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Eine kluge Emanzipationsgeschichte über eine Frau, die mitten im Leben noch mal von vorn anfängt – nach »Lempi, das heißt Liebe« der neue Roman von Minna Rytisalo Als die Kinder aus dem Haus sind, beendet Jenni Mäki die unglückliche Ehe mit Jussi, ändert ihren Namen und bricht endlich aus dem Leben aus, das für sie vorgesehen war: Als Jenny Hill fängt sie noch einmal von vorn an. Ein Chor weiblicher Märchenfiguren begleitet sie dabei und kommentiert voller Scharfsinn die Absurdität der Ansprüche, denen Frauen in unserer Welt immer noch gerecht werden sollen. Ein starker Roman über das Älterwerden als Frau und darüber, dass es nie zu spät ist, den eigenen Weg zu finden – in Finnland als feministisches Manifest gefeiert.
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Als die Kinder aus dem Haus sind, beendet Jenni Mäki die unglückliche Ehe mit Jussi, ändert ihren Namen und bricht endlich aus dem Leben aus, das für sie vorgesehen war: Als Jenny Hill fängt sie noch einmal von vorn an. Ein Chor weiblicher Märchenfiguren begleitet sie dabei und kommentiert voller Scharfsinn die Absurdität der Ansprüche, denen Frauen in unserer Welt immer noch gerecht werden sollen.Ein starker Roman über das Älterwerden als Frau und darüber, dass es nie zu spät ist, den eigenen Weg zu finden — in Finnland als feministisches Manifest gefeiert.
Minna Rytisalo
Zwischen zwei Leben
Roman
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann
Hanser
Noch immer gibt es in den Flüssigkeiten der Welt Geheimnisse, die dem Verständnis des Menschen verborgen bleiben.
SELJA AHAVA, »Die Frau, die Insekten liebte«
Ich bin keine Frau. Ich bin ein Neutrum.
Ich bin ein Kind, ein Page und ein kühner Entschluß,
ich bin ein lachender Strahl einer Scharlachsonne …
Ich bin ein Netz für alle gierigen Fische,
ich bin eine Schale für die Ehre aller Frauen,
ich bin ein Schritt auf Zufall und Verderben,
ich bin ein Sprung in die Freiheit und ins Selbst …
Ich bin des Blutes Flüstern im Ohr des Mannes,
ich bin ein Fieber der Seele, Sehnsucht und Verweigern des Fleisches,
ich bin ein Eingangsschild zu neuen Paradiesen.
Ich bin eine Flamme, suchend und furchtlos,
ich bin ein Wasser, tief aber dreist bis an die Knie,
ich bin Feuer und Wasser ehrlich vereint in freiem Entschluß …
EDITH SÖDERGRAN, »Vierge moderne«
Das hier ist Jenny Hill. Sie steht da und wartet auf ein Taxi, Raum und Zeit fließen in ihr und durch sie hindurch, auf eine Weise, die mit ihrer Geburt angefangen hat, und bereits davor. In ihr wiegt, füllt und leert sich etwas, das keinen Namen hat. Es ist eine innere Tide der Zellen, die man nicht sieht, die aber von Beginn an in ihr gewesen ist, und diese Bewegung kennen auch die Ajattaras, die sie von einer anderen Wirklichkeit aus beobachten. Sie bricht auf, weil sie kann, und zwar nicht zum ersten Mal.
Der Vormittag ist hell, aber es herrscht Tiefdruck. Es ist, als würde es jeden Moment regnen, und Jenny Hill trägt bequeme Reisekleidung und neue, schwarze Sneaker. Sie weiß, dass man für einen Flug keine einschnürende Kleidung anziehen sollte, denn sie hat Bilder von Stars gesehen, die auf Flughäfen in Leggings und Kapuzenpulli verewigt worden sind. Jenny hat sich am Morgen die Haare gewaschen und leichtes, frisches Make-up aufgetragen, eines, das sogar einen Interkontinentalflug übersteht, und sie hat einen Rollkoffer dabei, das gleiche Modell, bloß etwas neuer als der ihrer Schwester, die sie gleich in der Abflughalle treffen wird.
So sieht sie äußerlich aus, aber in ihrem Inneren ist es dunkel. Auf Fotos ist die Dunkelheit rosa ausgeleuchtet, sie wird mit Querschnitten veranschaulicht und durch Entfernen der weichen, schützenden Schichten freigelegt. Jenny Hill hat all diese Fotos gesehen. Darauf sind Striche, die Dinge bezeichnen, und darauf sind Dinge, die man nie sieht, die einen Menschen jedoch definieren, auch sie selbst. In ihrem Inneren sind der Mittelpunkt der Welt und der Anfang von allem, in ihr sind der Urschleim sowie das erste Meer und dessen Wasser. Es ist dasselbe Wasser, das vor Milliarden von Jahren in Form einer aus Gasen, Staub und Eis bestehenden Akkretionsscheibe um die Sonne gekreist ist.
Sie ist eine von uns, eine beliebige Person, die einem auf der Straße oder im Einkaufszentrum begegnet, sie ist die Hälfte der Menschheit und trotzdem eine völlig einzigartige Gleichung aus einer Seele, Zellen und Zufällen, und jetzt steht sie dort in ihrem Trenchcoat, mit ihren Sneakern und einem breiten schwarzen Schal um den Hals auf dem Gehweg und ist unterwegs zum Flughafen und nach Toronto, und plötzlich spürt sie die Bewegung des Planeten unter ihren Füßen, denn ihr Blick ist nach oben gerichtet. Sie sucht mit ihrer neuen Brille nach dem richtigen Winkel. Auf die Nähe ist der untere Teil der Gläser anders scharf als der obere Teil, und sie erinnert sich die ganze Zeit daran: Sie muss den Kopf heben, wenn sie nach oben schaut, zum Himmel, wo eine Wolke aus kleinen Vögeln durch die Luft wirbelt, in eine bestimmte Richtung gleitet, und plötzlich weiß sie nicht mehr, was sich hier bewegt, sie selbst oder die Vögel. Das Gefühl ist dasselbe wie im Zug, wenn man nicht sicher sagen kann, wer losgefahren ist, die eigene Lok oder die auf dem Nebengleis.
