Zwölf Wasser 2 – Teil 1 - E. L. Greiff - kostenlos E-Book

Zwölf Wasser 2 – Teil 1 E-Book

E. L. Greiff

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Beschreibung

eSequel: Teil 1   ›In die Abgründe‹ als eSequel in 5 Teilen. Teil 1 gibt's gratis! Während die Reisenden in verschiedenen Weltgegenden versuchen, die Quellen zu erreichen, bricht unter ihnen der Kontinent auseinander: Erdspalten tun sich auf, längst verloschene Vulkane erwachen und Beben erschüttern die Städte. Aber die wahre Katastrophe droht aus der segurischen Hauptstadt Agen: Dort bereitet die dämonische Asing ihre Rückkehr vor …   

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E. L. Greiff

ZwölfWasser

Buch 2:In die Abgründe

Teil 1

Deutscher Taschenbuch Verlag

Zwölf Wasser sollen fließen,

zwölf Quellen sollen sprechen

vom Werden und Vergehen durch die Zeit.

Zwölf Wasser sollen fließen,

zwölf Quellen sollen stillen

der Menschen Durst nach Menschlichkeit.

So soll es sein, so ist es nicht mehr.

Wasser sinkt. Wasser steht. Wasser schweigt.

Menschlichkeit versiegt und Bitternis steigt

auf in den Seelen, dunkel und schwer.

EINS

BRUDERKRIEG

1

Als sie anlegten, war es über dem Fluss noch dunkel. Der Tag kletterte nur zögerlich von den Hügelkuppen hinab, das Wasser des Eldrons glänzte wie Pech.

»Sind wohl nicht gerade Frühaufsteher«, sagte Strommed.

Marken schwieg. Die Aufgabe lastete schwer auf ihm– ohne dass er hätte sagen können, warum. Denn eigentlich war es einfach: Er, Strommed und die pramschen Soldaten waren der Begleitschutz für die Unda Smirn; sie wollte die kwothischen Quellen aufsuchen und das war kein unmögliches Unterfangen, im Gegenteil. Es war leicht. Die Hohe Frau zu eskortieren war eher Respektbezeugung denn Notwendigkeit, schließlich waren die Kwother alte Verbündete Prams und deren Nachbarn. Großes, reiches, sonnendurchflutetes Pram– dort waren Marken und seine Leute vor drei Tagen aufgebrochen und mit dem Kahn den trägen Eldron hinab bis nach Hal gefahren. Während dieser drei Tage war Markens Stimmung seltsam umwölkt gewesen. Er hatte es auf die Trennung von den Kameraden geschoben, das Reisen, den ungewohnten Aufenthalt auf dem Wasser. Nun, in der kwothischen Hafenstadt angelangt, war Markens Stimmung so finster geworden wie diese Nacht, die dem Tag nicht weichen wollte. Er blickte sich nach Smirn um, ihre Augen leuchteten hell im dunklen Gesicht. Sie sieht aus wie der Fluss, dachte Marken. Zwei der pramschen Soldaten hatten das flache Boot inzwischen festgemacht, aber Marken zögerte noch mit dem Befehl, an Land zu gehen. Es war zu still hier. Sie mochten früh dran sein, das ja, dennoch wirkte es nicht, als ob der Hafen von Hal schliefe. Er lag da wie tot.

»Für jeden eine Fackel«, sagte Marken.

»Wird doch bald hell«, sagte Strommed.

