Zwölf Wasser 2 – Teil 2 - E. L. Greiff - E-Book

Zwölf Wasser 2 – Teil 2 E-Book

E. L. Greiff

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

eSequel: Teil 2  ›In die Abgründe‹ als eSequel in 5 Teilen. Während die Reisenden in verschiedenen Weltgegenden versuchen, die Quellen zu erreichen, bricht unter ihnen der Kontinent auseinander: Erdspalten tun sich auf, längst verloschene Vulkane erwachen und Beben erschüttern die Städte. Aber die wahre Katastrophe droht aus der segurischen Hauptstadt Agen: Dort bereitet die dämonische Asing ihre Rückkehr vor …   

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 146

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



E. L. Greiff

ZwölfWasser

Buch 2:In die Abgründe

Teil 2

Deutscher Taschenbuch Verlag

DREI

GLOBA UND NARYN

1

»Sind das Wolken oder ist das Rauch, dort über den Gipfeln?« Marken konnte es nicht entscheiden, seine Sehkraft war eingeschränkt.

»Es ist Rauch«, antwortete Smirn.

»Aber was soll dort brennen? Dort ist nur Stein, oder nicht?«

Er hatte mehr genuschelt als gesprochen, seine linke Gesichtshälfte wollte sich kaum bewegen und so war das Sprechen beinahe noch schwieriger als das Sehen.

»Dann wird es der Stein sein, der brennt«, sagte Smirn und beschleunigte ihre Schritte. Sie ging im schmalen, felsigen Flussbett der Globa bergan. Seit sie den Fluss erreicht hatten, schien Smirn wie von neuer Kraft durchströmt. Sie war unermüdlich und Marken hatte den Eindruck, sie hätte auch die Nächte hindurch gehen können. Aber als er ihr vor einigen Tagen mit geschwollener, schwerer Zunge zu verstehen gegeben hatte, sie solle ihn besser zurücklassen, war Smirn stehen geblieben und hatte ihn mit dieser Strenge angeschaut, hinter der nur derjenige Güte sehen konnte, der die Art dieser Unda gewohnt war. Oder der halb blind war und deshalb deuten musste.

Marken hatte nicht bemerkt, wie schwer ihn das kochende schwarze Blut der Dhurmmets verletzt hatte. Er hatte nur Strommed gesehen, dessen Brust so weit aufgerissen war, dass sein Herz frei lag. Es war ein großes Herz und es war ruhig.

»Er hat keine Schmerzen gehabt«, hatte Smirn gesagt, »und auch keine Angst. Mehr konnte ich nicht für ihn tun. Er ist gestorben als der, der er war.«

Marken aber hatte Schmerzen gehabt. Die schlimmsten seines Lebens. Sie überfielen ihn, schienen ihm das Gesicht abzureißen in dem Moment, als er den Blick von seinem toten Kameraden abwandte.

Mittlerweile ging es besser; gut eine Zehne war seit dem Kampf mit Ormn vergangen. Die steinharte Blutkruste auf Markens Gesicht– eine grausige Maske, die ihm glühende, hasserfüllte Albträume in die Seele drückte– war abgefallen. Und die wunde Haut darunter begann zu vernarben. Marken war nie dem Irrtum aufgesessen, ein besonders gut aussehender Mann zu sein. Aber nun war sein Äußeres abstoßend; der Schädel kahl, das Gesicht zur Hälfte rot und schrundig, das linke Auge trüb und tränend. Wer Marken ansah, musste eine Hürde überwinden, um ihn zu erkennen. Zum zweiten Mal war Marken in die Untiefen seiner Seele hinabgestiegen und hatte seine Menschlichkeit abgelegt. Ein Unmensch hatte den Tod über seine Frau Asta gebracht. Und es war ein Unmensch gewesen, der den Dämon getötet hatte. Marken war zwar wieder Mensch geworden, beide Male, aber er hatte Wunden davongetragen, unsichtbare und sichtbare. Er hatte nicht lange darüber nachdenken müssen, was Er ist gestorben als der, der er war bedeutete. Strommed war als Mensch gestorben. Er war schwer verletzt worden und dennoch unversehrt in die andere Welt gegangen.

