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Oberkommissar Benno Altmann, der der zunehmenden Gewalt in Frankfurt entfliehen möchte, lässt sich in die Provinz nach Passau in Niederbayern versetzen. Die Kleinstadtidylle wird jedoch jäh zerstört, als ein junger Mann zu Beginn der Raunächte am 25. Dezember in der Passauer Altstadt ermordet wird und Altmann daraufhin erstmals die Leitung in einem Mordfall übernehmen muss. Die Ermittlungen verlaufen zunächst schleppend und sein Chef, Kriminaloberrat Volker Engelbrecht, wird von Tag zu Tag ungeduldiger. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, muss sich Altmann obendrein noch mit seiner geldgierigen Ex-Frau, seinem streitlustigen Vater und einer arroganten Staatsanwältin herumschlagen. Als einziger Lichtblick erweist sich dabei die wöchentliche Schachpartie mit einem pensionierten Postbeamten im Hacklberger Bräustüberl. Und da ist auch noch die attraktive Polizeipsychologin Julia van Martens, auf die er ein Auge geworfen hat, und die ihn ermutigt, ein Kindheitstrauma zu überwinden.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Und alles ist stumm
und tot ringsum,
kein Laut ertönt aus den Höhen,
nur am sumpfigen Teich,
im matten Gesträuch,
tanzt ein Chor von krächzenden Krähen.
Franz Grillparzer
Für meine Eltern
Prolog
Mittwoch, der 25. Dezember
Donnerstag, der 26. Dezember
Freitag, der 27. Dezember
Samstag, der 28. Dezember
Sonntag, der 29. Dezember
Montag, der 30. Dezember
Dienstag, der 31. Dezember
Mittwoch, der 01. Januar
Donnerstag, der 02. Januar
Wo war denn unsere Polizei, wenn man sie mal braucht?
Zustände wie in der New Yorker Bronx!
Früher fühlte man sich noch sicher auf den Straßen!
Freitag, der 03. Januar
Samstag, der 04. Januar
Sonntag, der 05. Januar
Epilog
Samstag der 11. Januar
Raunächte
Die Raunächte beginnen am Abend des 25. Dezember und dauern bis 6. Januar, sind also die letzten sechs Nächte im alten und die ersten sechs Nächte im neuen Jahr. Vorchristlicher Aberglauben und uraltes Brauchtum ranken sich um diese zwölf Nächte, in denen nach germanischem Aberglauben das wilde Heer von Odin durch die Luft fährt und jeden mitreißt, der ihm begegnet. Auch Berchta - bekannt aus dem Märchen als Schnee erzeugende Frau Holle - zieht in diesen Nächten mit ihren Kindern umher.
Allgemein verbreitet war der Gedanke, dass die den Nächten folgenden 12 Tage das Wetter der kommenden 12 Monate anzeigen, wobei jeder Tag für einen Monat des kommenden Jahres steht. Noch heute gibt es in ländlichen Gebieten Bauern, die sich das Wetter in dieser Zeit aufzeichnen, um eine Prognose für das kommende Jahr zu haben. In der Zeit der 12 Nächte sollte man keine Türen zuschlagen, sonst müsse man im kommenden Jahr mit Blitz und Donner rechnen. Wer sich in dieser Zeit Fingernägel oder Haare schnitt, musste mit Fingerkrankheiten oder Kopfschmerzen rechnen.
In der Nacht zum neuen Jahr sollte man in der ersten halben Stunde nach Mitternacht alle Türen und Fenster verschließen - außer der Hintertür, weil durch sie der Segen ins Haus kommt. Am Silvesterabend konnte man am Zaun des Nachbarn rütteln, damit im neuen Jahr dessen Hühner zum Eierlegen auf das eigene Grundstück kommen. Am Neujahrsmorgen sollte man Lebkuchen in Schnaps legen, anzünden und dann essen, um vor Sodbrennen geschützt zu sein.