Marken hielt kurz die Luft an, das genügte. Strommed lief zu einem großen Korb, schlug Segeltuch zurück, griff hinein. Das Boot schwankte leicht und das Öllicht, das von der Decke des kastenförmigen Aufbaus hing, pendelte. Im matten Schein der Lampe verteilte Strommed die Fackeln an die Pramer. Gute Männer, aber etwas zu träge, zu gleichgültig, fand Marken. Wieder wunderte er sich über den Missmut, den er wie einen bitteren Geschmack nicht loswurde. Es war kein Vergehen, etwas träge zu sein, denn was hatten sie schon zu erwarten? Sie würden von Stadt zu Stadt durchs Land der Kwother reisen und das war Freundesland, wenigstens für die Pramer. Acht Soldaten hatten sie Marken mitgegeben– Felts Trupp war wesentlich größer. Aber Felt zog auch in den unbewohnten Norden, während Marken eine wesentlich bequemere Route hatte: Über Hal und Gem-Enedh bis nach Jirdh sollte es gehen. In den Bergen nördlich der kwothischen Hauptstadt befanden sich zwei wichtige Quellen, das hatte Marken der schweigsamen Smirn entlocken können. Er hatte auf der Karte nachgesehen, die der Segure Telden ihm mitgegeben hatte, und gefunden, was Smirn meinte: Nördlich, genauer nordöstlich von Jirdh, entsprangen zwei Flüsse. Ihre gewundenen Läufe waren mit Globa und Naryn beschriftet. Die Namen hatte Marken sich von einem der pramschen Soldaten vorlesen lassen und dabei ganz beiläufig getan. Während ihrer Flussfahrt hatte er dann immer wieder auf die mit feinen Strichen gezeichnete Karte geblickt und gedacht: Diese beiden Quellen sind also unser Ziel, die Quellen von Globa und Naryn. Er hatte aber keine rechte Vorstellung davon bekommen; die beiden Flüsse waren für ihn schwarze Linien und Kringel auf Pergament geblieben. Lesen war nicht seine Stärke und insbesondere der Umgang mit Karten bereitete Marken Mühe; er konnte die Abbildung nicht auf die Wirklichkeit übertragen.

Wohin genau mochte es die Kameraden verschlagen? Mehr als die groben Himmelsrichtungen kannte Marken nicht, die Undae hatten sich, wie so oft, bedeckt gehalten. Felt jedenfalls war mit Reva über den Pramsee nach Norden gezogen. Viele leichte Boote, die roten Segel gebläht, hatten den Wachmeister und seine Leute, Reittiere und Gepäck über den glänzenden See davongetragen, tiefblau und wolkenlos war der Lendernhimmel gewesen. Pfadmeister Kersted war mit Utate und seiner Gefolgschaft schon in der Früh zu Pferd aufgebrochen, sie hatten Richtung Nordwesten gewollt, ins Land der Steppenläufer.

Und Marken hatte am Kai gestanden. Nicht allein, sondern im Gewimmel der Bediensteten und Schaulustigen, die sich den Aufbruch der Welsen und Undae nicht entgehen lassen wollten, aber dennoch abgeschnitten von allem. Wenig später war er in diesen flachen, breiten Kahn gestiegen, der ihn und seine Leute den Eldron hinunterbringen sollte, das Herz schwer wie ein Klumpen Eisen. Drei Tage war das erst her? Es fühlte sich an wie eine Zehne. Oder wie eine andere Zeit. Nun waren sie in Hal, hatten die erste Etappe ihrer Mission ohne Schwierigkeiten erreicht. Aber die unnatürliche Stille über Stadt und Hafen ließ Markens Herz nicht leichter werden.

Im Licht der sanft schwingenden Öllampe wirkten die wartenden Männer auf dem Boot, als wären sie krank: gelblich die Wangen, dunkel verschattet die Augenhöhlen. Marken schaute wieder zu Smirn. Sie nickte und zog sich die Kapuze über. Wäre es nicht sicherer, sie bliebe an Bord? Marken verwarf den Gedanken, kaum dass er ihm in den Sinn gekommen war.

»Strommed, du gehst vor«, befahl er. Sie würden die wie ohnmächtig schlafende Stadt nun aufwecken, Pferde und Proviant kaufen. Mittags schon könnten sie wieder unterwegs sein und im hellen Tageslicht würden sie die Unbehaglichkeit dieses ausgestorbenen Hafens sicher bald vergessen haben.