Nun aber grübelte Marken über etwas anderes nach: das Brennen von Stein. Smirn hatte das nicht nur so dahergesagt, sie machte niemals eine gedankenlose Bemerkung. Aber er fragte nicht nach, sondern konzentrierte sich auf seine Schritte. Aus Kringeln und schwarzen Linien auf dem Pergament einer Karte war endlich die Wirklichkeit geworden– wenn auch eine verschwommene, kaum erkennbare. Sie waren am Fluss und kämen auch bald an seine Quelle. Es war eine der Zwölf. Markens Herz schlug schneller, nicht nur wegen der Anstrengung. Der Weg zur Quelle war steil, aber nicht verborgen. Neben der raschen, klaren Globa verlief ein Pfad; wo es nötig war, waren Stufen in den Fels getrieben worden. Das kam Marken in seinem angeschlagenen Zustand zwar entgegen, vergrößerte aber seine Sorge. Die Quelle war leicht zugänglich und über ihr hing schwerer Rauch. Und dies alles zu einer Zeit, in der Dämonenkrieger die Äxte erhoben. Marken versuchte, sein tränendes Auge zuzukneifen, aber es gelang ihm nicht.

Verborgen war die Quelle zwar nicht, aber ganz so leicht zugänglich, wie Marken es befürchtet hatte, war sie auch nicht. In den Fels und über den Fluss war ein niedriger Turm gebaut– kantig, abweisend und massiv wie alle kwothischen Bauten. Talwärts saß der Turm auf einer von einer brusthohen Mauer begrenzten Terrasse, unter der die Globa zwischen Gittern hervorsprudelte. Die Rückseite des Gebäudes wuchs mit der Bergflanke zusammen. Von hier aus war es noch ein gutes Stück bis zum Gipfel, hinter dem die dunkle Rauchsäule aufragte wie ein riesiger, leicht nach links geneigter Baumstamm. Es war windstill, das Tosen der Globa war das einzige Geräusch.

Smirn trat durch einen schmalen Durchlass in der Mauer auf die Terrasse. Marken folgte, das Schwert in der Faust. Er war nicht in der Lage zu kämpfen und würde es trotzdem tun, wenn es nötig wäre. Die Unda ging rasch an vergitterten, engen Fensterschächten vorbei auf ein massives, eisenbeschlagenes Holztor zu, drehte den großen Knauf, drehte wieder. Ein totes, metallisches Klicken war die Antwort. Das Tor war verschlossen. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich ab und legte ihr Gesicht in die Hände. Dieser Ausdruck des Kummers hätte Marken bei jedem Menschen gerührt. Bei Smirn aber jagte er ihm Angst ein.

»Was ist mit der Quelle?«, fragte er heiser.

Smirn antwortete nicht.

»Was ist mit dem Hüter? Ist er da drin?«

Smirn reagierte nicht. Marken steckte das Schwert weg, reckte den Hals und spähte durch die Gitterstäbe.

Im Innern war es schummrig, nur wenig Licht fiel durch die schmalen Fensteröffnungen. Aber in der Mitte des ansonsten leeren Raums stand eine Gestalt in einem Lichtkegel. Marken legte eine Hand auf sein trübes Auge, damit er sich besser auf das konzentrieren konnte, was sein gesundes Auge sah. Ja, kein Zweifel: In voller, mattgolden schimmernder Rüstung stand dort ein kwothischer Krieger. Obwohl Marken nicht gut sehen konnte, bemerkte er sofort, dass dieser Krieger statt der in Kwothien üblichen Axt ein langes, reich verziertes Schwert in der Hand hielt. Es erinnerte Marken an das Schwert von Sardes, des Quellhüters in Pram. Der Krieger hatte den behelmten Kopf weit in den Nacken gelegt und blickte wahrscheinlich in den Himmel. In der Decke des Turms musste, wie bei den Totenhäusern der Nadhina-Mmet, eine Öffnung sein. Ob er von dort den Rauch beobachten konnte? Er rührte sich nicht. War dieser Krieger nun der Hüter der Quelle oder nur ein Wächter? Oder gar … dessen Mörder? War er ein Dhurmmet?

»Smirn, da ist jemand drin.« Markens Stimme bebte, er räusperte sich.

»Ich weiß«, sagte sie matt und ließ die Hände sinken, schaute Marken an.

»Und warum öffnet er nicht? Wer ist das? Soll ich das Tor aufbrechen? Sag mir einfach, was ich tun soll, ich bitte dich!«

»Du kannst dieses Tor nicht aufbrechen, Marken. Wenn sie uns nicht einlässt, können wir nicht zur Quelle gelangen.«

»Sie?«

»Ja, sie. Dort drinnen ist Endhemone, Hüterin der Quelle der Gerechtigkeit. Und sei versichert: Ihr Schwert ist, obwohl alt, nicht stumpf. Sie kämpft nicht gern, aber sie gewinnt am Ende immer.«

Marken blickte mit offenem Mund wieder durch die vergitterte Öffnung. Das war tatsächlich eine Frau– eine sehr beeindruckende Frau. Sie hatte das Kinn nun gesenkt, die vollen Lippen fest verschlossen. Ihre großen Augen waren auf Marken gerichtet; sie schimmerten wie Perlen in ihrem dunklen Gesicht. Es war Markens Sorge um sein eigenes Augenlicht, die es ihn sogleich erkennen ließ: Die Hüterin war blind.