Man kann es also auch spüren, wenn man in den Himmel schaut, stellt Jenny Hill überrascht fest, beinahe überrumpelt, und denkt, die Vögel oder ich oder die Erde; etwas bewegt sich, und das andere ruht an seinem Platz, oder vielleicht bewegen sich auch beide, während sie einander passieren, sodass man am Ende nicht sicher sagen kann, ob es der Wind war, ein Atemhauch oder die Berührung eines dünnen Stoffs, vielleicht die Berührung eines Menschen, so zart, dass sie nur die Körperhaare spürten, die sich aufrichteten, Ausschau hielten nach etwas, das noch kommt, weil es offenbar immer etwas gibt, das noch kommt. Und es ist tatsächlich so, dass immer jemand bleibt und jemand geht, aber manchmal ist die Art, wie es am Ende läuft, eine Überraschung.
Jenny Hill schüttelt den Kopf, lächelt kurz, immer diese ausufernden Gedanken, käme doch nur das Taxi.
Aschenputtel, Schneewittchen, Dornröschen, Gretel, Rapunzel, Rotkäppchen
In dieser zeitlosen Dimension sind Untersuchungstische nicht mit rauem Krepp bedeckt, und das Untersuchungsobjekt wird nicht mit kalten Instrumenten oder anderswie berührt. Wir stellen Messungen aus der Ferne an, nutzen diskrete Scans und Überschalltechnologie, die hier nicht weiter erklärt wird. Es handelt sich um eine richtige Fernsprechstunde. Es ist wie Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp, aber in einer anderen Realität, eine Metaverse-Version des dunklen Gemäldes, auf dem der Chirurg Tulp seinen Schülern die Anatomie des Armes erklärt. Die Schüler beugen sich über den Patienten, alles Männer, für damals typisch. Hier, in unserer Dimension, ist das anders.
Jenny Hill, 48, weiß nichts davon. Sie nimmt uns nicht wahr, ahnt nicht, dass wir sie in- und auswendig kennen, und obwohl sie es nicht weiß, kennt sie uns ebenfalls. Wir sind seit Jahrzehnten als Träume, Märchen und verblichene Fotos Teil ihres Lebens, wir beobachten diese Frau von der Seitenlinie aus, sehen zu, wie sie verwelkt, sehen zu, wie unsere verzerrten Geschichten tausendfach wiederholt und auch auf ihre Generation übertragen werden. Wir sind alle sechs anwesend und schwingen.
Wir haben viele Namen, aber Jenny Hill kennt uns unter unseren Märchennamen. Wir sind hier und waren auch nie weg. Wir sind hier, als Stimmen im Kopf, als missverstandenes Ideal-Ich und das, womit alles beginnt.
Uns gibt es nicht.
»Und ob«, sagt Aschenputtel oder auch nicht, in unserer Dimension wird auf anderen Wegen kommuniziert. Wir hatten Zeit, um alternative Kommunikationsformen zu erfinden.
»Wir sind doch hier, Schneewittchen, Dornröschen, Gretel, Rapunzel, Rotkäppchen und ich«, sagt Aschenputtel.
Schneewittchen schüttelt den Kopf. Sie wirkt streng und verständnislos, aber sie hat eine steinerne Miene, und ihre Reaktionen wären schwer zu lesen, würde man sie nicht kennen. Gretel grinst schurkisch und bricht ein Stück Mandelguss vom Tosca-Kuchen ab. Hier sind wir, jederfraus Märchenprinzessinnen, Traummädchen und Benimmratgeberinnen, wir, die wir vervielfältigt wurden und Millionen von Covern zieren, wir, mit denen alles Mögliche verkauft wird, und wir, die wir uns in den gemeinsamen Hirnstamm der gesamten westlichen Welt eingeprägt haben, wir, die Töchter von Lilith.
»Lasst uns nicht darüber streiten«, sagt Rapunzel. »Es ist sinnlos, sich darüber zu ereifern, ob es uns gibt oder nicht. Die Frage ist, wem wir uns zeigen und wem nicht und wer uns hört.«
Dornröschen ist der gleichen Meinung, sie geht normalerweise mit allem mit. Rotkäppchen hat dem nichts hinzuzufügen. Sie betrachtet ihre Fingernägel und ist die stärkste der Schwestern. Das hat einen Grund, auf den wir später zurückkommen werden.
Wir können uns niemandem direkt annähern, aber wir haben unsere Frequenzen entsprechend eingestellt. Wir schicken ein Rauschen in die Gehörgänge, und vielleicht nimmt Jenny Hill ferne Worte wahr. Dieser Kanal ist für uns reserviert, und auch wenn sie uns gerade nicht hört, wird all dies zwischen den Dimensionen gespeichert.
Jetzt geht es los. Wir sind bereit. Das hier ist keine virtuelle Obduktion oder Gerichtsverhandlung, sondern nichts als die Realität.