Für Marken war das Morgengrauen ohnedies eine Zeit beängstigender Unruhe. Die Nacht kämpfte erbittert gegen ihr Erblassen, so schien es ihm, und die Schatten wurden so dicht, dass sie eine eigene Wirklichkeit hatten: Im Übergang zum Tag konnte es vorkommen, dass der Schatten eines Tischs sich aus dem eben noch gleichmäßigen nächtlichen Dunkel des Fußbodens erhob und echter, greifbarer wurde als der Tisch selbst. Danach erst holte das Tageslicht das Möbelstück langsam aus dem Dämmer, gab ihm eine Form und eine Farbe, machte es sichtbar. Hier in den menschenleeren Straßen von Hal steigerte sich dieses Verwirrspiel ins Unerträgliche. Strommed ging vorneweg, Marken als Letzter und die Schritte der Männer auf dem von der Nacht feuchten Pflaster waren verhalten. Sie wollten nicht wie Diebe schleichen, aber sie wollten beim Gehen gleichzeitig lauschen– wachte denn niemand auf, nicht einmal ein Hund? Nein, nichts rührte sich. Nur die Schatten. Die mehrstöckigen, aus Holz und Stein erbauten Häuser der Stadt waren über steile, außen angebaute Treppenaufgänge und Leitern miteinander verbunden und ineinander verschachtelt. Und dort saßen sie, unter die Treppen geduckt, in Nischen geklemmt, hinter Ecken versteckt: die schrecklichen, scharfen Nachtschatten. Sie wehrten sich gegen den beginnenden Tag und das Licht der Fackeln. Als ob dies ihre Stadt wäre, die sie besetzt hielten und in der sie mit ihrer Schwärze alles andere Leben erstickt hatten.

Marken war erst missmutig gewesen, dann mürrisch. Nun jedoch kämpfte er mit Furcht; sie ließ sich ebenso wenig verscheuchen wie die lautlose Finsternis. Vom Hafen aus waren sie durch schmale Gassen auf breitere Straßen gelangt– niemand war da. Die Straßen hatten auf Plätze geführt– sie waren leer. Markens kleiner, fackelbewehrter Trupp war nicht mehr als ein glimmendes Stückchen Kohle, das Nächtens aus dem Herd gefallen war und nun durch die stockfinstere Stube rollte. Sie konnten diese dunkle Stadt nicht erhellen und nicht beleben. Allem zum Trotz hob Marken nun den Arm, leuchtete in einen Hof. Er sah nur die Umrisse der Dunkelheit, die durch die Bewegung der Fackel zu tanzen begannen– doch im Licht fand er nichts, das lebte. Mit Macht kam die Erinnerung zurück: Auch über das reglose Gesicht seiner Frau waren Schatten getanzt, es war wie ein Hohn gewesen, der Tod trampelte auf dem Leben herum und gaukelte Leben vor, wo keines mehr war. Das Licht war Marken aus der zitternden Hand gefallen und sofort erloschen. Dann hatten sich im Zwielicht zwischen Nacht und Tag alle Schatten gegen ihn erhoben und ihm zugeraunt: Du bist schuld.

»Das gibt‘s doch nicht, dass alle schlafen. Nicht mal Wachen sind da«, murmelte Strommed. Abrupt blieb er stehen. »Oder kann das … Eine Seuche vielleicht? Liegen die alle tot in den Betten?«

Ja, auch Markens Frau hatte tot im Bett gelegen. Kalt und steif war ihr Körper geworden. Aber gestorben war sie nicht an einer Seuche oder Krankheit. Er selbst war schuld gewesen. Marken zog sein Schwert. Er trat in den Hof. Diese Tür dort war nur angelehnt.

Sie lauschten. Kein Geräusch. Oder doch? Ein Atmen vielleicht? Ein Röcheln, das Stöhnen eines Kranken, eines Sterbenden? Marken nickte, Strommed drückte vorsichtig die schwere Tür auf. Sie knirschte über etwas, das am Boden lag, viel zu laut. Marken fluchte, stieß sie ganz auf, sprang hinein, Schwert und Fackel vorgestreckt. Zwei Fässer, eines davon leckte. Ein strenger Geruch. Tongefäße auf Brettern an der Wand, Scherben am Boden. Und kleine, dunkle Bohnen, in denen Marken stand und die unter seinen Stiefeln knackten. Eine Vorratskammer. Ein erschrockener Aufschrei– kleine Augen, geblendet vom Fackellicht, in einem schmutzigen, haarigen Gesicht.