Die letzte Nacht vom 5. auf den 6. Januar galt im Alpenraum als Perchtenabend. Der Tag wurde dann mit Maskenumzügen begangen, Felder wurden mit Weihwasser besprengt, um die Erde zum Leben zu erwecken, damit sie fruchtbar und ertragreich sei. Diesen lärmenden Berchtenläufen setzte das Christentum im Mittelalter die Umzüge der Sternsinger entgegen.
Dem Sonnenschein wurde an diesen Tagen orakelhafte Bedeutung zugeschrieben: Sonnenschein bedeutet am
1. Lostag (26.12.): Es wird ein glückliches, neues Jahr werden.
2. Lostag (27.12.): Preiserhöhungen stehen an.
3. Lostag (28.12.): Streitigkeiten kommen auf.
4. Lostag (29.12.): Fieberträume werden plagen.
5. Lostag (30.12.): Es wird eine gute Obsternte.
6. Lostag (31.12.): Alle anderen Früchte gedeihen prächtig.
7. Lostag ( 1. 1.): Die Viehweiden tragen saftige Kräuter.
8. Lostag ( 2. 1.): Fische und Vögel sind zahlreich.
9. Lostag ( 3. 1.): Gute Kaufmannsgeschäfte stehen ins Haus.
10. Lostag ( 4. 1.): Unwetter kommen.
11. Lostag ( 5. 1.): Nebeltage treten vermehrt auf.
12. Lostag ( 6. 1.): Zwist und Hader kommt auf.
Quelle: Ökumenisches Heiligenlexikon
Er stach zu – ein einziger kraftvoller Stoß mit dem kleinen Jagdmesser genügte. Er hätte nicht gedacht, dass es so einfach war jemanden zu töten - einfach, geradezu lächerlich einfach. Bevor er flüchtete, blickte er ein letztes Mal zurück und sah in der spärlich beleuchteten Gasse die Leiche von Riccardo. Der Tote, von dem er noch nicht mal wusste, ob er verheiratet war oder eine Freundin hatte, lag ausgestreckt auf dem Rücken. Der Kopf war gegen seinen Brustkorb geneigt, weil er beim Fallen gegen einen Mauervorsprung aufgeschlagen war. Wäre da nicht dieser schmerzverzerrte Ausdruck auf seinem Gesicht gewesen, hätte man ihn - bei flüchtiger Betrachtung - durchaus für einen Betrunkenen halten können, der dort seinen Rausch ausschlief.
Hastig rannte er über das holprige Kopfsteinpflaster der Pfaffengasse hinab Richtung Donau. Fast hätte er dabei einen Mann überrannt.
„Himmi Herrgott Sakrament! Hast denn du koi Aug`n im Kopf!“ empörte sich dieser lautstark.
Doch ohne auf seine Flüche zu achten, hetzte er weiter. Unten an der Fritz-Schäfer-Promenade hielt er kurz inne, sah um sich und schleuderte zuerst das Messer und dann das Handy in hohem Bogen in die Donau. Später als er sich auf dem Ludwigsplatz befand, hielt er erneut an. Er spürte wie sein Blut durch die Adern raste. In seinem Kopf herrschte ein wüstes Durcheinander, dennoch zwang er sich klar zu denken. Was war passiert?
Riccardo und er hatten allen Grund gehabt zu feiern: Ihre Geschäfte waren problemlos und äußerst erfolgreich verlaufen. Die Reise in die niederbayerische Provinzstadt hatte sich mehr als gelohnt.
Zunächst hatten sie eine Pizzeria in der Theresienstraße aufgesucht, und zu späterer Stunde waren sie noch in einer Bar unweit des Paulusbogens eingekehrt. Riccardo war bestens gelaunt und zeigte sich spendabel: Zur Feier des Tages hatte er eine Flasche Schampus bestellt.
