnter Familienbesuch. Ich eilte ihr hinterher. »Tante Cäcilie«, sagte Ohme, während sie einen hohen, hellen Marmorstein beklopfte, dessen Inschrift nur mit zusammengekniffenen Augen und großer Mühe zu lesen war. »Sie hat sich den Hals gebrochen.« Am nächsten Grab verharrte Ohme nur kurz. »Mein Bruder Max!« Mehr sagte sie nicht. Rasch eilte sie weiter. »Wilhelm, sein Sohn.« Großmutter tastete nach ihrem Scheitel. »Er ist gefallen …«

»Gefallen? Hat er sich auch seinen Hals gebrochen?«

»Abgestürzt, mit seinem Flugzeug abgestürzt.«

»Warum?«

»Wilhelm war Flieger. Im Krieg. Stalingrad.« Jedes Wort war wie ein langer Satz.

»Warum?«

»Ach, Kind«, sagte Großmutter und zog mich zum letzten Grab. »Deine Urgroßeltern.« Sie faltete ihre Hände.

Großvater Anselm, der Ohmes Treiben bis dahin mit einem hörbaren Knurren verfolgt hatte, stand stumm daneben. Er betete nie. »Schluss, Punkt und gut«, sagte er und beendete den Familienbesuch, indem er seine Zigarre vor Wilhelms verwitterter, moosbedeckter Grabtafel austrat.

»Anselm!« Ungewohnt heftig harkte Ohme die vielen kleinen Kienzapfen zusammen, die auf der schweren, schwarz glänzenden Marmorplatte ihrer Eltern lagen.

Ich nahm einen tiefen Zigarrenzug. Verschwörerisch zwinkerte Großvater Anselm mir zu. Ohme stammte aus einer gottesfürchtigen Familie. Großvater nicht. »Ich bin ein Heide. Einer, der links denkt und links schreibt.« Großvater wedelte mit seinem rechten Mantelärmel. Der Mantelärmel war leer. Großvaters rechte Hand fehlte.

»Ohme?« Noch immer hielt ich das Handtuch in meiner Hand. Großmutter wischte sich übers Gesicht. »Er würde nicht wollen, dass wir …«

Sie nahm es mir ab. Vergeblich versuchte sie, Großvaters Kinn hochzubinden. »Störrisch wie immer«, grollte sie. Ich dachte an Großvaters Schluss, Punkt und gut. Schluss und Punkt leuchteten mir ein. Doch das gut?Ich fröstelte. Alles Gute.Heute hatte das auch der Arzt gesagt. Was war daran gut, wenn jemand starb?

»Können wir das Fenster wieder zumachen, Ohme?«

Ohme kam meiner Bitte nur zögernd nach. Es war jetzt sehr still im Zimmer. Nur Großvaters Wecker war zu hören. Gleichmäßig zerhackte sein Ticken die Stille.

»Der Wecker«, rief Ohme und schüttelte ihn, doch das Ticken verstummte nicht. Ohme stopfte ihn unter das Federbett.

Ich legte den Kopf auf die Decke und lauschte. Großvaters Herz tickt. Auf seinem Nachttisch stand ein Wasserglas. Im Wasser schwamm eine hellrosa Qualle mit weißem Zackenrand. Sie schien zu schaukeln.

»Seine Zähne«, stammelte ich.

Großmutter fasste mich an den Schultern. Rasch zog sie mich aus dem Raum. »Du musst etwas essen.«

Ich folgte ihr in die Küche und beobachtete, wie sie das Brot aufschnitt. Sie drückte den Brotlaib fest an die Brust, während sie Scheibe um Scheibe abschnitt. Dann nahm sie den Milchtopf. Prüfend legte sie ihre ausgebreitete Hand auf die Herdplatte. Das tat sie immer. Die Milch war noch heiß. Ich würgte an meinem Butterbrot und starrte auf die dampfende weiße Flüssigkeit in der Tasse. Großvaters Tasse. Es war eine ganz außergewöhnliche Tasse, bemalt mit Käfern, mit Raupen und Schmetterlingen. Einmal wäre sie mir fast aus der Hand gefallen, so echt sahen die Käfer und Raupen aus. Großvater hatte sie seine»Mistkäfertasse« genannt.

»Das ist Ohpas Tasse.«

»Ach, Kind.« In Ohmes Augen glitzerte es. Ich biss mir auf die Lippen. Ich wollte nicht, dass sie wieder zu weinen begann.

»Carolina Michaela Johanna«, sagte ich und stach mit dem Löffel ein Loch in die Milchhaut.

Großmutter setzte ihre Tasse ab. Angestrengt runzelte sie die Stirn. »Vergessen«, stellte sie bekümmert fest, während ihre Blicke über den Frühstückstisch irrten. »Ich habe die Namen vergessen.« Sie seufzte. »Zucker und Marmelade auch.«

Großmutter. Sie besaß einen Sohn, drei Vornamen, drei Schwestern, zwei Brüder und trotz ihres Alters kein einziges weißes Haar auf dem Kopf. Zumindest hatte ich noch keines entdeckt. Großmutters Geschwister hatten ebenfalls mehrere Namen. In einer gottesfürchtigen Familie, die mit der Herstellung von Posamenten zu Wohlstand gelangt war, schienen drei wohltönende Namen das Allermindeste zu sein.

»Die vielen Namen, mein Kind. Da kann man sich leicht verheddern.«

»Weißt du sie noch, Ohme?«, hatte ich sie gefragt, als Großmutter davon sprach, dass die vier Schwestern ihren Puppen dieselben Namen gegeben hatten. Welch eine Frage.

Ohme hatte sich aufgesetzt. Sie hatte vier Haarnadeln aus ihrem Haarkranz gezogen und auf den Tisch gelegt. Andächtig hatte sie auf die erste getippt. »Ida Amalia Magdalena.«

»Magdalena«, wiederholte ich. So hieß die älteste Schwester.