Das hier ist die Frau, die zu Jenny Hill wird, und sie ist in diese Geschichte spaziert mit Schritten, die sie nicht mehr üben muss. Frauen mit ihrem Aussehen gibt es in Finnland Tausende, aber ihr Name ist das Resultat von Überlegungen trendbewusster und zukunftsorientierter Eltern: Sie haben ihre ältere Tochter nicht zu Katja, Minna oder Sari gemacht, so wie alle anderen in jenem Jahrzehnt, sondern zu Jenni, wie Jennifer oder Jenny, und Letzteres ist sie schon einmal gewesen. Beim Anbruch einer neuen Ära kann man unüberlegte Dinge tun, aber das, was gerade an der Küchenarbeitsplatte aus Massivholz passiert, gehört nicht dazu. Große Veränderungen führen dazu, dass sich ein Mensch klein fühlt, und dann kann er jede Verstärkung gebrauchen, so auch Jenni Mäki, und deshalb übernimmt sie bald eine neue Schreibweise ihres Namens. Sie hat ihre Jacke angezogen und ist bereit zum Aufbruch, als sie einen Notizzettel nimmt und darauf erst die Worte ich bin weg schreibt, danach ihren Namen. Beim letzten Buchstaben des Vornamens kommt eine Schleife aus dem Stift, Jenni wird zu Jenny, und es fühlt sich richtig an. Vielleicht hätte das Y schon immer zum Namen gepasst, und obwohl vieles in diesem Moment schwierig ist, hat die Schlaufe des Buchstabens etwas Mutiges, das energisch seinen Platz auf dem Papier einnimmt.
Es ist eine Verheißung, dass Jenny vielleicht endlich lernt, Dinge zu hinterfragen, womöglich ist diese Zeit jetzt angebrochen, während als Nächstes der Taxifahrer zwei Reisetaschen und zwei Aufbewahrungsboxen mit Metallrändern in das riesige Auto hievt. Diese Fahrt ist der Beginn von allem: Jenny Hill zieht in ein neues Zuhause, eine Mietwohnung, und in ein neues Leben. Sie bricht nicht zu einem Interkontinentalflug auf, obwohl die Distanz zwischen Start- und Zielort größer ist als je zuvor, nein, das hier ist ein Umzug, und darauf hätte sich Jenny nicht vorbereiten können, obwohl sie »wie lebt man allein« (851.000 Suchergebnisse) und »wie verlässt man seinen Mann« (3.980.000 Ergebnisse) gegoogelt hat.
So funktioniert sie, hat sie immer funktioniert: Sie sucht außerhalb von sich selbst nach Antworten, fragt um Rat und befolgt Anweisungen. Irgendwo gibt es eine Antwort, wenn man nur die richtige Suchanfrage stellt, irgendwo gibt es ein »Tu dies, wenn …«, eine Bedienungsanleitung oder einen Erfahrungsbericht, zumindest den Fall einer entfernten Bekannten, aber am Ende ist es egal, woher sie letztlich den Impuls zum Aufbruch bekommen hat. Das Einzige, was zählt, ist, dass sie aufgebrochen ist und in einem Taxi sitzt, in dem mindestens acht Fahrgäste Platz hätten. Doch sie ist allein.
Das hier ist also die Frau, die zu Jenny Hill wird, aber als sie zur Welt kam, hieß sie Jenni Mäki, Mäki wie »Hügel«. Damals hatte sie 300 Knochen, aber jetzt sind es 70 Knochen weniger, weil sich der Mensch auf diese Weise entwickelt. Ihr Skelett ist das gleiche wie bei allen anderen, und auch ihre Größe (162 cm) sagt nicht viel aus. Durch ihren Beckenknochen, der auf der Rückbank des Taxis ruht, kamen zwei Menschen auf die Welt. Hätte man sie von Kleidung, Schmuck, Haar, Make-up, Haut, Unterhautfett, Gewebe und Organen befreit, wäre ihr biologisches Geschlecht ohne diese knöcherne Pforte schwer zu erraten. Der Sicherheitsgurt drückt an ihrer Hüfte, und sie kann mit den Fingern jederzeit das elastische, lebendige Gewebe ertasten und sich an das Gefühl der Wölbung, die Rundung und die Berührungen erinnern, denn auch wenn sich alle Zellen eines Menschen innerhalb von sieben Jahren erneuern, bleibt von Sinneswahrnehmungen eine Ahnung zurück, die man auf Magnetresonanzbildern nicht sehen kann.
Sie ist eine Frau, als solche würde man sie äußerlich einordnen, und als solche fühlt sie sich, und schon sehr früh bemerkte sie, dass das Frausein recht viel Arbeit und Maßnahmen erfordert, wenn man die damit verbundenen Anforderungen an das Äußere ernst nimmt, und das tat sie, sie war in dieser Hinsicht immer eine Gefangene ihrer eigenen Vorstellungen.
Seit Januar 1995 hat die Haut auf Jenny Hills Wangen literweise Serum aufgenommen, aber trotz dieser Maßnahme lässt sich bei ihr morgens eine Falte vom Kissenbezug erkennen, die sich erst nach Stunden glättet. Tausende Male hat sie Make-up auf die Wangen aufgetragen und wieder abgewaschen, um die Augen hat sie dreißig Jahre lang Eyeliner aufgetragen, und als Jenny schließlich lernte, ihre Brauen zu schminken, begriff sie, dass die von Frauenzeitschriften interviewten Make-up-Veteraninnen immer schon richtiggelegen hatten: Augenbrauen bilden wirklich den Rahmen um das Gesicht und schärfen den Ausdruck, ohne Brauen würde alles zerfallen, schmelzen und verwischen, und aus dem Spiegel würde einem ein Weißer Klarapfel entgegenblicken, und wer will das schon sein, wenn es nicht unbedingt nötig ist.