Als dann die aufreizend hübsche Barfrau in einem gewagt knappen Minirock auf sie zugesteuert kam und den mit reichlich Eis gefüllten Sektkübel an ihren Tisch abstellte, ließ sich Riccardo zu einen anerkennendem Pfiff hinreißen und klatschte begeistert in die Hände. Dann hatte er eine Hand um ihre Hüfte gelegt und erflehte einen Kuss von ihr. Doch die aparte Minirockträgerin ließ ihn eiskalt abblitzen, warf ihm nur einen genervten Blick zu und machte auf dem Absatz kehrt. Riccardo zuckte mit den Schultern, setzte eine Unschuldsmiene auf und kommentierte die Zurückweisung lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung. Doch an diesem Abend hätte es schon um einiges mehr bedurft, um Riccardo seine gute Laune zu verderben.
Schließlich, nachdem sie die Sektflasche bis zum letzten Tropfen geleert hatten, waren sie aufgebrochen und hatten sich auf dem Weg zu ihrer Unterkunft gemacht.
Sie hatten eine Abkürzung durch die Pfaffengasse genommen und hinter einer Mauernische, die Schutz vor neugierigen Blicken versprach, hatte er seinen Anteil von Riccardo eingefordert. Zunächst hatte sich Riccardo geweigert, das Geld hier auf offener Straße aufzuteilen. Aber er bestand darauf, bis schließlich Riccardo zögerlich seine Brieftasche aus seinem Mantel hervorgeholt, und - routiniert wie ein Sparkassenangestellter - ein dickes Bündel Geldscheine durchgezählt hatte. Ungeduldig und frierend hatte er mit den Füßen gestampft, und hatte dabei Riccardo beobachtet. Sein Atem war in der kalten Winterluft gefroren, sodass weiße Dampfwölkchen in den klaren Nachthimmel aufstiegen.
Plötzlich war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschossen: Wieso sollte er sich mit einem kleinen Anteil zufriedengeben, wenn er doch alles haben könnte. Doch zuvor musste noch eine „Kleinigkeit“ erledigt werden: Riccardo musste sterben!
Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er ihn auch schon in die Tat umsetzte. Es war, als wäre der Teufel in ihn gefahren, der ihm die Hand geführt und diesen furchtbaren Hieb ausgeübt hatte. Bevor Riccardo überhaupt begreifen konnte, was mit ihm geschehen war, hatte er sich bereits zusammengekrümmt. Seine Hände hatten sich auf die Wunde gepresst und waren blutüberströmt zurück gezuckt. Dann hatte er einen dumpfen Schrei ausgestoßen und war zu Boden gestürzt, wo er regungslos liegen blieb.
Er hatte sich über den Ermordeten gebeugt, hatte angestrengt nach allen Seiten gelauscht und gespäht, doch niemand schien von dem Verbrechen Notiz genommen zu haben. Dann hatte er Riccardos Taschen durchsucht und das Geldbündel, seine Brieftasche und sein Handy an sich genommen.
Vom Ludwigsplatz begab er sich auf den kürzesten Weg zum Bahnhof. Er zwang sich nun langsam zu gehen. Gelassen und ruhig schritt er dahin, mit der Gewissheit, dass bisher keiner der Vorübergehenden von seiner schrecklichen Tat wissen konnte.
Als er allerdings den Bahnhof erreichte, wurde er wieder von einer angsterfüllten Unruhe ergriffen. Doch er brauchte sich nur in den nächsten Zug zu setzen und schon wäre er in Sicherheit.
Er ging in die Bahnhofshalle und blickte um sich. Ein junger Backpacker, der wohl seinen Anschlusszug verpasst hatte, döste – seinen Rucksack als Kopfkissen benutzend - auf einer Bank. Außer ihm war niemand zu sehen. Dann durchschritt er die Halle, blieb an einer Aushängetafel stehen und informierte sich über die Abfahrtszeiten der Züge. Um 0 Uhr 35 würde der Intercityexpress von Wien über München nach Zürich eintreffen.
Gerade als er sich ein Ticket am Automaten ausdrucken lies, betraten zwei Polizisten die Bahnhofshalle. Ihm gefror das Blut in den Adern. Wurde denn schon nach ihm gefahndet? Er unterdrückte den Impuls, einfach wegzurennen und verhielt sich stattdessen möglichst unauffällig. Wenn die Polizisten jetzt seine gefälschten Ausweispapiere kontrollierten und das ganze Geld bei ihm finden würden, wäre er verloren.