»Carolina Michaela Johanna.«

Ich sprang auf. Das war Ohmes Name.

»Emilia Friederike Charlotte.« Die mittlere Schwester.

»Jetzt ich«, rief ich. »Bitte, jetzt ich!«

Großmutter rückte die letzte Haarnadel zurecht. Kerzengerade stand ich da und sagte die Namen der jüngsten Schwester auf. »Maria Ricarda Martha.«

»Sehr gut.« Zufrieden hatte sich Ohme erhoben. Sie hatte die Nadeln wieder ins Haar gesteckt und ihren Scheitel betastet.

Zwölf Mädchennamen. Ich liebte es, sie aufzusagen. Im Laufe der Zeit hatte sich daraus eine nahezu feierliche Zeremonie entwickelt. Abwechselnd riefen Ohme und ich die Namen der Schwestern aus. Unsere Stimmen verwoben sich dabei zu einem tönenden Singsang. Es hörte sich wie ein Zauberspruch an, ein uraltes Ritual.

Großmutter suchte im Küchenschrank nach der Zuckerdose. In ihrer Linken die Zuckerdose, hob sie das Marmeladenglas hoch. »Leer!«

Ich hörte, wie sie die Kellertreppe hinunterlief. Im Keller, neben den Einweckgläsern mit Süßkirschen, Mirabellen und Birnen, stand auch die selbst gemachte Marmelade. Gewöhnlich brauchte Großmutter zehn Minuten, um sich für eine neue Marmeladensorte zu entscheiden.

»Die Wahl der Marmelade bitte ohne schriftliches Protokoll. Ich schreib auch keins, wenn ich mir eine Praline nehme«, hatte Großvater bisweilen gescherzt.

Ich sprang auf. Pralinen! Ich huschte zum Stubenbüfett. Das barg Herrlichkeiten. Ein zierliches Teeservice, geschliffene, farbige Weingläser, gehäkelte Rokoko-Damen aus Wolle, deren aufgeplusterte Reifröcke als Eierwärmer dienten, ein altes Dominospiel. In der Kristallschale lagen stets Süßigkeiten: Marzipanstangen, Geleebananen, weiße und hellrosa Schokolinsen. Ich wählte die Weinbrandbohnen. In kurzer Zeit hatte ich alle ausgeschlürft. Ich strich das Stanniol glatt und sah mich um. Die alte Stehlampe neben dem Lehnstuhl brachte mich auf eine Idee: Ich pappte die leeren, klebrigen Schokoladenhülsen auf meine Fingerkuppen. Im Lichtkegel der Stehlampe begann ich, allerlei wundersame Schattenwesen zu zaubern.Sie tanzten und wirbelten wild durcheinander, verwandelten sich in Zwerge und Riesen, um gleich darauf wieder im Nichts zu zerrinnen.

»Wir spielen jetzt Tod«, teilte ich den Zwergen und Riesen mit, ließ mein Hände sinken und kicherte. »Du ja. Du nein. Schluss, Punkt und gut.«

Ein Schatten kam auf mich zu. Er streckte die Hand nach mir aus. Ich schrie auf und erstarrte. Großvater Anselm stand vor mir.

»Verflucht viele Weinbrandbohnen, du hast einen Schwips.« Er lachte dröhnend.

Angstvoll umklammerte ich den Messingständer der Lampe, deren Schirm aus mehreren Lagen sandgelber Seidenspitze bestand. Die Stehlampe schwankte wie eine junge Birke im Wind.

»Schnaps sollst du geben«, sang Großvater. Seine Brillengläser funkelten.

»Du Ugelick!« Großmutter stand in der Tür. Verwirrt sah ich hoch und rieb mir die Augen. Der feine Seidenbezug der Stehlampe war über und über mit Schokolade beschmiert.

»Ohpa – er war hier!«

Ohme stellte das Marmeladenglas ab. Besorgt fasste sie an meine Stirn. »Kein Fieber.« Sie klang erleichtert. »Du hast geträumt«, beschwichtigte sie mich.

»Ohpa war hier. Ich hab ihn gesehen.«

Großmutter schob den Sessel zurück. Geflissentlich übersah sie dabei, dass auch die Sessellehne einige Schokoladenflecken abbekommen hatte. Sie trat ans Fenster. »Es schneit noch immer.«

Ich folgte ihrem Blick. Der Himmel musste einen unerschöpflichen Vorrat an Schnee besitzen. Es schneite und schneite. Die Sträucher und Bäume im Garten, der Bleichplan – im Sommer breitete Ohme hier ihre Wäsche aus –, die Blumenbeete, selbst der Staketenzaun, alles war von einer dichten Schneedecke überzogen.

»Du sagst also, er war hier?« Großmutter tastete nach ihrem Scheitel und räusperte sich. »Zuzutrauen wäre es ihm.« Gleich darauf winkte sie ab. »Das hast du geträumt …«

Ich schwieg. Großvaters Gelächter hallte noch immer in meinen Ohren. Ohme ließ sich im Lehnstuhl nieder. Mit zitternden Fingern strich sie über das Polster. Ich kniete mich neben sie.

»Carolina Michaela Johanna«, flüsterte ich.

»Ja.« Großmutter wiegte den Kopf. »Auf diese drei Namen bin ich getauft. Anselm war das zu lang. ›Rang und Namen. Anschein und Etikette‹, sagte er zu mir. Irgendwann hat er mich Hanna Jo genannt.«

»Was ist Etikette, Ohme?«

»Benimm und Familie«, aufgerichtet saß Großmutter da und sah jetzt sehr würdevoll aus. »Meine Vorfahren sind Hugenotten gewesen«, erklärte sie mir. »Sie haben …«, Großmutter machte eine Pause. »›Von Weihnachten‹ geheißen.«

Verblüfft sah ich sie an.

»Noël«, sagte Ohme. »Das heißt Weihnachten. Später wurde dann Deenel daraus. Das Französische ist keine leichte Sprache.«

»Noäll …«

»De Noël«, korrigierte sie mich.