Jenny Hill hat weiche wie harte Erhebungen und einen scharfen Verstand, aber letzterer ist in ihr verborgen. Ihr Kopf wiegt 4,62 Kilo, was nicht stark vom Durchschnitt der Spezies abweicht, und wird von einem Hals getragen, dessen Wirbel gekrümmt sind und über dessen Länge sie mit zunehmendem Alter ein wenig stolz ist, und im Grunde ist es seltsam, dass dieser fast fünf Kilo schwere Teil über allen anderen Teilen ihr Bewusstsein enthält und sie deshalb zu dem macht, was sie ist.
Fünf Kilo sind einfacher zu erfassen, wenn man überlegt, was es heißt, fünf Kilo abzunehmen: eine furchtbare Tortur, wie Jenny aus Erfahrung weiß. Das entspricht fünf Literpackungen Milch oder zwölf Packungen Margarine. Trag das mal vom Einkaufszentrum zum Auto und dann noch vom Parkplatz vor dem Haus in die Küche, dann weißt du Bescheid. Staple das auf der Arbeitsfläche aus Massivholz, dann verstehst du, dass es einem Menschen enorme Anstrengung abverlangt, diese Menge abzunehmen, oder gar eine unmögliche Aufgabe ist, und wenn jemand vor vielen Jahren erzählte, ein Kind mit fünf Kilo zur Welt gebracht zu haben, stöhnten alle aus Mitgefühl oder schnappten aus purem Entsetzen nach Luft.
Auch das gab es irgendwann, eine Zeit im Leben, in der Gramme und Milliliter und Entwicklungskurven wichtig waren, wie auch Zyklen und Eisprünge, und dadurch eine kalendarisierte und körperlich unhinterfragte Weiblichkeit. Fast wie eine Reaktion darauf hört Jenny, wie es im Radio um »Schreckensweiber« aus alten Legenden geht, diesmal um Lilith aus der jüdischen Überlieferung, die erste Frau der Welt und erste Gattin Adams, eine ungezügelte Draufgängerin und sexuelle Abenteurerin, die sich selbst mit dem Sperma des Mannes befruchtete und Dämonen gebar. So etwas wird in der Schule nicht erzählt, denkt Jenny: dass es diese Lilith gab, eine Zauberin der Nacht, eine für Säuglinge gefährliche Übeltäterin, die zur selben Zeit wie Adam aus dem Staub der Welt erschaffen wurde, eine Frau, die sich weder dem Willen ihres Mannes noch beim Sex unterwarf. Deshalb musste sie gehen, und erst danach wurde Eva aus der Rippe des Mannes geformt, Eva, die später in Versuchung geriet und bis in alle Ewigkeit die Last der Sünde trägt, und all das spukt in den Köpfen herum, weil es schwierig ist, versteinerte alte Legenden neu zu denken. Jenny denkt nicht so weit, dass manche Menschen Evas Geschichte womöglich nötiger hatten, vielleicht taugte die umgängliche und gefügige Eva besser zur Idealfrau, vielleicht.
In Jenny Hills Gehirn sind Erinnerungen und Gedanken konserviert, die Nervenbahnen haben Informationen weitergeleitet, zwischen den Dingen sind Pfade entstanden und abgerissen, und obwohl es schwer zu begreifen ist, blitzen in der gelartigen Masse auch Gefühle auf. Diese Dinge sieht man nicht, aber die Menge der Neurotransmitter ist im Laufe der letzten Jahre zurückgegangen, und deshalb vermischen sich Erinnerungen manchmal miteinander, legen sich übereinander oder lassen verwaiste Pfade zurück.
Darauf hat auch die Müdigkeit einen Einfluss. Jenny ist momentan nicht in Bestform, und es ist auch nicht gerade hilfreich, dass sie zu wenig schläft, über Erinnerungen grübelt, ihre Lebensgeschichte rekapituliert, und all das nächtliche Herumwälzen hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass sie gehen muss, und deshalb sitzt sie jetzt im Taxi. Sie möchte glücklich sein und dass ihr Leben irgendwie einfacher und lockerer ist, sie möchte gut zu sich sein und sich selbst verstehen, so wird es überall geraten, aber das ist furchtbar schwierig in einer Welt, die einen Wunsch und einen Anspruch nach dem anderen hervorbringt, Ziele steckt und einen zur Anstrengung zwingt, so ist es ihr immer vorgekommen, seit jungen Jahren, und jetzt ist sie nach vielen Maßstäben alt.
In Jenny Hill rauscht und tönt es, aber sie ist kein kleines Mädchen mehr, und deshalb ist der Klang anders als im vergangenen Jahrtausend. Er kommt von weiter unten, ist voller und reifer, aber die Anmut von so etwas ist versteckt, sie wird nicht geschätzt in der Sphäre des Alltags, wo Schönheit mit jugendlicher Straffheit gleichgesetzt wird. So ist die Welt, so ist ihr Blick. Doch in jedem gibt es offene Pfade und solche, die zuwachsen, sie schlängeln sich über- und durcheinander, ihre Zahl nimmt mit den Jahren zu, und das ist kein Grund, sich zu grämen, so ist es auch im Wald.
Manchmal kann sich eine Erinnerung so fest einprägen, dass man selbst nach dreißig Jahren zu ihr zurückkehren kann, wenn man denselben Duft wahrnimmt oder das gleiche Lied hört, und genau das passiert gerade. Das Radio des Taxis führt Jenny Hill zu dem Moment, als Jenni Mäki ihre Tasche und ihre ausgewaschene Jeansjacke zu den anderen auf den Boden des Jugendzentrums warf, in ihren High-Top-Sneakers einen Schritt zurücktrat, sich der Mädchengruppe anschloss und im Takt der Bogart Co. zu tanzen begann: All the best girls, all the best, they are boys, hörte sie und hinterfragte es nicht.