»Was zum …?«

»Ein Schwein, es ist nur ein Schwein!«

Das Tier lief auf die Männer zu, begann, sich laut schmatzend über die Bohnen am Boden herzumachen. Strommed gab ihm einen ärgerlichen Tritt, das Schwein schrie wieder kurz auf, wich ihm aus, senkte dann aber den Kopf und fraß grunzend weiter.

»Wir teilen uns auf«, sagte Marken und trat wieder in den Hof, wo die pramschen Soldaten beklommen schweigend herumstanden, Smirn in ihrer Mitte. Sie wurden von ihren eigenen Schatten umzingelt, die als groteske Schemen an den Hauswänden ringsum entlanghuschten. »Ihr zwei geht da rauf, ihr zwei dort.« Er untermalte seine Worte mit knappen Handzeichen und bemerkte, wie dünn seine sonst so kräftige, in Wind und Weite gestählte Stimme klang. Marken sprach lauter: »Strommed, du kommst mit mir– und der Rest bleibt hier bei der Hohen Frau und rührt sich nicht von der Stelle, verstanden? Und haltet ja die Augen offen, Soldaten!«

Aber die Augen der Männer waren schwarze Löcher. An Bord des Kahns, im Licht der Öllampe hatten ihre Gesichter krank gewirkt. Nun sahen sie aus wie Gespenster. Diese entsetzlich scharfen Schatten werden uns umbringen, dachte Marken in einem kurzen Anflug von Panik, sie drücken uns schon die Augen in die Höhlen.

Er strich sich den Bart, zögerte noch und hoffte, Smirn würde etwas sagen, hätte irgendeine Art von Erklärung. Doch sie schwieg. Wenn es nur endlich hell wäre! Dann könnte Marken die Todesahnung überwinden, die nicht zum Beginn eines neuen Tages passte und ihn doch immer wieder genau dann heimsuchte. Er stieg die Stufen hinauf.

Die Treppe führte auf einen Absatz und wieder stand Marken vor einer Tür. Aber diese hier war nicht angelehnt, sondern geschlossen. Er hatte das Bedürfnis anzuklopfen– das wäre etwas Normales und höflich dazu. Aber hier war etwas Ungewöhnliches im Gange; hinter dieser Tür, hinter diesen Mauern, in diesem Haus, in dieser ganzen Stadt stand eine besondere Stille. Das war keine Nachtruhe. Er drückte die Klinke herab, gefasst auf beides: den Anblick toter Menschen und einen Angriff aus dem Dunkel.

Ein ungemachtes Bett, eine geöffnete Truhe. Wild verstreute Kleidungsstücke. Ein Wandbehang, scheinbar gewellt im flackernden Licht der Fackel. Ein kleiner, gusseiserner Ofen auf drei Füßen, darauf eine Kanne. Keine Menschen. Marken trat an den Ofen. Er war kalt, aber das musste nichts bedeuten, es war Lendern, man musste nicht heizen. Marken hob den Deckel von der Kanne.

»Und?«, fragte Strommed.

»Tee oder so was«, sagte Marken. »Aber alt.«

Sie durchsuchten alle Räume des Gebäudes, so hoffte Marken es wenigstens, denn die Bauweise der Kwother war verwirrend. Sieben verwinkelte Stockwerke saßen übereinander, die Zimmer waren klein, viele fensterlos und miteinander verbunden; es gab nicht nur Außentreppen, sondern auch Aufgänge im Innern des Hauses. Nach dem Aufenthalt im weitläufigen Pram und im Fürstenpalast mit seinen hohen Decken, polierten Steinböden und unzähligen farbigen Glasfenstern kamen Marken die Behausungen der Kwother eng und stickig vor. Aber vielleicht mochten sie es auch, nah beieinander zu sein– um diesen Hof herum wohnten entweder mehrere Familien oder gleich eine ganze Sippe. Strommed und er fanden viele Schlafkammern in den mittleren Stockwerken, mehrere Kochstellen, und als sie endlich auf dem flachen Dach angelangt waren, erkannte Marken, dass auch dieser Raum genutzt wurde: Leinen waren gespannt, Körbe standen herum oder waren umgestoßen, über einem Holzgestell hing ein Rest Trockenfisch. Aber kein einziger Mensch war in diesem Haus zu finden, weder ein toter noch ein lebender. Hier oben war nur der Tag, endlich, und er hatte einen leichten Wind mitgebracht, der die trockenen Fische knistern ließ. Marken warf seine Fackel in einen Eimer. Sie verlosch mit einem Seufzen und schickte als letztes Lebenszeichen einen Rauchfaden in den erblassenden Himmel.

