Zwölf Wasser 2 – Teil 4 - E. L. Greiff - E-Book

Zwölf Wasser 2 – Teil 4 E-Book

E. L. Greiff

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Beschreibung

eSequel: Teil 4  ›In die Abgründe‹ als eSequel in 5 Teilen. Während die Reisenden in verschiedenen Weltgegenden versuchen, die Quellen zu erreichen, bricht unter ihnen der Kontinent auseinander: Erdspalten tun sich auf, längst verloschene Vulkane erwachen und Beben erschüttern die Städte. Aber die wahre Katastrophe droht aus der segurischen Hauptstadt Agen: Dort bereitet die dämonische Asing ihre Rückkehr vor …  

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E. L. Greiff

ZwölfWasser

Buch 2:In die Abgründe

Teil 4

Deutscher Taschenbuch Verlag

SIEBEN

TELEIA UND IHRE SCHWESTERN

1

Eine Erschütterung, gefolgt von einem polternden Beben, holte Babu zurück. Er selbst lag ganz still, ließ die Augen geschlossen, lauschte. Es hörte sich an, als sei er im Innern eines alten Karrens, der ächzend und knarrend über eine schadhafte Straße rumpelte. Nur dass dieser Karren sehr groß sein musste. Konnte man Größe hören? Babu stöhnte. Die Riesenkrebse liefen durch die Schluchten seiner Erinnerung. Er griff sich an die Stirn, fühlte einen dicken Verband. Hatte Felt ihn etwa gefunden? Und ihn abermals davon abgehalten, ein Ende zu machen? Zähe, schwarze Verzweiflung füllte Babus Brust und er atmete schluchzend ein. Konnte dieser sture, große Mann Babu nicht einfach in Ruhe lassen? Was wusste Felt denn schon von dem, was Babu anrichtete? Welches Unglück er in die Welt brachte?

Babu strich mit den Händen über seine Zudecke und seine Lagerstatt. Glatter, kühler Stoff, feines Leinen. Das fühlte sich fremd an. Er war versorgt worden und ruhte nun zwischen sauberen Laken in einem riesigen Karren, dessen Rumpeln inzwischen in einen Rhythmus gefunden hatte und Babu sanft schüttelte. Er beruhigte sich etwas und beschloss, einfach liegen zu bleiben und die Augen geschlossen zu halten. Er würde versuchen, die Welt zu vergessen– vielleicht vergaß sie dann auch ihn.

Er bemühte sich, nur ganz flach zu atmen, und ahnte, dass seine Gedanken wirr und kindisch waren. Aber bevor der nächste Schwall Verzweiflung Babu erfüllen konnte, war er wieder eingeschlafen.

Die Schwärze, die ihn umgibt, ist von einer seltsamen Spannung erfüllt. Es ist so still, dass sein eigener Wimpernschlag ein Geräusch zu machen scheint. Er versucht, alles anzuhalten: seinen Atem, den Lidschlag, sein Herz. Aber das gelingt nicht, resigniert stellt er fest, dass er seinen Körper nicht vollends kontrollieren kann. Er wünscht sich, ihn an- und ausziehen zu können wie eine Jacke. Aber das Gegenteil ist der Fall: In dieser angespannten Dunkelheit wird ihm sein Körper sogar besonders bewusst, denn er kann ihn nicht sehen, nur spüren. Die Schwärze treibt einen Keil zwischen ihn und seinen Körper; er ist eine Last und keine Jacke, sondern ein stinkender Sack, in dem er gefangen ist. Er wollte immer nur frei sein. Doch jetzt ist er einfach nur allein.

Du bist das Tor.