Sie bewegte sich zu dem Lied, sodass die Füße meist an Ort und Stelle blieben, doch die Knie wippten, und die Hüfte neigte sich ein wenig zur Seite, und die Arme schwankten neben dem Oberkörper her, und die ganze Zeit sah sie dabei einen Hals, der zu lang war, Beine, die zu dünn waren, und Haare, die nach unten hingen, wenn die Temperatur stieg und der Schweiß den zarten Halt des Schaumfestigers zunichtemachte, und sie sah überhaupt nicht aus wie die Mädchen aus den Musikvideos bei MTV. Die Jungen standen an den Wänden des Saals und hatten nur Augen für diejenigen, die es wert waren, gesehen zu werden, diejenigen, die man bei der nächsten Sportstunde in der Langlaufloipe bedrängen könnte, und Jenni Mäki wollte sich sowohl verstecken als auch gesehen werden, und dieses Gefühl war zur selben Zeit abstoßend und spannend.
Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die gesehen wurden. Die tanzten in der Disco des Jugendzentrums in ihr eigenes Bild vertieft vor dem Spiegel, verschlossen ihre Augen vor der Welt, und hinter den voluminös geschminkten Wimpern konnte man eine Härte sehen und die Tatsache, dass sie Freunde auf der Berufsschule und aufregende Flecken am Hals hatten, und sie waren darin geübt, das rechte Bein über den Sattel eines Leichtmotorrads zu schwingen. Damals war Jenny noch Jenni und nicht so. Sie war klein und verträumt, unsicher und brauchte Bestärkung, und sie sah nicht, dass es allen anderen genauso ging.
Sie suchte zuerst nach Dingen zum Festhalten, sie tappte schmächtig wie ein Blumenstiel in Richtung Akzeptanz, und in gewisser Weise hat die Frau mittleren Alters, die sie geworden ist und im Taxi sitzt, dafür Verständnis. Sie ist nicht mehr dieselbe wie dieses Mädchen, und doch ist sie es. In ihr gibt es noch immer die Unsicherheit, die sie in der WC-Kabine im Untergeschoss des Jugendzentrums dazu brachte, an ihren Achseln zu riechen, denn das Mum-Deo aus den Achtzigern vermischte sich in dem Baumwollshirt unter der Jeansjacke mit dem Schweiß zu einem Gemisch, das den Stoff strapazierte und nicht einmal beim Waschen richtig herausging. Dasselbe Kontrollbedürfnis trägt sie heute noch in sich, als sie das Taxi bezahlt und auf ihrem Handy nach der Uhrzeit schaut, und ja, sie ist pünktlich, die Vermieterin sollte jeden Moment kommen, sofern es der richtige Tag ist, und ja, das ist er.
Der Taxifahrer stellt die beiden Reisetaschen und die beiden Boxen vor der Tür ab, und da steht Jenny Hill nun, zwischen zwei Leben, wartet auf den Schlüssel und das neue Leben und erinnert sich, wie sie vor langer Zeit in der Brusttasche ihrer Jeansjacke eine Schachtel TicTac hatte, deren Klappern aufeinandergepresste Lippen versprach. Damals war sie noch Jenni und träumte von Küssen, damals beruhten ihre Vorstellungen von Paarbeziehungen mehr auf ihren geliebten Märchen der Gebrüder Grimm als auf Uma Aaltonen, und sie wartete darauf, dass jemand, der auch nur im Geringsten an einen Märchenprinzen erinnerte, sie betrachten und wirklich sehen würde, zu ihr herüberkäme und ihr irgendwann, irgendwo das Aschenputtel-Nachthemd, das sie von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte, ausziehen würde, ohne ihrem weichen Bauch Beachtung zu schenken, der sie an der Hand nehmen und ihr Gesicht streicheln würde, darauf wartete, darauf hoffte sie. Arme kleine Jenni, auf dieser Welt bringt man Jungen in der Regel nicht das Streicheln bei, für sie gelten ganz andere Regeln.
Die nächtliche Unruhe ist eine schlechte Sache, wenn man auf einer Empore schläft, so wie Jenny Hill in ihrer neuen Wohnung. Sie muss acht Sprossen hoch und runter, und das wäre morgens um vier von jedem viel verlangt. Das hatte Jenny offenbar nicht bedacht, als sie das Apartment zum ersten Mal betrat, nein, sie nickte bloß und stimmte allem zu, was die Filmregisseurin/Vermieterin (die ein wenig unordentlich und seltsam gekleidet war, dachte Jenny) vorschlug. Die Möbel würden bleiben, aber eine Matratze müsste sie sich kaufen, ja, die Gemälde seien egal und Geschirr schwer zu verpacken, beides würde sie dalassen.
Jenny Hill zieht in eine Wohnung, in der es Dinge gibt, die sie nicht selbst ausgesucht hat. Es ist lange her, aber natürlich erinnert sie sich: an das von anderen durchgesessene Sofa, an das hier und da zusammengesammelte Geschirr, an die verschiedenfarbigen Regal- und Tischflächen aus Holzimitat. Darauf folgte dann eine Zeit, in der sie verschiedene Induktionsherde und Duscharmaturen verglich, um die besten auszuwählen, wobei sie eine seltsame Mischung aus Freude und Scham verspürte und sich beim Bestellen der Produkte und Installateure alles Mögliche vorstellte, zumindest wie haltbar alles wäre, doch es kam anders, und jetzt bleibt ihr nichts übrig, als das Neue so anzunehmen, wie es ist. Diesbezüglich hat sie im Grunde keine besonderen Wünsche, außer dass sie die Tür zumachen kann und diese hinter ihr ins Schloss fällt, und in diesem Moment tut sie genau das, und sie betrachtet die Kopie des Mietvertrags.