Ich sah zur Tür, als könnte jeden Moment der bärtige Alte in seinem roten Mantel hereinschauen und einen Sack voller Geschenke absetzen. Doch das Weihnachtsfest war längst vorbei. Wir hatten jetzt Mitte Januar, der Monat, in dem ich geboren wurde. Ein Schneemonat. Im letzten Jahr hatte mir Großvater Anselm zum Geburtstag sogar einen Schneemann gebaut. Mit Strohhut und Möhrennase und zwei schwarzen Kohlenstücken. Das waren die Augen. Das blaue Halstuch des Schneemanns gehörte mir. Ich trug es mit Stolz. Ich war in der ersten Klasse zum Jungpionier geworden. Die Jungpioniere besaßen auch eine Uniform. Ein blaues Halstuch mit weißer Bluse und blauem Rock. Bevor mir der Halstuchknoten gelungen war, hatte ich lange üben müssen. Ohme half dabei nie. Und Großvater schüttelte seinen Kopf, wenn er mich in diesem Aufzug sah. »Uniformen befördern den Untertangeist, ich habe in meinem Leben zu viele davon gesehen.« Letztes Jahr hatte er meinen Geburtstagsschneemann als Jungpionier dekoriert. Ohme hatte das Tuch rasch wieder abgebunden. »Die Nachbarn«, hatte sie leise gesagt. In Großvaters Augen hatte es aufgeblitzt, doch er hatte geschwiegen. In Großvater Anselms Augen hatte es oft geblitzt. Großvaters Augen.

Mein Hals schnürte sich zu. Ich lief zum Radio. Ein neues Staßfurtgerät, das so groß wie unsere Obstkisten war. Vormittags gab es ein Hörspiel für Kinder. Das »Butzemannhaus«. Doch der Schnee schien selbst das Butzemannhaus zugeschneit zu haben. Es rauschte und pfiff, und ich konnte kein einziges Wort verstehen.

Ohme legte den Arm um mich. Sie schien fast beruhigt zu sein, dass unser Radio heute keinen vernünftigen Ton von sich gab. Dass ich es abstellte.

Ich schwieg und sah zur Tür. Und riss meine Augen auf. Großvater stand im Türrahmen. Er winkte mir zu und legte dann einen Finger auf die Lippen.

»Ohpa.« Unhörbar bewegte ich meinen Mund. »Bist du tot?«

Da schrillte die Klingel. Durchdringend und grell.

»Sie kommen.« Großmutter sprang auf.

Draußen standen zwei schwarz gekleidete Gestalten, Großvaters Leichenträger.

»Mein Beileid«, sagte der eine, nahm seinen Hut ab und verbeugte sich viel zu tief. Der andere lüftete ebenfalls seinen Hut. Stumm schüttelte er Großmutters Hand und ließ ein leises Schnaufen vernehmen.

Ruhig und würdevoll stand Ohme da. »Kommen Sie rein.«

Sie zwängten sich an mir vorbei. »Na, Kleine?« Ich wich zurück. Der Mann, ein ellenlanger Mensch von fast zwei Metern, verzog seine Mundwinkel, doch das Lächeln misslang.

»Das Herz. Heute Morgen«, sagte Ohme.

Die Leichenträger sahen sich wissend an. »Beneidenswert«, sagte der ellenlange Mann.

»Tjatjatja.« Der andere nickte.

»Der Tote liegt oben. Besser, Sie lassen ihn unten«, sagte Ohme mit Blick auf den Sarg.

Die Männer fragten nach Wasser und Seife. Großvater wurde gewaschen. Das hatte er gestern Abend noch selbst getan. Dann schafften sie ihn die Treppen hinunter. Ich kniff die Augen zusammen. Großvater bewegte sich nicht. Der Sarg, den die Leichenträger auf Ohmes Geheiß am Fuß der Treppe abgestellt hatten, ähnelte einer schmucklosen Truhe. Links und rechts waren Metallgriffe angebracht. Die Weihnachtskiste aus Kiefernholz auf unserem Dachboden besaß keine Griffe. In der Kiste bewahrten Ohme und Ohpa das Weihnachtsfest auf: Nussknacker, Bergmänner, Engel, Maria und Josef, das Jesuskind, ein halbes Dutzend hölzerner Schafe. Beim Auspacken knisterte es. Ich lauschte, doch als man Großvater Anselm in den Sarg legte, blieb alles still.

»Und hoch«, sagten die Männer. Sie hoben den Sarg auf ihre Schultern, um ihn nach draußen zum Auto zu tragen. Sie schwankten ein wenig: Die Leichenträger, der Sarg mit Großvater Anselm und Ohme, die ihren Ehemann auf seinem letzten Weg zum Tor begleitete. Fast wäre ich ausgerutscht, als ich ihnen nachlief. In den Scheiben des Leichenwagens spiegelte sich für einen Moment die Sonne. Dann zog sich die Wolkendecke am Himmel wieder zusammen.

Ich sah dem Wagen nach – ein schwarzer, kastenförmiger Lieferwagen –, bis er um die Ecke bog, und winkte mit aller Kraft. Im Nachbarhaus bewegte sich eine Gardine. Die alte Opitzen stand am Fenster. Sie goss ihre Blumenstöckchen, rosenrote und weiße Alpenveilchen. Ich ließ meine Arme sinken. Reglos, mit hängenden Schultern, stand ich am Gartentor. Alles verschwamm vor meinen Augen.

Ohme und Ohpa. Sie hatten zusammengehört. Das war wie ein Ganzes gewesen. Viele Jahre vor mir. Hin und wieder hatte mir Ohme von diesen Jahren erzählt, und Großvater Anselm, wenn er dazukam, hatte die Brille abgesetzt und gebrummt: »Die alten Geschichten, Hanna Jo. Ruckzuck kommt man dabei vom Wege ab. Unser Erinnerungsvermögen wird mottenlöchrig. Und dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem, was tatsächlich passierte, und dem, was wir glauben, dass es uns widerfuhr.« Er räusperte sich. »Uns und den Deinen …«

»Alte Geschichten gibt es viele, Anselm.«

»Wahrheiten auch«, hatte Großvater Anselm gesagt und auf seinen leeren Hemdsärmel geblickt. Ohme hatte geseufzt und Großvaters Hemdsärmel mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Es war eine liebevolle, vertraute Geste gewesen.