Er starrte auf die große Bahnhofsuhr und beobachtete ungeduldig das Vorrücken der Zeiger. Er hatte noch eine knappe Stunde Zeit bis zur Abfahrt. Dann kam er zu der Einsicht, dass es besser wäre, wenn er das Geld vorerst in einem Versteck unterbringen würde, um es dann später, wenn Gras über die ganze Sache gewachsen war, wieder vorzuholen. Nun wusste er, was er zu tun hatte.
Schweißgebadet schreckte Benno Altmann hoch. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust. Seit er als kleiner Junge in einem See fast ertrunken wäre, wurde er in regelmäßigen Abständen von schrecklichen Alpträumen heimgesucht.
Altmann richtete sich zaghaft im Bett auf. Sein Blick fiel auf die grell leuchtende Anzeige seines Weckers: Es war 6 Uhr 39. Eigentlich entschieden zu früh zum Aufstehen an einem Weihnachtsmorgen, dachte er.
Dennoch erhob er sich, wankte in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm einen kräftigen Schluck aus der Milchflasche. Mit dem Handrücken wischte er sich den Milchbart von der Oberlippe, setzte sich dann an den kleinen Küchentisch und schaute zum Fenster hinaus. Die Kapuzinerstraße, die unter seinem Apartment vorbeiführte, lag noch im Dunkel. Die Stadt verharrte im feiertäglichen Morgenschlaf und nur ganz allmählich sickerte von Osten die Dämmerung herein.
Diese Träume, diese verdammten Träume! Wieso lassen sie sich nicht verscheuchen? , dachte er sich verärgert. Einmal wollte er sich deswegen schon der Polizeipsychologin Julia van Martens, deren Büro nur wenige Schritte von seinem entfernt war, anvertrauen, doch im letzten Moment machte er einen Rückzieher. „Du bist ein elender Feigling!“, hatte er sich dabei selbst beschimpft.
Später als er gerade Kaffee aufsetzen wollte, klingelte sein Handy. Ein kurzer Blick aufs Display ließ nichts Gutes erahnen.
„Altmann“ meldete er sich schließlich.
„Benno, hier ist der Franz, du musst sofort kommen! Es gibt eine Leiche in der Pfaffengasse“ informierte ihn Franz Pichler, diensthabender Kollege der Kripo Passau mit Nachdruck in der Stimme.
„Bin schon unterwegs!“ antwortete Altmann, schlagartig hellwach.
Er zog sich hastig an, schlüpfte in die rote Jack-Wolfskin-Jacke, griff nach dem Autoschlüssel und rannte aus der Wohnung.
Ein eiskalter Wind fegte durch die Straßen. Obwohl der Verkäufer in dem Outdoor-Laden, wo er die Jacke gekauft hatte, ihm versichert hatte, dass man damit selbst Polarexpeditionen bestreiten konnte, fror Altmann jämmerlich.
Die kahlen Äste der Bäume, die Väterchen Frost kunstvoll mit Raureif überzogen hatte, reckten sich in den grauen Himmel, doch Altmann hatte keinen Blick für diesen stillen Winterzauber. Jetzt war er ganz und gar Kriminaloberkommissar Benno Altmann, der mit schnellen Schritten und entschlossenen Blick in die Tiefgarage hinabstieg, wo sein metallicgrüner BMW 528i, Baujahr 1984, abgestellt war. Er sprang hinein, setzte den Motor in Gang und fuhr los.
Scheiße, jetzt geht das Ganze hier auch schon los! , dachte sich Altmann besorgt, der sich gerademal vor einem knappen Jahr, des Großstadtlebens und der vielen Gewaltdelikte in Frankfurt überdrüssig geworden in die beschauliche Drei-Flüsse-Stadt Passau hatte versetzen lassen.