Unterzeichnet mit einem einzelnen Nachnamen, der zweite fehlt, schon jetzt, obwohl die Scheidung noch nicht offiziell ist. Sie hätte ihn niemals annehmen sollen, denkt Jenny, wobei ihr diese Lösung damals Sicherheit bot und alles Nötige mitteilte: Es gab einen Vertrag, sie hatte geheiratet. Das war alles, das reichte aus, doch später fiel ihr auf, dass es noch viel mehr gibt und eine einzige Rolle einen Menschen nicht definiert, und diese Erkenntnis tat weh: Nicht einmal das Muttersein reicht als solches aus, in jeder Person steckt viel mehr. Nun wird ihr das klar, und sie erinnert sich daran zurück, ebenso wie an den zweiten Nachnamen, der vierundzwanzig Jahre lang unauffällig und leicht wie ein Schal oder ein kleines Schwänzchen im Hintergrund mitgeschwungen ist. Jetzt lässt er sich mühelos abknipsen, einfach so.
In der Wohnung eines anderen Menschen kann man sich vorstellen, ein anderes Leben als das eigene zu führen, vielleicht beginnt es damit. Vielleicht geht es die ganze Zeit und bei allem genau darum, und in diesem neuen Leben liegt auf dem glänzenden Fischgrätparkett kein grauer, steifer Designteppich aus dem Möbelgeschäft, nein, auf dem abgenutzten Dielenboden liegt ein roter Orientteppich, alt und bestimmt staubig, einer, der nirgends mehr zu kaufen ist. In der Küche stehen verbeulte Hocker von Alvar Aalto, und in den Schränken gibt es handbemaltes Geschirr, und kein einziger Gegenstand stammt von einer Hochzeitswunschliste. An den Wänden hängen Bilder, deren Maler sie vielleicht aus dem finnischen Künstlerindex kennt, und auf den Regalen steht Fachliteratur aus einem Bereich, über den Jenny nichts weiß.
All das erscheint verdächtig, und Jenny kann dazu keine objektive Haltung einnehmen. Die Wohnung ist so bohemistisch wie ihre vorherige Bewohnerin, die Jenny umgehend wegputzt, sie muss es tun, auf diese Weise kontrolliert sie die Welt und das Leben, und sie kann nicht anders, alles könnte sich jederzeit auflösen, und das hat es auch kürzlich getan, sie selbst hat den Anstoß gegeben. Sie ist eine Frau, die sich selbst kennt, das wollte sie zumindest glauben, und deshalb ist sie vorbereitet. Sie hat einen Wunderschwamm dabei, Putzmittel, ihr bestes Mikrofasertuch und Einweg-Putztücher, und damit schrubbt sie erst die Arbeitsplatten und Oberflächen in der Küche sowie die Regale im begehbaren Kleiderschrank, und erst danach öffnet sie ihre Taschen.
Darin hat alles seine Ordnung, und Jenny legt jedes Kleidungsstück von dort in den Schrank, und alles ist weiß und blau und grau, weil sie eine wohlüberlegte Basisgarderobe besitzt, die sich jederzeit in einer Zeitschrift herzeigen ließe: Sie kann neue, einfallsreiche Kombinationen schaffen, indem sie verschiedene Teile austauscht, denn die Farben harmonieren miteinander, und die Proportionen sind durchdacht. Sie legt die Kleider in den Schrank und denkt, dass sich in den ganzen hochwertigen Materialien wahrscheinlich der Eigengeruch der Wohnung festhängen wird, aber vielleicht fällt ihr der Geruch bald nicht mehr auf, wahrscheinlich gewöhnt sie sich daran, wenn sie hier ist und sich einlebt.
Dann fehlen nur noch die Schuhe. Jenny Hill ist gerade dabei, drei Paar Pumps ordentlich nebeneinander auf den Boden des Kleiderschranks zu stellen, als ihre Mutter anruft. Jenny steckt die kabelgebundenen Kopfhörer in die Ohren und sieht währenddessen auf dem Display, dass sie viele Nachrichten von ein und derselben Nummer bekommen hat. Erstens: Der Flug verspätet sich, und: Es dauert noch, dann als fortlaufende Kette: Gleich zum Gate, Gibt es Essen?, ??, Kannst du antworten?, Jenska, wo bist du?, und Jenny scrollt über die Fragen hinweg, ohne zu antworten.
Die Stimme ihrer Mutter gelangt über das beschichtete Kabel direkt in ihre Ohren, und ihre Mutter weiß, wo sie ist, spricht jedoch über Dinge, die zur Jahreszeit passen, offenbar erkundigt sie sich auf diese Weise vorsichtig nach dem Befinden ihrer Tochter, die gerade ihre Schuhe betrachtet. Jenny weiß genau, wie man die Beinlänge optimiert und Schönheit maximiert. Mit einem einzigen Blick kann sie die Funktion der Saumlänge eines Rocks hinsichtlich der erreichbaren Aufmerksamkeit berechnen. Die auf diesem Wissen begründeten Entscheidungen haben ihr Großzehengrundgelenk mittels einer Fehlhaltung jahrzehntelang belastet, doch ein gelegentlicher, vom Hallux valgus verursachter Schmerz bringt sie nicht dazu, ihre festen Vorstellungen über angemessenes Schuhwerk für Frauen zu überdenken.