»Erzähl, Ohme«, hatte ich sie gebeten und Ohme hatte erzählt: von einem kleinen Ort im Gebirge, gleich an der böhmischen Grenze. Dort war sie geboren worden. Von Großvater Anselm, der früher zwei Hände besaß und eine im Krieg verlor. Von ihren Brüdern und Schwestern, den Neffen und Nichten, von ihrer Familie, die eine Fabrik besaß und verlor. Von allerlei wunderlichen Begebenheiten; berührenden, heiteren, traurigen. Und ihrem Sohn, meinem Vater.

I.

Eine gute Partie

Ein halbes Jahrhundert zuvor: Anselm Krüger, ein junger Sozialdemokrat und Lehrer, stammt aus armen Verhältnissen. Sein Vater, so steht es im Kirchenregister, ist »Feuermann«, die Mutter ist »nichts«. Als sie von einem vierten Jungen entbunden wird, zählt Anselm noch keine fünf Jahre. »Gott bewahre, schon wieder ein Mannsbild«, soll sie gerufen haben. Kurz darauf wird der Säugling zu Grabe getragen. Die Erzgebirgswinter sind kalt. So kalt, dass sich ein Neugeborenes leicht den Tod holen kann. Besonders als unwillkommener Gast in den Häusern der Armen.

Der kleine Anselm indes wächst und gedeiht. Neben robuster Gesundheit besitzt er einen überaus scharfen Verstand. Schon als Kind steht für ihn fest, dass er kein Feuermann wie der Vater sein will. Anselms Lerneifer und seine ungewöhnliche Auffassungsgabe veranlassen den Schul­direktor zu einem ernsten Gespräch mit den Eltern. Anselms Vater schüttelt den Kopf. Für den Besuch der höheren Schule habe er, Gott sei’s geklagt, kein Geld und außerdem noch zwei weitere Söhne. Doch Anselm hat Glück. Ein reicher Witwer und Freund des Direktors erklärt sich bereit, die Ausbildungskosten des Jungen zu übernehmen. Anselm besteht mit Bravour die Matura und später das königlich-sächsische Lehrerseminar. Und noch später findet er eine Anstellung in der benachbarten Kreisstadt. Das Glück scheint ihm treu zu bleiben und lässt ihn in eine wohlhabende erzgebirgische Fabrikantenfamilie einheiraten. Es sei beileibe kein Glück, sondern seine vom Vater geerbte Kurzsichtigkeit gewesen, beteuert er stets, wenn später die Sprache darauf kommt. Denn was könne es anderes sein, als des Vaters Erbe, wenn einem der zerbrochene Kneifer zu einer so gut situierten Gattin verhilft.

»Of de Barg, do is halt lustig«1, singt Anselm, als er an einem Sommertag des Jahres 1917 die Kleinbahn besteigt. Es geht ins Gebirge, in einen 500-Seelen-Ort, unweit der böhmischen Grenze. Anselm Krüger hat den Auftrag erhalten, die kürzlich verfügten Vorhangschabracken für den Festsaal der Schule abzuholen.

Hier, am Ortsausgang, hat die Posamentenfabrik des Franz Friedrich Deenel ihren Sitz. Die könne man nicht verfehlen, nur immer am Mühlbach lang, erklärt der Bahnhofsvorsteher und legt salutierend die rechte Hand an seine Mütze. »Ein großes Anwesen!«

Anselm sieht ihn nachdenklich an. »Glück auf«, sagt er trocken und folgt dem beschriebenen Weg.

Der Bahnhofsvorsteher hat recht gehabt. Der Mühlbach erweist sich als hilfreicher Kompass. Nach zehn Minuten hat Anselm Krüger sein Ziel erreicht. Aufatmend bleibt er stehen und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann zieht er das Sakko aus und klemmt es sich unter den Arm. Ganz ohne Zweifel, die Deenel’sche Posamentenfabrik scheint ein imposanter Besitz. Die hohe Maschinenhalle, ein Backsteinbau, erstreckt sich über das Hofgelände bis hin zur Straße, daneben das Lagerhaus und weiter eingerückt eine zweigeschossige Stadtvilla. Das Wohnhaus des Fabrikanten. Anselm wird es von seiner Frau erfahren, dass früher, vor gut 50 Jahren, am Mühlgraben auch eine Mühle stand. Die Mühle sei abgebrannt. Durch seltsame Umstände, wie es noch heute heißt. Legenden halten sich lang. Die Alten im Ort hätten die Köpfe zusammengesteckt, als Franz Friedrich Deenels Vater die abgebrannte Mühle und das zugehörige Land erwarb. Es liege kein Segen da­rauf, raunten sie. Die Alten irrten sich. Vorerst. Das Posamentengeschäft blühte rasch auf. Im Kaiserreich verkauften sich Bänder, Schärpen, Schnüre, Volants und Kissenlitzen ausnehmend gut. Modischer Zierrat für Tschakos und feine Kreppinen für Damenhüte waren begehrt. Der junge Franz Friedrich Deenel konnte vom Vater ein gut geführtes Geschäft übernehmen.

Die Kundschaft Franz Friedrichs ist ebenfalls zahlreich und bunt gemischt. Geistliche Ordensträger aus Österreich, die für ihre Soutanen bestickte Knöpfe bestellen, Tuchhändler aus Böhmen und Übersee, Hutmacher, Schützenvereine und Burschenschaften. Ab und zu gibt es diskrete Anfragen nach Lingeriewäschestücken. Die werden verschwiegen und schnell ausgeführt, ein einträgliches Geschäft. »Man muss expandieren«, sagt Franz Friedrich Deenel und kauft neue Schaftwebstühle, Spulmaschinen, moderne Turbinen und lässt seinen Bortenwickler patentieren.