Er fuhr die Kapuzinerstraße entlang und als er die Marienbrücke überquerte und für einen flüchtigen Moment auf das reißende, schmutzig-grüne Wasser des Inns hinab sah, begann sein Herz erneut wild zu schlagen.
„Reiß Dich zusammen!“, ermahnte er sich selbst. „Wie kann man auch nur so blöd sein, in eine Stadt zu ziehen, die von drei Flüssen durchzogen und von jährlich wieder kehrenden Hochwassern heimgesucht wird, wenn man an einer Wasserphobie leidet?“, schürte er seine Selbstzweifel.
Trotz allem mochte er die Stadt. Er mochte die italienisch anmutende Altstadt, er mochte die prunkvollen barocken Kirchen und er mochte deren Bewohner: ehrliche, bodenständige Leute, die zwar manchmal etwas verschlossen und einsilbig waren, aber dennoch das Herz am rechten Fleck hatten.
Der Reihensechszylinder seines BMWs blubberte dumpf als er die Gottfried- Schäffer-Straße entlangfuhr. „Du musst Dir ein neues, modernes Auto anschaffen!“, meldete sich sein Umweltgewissen prompt zu Wort. Doch- wie jedes Mal – wischte der Nostalgiker in ihm alle Bedenken rasch zur Seite. Er hing einfach zu sehr an diesem Auto, einem Relikt der 80er Jahre - einer Zeit, in der für ihn vieles einfacher und besser zu sein schien.
Er bog rechts in die Nikolastraße ab, vorbei am roten Sparkasssengebäude, überquerte den Ludwigsplatz und fuhr die Uferpromenade Richtung Ortsspitze entlang. Kalter, feuchter Dezembernebel drang von der Donau her in die Altstadt. Ein Kreuzfahrtschiff, unter ukrainischer Flagge fahrend, dümpelte verschlafen im blauen Flusswasser.
Dann sah er die aufzuckenden Blaulichter der Streifenwagen und die rot- weißen Absperrbänder, vor denen sich schon ein Pulk von Schaulustigen und Presseleuten eingefunden hatten.
Haben denn die nichts Besseres zu tun?, dachte er sich empört.
Er stellte seinen BMW ab, stieg aus, nickte flüchtig eine Streifenpolizisten zu und bahnte sich, mit der Dienstmarke in der erhobenen Hand einen Weg durch die Menschenmenge. Ein junger, übereifriger Reporter stellte sich ihm in den Weg und versuchte so an Informationen zu gelangen. Mit dem Hinweis, dass er sich an den örtlichen Pressesprecher wenden sollte, schob Altmann ihn zur Seite. Dann schlüpfte er unter dem Absperrband hindurch und schirmte dabei seine Augen gegen das gleißende Licht der aufgebauten Scheinwerfer ab. Das ganze Kriminaltechniker-Team war schon vor Ort. Bei dem Anblick der Techniker, die alle in weißen Overalls steckten und Schutzbrillen trugen, musste er unwillkürlich an eine Szene in einem Science-Fiction-Film denken, den er neulich im Metropolis-Kino gesehen hatte. Er überlegte kurz wie der Titel des Films hieß, kam aber nicht drauf. Scheißegal, dachte er sich, es gibt jetzt schließlich Wichtigeres zu tun.
„Guten Morgen, Erwin!“, begrüßte Altmann seinen Kollegen Erwin Swoboda, der - neben der Leiche kniend – gerade eine Zigarettenkippe in einem Plastikbeutel verschwinden ließ.
„Was soll an diesem Morgen schon gut sein?“, gab Swoboda barsch zurück.
Swoboda, der in ein paar Jahren pensioniert werden würde, war wegen seiner Übellaunigkeit bei vielen Kollegen alles andere als beliebt. „So ein oider Grantlhuber!“, hatte schon mancher auf dem Präsidiumskorridor hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Dennoch schätzte ihn Altmann, weil er ein guter Polizist war und, weil er sicher sein konnte, dass der Tatort unter seiner Aufsicht mit der notwendigen Gründlichkeit untersucht werden würde.