Der Schleimbeutel des Großzehengelenks tut weh, als Jenny sich streckt, um ein sauberes Tuch aus dem oberen Regal des Badezimmerschranks zu holen, und zu ihrer Mutter sagt: Die Heizung in der Wohnung ist unnötig warm, das sollte der Hausmeister wissen, und das heißt: Alles in bester Ordnung, ich komme zurecht und kann auf mich aufpassen.
Sie beendet das Gespräch und betrachtet den Riss im Waschbecken, der seit weiß Gott wie vielen Jahrzehnten dort ist, und denkt, dass sie sich nur vorübergehend in dieser Wohnung und in diesem Haus aufhält. Auch der Stein im Treppenhaus hallt wie vor hundert Jahren, als das Haus gebaut wurde, und sie erinnert sich, wie sie die Wohnung besichtigt hat, die ihr neues Zuhause werden würde, wie sie zum ersten Mal eintrat und zur gleichen Zeit die Vergangenheit und die Zukunft sah, alle Schichten des Lebens sowie die Schwellen dazwischen, und dann machte sie einen Schritt und war auf der anderen Seite, und jetzt antwortet sie auf die Nachrichten ihres Mannes: Ich wohne jetzt woanders.
Die Türklingel gibt ein altmodisches Bimmeln von sich, eines, bei dem Metall gegen Metall schlägt. Jenny Hill hat das Klingeln erwartet, die Uhrzeit war vereinbart, und sie macht den Männern auf, die so alt sind wie ihr Sohn, lässt sie herein. Solche Momente sind wichtig, weil sie davon zeugen, dass hier eine selbständige Frau ist, sie bestellt Matratzen und bittet die Lieferanten, ihren Kauf die Empore hochzuschieben, und so geschieht es, und die selbständige Frau seufzt und verschnauft und kann einen weiteren Punkt von ihrer To-do-Liste streichen.
Das Plastik, in das die Matratze gehüllt war, schimmert frisch und säuberlich entfernt in der Mülltonne des Wohnblocks, und Jenny Hill legt sich umgehend auf die Matratze und riecht das Plastik, die Chemikalien, das Holz und den Zitrusreiniger an ihren Fingern. Sie würde gerne schlafen, ihr kommt es aber vor, als hätten die Männer von eben eine Spur in der Wohnung hinterlassen. Einen Geruch oder ein Wort, etwas, das zuvor nicht hier war, obwohl, natürlich schon, hier war alles, was man sich vorstellen kann, hier wurde hundert Jahre gelebt, in der Wohnung wurde geredet und geschrien, gefragt und geantwortet, vielleicht geflüstert und gesäuselt, leidenschaftlich gekreischt. Auch wenn der Gedanke belanglos ist, vielleicht hat hier noch nie jemand gewohnt, dessen Leben genauso war wie Jennys, so … leise? Beängstigend? Fremd? Ermüdend? Sogar — seltsam?
Jenny Hill liegt auf der Matratze und fühlt, wie sich die Dinge allmählich auf null setzen. Der Zustand ist schwer zu beschreiben. Sie hätte bleiben können, ist es aber nicht, und das ist nicht leicht, sofern das jemand glaubt. Es brauchte dazu Jahre des Heranreifens und viele langsame Bewegungen. Sie hatte Gründe, zu gehen, aber es hätte auch Gründe gegeben, zu bleiben, es gab gute Momente und viele Erfahrungen, die ihr ohne Jussi entgangen wären. Und sie hatten manchmal sogar Spaß, tatsächlich, und Jussi wollte für sie nur das Beste, ja, aber all das spielt nun keine Rolle mehr. Sie hat beschlossen zu gehen und ist gegangen, und jetzt liegt sie allein auf der Matratze, und das ist ihre eigene Entscheidung.
Das heißt auch, dass sie nicht länger etwas sein muss, was sie nicht ist, und etwas an alldem wischt langsam die Jahre weg, die Jahre, die sie bei der Testsieger-Waschmaschine gestanden oder in dem großen, hochwertigen Doppelbett gelegen hat, und sie ist nicht mehr die Frau von jemandem und auch nicht wirklich eine Mutter, eine Tochter ist sie und eine Schwester und vielleicht auch eine Freundin, und sie ist hier und atmet. Plötzlich ist es ganz still, und manchmal beginnt an solchen Stellen eine neue Geschichte.
Dieser Moment hallt durch die Dimensionen hindurch und wird in den immateriellen Ordnern der Ajattaras festgehalten als ein Zeichen, dass sich etwas rührt und dass dies der Augenblick ist, aus dem alles Mögliche entstehen kann, und zur gleichen Zeit schaut Jenny Hill auf ihr Handy und scrollt durch Social Media, stoppt bei einer blonden Frau, deren breites Lächeln bis zu den Augen reicht. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie im Alter gerne so sein wie sie. Auch sie hat voluminös geföhntes und toupiertes Haar, trägt viel Mascara und hat einen freundlichen Gesichtsausdruck. Auch wenn sie niemals die Frau des französischen Präsidenten geworden wäre, sähe sie glücklich und selbstsicher aus, wie eine Frau, die weiß, was sie will; das hat Jenny selten gewusst, und dazu gehört Wachstum und somit eine Prise Trost, denn jetzt hat sie klargemacht, dass sie sich trennen will, oder zumindest, dass sie nicht mehr dieses Leben führen will.
Neben der Frau auf den Bildern steht die Liebe ihres Lebens, aber davon träumt Jenny Hill nicht, sie weiß, wie es ist, an ewige Verbindung zu glauben oder wenigstens an lebenslange Fürsorge, und darüber kann sie nur lächeln, und dieses Lächeln hat etwas Trauriges.