Die Frau ist da. Die angespannte Schwärze war ihr Schweigen. Nun hat sie es durchbrochen. Jetzt hört er sie atmen, er ist nicht mehr allein. Sie ist zu ihm gekommen und er spürt ihre Wärme. Sie kommt immer näher, ihre Anwesenheit brennt wie Feuer auf seiner Haut, ist erregend und beängstigend zugleich. Er fürchtet sich davor, dass sich das schützende Dunkel verzieht und er sie sehen kann– gleichzeitig kann er es kaum erwarten. Er weiß, dass sie wirklich wird in dem Augenblick, in dem er sie sieht, sie erkennt. Er kann der Stimme einen Körper geben, durch ihn tritt sie aus den Schatten und hinein in die Welt.

Denn er ist das Tor.

Das Rumpeln war leiser geworden. Als würde der Karren nur noch mit einem Rad fahren oder als würde eins übers Pflaster rollen, während sich das andere lautlos über kurzes Gras bewegte. Babu hatte Schmerzen, aber sie waren erträglich. Es waren klopfende Wundschmerzen, nicht zu vergleichen mit dem schweren Klumpen, der sonst hinter seiner Stirn lag und zu einem scharfkantigen Rollen im ganzen Schädel werden konnte, wenn Juhut zu ihm sprach. Oder wenn Babu seine Seele an das Band zum Falken knüpfte und zu ihm aufsteigen ließ. Waren diese Schmerzen überhaupt noch da? War der Klumpen– der mal schwer, mal leichter hinter Babus Stirn lag und der ein zwar behelfsmäßiger, aber doch wirkungsvoller Anker für die Verbindungsleine zur Szasla war– denn überhaupt noch da? War Juhut noch da? Babu hob den Kopf etwas vom Kissen, öffnete die Augen– und machte sie gleich wieder zu. Er wollte doch nichts sehen! Er wollte doch die Welt vergessen! Aber er sehnte sich nach Juhut … Genau wie Felt, wie Reva– wie alle!– ließ auch der Falke ihn nicht in Ruhe. Selbst wenn Babu versuchte, die Welt zu vergessen, die Szasla zu vergessen war unmöglich.

Nachdem ihm seine Lage klar geworden war, hatte Babu alles darangesetzt, Juhut wenigstens eine Zeit lang abzuhängen. Er hatte die kleine Höhle gefunden und war hineingekrochen, tief hinein in den Stein. Dort hatte er sich den Dolch an die Stirn gesetzt. In die Höhle konnte Juhut ihm nicht folgen und, was noch wichtiger war, er konnte Babu auch nicht anschauen. Das lidlose Auge des Falken sah zu viel, es blickte bis auf den Grund der Seele, und was dort lag, wollte Babu verbergen. Babu hatte den Flügelschlag gehört, dann hatte er den kalten Stahl gespürt. Die Klinge, die niemals stumpf wurde, schnitt tief.

Babu wollte nicht das Tor sein. An der Quelle der Freundschaft hatte Babu gesehen, was durch ihn in die Welt gelangen konnte. Das eine Mal hatte er es zu spät begriffen und nicht mehr verhindern können, dass viele Menschen den Tod fanden. Dieses Mal durfte das nicht geschehen. Die Wölfe. Die Krebse. Babu hatte sie gesehen, beide Kreaturen waren ihm nicht nur in einer Schreckensvision erschienen, sondern schließlich auch in die Wirklichkeit gelangt. Als Felt mit erhobenem Schwert auf das furchtbare Biest zugerannt war, hatte Babu plötzlich begriffen, dass es nur die eine Lösung gab: Er musste den Keil, der das Tor offen hielt, aus seiner Stirn herausschneiden.

War ihm das gelungen? Babu wusste es nicht. Aber ja, vielleicht war es ihm gelungen! Er tastete über den dicken Verband. Es war nicht zu entscheiden, ob dort noch ein Splitter war, ein Horn unter der Haut, oder nicht. Er spürte nur das Klopfen des Schmerzes in seiner Stirn, das sich nun im Takt seines schneller schlagenden Herzens verstärkte. Wieder versuchte Babu, den Schmerz zu deuten, ihn zu unterscheiden von den Kopfschmerzen, die ihn mit Juhut verbanden und an die er sich gewöhnt hatte wie eine alte Frau an ihre verschlissene Hüfte– man humpelte ein wenig, aber es ging schon.