Es ist der 30. Juli 1914, als Franz Friedrich Deenel eine telegrafische Nachricht von seinem Geschäftspartner aus Wien erhält. Sie trägt den Vermerk Dringend.Noch am selben Tag wird Fabrikant Deenel ein Dutzend Telefonate führen. Er lässt seinen Vorrat an Seiden- und Baumwollgarnen aufstocken und außerdem reichlich Gold- und Silberdraht liefern. Die Hausherrin, eine energische Dame mit hohem Haaransatz und vorzeitig gealterten, etwas zu scharfen Zügen, hat das Telegramm auch gelesen. »Umgehend sämtliche Besatzartikel aufstocken?«

»Ich glaube, die Kriegserklärung der Österreicher wird Kreise ziehen. Unser Kaiser wird sich nicht raushalten können.«

Fabrikant Deenels Ahnung bestätigt sich. Der Kaiser hält sich nicht raus, Deutschland ist kriegsbegierig, ein lüsterner Halbstarker, gern auf Händel bedacht. Der Krieg belebt das Geschäft. Die Uniformen des kaiserlichen Militärs benötigen Tressen und Epauletten. Franz Friedrich Deenel schickt eine Kiste Havanna-Zigarren nach Wien. Der Hinweis seines österreichischen Handelspartners hat sich als profitabel erwiesen.

Im Sommer 1917 begünstigt der Krieg noch immer Deenels Geschäfte, das schnelle Wachstum jedoch hat aufgehört. Die Auftragszahlen der Heeresleitung stagnieren, der Vormarsch der Truppen auch. Der deutsche Feldzug ist mittlerweile zum Stellungs- und Grabenkrieg transmutiert. Blockadegerüchte und Engpässe bei der Versorgung lassen Fabrikant Deenels Augenmerk wieder auf seine zivilen Kunden richten. Der Auftrag der Höheren Töchterschule aus der Kreisstadt kommt ihm gelegen. Die für den Festsaal der Schule georderten Vorhangschabracken könnten ein vielversprechender Auftakt sein.

Anselm Krüger spitzt seine Lippen. »Of de Barg, do is halt lustig.« Das Lied geht ihm nicht aus dem Kopf. Summend mustert er den glatt gerechten Weg, der von der Gartenpforte zur Eingangstür des Deenel’schen Anwesens führt. Er rückt seinen Kneifer zurecht. Glatt und präzise, als hätte man eine riesige Walze benutzt, denkt er und schaut auf sein Schuhwerk. Er wischt die Schuhe am Hosenbein ab und zieht sein Sakko an. Er läutet und wartet. Doch alles bleibt still.

»Na denn.« Anselm ist nicht gewillt, unverrichteter Dinge den Rückweg anzutreten. Entschlossen drückt er die Klinke herunter.

Im Haus ist es dunkel und still. Anselm tastet die Wand ab, doch den Lichtschalter findet er nicht. So prallen die beiden zusammen.

»Du Ugelick«, tönt eine Mädchenstimme. Dann klappt eine Tür.

»Du … Unglück?«, brummt Anselm. Er reibt sich die Stirn und bückt sich. Der Kneifer ist ihm von der Nase gerutscht und dadurch ein Glas zu Bruch gegangen. Kopfschüttelnd steckt er den Kneifer in seine Brusttasche, klopft an die Tür und tritt ein. Das Geschäftskontor ist ein lang gestreckter, heller Raum. Die aufeinandergestapelten Stoffballen und Schuber voll überquellender Musterpappen und Alben lassen ihn kleiner wirken. Auf der Hutablage thront eine Garnspindel. Der Schreibtisch ist mit unzähligen Zwirnrollen und Farbmusterbögen bedeckt.

»Mein Vater ist in der Fabrik.« Es klingt abweisend. Ohne Kneifer kann der Eintretende nur wenig erkennen. Die hell gekleidete Gestalt bedeckt ihr Gesicht und weicht in die äußerste Ecke des Raumes zurück. Hier steht eine Glasvitrine. Kostbare Meisterstücke früherer Posamentierer sind hier zur Schau gestellt. Anselm tritt näher. Die Goldfäden der Kordeln und Tressen glänzen im Sonnenlicht.

»Ganz und gar außergewöhnlich.« Anselms Stimme ist heiser.

Errötend lässt das junge Mädchen die Hände sinken. Anselm verkneift sich ein Schmunzeln. Er hat die Kordeln gemeint.

»Ich …«, beginnt er.

Da steht ein hochgewachsener, hagerer Mensch, dessen kräftige Koteletten nicht zum schütteren Haupthaar passen wollen, vor ihm. Die hellen Fuchsaugen mustern Anselm mit schnellem Blick. »Sie wünschen?«

Anselm trägt sein Anliegen vor. Der Prokurist nickt. Die Vorhangschabracken sind abholbereit.

»Wenn Sie mir folgen würden.«

Anselm zögert. Er hätte sich gern noch dem jungen, schreckhaften Mädchen – er schätzt es auf gerade mal 20 – empfohlen. Suchend sieht er sich um, doch das Kontor ist leer.

Zurück in der Kreisstadt, geht Anselm die seltsame Begegnung nicht mehr aus dem Kopf. Es sei die zweite Tochter des Fabrikanten gewesen, hat ihm der Prokurist mitgeteilt.

»Die ältere Schwester ist eine Schönheit. Fräulein Johanna hingegen … Sie wird bisweilen von der Nesselsucht geplagt.« Die Miene des Prokuristen ist höflich geblieben.

Anselm grübelt, schreibt einen Brief und zerreißt ihn. Er grübelt erneut. Dann schreibt er vier Worte und schickt den Brief ab.