2

»Und was nun?«, hatte Marken gefragt.

»Reden«, hatte Smirn geantwortet.

Das hatte sie getan und sie tat es immer noch, es wurde bereits dunkel. Marken saß auf dem Steinboden der Terrasse, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, und beobachtete Smirn. Unermüdlich lief die Unda vor der Stirnseite des Turms auf und ab, sprach zu den dunklen Fensterschlitzen, die Marken im schwindenden Licht immer mehr wie eine Reihe langer schwarzer Zähne erschienen.

Von drinnen kam nicht viel.

Beide Frauen sprachen Kwothisch, sodass Marken kein Wort verstand. Aber in Endhemones gedämpfter Stimme hörte er eine Müdigkeit und Trauer, die ihn betroffen machte. Dass die sonst so wortkarge Smirn das schleppende Gespräch mit allen Mitteln in Gang hielt, konnte zudem nur eines bedeuten: Schweigen war der Tod. Endhemones Tod. Warum die stolze Kriegerin dort drinnen lebensmüde war, wusste Marken nicht. Aber sie war es, daran gab es keinen Zweifel. Der Tonfall des Kapitulierens war immer gleich, ob Kwothisch oder Welsisch, ob alter Mann oder junge Frau.

Jetzt nahm Smirn die Kette mit der Phiole ab und hielt sie hoch. Zwischen den Gitterstäben langte eine Hand danach, eine zweite kam dazu. Marken sah Endhemones ernstes Gesicht hinter dem Gitter. Ihre Perlenaugen schauten ins Nichts, während ihre Hände die Phiole betasteten. Sie entglitt ihr– oder ließ sie sie fallen?– und Smirn fing das Glasgefäß auf.

Sie schwieg jetzt. Sie wartete. Smirn musste Endhemone gebeten haben, selbst einen Tropfen ins Wasser zu geben und die Quelle zu beleben, wenn sie die Unda schon nicht einließ.

Marken stand auf. Das Geräusch reichte aus, um der Hüterin zu sagen, wo er war. Sie sah ihn an. Es war seltsam– sie konnte ihn nicht sehen und sah ihn dennoch, Marken spürte es. Sie prüfte ihn.

Dann verschwamm ihr Gesicht im Dunkel. Endhemone hatte sich wieder zurückgezogen. Smirn hängte sich wortlos die Phiole um den Hals. Nach einer langen Pause sagte sie schließlich: »Komm, Marken. Lass uns das Feuer ansehen, in dem Endhemones Lebenswille verbrennt.«

3

Es war nun fast vollkommen dunkel und Smirn entzündete ihr weißes Licht. Sie führte Marken zu einem anderen Pfad als dem, den sie heraufgekommen waren. Dieser hier war nicht in den Stein gehauen, sondern mit der Zeit ausgetreten worden. Der schroffe Fels zur Linken wies auf Markens Hüfthöhe einen glatten Streifen auf. Als sei der Stein dort von vielen Vorbeigehenden abgeschliffen worden. Er fuhr mit der Hand darüber, Smirn bemerkte es und blieb stehen.

»Dies ist ihr Pfad. Endhemone ist ihn gegangen, jeden Tag. Viele hundert Soldern lang.«

Dort, wo Markens Hand lag, musste auch die von Endhemone oft entlanggestrichen sein. Sehr oft.

»Wenn die Quelle versiegt, stirbt der Hüter …«, seine Finger tasteten über den Stein, wie die der Blinden es viele Male getan hatten, »… und wenn der Hüter sterben will, dann muss auch die Quelle versiegen. Oder?«

»Ja. Quelle und Hüter sind untrennbar miteinander verbunden. Es war damals nicht leicht, Endhemone davon zu überzeugen, diese Bürde anzunehmen. Sie hat nur eingewilligt, weil Miwoghd es auch getan hat.«

»Wer ist das?«

»Ihr Mann. Ich hoffte, du würdest ihn bald kennenlernen. Ich hoffe es immer noch.«

»Ihr Mann ist auch ein Hüter? Welche Quelle schützt er?«

»Die Wichtigste von allen«, sagte Smirn und wandte sich wieder zum Gehen.