»Was ist hier nur los?«, fragte Strommed. »Wo sind die alle? Ein Überfall?«

Marken bedeutete den pramschen Soldaten, die ebenfalls auf den benachbarten Flachdächern angekommen waren und die Köpfe schüttelten, wieder hinabzusteigen.

»An einen Überfall glaube ich nicht«, sagte er. »Ich habe weder Blut gesehen noch sonst irgendwelche Spuren eines Kampfes. Das sieht mir eher nach einem Aufbruch aus … einem sehr überstürzten Aufbruch.«

»Ihr meint eine Flucht? Aber wovor?«

Marken trat nah an die niedrige Ummauerung des Dachs und blickte über die verlassene Stadt. Wie viele Menschen mochten hier gelebt haben? Tausende, vielleicht zehntausend, mehr jedenfalls, als es Welsen auf dem Kontinent gab. Hal hatte im Morgenlicht seine klaren Konturen zurückerhalten. Allein es half nicht. Die Nachtschatten waren zwar vorerst besiegt, aber nicht sie hatten all diese Menschen in die Flucht geschlagen. Die Schatten waren Markens Hirngespinste, waren seine eigene, kleine Furcht. Was hier vor sich ging, war viel größer.

»Es muss etwas Großes sein«, hörte Marken sich dem Kameraden Antwort geben. »Nur etwas Großes, Ungeheures kann die Bürger von Hal dazu getrieben haben, ihre Häuser zu verlassen. Alles einfach zurückzulassen. Eine ganze Stadt.«

»Und sie sind wirklich alle fort?«, fragte Strommed seltsam hohl. Die Frage verklang und er erwartete keine Antwort mehr, er wusste, sein Offizier hatte keine. So starrten sie beide stumm über die flachen Dächer und an den toten Fassaden der Häuser stieg ein Grauen zu ihnen auf, das weder Nacht noch Tag kannte, sondern zeitlos war.

2

Wo sind sie? Wo sind sie bloß alle? Sind sie wirklich alle fort?

Um das herauszufinden, hatte Marken Strommed wieder losgeschickt– ihn und vier Pramer. Die anderen vier Soldaten hatte er an den Ecken des Dachs postiert. Von hier aus hatten sie einen guten Überblick, das Haus war eines der höchsten der Stadt und erinnerte an einen Wehrturm, wobei alle Gebäude von Hal mit ihrer verschachtelten Rechtwinkligkeit, mit engen Fensterschächten in dicken Mauern und massiven Holztüren etwas Wehrhaftes, beinahe Kriegerisches ausstrahlten. Hier konnte man sich bestens verschanzen. Warum also fliehen?