Johanna Deenel ist überrascht. Der Absender des Briefes sagt ihr nichts. Ratlos dreht sie den Briefbogen hin und her. Ganz und gar außergewöhnlich, steht darauf. Ein zerbrochener Kneifer ist darunter gezeichnet. »Du Ugelick.« Sie eilt ins Musikzimmer. Der Briefschreiber hat in lateinischer Schrift unterzeichnet. Schwungvoll und deutlich. Und hinter den letzten Buchstaben noch eine kühne Schlaufe gesetzt. So eine Schrift besitzen nur wenige. Johanna Deenel hat kein Talent, was das Klavierspiel betrifft. Und überhaupt. »Maad,döswird nix«2, hat der Kantor erst kürzlich nach der Probe des Kirchenchors zu ihr gesagt und kummervoll seine Augen verdreht. »Der Sopran deiner Schwester Charlotte dagegen … «

Johanna lässt ihre Finger über die Tasten gleiten. E-Dur, vier Kreuze, ein altes Volkslied:

»On kloppt’r ah dei Freierschmah, mach kaa lang’s Gered!

On mant’rs gut on mant er’s trei, tu net asu spröd …«3

Es klingt laut und falsch. Das Zugehmädchen im Nebenzimmer hält sich die Ohren zu.Doch Carolina Michaela Johanna Deenel ist selig.

Am nächsten Sonntag lädt Anselm Krüger die Tochter von Fabrikant Deenel zu einem Glas Bowle ein. Die kleine Bergwirtschaft ist bekannt. Ein beliebtes Ausflugziel. Vom Ort aus ist es ein dreißigminütiger Fußmarsch.

»Maibowle schmeckt im Juli am besten.«

Johanna nickt steif. Sie sitzt sehr still und sehr aufrecht am Tisch.

»Es will mir nicht aus dem Kopf, dass Sie den Ihren bei unserem ersten Aufeinandertreffen stets abgewandt haben«, hebt Anselm erneut an.

Johanna errötet. »Ich esse gern Blaubeeren«, antwortet sie ausweichend.

»Ich auch.« Anselm ist amüsiert.

»Nur …« Johanna zögert. »Der Doktor glaubt, dass die Nesselsucht von den Blaubeeren kommt«, erklärt sie.

»Du Ugelick«, ruft Anselm in hohem verstelltem Ton.

Misstrauisch sieht Johanna ihn an. »Pardon?«

»Ihre eigenen Worte«, erwidert Anselm gedehnt und seine Augen funkeln vor Übermut.

Jetzt ist es Johanna, die amüsiert ihr Gegenüber betrachtet. »Das habe ich von der alten Kurtl. Die ruft es bei jeder Gelegenheit.«

»Die alte Kurtl?«

»Sie war unsere Kinderfrau.«

»Ah so.«

Anselm nimmt einen kräftigen Schluck von der Bowle. »Erfrischend«, stellt er fest und behält wohlweislich für sich, was er von einer Familie mit Köchin, Kinderfrau, Zugehmädchen, Ausbesserin und Chauffeur denkt. Der fuchsäugige Prokurist ist gesprächig gewesen. Anselm lehnt sich zurück. Die Sonne wärmt noch.

Anselm lässt seinen Blick über die plaudernde, durcheinanderschwatzende Gästeschar schweifen. Man lacht und scherzt und prostet sich zu: Familien mit Kindern, verliebte Paare, ein Trupp junger Burschen; Wandervögel mit Wimpel und Halstuch. Bald werden sie ihren Arm beim Nachbarn einhenkeln und schunkelnd ein Lied anstimmen. Ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Seit drei Jahren herrscht Krieg.

»Ein falsches Idyll«, sagt er mit schwerer Stimme. »Wir leben in trügerischen Zeiten.«

Johanna nickt. »Wir leben im Krieg!« Sie dreht sich nicht um, als die Wandervögel ein Lied anstimmen. »Wird unsere Zukunft so aussehen, dass ganz Europa, womöglich der ganzen Welt, ein Untergang durch Annektierung droht?«, fragt sie halblaut.

Anselm hebt jäh den Kopf. Die junge Fabrikantentochter erstaunt ihn. Ihr rundes Mädchengesicht, die ernst dreinblickenden grauen Augen. Ein Grau, gemischt mit winzigen Sprengseln Braun. Sie strahlt etwas Scheues, Förmliches aus. Der sinnliche Mund passt nicht dazu. Anselm mustert ihr Falbelkleid, das breite weinrote Taftband, das ihre Taille umschließt. Den riesigen Hut aus Seidenstroh hält er für übertrieben.

»Oder fressen die Starken die Schwachen auf?« Beim Trinken spreizt Johanna den kleinen Finger ab.

»Ausbeutung durch die herrschende Klasse. Wachsende Armut, Hunger und Not in den Familien der Ausgebeuteten. Die kapitalistische Gesellschaft ist menschenfeindlich und gehört abgelöst.« Jetzt spricht er laut aus, was ihn bewegt. Johannas ernste Fragen haben ihn davor bewahrt, sich hölzerne Komplimente auszudenken.

»Die gegenwärtige Bevölkerung wird auf 1,7 Milliarden Köpfe geschätzt«, erwidert Johanna. Ihre Wangen haben jetzt nicht nur von der Bowle zu glühen begonnen. »Fast zwei Milliarden Menschen, deren Ernährung nicht ohne Umdenken aller zu schaffen ist. Möglicherweise müsse man an eine Geburtenreglung denken, las ich.« Johanna zieht ihren Strohhut tief in die Stirn. »Das ist … Ich möchte trotzdem nicht kinderlos bleiben«, sagt sie trotzig.

Anselm schmunzelt.

»Nein, bitte … so habe ich es ganz und gar nicht …« Über die Stirn der Fabrikantentochter fliegt eine helle Röte. Sie schlingt ihre Hände ineinander.