Weil Smirn vor ihm ging und ihr Licht hell strahlte, sah Marken das rote Glühen am Himmel erst spät. Sie waren zwei oder drei Stunden schweigend bergan gewandert, Marken hatte kein einziges Mal die Hand vom glatt gefassten Fels genommen. Wenn Endhemone wirklich sterben wollte, dann durfte sie die Quelle nicht beleben. Aber warum wollte die Hüterin diese Welt verlassen? War ihr die Bürde zu schwer geworden? Sardes starb, weil seine Quelle versiegte, er trug sein Schicksal mit Fassung. Hier war es umgekehrt. Die Quelle musste sterben, weil die Hüterin nicht mehr leben wollte. Was wären die Folgen? Wie lebte es sich in einer Welt, die keine Gerechtigkeit mehr kannte? Würde man das überhaupt bemerken? Es kam Marken nicht so vor, als sei sein Leben bisher in irgendeiner Weise gerecht verlaufen.

Fast wäre er auf Smirn geprallt, die stehen geblieben war und die weiße Flamme erstickt hatte. Der Pfad machte eine scharfe Kehre, noch verbarg Fels– ein gezacktes Schattenbild vor unwirklich blutrotem Nachthimmel–, was dahinter war. Marken roch einen fauligen Gestank, im nächsten Augenblick schon war es ein übler Geschmack geworden. Er schluckte, würgte. Das Rauschen der Globa war längst nicht mehr zu hören gewesen; nun drang ein anderes Geräusch an Markens Ohr: ein krachendes, schabendes Blubbern. Es war ein fremder und seltsam falscher Klang, denn es war nicht das Knistern oder Flackern eines Feuers. Sondern das Kochen einer Flüssigkeit, die hart war. Sie folgten der Wegbiegung und Marken hatte das Gefühl, eine lebensrettende Deckung zu verlassen.

Hitze schlug ihnen entgegen. Marken musste sofort an Ormn denken, eine enge Klammer legte sich um sein Herz. Er atmete so flach wie möglich, die heiße, stinkende Luft stach ihm wie mit Nadeln in den Rachen. Was er aber schließlich sah, ließ ihn das Atmen vollends vergessen.

Sie standen am Rand eines kreisrunden Kraters, groß wie ganz Goradt. Im Innern wogte wie in einem gigantischen Schmelztiegel flüssiger Stein und legte zischend seine glänzend schwarze Haut in Falten. Immer wieder brach die Kruste und wie dickflüssiger Eiter quoll rot glühende Gesteinsmasse aus den Rissen hervor. An manchen Stellen züngelten Flammen; dort brannten die stinkenden Gase und Rauch stieg auf. Im weiten Kesselrund sahen die Brandherde aus wie die Lagerfeuer eines unsichtbaren Dämonenheers. Alles war in langsamer, aber von gewaltigen Kräften angetriebener Bewegung: Die schwarz glänzenden Krustenplatten verschoben sich gegeneinander und übereinander. Feuer erstickten oder flammten auf; dort erkaltete ein roter Glutstrom, während sich woanders eine Blase von der Größe eines Hauses erhob, die Kruste beiseite drängte und schließlich in einer hell glühenden Fontäne krachend zerbarst.

Marken war nicht leicht zu beeindrucken, er war zu oft in den Schmelzen am Berg gewesen und hatte dort den Stahl kochen sehen. Aber dies hier war ein so tiefer Blick in die rumorenden Eingeweide des Kontinents, dass er taumelte. Sein Brustschutz schien zu glühen. Seine linke Gesichtshälfte, wund und empfindlich, schmerzte wie seit Tagen nicht mehr. Seine Augen tränten. Smirn trat nah zu ihm. Sie war deutlich kleiner als er, aber ihre Kühle umgab sie wie ein zweiter, größerer Körper, mit dem sie Marken vor der Hitze abschirmte. Und vor dem, was in Markens Erinnerung brodelte. Allein Smirns Nähe verhinderte, dass die feurigen Augen des Dhurmmets Marken aus dem lodernden, stinkenden Kessel heraus anstarren konnten. Er fing sich wieder. Die Schmerzen ließen nach. Die Unda hob den Arm, Marken folgte ihrem Fingerzeig. Über den Krater führte eine hohe schmale Brücke, der Schattenriss des Bauwerks bildete eine geschwungene Linie vorm fiebrig glühenden Himmel. Aber die Brücke führte ins Nichts, sie war größtenteils eingebrochen, die Stützpfeiler waren geschmolzen in der Hitze des Erdinnern, die hier nach oben drang.