„Und, wie sieht`s aus?“, wandte sich Altmann an Swoboda und forderte einen ersten Lagebericht ein.
„Männliche Leiche; circa 25 bis 30 Jahre alt ; Stichverletzung am Bauch, vermutlich von einem Messer; Tatwaffe nicht auffindbar.“
„Todeszeitpunkt?“, bohrte Altmann weiter.
„Zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr. Alles spricht für einen Raubmord. Weder Geldbörse, Ausweispapiere noch Sonstiges konnten wir finden. Sogar die Schuhe fehlen.“
„ Wer hat die Leiche gefunden?“
„Anonymer Anrufer …“, Swoboda schob sich die Schiebermütze, die sein Markenzeichen war und die er Sommer wie Winter trug, aus der Stirn und warf einen kurzen Blick in sein Notizheft, „eingegangen um 6 Uhr 23 in der Zentrale.“
Altmann sah auf den Toten hinab, der in einer großen Lache geronnenen Blutes vor seinen Füßen lag und verschaffte sich einen ersten Eindruck. Dafür holte er ein Diktiergerät aus seiner Jacke hervor und sprach mit gedämpfter Stimme:
„Südländischer Typ, dunkler Teint, Drei-Tage-Bart, kurze, schwarze Haare, circa 1,70 groß, sportliche Figur; hochwertige, teure Kleidung, vermutlich Maßanfertigung, keine Schuhe; insgesamt eine elegante Erscheinung.“
Aus seiner Frankfurter Zeit kannte Altmann diesen Typ: Investment-Banker in sündhaft teuren Designeranzügen, die mit Blackberry am Ohr und Financial Times unterm Arm das Bankenviertel bevölkerten. Doch hier in Passau wirkte dieser Mann deplatziert.
„Zur falschen Zeit am falschen Ort“, murmelte er halblaut vor sich hin.
„Na Servus, des wars dann woi mit der fröhlichen Weihnacht“, wurde er von seinem Kollegen Steininger jäh aus seinen Gedanken gerissen.
Kommissar Ludwig Steininger - von allen nur „Stone“ genannt - hatte sich mit seiner imposanten Körpergröße von 1,88 Meter und seinen knapp 110 Kilogramm Lebendgewicht grinsend vor ihm aufgebaut. Steininger, Mitte dreißig und eingefleischter Fan des Fußball-Clubs 1860 München, hatte meistens einen fröhlichen Spruch auf den Lippen, auch wenn das bei ihrer Arbeit nicht immer angebracht war.
„Stone“, nahm Altmann ihn zur Seite, „schnapp Dir ein paar Leute und befrag die Anwohner, ob jemand was gehört oder gesehen hat. Du weißt schon, das übliche Prozedere.“
„Okay, Chefe“, erwiderte Steininger nickend und setzte seinen massigen Körper in Bewegung.
Altmann mochte Steininger. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Als Altmann seinen Dienst als „Neuer“ in der Passauer Dienststelle angetreten hatte, war Steininger der erste gewesen, zu dem er ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte. Mit ihm konnte er am besten über Nichtdienstliches sprechen und hin und wieder traf er sich mit ihm auf ein Feierabendbier. Nichtsdestotrotz hatte sich Altmann schon oft gefragt, wie sich eine Couch-Potato wie Steininger, der eine Schwäche für Sahnetorten und Schmalzgebäck hatte, nur durch die Polizeischule mogeln konnte. Aber wahrscheinlich hatte er schon damals seine Unsportlichkeit mit einem Schuss Humor und einer gehörigen Portion Bauernschläue mehr als wettmachen können.
Fast unmerklich war in der Zwischenzeit der Tag hereingebrochen, doch der Nebel hatte die Stadt noch immer fest im Griff. Altmann sah auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten nach acht.
„Wann werdet ihr hier fertig sein?“ wandte sich Altmann Swoboda zu.