Diese Trauer hat sich gezogen, verfilzt und um die Jahre gewickelt, denn die Zeit verrichtet ihr Werk überall, sie verhärtet Knoten und lässt einen Fragen übergehen, und ab einem gewissen Punkt wird das Verschließen der Augen mit stillem Einvernehmen und das Festhalten an Dingen mit Willenlosigkeit gleichgesetzt, und auch Taktlosigkeit wurde verziehen, weil man sich nicht anders traute, es war doch alles gut. Rein oberflächlich war wirklich alles gut, sehr gut, und sehr lange hat Jenni Mäki gedacht, das würde genügen und man könnte so leben. Ihr ist nicht aufgefallen, wie ermüdend die Gesellschaft von Trauer sein kann.
Die trockene Seite des Kissens ist zum Kopf gedreht, die Decke für einen Augenblick weggezogen, und auf der Matratze, die auf der Welt ruht, liegt Jenny Hill, ein viergliedriges, mit Haut bedecktes Wesen, das zu 51 Prozent aus Wasser besteht. Das Wasser trägt der Mensch in seinen Zellen und außerhalb davon, einen Teil als Blutplasma, einen Teil als Extrazellular- und Cerebrospinalflüssigkeit, sie befindet sich im Herzbeutel und im Pleuraraum, in der Bauchhöhle und den Gelenkkapseln, und die ganze Flüssigkeit wogt jetzt in Jenny, so wie immer. Die Pumpmechanismen der Zellen bewegen das innere und das äußere Wasser umher, aber die Flüssigkeit, die sich an der Körperoberfläche gesammelt hat, verschwindet. Sie wird vom Laken absorbiert, verdunstet von Jennys Kopfhaut in der nächtlichen Luft, und auf ihrer Haut klebt das vom vielen Tragen weiche Nachthemd, das sie auszieht.
Über die Wände des Wohnzimmers bewegen sich die Lichter von Autos. Sie kommen von den Fenstern und bewegen sich von einem Ende der Wand bis zum anderen, hoch zur Empore, und die Bewegung des Lichts weckt eine Erinnerung an die Kindheit in einem dunklen Dorf. Jenni hatte sich den oberen Platz im Stockbett ausgesucht, und von dort aus sah sie, wie die Lichter der Autos über die grüne Wand zogen. Vielleicht, dachte sie damals, gab es irgendwo Menschen, die reisen, gab es Ziele, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte, Dinge, zu denen man sich begab und die man erreichte.
Die Lichter der Autos bewegen sich über die Wände der Wohnung, die einer Regisseurin gehört, und Jenny Hill liegt auf dem verschwitzten Laken und erinnert sich an ihre Träume vom Reisen, von heiterem Gelächter in fremden Städten, von allem, was sie als Mädchen zur selben Zeit neugierig und nervös machte. Damals wusste sie nicht, dass es das Schönste im Leben sein würde, schwanger zu sein, und dass zwischen den Träumen der Jugend und dem wirklichen Erwachsensein ein seltsamer, stiller Ozean lag. Tagsüber sind die Dinge leichter zu ertragen, doch nachts erscheinen sie düster und endgültig, zudem muss sie morgen arbeiten und sollte jetzt schlafen, doch die Überlegungen folgen schneller aufeinander als die Scheinwerfer der Autos, und Jenny denkt an ihre Schwester.
Als sie klein waren, spielten sie sich manchmal gegenseitig. Dann wurde Jenni frech und ihre Schwester schüchtern, und Jenny erinnert sich noch immer, wie es sich anfühlte, auf einem Schneehaufen zu stehen und von dort oben herumzukommandieren, es hatte etwas Aufregendes und Tolles, doch danach brach sie in Tränen aus, aber das ist jetzt egal, sagt sie sich, unnötige Grübelei, vor allem nachts, sie waren zwei Schwestern, und sie war die ältere, trug aber innerlich leichter blaue Flecken davon, das war alles.
Die Erstgeborene, sie selbst, hatte den Leib ihrer Mutter geweitet, und danach ließ sich ihre kleine Schwester darin nieder, machte sich einfach in demselben Raum breit, mit ein paar Tritten, wusste die Zeichen zu lesen und beschloss, die Dinge anders zu machen. Möglicherweise ist das bei Geschwistern immer so. Vielleicht waren auch ihre Kinder, Oona und Olli-Pekka, Spiegelbilder, teils gleich, teils verschieden, und wenn man Spiegel bewegt, geraten die Bilder durcheinander, es kommt zu Verwirrung und Streit, fast wie mit den Lebkuchenfiguren, als beide behaupteten, ihre Männchen seien jeweils besser gelungen, und am Ende alle auf dem Boden saßen, Tochter und Sohn mit Milchtassen in den Händen, beide in einer Ecke Kekse knabbernd, und sie dazwischen.
Kleine Kinder — kleine Sorgen, große Kinder — große Sorgen, heißt es, und vielleicht stimmt das. Manchmal wird die Sehnsucht nach den Kindern oder nach dieser Zeit so groß, dass sie die Eingeweide verdrängt, und auch die Erinnerungen bleiben nicht klar. Auf ihnen häuften sich viele Jahre und viel Müll an, zuletzt auch Groll, und Jenny Hill wird von einer allgemeinen Schwunglosigkeit und Schwermut erfasst, als sie über sich selbst nachdenkt und darüber, woran sie alles gescheitert ist, denn solche Gedanken zeichnen sich oftmals in den frühen Morgenstunden am deutlichsten ab, wenn das Licht oder der Verstand die Schärfe der Schluchten nicht glätten.