Marken wandte den Blick ab von den leeren Dächern, unbelebten Straßen und verödeten Plätzen. Seine Furcht war im hellen Licht wieder zu Nervosität und Missmut geschrumpft und er ahnte, woher der kam: Marken fühlte sich überrumpelt, von den Ereignissen überholt, und zwar nicht erst seit diesem Morgen im ausgestorbenen Hal, sondern bereits seit Zehnen. Angefangen hatte es an jenem Abend zu Beginn der Schneeschmelze, an dem die Undae die Offiziere zu sich in die Grotte befohlen und seit Menschengedenken das erste Mal gesprochen hatten: Etwas geht vor. Eile! Weitergegangen war es im Höhenlager, als die Sedrabras über sie hergefallen waren, und dann am Ufer des Eldrons, am Posten im grauen Ascheschlamm, wo man die Offiziere und Soldaten festgesetzt hatte. Marken hatte die Führung des Trecks innegehabt und ihm hatte stets das Gefühl zugesetzt, der Situation nicht gerecht zu werden. Felt wäre der bessere Führer gewesen. Schließlich hatten sie ihm das königliche Schwert geschmiedet, nicht wahr? Selbst wenn Felt nichts davon wusste. Marken lächelte, schmal und bitter. So, wie er Felt kannte, würde es dem Freund ganz ähnlich gehen wie Marken: Etwas ging vor und er hatte das Gefühl hinterherzurennen.

Und was genau ging nun hier vor? Warum waren die Kwother alle fort? Markens Augen folgten Smirn, die lautlos in langsamen Schleifen über die bräunlichen und sich allmählich erwärmenden Fliesen des Dachs wandelte. Ihr Gewand schimmerte silbern in der Morgensonne, sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Nachdem sie auf seine Bitte hin mit den pramschen Soldaten die sieben Stockwerke hier hinaufgestiegen war– sicher ist sicher–, hatte die Unda ihn ernst angeblickt. Aber die wasserhellen Augen in dem dunkelhäutigen, narbengeschmückten Gesicht blieben für Marken unergründlich; falls sie ihm stumm etwas mitteilen wollte, verstand er es nicht. Smirn war fast immer ernst, fast immer schweigsam, Marken hatte sich daran gewöhnt. Aber seitdem er sich von den Kameraden hatte trennen müssen, fiel ihm wieder auf, wie wortkarg Smirn war. Keine der drei Undae war geschwätzig, aber in den Augen der schönen Utate lag eine beinahe mütterliche Geduld, wenn sie über die Quellen sprach und etwas erklärte. Reva, noch kleiner als Smirn und so zartgliedrig, dass es fast beängstigend war, lächelte oft. Dann spürte man ein Wohlwollen, die gute Absicht hinter allem, was die Hohen Frauen taten, ob man es nun verstand oder nicht. Smirn aber half Marken nicht mit Schönheit, Geduld oder Güte– sie forderte ihn. In ihrem Ernst, ihrem Schweigen erkannte Marken den hohen Anspruch, den sie an ihn hatte. Und nichts hätte ihn mehr anspornen können. Smirn beschränkte sich auf das Wesentliche, weil sie sich darauf verließ, dass Marken alleine zurechtkam. Und das kam er auch, er war schließlich Welse. Er glaubte fest daran, dass man mit Willenskraft und Disziplin jedes Problem in den Griff bekam. Zur Not gab es immer noch den schönen, schwarzen, scharfen Stahl. Aber konnte all das helfen, wenn die Quellen versiegten, wenn der Menschheit die Menschlichkeit abhandenkam?

Ein enger Gurt zog sich um Markens Brust zusammen und er griff unwillkürlich nach dem kleinen Lederbeutel, der ihm um den Hals hing. Der eigenartige, plappernde Hüter Torvik hatte ihm diesen mit Quellwasser gefüllten Beutel geschenkt; Felt und Kersted hatten auch welche erhalten. Es war noch nicht lange her, dass sie bei der Quelle der Hoffnung im Wald von Bosre gewesen waren. Marken erinnerte sich gut an die schwirrenden großen Insekten mit den gläsernen Flügeln, an die Magie des Orts, seine Kraft. Die Hoffnung ist ein guter Antrieb– das war Smirns Antwort gewesen auf das, was Marken selbst gesagt hatte: Wir geben niemals auf. Ja, nicht aufgeben. Sondern hoffen und weitermachen. Bei der Quelle hatte Marken es mit voller Überzeugung aussprechen können, heute kam es ihm vor wie eine Floskel. War das so, wenn die Quellen ihre Wirkmacht verloren? Kam einem dann jede Regung, jedes ehrliche Gefühl, jede eben noch feste Überzeugung hohl und leer und sinnlos vor?