„Wir werden fertig sein, wenn wir fertig sind!“ antwortete Swoboda im gereizten Ton eines pubertierenden Teenagers.
Altmann hob seine Augenbrauen und wollte schon auf Konfrontation gehen, besann sich jedoch eines Besseren und fügte im Gehen nur noch hinzu:
„Ich erwarte deinen Bericht schnellstmöglich auf meinem Schreibtisch!“
Als er seinen BMW erreichte, schloss er auf, lies sich auf den Velours-Sitz fallen, verharrte einen Moment und lies eine Joe-Cocker-CD in den Player gleiten.
Unchain my heart
Baby let me go
Unchain my heart
Cause you don't love me no more
Every time I call you on the phone …
Altmann ärgerte sich noch immer über Swobodas respektlose Art, doch die rauchige Soulstimme von Joe Cocker übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.
Er sah aus dem Fenster. Noch immer war die Stadt in dichten Nebel gehüllt. Hoch droben auf dem St. Georgs-Berg blickten die wehrhaften Mauern der Veste Oberhaus auf Passau herab. Irgendwo in der Ferne kreischten Lachmöwen.
Plötzlich fühlte er sich deprimiert und mutlos. Er musste an seine fünfjährige Tochter Caroline denken, die jetzt über zweitausend Kilometer entfernt in dem portugiesischen Fischerdorf Caroveiro lebte. Seine Ehe mit der Portugiesin Amanda da Silva war vor zwei Jahren in die Brüche gegangen. Es hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, als seine Frau ihm offenbarte, dass sie sich scheiden lassen wollte. Obwohl er sich im Nachhinein den Vorwurf machen konnte, die Gefahr des Scheiterns lange Zeit ignoriert zu haben.
Und noch immer klang ihm die schrille Stimme der Rechtsanwältin Regina Sturmvoll in den Ohren, die damals Amanda vor dem Scheidungsrichter vertreten hatte:
„Die vielen Überstunden und die häufigen Wochenenddienste, die der Ehemann meiner Mandantin aufgrund seiner Tätigkeit als Kriminalbeamter absolvieren muss, machten es für sie unmöglich ein erfülltes und glückliches Familienleben zu führen.“
Herrgott nochmal, als ob sie das nicht schon vor der Hochzeit gewusst hatte, dass man als Polizist unregelmäßig Dienst schieben musste. Jedenfalls hatte Amanda nach der Scheidung kurzerhand ihre Koffer gepackt und ging mit Caroline zurück nach Portugal, wo sie jetzt zusammen mit ihrer Mutter ein kleines Häuschen an der Atlantikküste bewohnte. Vergeblich hatte Altmann dabei noch versucht das Sorgerecht einzuklagen, doch er stand von vornherein auf verlorenem Posten und konnte letztendlich die Trennung und die damit verbundene Ausreise nicht mehr verhindern. Der Kontakt beschränkte sich seitdem auf die wenigen Telefonate und die Geschenkpakete, die er zu Carolines Geburtstag und an Weihnachten versandte. Er vermisste seine kleine Prinzessin so sehr, dass es schmerzte. Jedes Mal, wenn er an sie dachte, war ihm, als würde ein glühender Dolch mitten durch sein Herz getrieben.
Eine Zeitlang saß er noch regungslos im Auto und gab sich seiner Schwermut hin, bis es ihm endlich gelang diese Gedanken zu verdrängen.
Da Gerland, der Leiter der Passauer Mordkommission im Skiurlaub war, würde er die Ermittlungsarbeit führen müssen. Obwohl er erst dreiundvierzig Jahre alt war, war er, neben Gerland und Swoboda, der erfahrenste Polizist bei der Passauer Kripo.
Er versuchte sich eine Strategie zurechtzulegen. Dabei konnte er jetzt auf sein Wissen, das er sich in Frankfurt angeeignet hatte, zurückgreifen. Schließlich gehörten in Frankfurt Tötungsdelikte fast schon zum Tagesgeschäft. Er wusste, der überwiegende Teil der Ermittlungen würde aus Routinearbeiten bestehen. Die Untersuchung des Tatorts, die Befragung der Anwohner , die Informierung von Presse und Staatsanwaltschaft.