Anselm greift nach dem Strohhut und hält ihn wie einen Paravent schützend hoch. »Ohne Hut mag ich Sie lieber.« Er beugt sich zu ihr. Bereitwillig kommt ihm Carolina Michaela Johanna Deenel entgegen.

Sie sei noch zu jung, versucht der Vater die Tochter wenige Wochen später von einer übereilten Verbindung abzubringen. Johanna bleibt stur. Der oder keiner! Die Eltern sind wenig beglückt. Fabrikant Deenel und seine Frau Ida haben andere Pläne gehabt. Vier Töchter, zwei Söhne, das ist eine stattliche Anzahl. Und stattlich sollten auch die zukünftigen Schwiegersöhne und Schwiegertöchter sein. Johanna jedoch besitzt ihren eigenen Kopf.

Anselm trägt seinen besten Anzug, als er bei Franz Friedrich Deenel um die Hand von dessen Tochter anhält. Der macht ein finsteres Gesicht. Es ist eine dumme Sache, dass seine Zweitälteste so störrisch auf diesem unvermögenden Lehrer beharrt. Ein junger Mensch mit widerspenstigem Haar, der im zerknitterten Zweireiher jetzt vor ihm steht.

Mit unbewegter Miene fixiert er ihn. »Sie sind also fest entschlossen?«

»Jawoll«, sagt Anselm laut und schlägt seine Hacken zusammen. Fast wäre er dabei gestürzt, wäre ihm nicht die Gardinenkordel – ein Deenel’sches Meisterstück – zu Hilfe gekommen.

Franz Friedrich Deenels Mundwinkel zucken. »Junge, du bist ja nicht gescheit. Keine militärischen Anwandlungen. Das Militär ernährt uns ein gutes Teil. Wohl wahr …«

»Doch ist’s egal, was einer treibt. Der eine sät, der andere schreibt«, beendet Anselm den angefangenen Satz mit einer gebräuchlichen Rede, die er erst kürzlich in einem sehr anderen Zusammenhang zitiert hat.

Der Fabrikant lacht. Johanna, die hinter der Tür gelauscht hat, schickt einen Stoßseufzer in den Himmel.

»Statt Karten«, heißt es kurz darauf im Inserat des lokalen Wochenblattes. Es sei Fabrikant Franz Friedrich Deenel und seiner Gattin Ida Antonia, geborene von Glanzburg, eine besondere Freude, auf diesem Weg die Verlobung ihrer Tochter Carolina Michaela Johanna mit dem Lehrer, Herrn Anselm Krüger, bekannt zu geben.

»Es lebe die Braut, ihre Eltern, die ganze Familie«, ruft Anselm am Abend seiner Vermählung aus und stößt mit den Gästen an.

Es ist eine prächtige Feier. Die Familie der Braut ist samt und sonders erschienen. Die Eltern, die fünf Geschwister, die Glanzburgs, die Deenels. Dazu der Amtsvorsteher, der Apotheker und Doktor Süß. Der Doktor ist ein Korps- und Gesinnungsfreund des Brautvaters und als Hausarzt ein vertrautes Mitglied der gesamten Familie. Den fuchsäugigen Menschen mit den kräftigen Koteletten, den Deenel dem Schwiegersohn vorstellt, kennt Anselm schon.

»Die Vorhangschabracken machen sich ausnehmend gut in der Aula«, sagt er höflich und schüttelt dem Prokuristen die Hand.

Die wasserhellen Fuchsaugen mustern den Bräutigam interessiert. Zu einem Gespräch kommt es nicht, denn unversehens wird Anselm von einer dürren Person in prunkvollem Samt umarmt. »Der Bräutigam also!« Die dürre Person pickt vom Myrthensträußchen, das an seinem Hochzeitsfrack heftet, eine der zarten weißen Blüten ab und zerreibt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hach«, sagt sie. »Mein Geliebter ist mir ein Myrthenstrauß …«

»Tante Cäcilie«, flüstert Doktor Süß dem verdutzten Anselm ins Ohr. »Kinder- und alterslos. Außerdem bibelfest und einem Gläschen Absinth nie abgeneigt.« Der Doktor fährt sich über den kahlen Schädel.

Tante Cäcilie hat unterdessen die Taille der Braut gemustert. »Mein Kind«, raunt sie Johanna ins Ohr, »sind es bestimmte Umstände, die …«

»Nein«, sagt Johanna brüsk, während sie eine verirrte Hutnadel aus den Locken der Tante entfernt. Cäcilies zerbrechliche, zartknochige Erscheinung betont den altmodischen Stil ihrer Aufmachung. Als Hochzeitsgeschenk hat die Tante dem Brautpaar neben anderen nutzlosen Dingen eine mit sandgelber Seidenspitze verschleierte Stehlampe mitgebracht. »Entzückend«, ruft Johanna aus, während Anselm das weiße Einstecktuch aus der Brustasche zieht und sich kräftig schnäuzt.

Eilig hat er sich wieder Doktor Süß zugesellt. »Wen muss ich noch kennenlernen?«

»Gemach«, sagt der Doktor und leert sein Glas.

Johannas Geschwister hat Anselm Krüger längst kennengelernt. Frau Ida hat die kurze Brautstandszeit ihrer Tochter nicht ungenützt vorübergehen lassen und ihn mit der Familie bekannt gemacht. Anselm ist überrascht gewesen. Die Schwägerinnen und Schwager hätten nicht unterschiedlicher sein können. Mit 24 ist Fritz der älteste Bruder. Die Eltern hätten Fritz’ frühe Heirat mit einer vermögenden Waise, einer entfernten Verwandten, als Glücksfall empfunden, hat ihm Johanna gesagt. Das hatte sie von der Köchin gehört. Von klein auf zart und schwächlich, an Asthma und den Folgen einer frühen Kinderlähmung leidend, glaubten Fabrikant Deenel und seine Frau ihren Erstgeborenen auf diese Weise bestens versorgt.