4

»Ich wollte Endhemones Weg nehmen, aber es gibt ihn nicht mehr.« Smirn wanderte in langsamen Schlenkern über die Terrasse. Marken lehnte an der Mauer, müde und doch in sorgenvoller Unruhe, und beobachtete, wie sich das Morgengrauen langsam in den Himmel schlich.

»Dort oben, wo nun die Erde kocht, war ein Hochtal von einzigartiger Schönheit. Ich wünschte sehr, du hättest es sehen können, Marken– der Anblick allein versöhnte mit so vielem… Die Jas Lahwiach-Dhe, die Brücke der zwei Seelen, war als Bauwerk für die Ewigkeit gedacht, genau wie dieser Quellturm hier. Beide sind errichtet worden, als der Kontinent noch jung war, und beide sind für Endhemone gebaut worden.«

Smirn sprach nicht direkt zu den Fensterschächten hin wie zuvor, aber doch so laut, dass die Hüterin sie hören konnte.

»Jeden Tag vor Sonnenaufgang ging Endhemone den Pfad bis zum Tal und dort über die Brücke. In deren Mitte wartete Miwoghd auf sie. Sie strich mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Er küsste sie. Sie sprachen nicht, denn das war nicht notwendig. Dann ging Endhemone wieder zurück.«

Marken begriff: Smirn beschwor die Vergangenheit nicht für ihn herauf, sondern für die Hüterin, die stumm im Dunkel hinter den Gittern verharrte und lauschte. Marken zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass sie Welsisch verstand. Sie hatte die Anfänge der Sprache selbst erlebt.

»Wer denkt, das sei viel Mühe für einen Kuss, der irrt. Ein einziger Kuss von Miwoghd wäre es wert, den ganzen Kontinent zu durchwandern– es gibt nichts in dieser Welt, das kostbarer ist. Denn Miwoghd hütet die Quelle der Liebe. Und die Liebe ist die große Sinnstifterin. Ohne sie wird alles bedeutungslos. Auch das eigene Leben. In einer Welt, in der es keine Liebe gibt, gibt es auch kein Leben.«

Jetzt blieb Smirn stehen und sprach doch Richtung Endhemone.

»Aber die Quelle ist nicht versiegt. Die Liebe hat diese Welt noch nicht verlassen. Endhemone hat sie ihr ganzes langes Leben hindurch geschützt– wer zur Quelle der Liebe gelangen will, muss hier vorbei. An der unbestechlichen Hüterin und ihrem Schwert. Denn die Liebe nimmt jeden an, selbst ihren eigenen Mörder. Endhemones Prüfung hingegen hält kaum jemand stand.«

Nun war der Weg zu Miwoghds Quelle ungangbar geworden. Endhemones Lebensaufgabe war mit der Brücke in sich zusammengestürzt. Marken ahnte, dass nicht dies allein der Grund für die tiefe Traurigkeit der Hüterin war. Es war die Trennung, die sie nicht verwinden konnte. Sie war der Liebe so nah gewesen wie kein anderes Wesen auf dem Kontinent. Die bloße Existenz des Hüters, der Quelle– unerreichbar im Höhenzug auf der entfernten Seite des Tals gelegen, das ein brodelnder Kessel geworden war– konnte ihr nicht genug sein. Aber was war mit ihrer eigenen Quelle? Die durfte sie doch nicht einfach aufgeben!

Ein Flüstern drang aus dem Turm und wehte wie ein frühmorgendlicher Hauch ins Grau des beginnenden Tags. Marken schauderte, spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Das waren Abschiedsworte gewesen. Alles Reden war umsonst gewesen, die Hüterin wollte gehen.

Smirn schrie auf. So plötzlich, so laut, so gequält, dass Marken wie unter einem Schwerthieb zusammenfuhr. Die Unda warf sich gegen das verschlossene Holztor, schlug darauf ein. Dann krallte sie ihre Hände in den Stein des Turms, als wollte sie ihn niederreißen. Die Narbenranken auf der dunklen Haut glommen hell und sie schrie, schrie in einem fort Endhemones Namen. Schließlich fuhr sie herum, starrte Marken an mit vollkommen schwarzen, weit aufgerissenen Augen– und war verstummt.

Im Rauschen des unter ihnen hindurchströmenden Wassers erst ein schleifendes, dann ein schmatzendes Geräusch. Unmittelbar gefolgt von einem dumpfen Schlag.