Dann unterbrach er seine Gedankengänge, startete den BMW und brauste mit quietschenden Reifen davon.
Er fuhr die Fritz-Schäffer-Promenade entlang und vermied es bewusst auf das eisige, blaue Wasser der Donau zu blicken. Er passierte die Schanzl-Brücke, ließ die Altstadt mit dem imposanten Stephansdom, dessen Glockentürme sich nur schemenhaft aus dem Nebelgrau herausschälten, hinter sich und überquerte auf der Haitzinger-Brücke die Bahntrasse.
Sein Magen knurrte, denn er hatte noch keine Zeit zum Frühstücken gefunden. Er hielt vor dem Café Hoft in der Spitalhofstraße und kaufte sich ein Croissant und einen Kaffee „zum Mitnehmen“, oder - wie man das neuerdings bezeichnete – einen „ Coffee to go“.
Beim Hinausgehen schenkte ihm die hübsche Verkäuferin noch ein bezauberndes Lächeln und für einen kurzen Moment war er versucht sie zu fragen, ob sie nach Dienstschluss nicht mit ihm noch einen Kaffee trinken möchte. Doch genauso schnell, wie ihm dieser Gedanken gekommen war, verwarf er ihn auch wieder, denn abgesehen davon, dass eine so junge bildschöne Frau weiß Gott was Besseres zu tun hatte, als mit einem einsamen Bullen auszugehen, würden jetzt die Mordermittlungen seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit erfordern.
Anschließend fuhr er die Nibelungenstraße hinunter bis rechterhand das Polizeipräsidium, ein hässlicher Betonklotz aus den 70er Jahren, auftauchte. Dann bog Altmann in die Einfahrt zum Innenhof ein, parkte seinen BMW neben einem Streifenwagen und ging in sein Büro.
Er verbrachte den Vormittag damit eine Pressemitteilung aufzusetzen. Außerdem musste er seinen Chef und die Staatsanwältin über den Ermittlungsstand informieren und zugleich alle verfügbaren Kollegen der Mordkommission zusammentrommeln. Für den Nachmittag wurde eine Besprechung anberaumt.
Nach drei Stunden Büroarbeit brauchte Altmann eine Pause. Hinter seinen Schläfen pochte ein wilder Schmerz. Er durchwühlte seine Schreibtischschublade, fand eine Packung Aspirin und ging damit auf die Toilette. Dort löste er eine Tablette in Wasser auf und schluckte sie hinunter. Dann klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und kämmte sein flachsblondes Haar, das an den Schläfen schon leicht ergraut war. Er schnitt eine Grimasse und begutachtete seine nicht mehr ganz makellos weißen Zähne.
Du bist wie dein alter BMW, dachte er sich, als er sich im Spiegel betrachtete. Der Lack mag schon ein bisschen stumpf sein und es gibt auch die eine oder andere Delle, aber der Motor läuft noch rund und das Fahrwerk ist auch noch ganz passabel. Im Großen und Ganzen war er zufrieden mit seinem Spiegelbild, nicht zuletzt deshalb, weil in seinen blauen Augen noch immer das gleiche Feuer brannte, wie einst, als er vor zwanzig Jahren, seinen Dienst als Polizeikommissar-Anwärter angetreten hatte.
Als er wieder in seinem Büro war, rief er seinen Vater an.
„Hallo Paps, wie geht`s dir?“
„Wer ist denn da?“, erwiderte sein Vater mit teilnahmsloser Stimme.
„Na, wer schon? Benno, dein Sohn.“
„Hätt`s dich ja auch schon mal eher melden können. Hast deinen alten Vater wohl schon ganz aus deinem Gedächtnis gestrichen“, brummte er vorwurfsvoll.
„Aber wir haben doch erst Heiligabend zusammen verbracht; hast du denn das schon vergessen?“, protestierte Altmann.