Die körperliche Konstitution des sechs Jahre jüngeren Bruders Max hingegen berechtigt Fabrikant Deenel zu größerer Hoffnung, einst einen Nachfolger für sein Geschäft zu haben. Anders als den älteren Bruder umgibt Deenels zweiten Sohn mit seinem streng zurückgekämmten Haar etwas Gebieterisches. Die Schmisse auf seinen Wangen künden von Draufgängertum. Das kürzlich begonnene Studium der Jurisprudenz scheint ihm gut zu bekommen.

Magdalena ist Deenels älteste Tochter. Johannas Lieblingsschwester. Die 22-Jährige mit dem Madonnenscheitel ist das, was man eine klassische Schönheit nennt. Sie komme nach ihrer Großmutter väterlicherseits, erklärt Franz Friedrich Deenel und ist sichtlich stolz.

Johannas jüngere Schwester Charlotte, mit ihren dunklen Augen und den vorgeschobenen vollen Lippen, ähnelt der Mutter. Nur dass ihre Züge jugendlich weicher und weniger streng sind. Von ihrer Großmutter hat die 15-Jährige etwas anderes geerbt: Gehör und Stimme. Charlottes Sopran ist ein Glücksfall für den Kirchenchor des kleinen erzgebirgischen Ortes. Der Pfarrer weiß das zu schätzen. »Ich will dich segnen und du sollst ein Segen für unseren Kantor sein«, pflegt er zu sagen und zeigt sich ungewohnt nachsichtig, wenn ihm Charlotte, mit glockenheller Stimme einen frivolen Gassenhauer trällernd, in seinem Gotteshaus begegnet.

Der neunjährigen Martha, Johannas jüngster Schwester, dunkeläugig wie ihre Mutter und Charlotte, sehen Fabrikant Deenel und Frau Ida so manchen Streich nach. Die Geschwister ebenfalls. Als Nesthäkchen ist sie der Liebling der Familie. Tante Cäcilie hat ihr zum sechsten Geburtstag einen Kaffeewärmer mit Filetstickerei geschenkt. »Für ihre Aussteuer. Dieses Kind wird schnell flügge werden«, sagt sie mit Kennermiene.

Von Anselms Familie ist keiner da. Er werde den Eltern eine fotografische Aufnahme mit Passepartout schicken, tröstet er seine Braut und zeigt sich im Übrigen von der Absage seiner Verwandtschaft nicht sonderlich überrascht. Der Vater hat ihm geschrieben. Er solle nicht traurig sein, die Mutter plage die Gicht und ihn auch so mancherlei. Anselm vermutet, dass die Absage nicht nur aus gesundheitlichen Gründen geschehen ist. Seine Vermutung behält er jedoch für sich.

Nach mehreren Gläsern Wein bringt Anselm einen besonderen Trinkspruch an: »Es lebe die Revolution!«

Johanna schiebt das Weinschaumgelee beiseite. Anselms Trinkspruch hat forsch und verwegen geklungen. Er scheint wohlinformiert. Johanna ist nicht entgangen, dass ihm seine Genossen vor der Trauung ein Flugblatt zugesteckt haben. Kerenski gestürzt, die meisten der Regimenter in Petrograds Garnisonen von bolschewistischer Seite besetzt! Anselm las aufmerksam. Die Genossen haben den Bräutigam angesehen. »Aufstand in Russland, Anselm! Wir sollten unsere Akklamation zum Ausdruck bringen.«

Doch Anselm, den lästigen Stehkragen lockernd, ist gelassen geblieben. »Erst einmal heiraten«, hat er gemeint und seine Braut bewundert. »Donnerlittchen!« Er hat seine Lippen gespitzt und sich in letzter Minute einen bewundernden Pfiff verkniffen. Johanna hat gestrahlt. Sie hat den lichtbraunen Haarkranz hochgesteckt, trägt cremeweiße Seide mit Perlverzierung und väterliche Soutaches.

Jetzt, nach überstandener Zeremonie und dem Hochzeitsmahl, scheint Anselm der Zeitpunkt gekommen, um sich mit den russischen Umstürzlern solidarisch zu zeigen. »Es lebe die Revolution!«, wiederholt er.

»Wie bitte, Anselm?« Johannas fragender Blick. Anselm ist ganz und gar nicht verlegen.

»Die Revolution, der Sieg der Bolschewisten«, sagt er und singt sehr vergnügt: »Allons enfants de la Patrie!«

»Wie bitte?«

»Die Marseillaise, meine Liebe!«

»Mon Dieu …«

»Of de Barg, do is halt lustig«, stimmt Anselm sein Lieblingslied an. Er sieht keine Kluft zwischen Paris und dem heimatlichen Gebirge. Eine Kluft zwischen Revolution und Reichtum hingegen schon. Die Mitgift seiner Ehefrau ist beträchtlich. Neben Recognitionsscheinen und anderen Wertpapieren haben die Schwiegereltern dafür gesorgt, dass es den Jungvermählten an nichts mangelt. Mobiliar, Porzellan, Damast- und Leinenwäsche sowie eine beträchtliche Auswahl an Kordeln, Quasten, Volants und Litzen. Er habe sich niemals träumen lassen, einmal von so vielen Trotteln umgeben zu sein, witzelt Anselm, wenn er Johanna außer Hörweite weiß. Die Genossen betrachten ihn düster. Sie ahnen, dass sie einen der ihren verloren haben. Doch sagen sie nichts. Die guten Brasil-Zigarren, die Anselm seit Kurzem spendiert, sind nicht zu verachten.

»Bei euch steht de Welt uffm Kopp.« Die Leute im Ort haben die unerwartete Hochzeit der zweiten vor der ältesten Tochter mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. Johannas ältere Schwester Magdalena verspürt wenig Neid.

»Ein Lehrer? Wie einfallslos. Ich heirate mal einen afrikanischen Großwildjäger und der muss einen gezwirbelten Schnurrbart haben und mir zwei Elefantenstoßzähne schenken.« Sie spitzt kokett ihre Lippen und sieht auf diese Weise noch hübscher aus.