Da! Da war er. Der Anker.

Kaum wahrnehmbar im Trommeln des Wundschmerzes, aber doch fühlbar. Der Klumpen schien zu einer Kapsel geschrumpft zu sein. Dass die wieder aufbrechen könnte, daran dachte Babu nur flüchtig, denn der sich mit seinem Pochen derart in den Vordergrund drängende Schmerz bewirkte vor allem eins: Babu glaubte immer fester daran, es geschafft zu haben. Es ist geglückt, trommelte es in Babus Stirn, es ist geglückt. Er richtete sich etwas auf, die Augen immer noch geschlossen, aber unruhig hinter flatternden Lidern. Du hast es geschafft, klopfte es. Das Pochen war bestimmt kein Schmerz, der Sorgen bereiten musste. Das war schon beinahe die Heilung. Wenn Babu den Splitter los war, brauchte er hier nicht mehr liegen und verzweifeln und sich von der Welt abwenden! Wenn es geglückt war, dann durfte er zurück, durfte teilhaben, musste nicht allein sein. Er öffnete die Augen, schaute sich um.

Über ihm rohe, schwere Balken, dazwischen Stroh. Ein Dachstuhl. Durch ein staubiges Fenster, das wegen der niedrigen Wand unter der Dachschräge beinahe bis an den Dielenboden reichte, fiel mildes Tageslicht. Babu lag ungewohnt hoch über dem Boden und nah unter der geneigten Decke, es dauerte, bis er begriff: Er lag in einem Bett. Er hatte schon welche gesehen; Merzer, die Lehmhäuser bauten, stellten auch Betten auf. Babu selbst aber hatte noch nie in einem Bett gelegen. Er kam sich vor, als würde er schweben. Ihm war schwindelig. Vorsichtig richtete er sich weiter bis zum Sitzen auf. Er bemerkte absonderliche Dinge: In der entfernten Zimmerecke lag ein Rad mit kurzen, dicken Speichen und drehte sich. Aus einer Lücke im Boden ragten aufrechte Balken und bewegten sich auf und ab. Dann schaukelte mit einem Mal ein Kopf über den Dielenbrettern, und noch bevor Babu sich wirklich erschrecken konnte, erkannte er, dass dort ein Mädchen eine Leiter hinauf in die Dachkammer stieg. Als sie bemerkte, dass Babu wach war, zuckte sie erst zusammen und kam dann mit schnellen Schritten an sein Bett. Ihr glattes, helles Haar war über den wasserblauen Augen und auf Kinnhöhe gerade abgeschnitten und saß ihr wie ein Helm auf dem Kopf. Ihre Wangen waren rund und rosig, die Lippen voll. Sie lächelte nicht. Das Mädchen trug schwere Stiefel an den Füßen, den langen, grob gewebten Rock hatte es zwischen den Beinen hochgenommen und vorn in den Gürtel geklemmt. Die aufgekrempelten Ärmel der Bluse gaben kräftige Unterarme frei, die Hände waren rot und glänzten wie eingefettet.

»Hier«, sagte sie und hielt Babu eine mit einer dicken Scheibe Brot abgedeckte Schüssel hin. »Gut, dass du wach bist, dann brauche ich dich nicht füttern. Ich habe wahrlich genug zu tun.«

Babu nahm die Schale aus ihren Händen und sie wandte sich zum Gehen.

»Du wolltest mich füttern? Beim Schlafen? Wie das?«

Sie hielt inne, statt eine Antwort zu geben, und berührte dann prüfend Babus Wange. Ihre Hand war überraschend weich und duftete süßlich.

»Kein Fieber mehr. Du bist auf dem Weg der Besserung, das wird den schwarzen Kämpfer freuen.« Als sie sah, dass Babu wieder den Mund aufmachte, hob sie abwehrend die Hand. »Bemüh dich nicht, ich verstehe nicht, was du sagst.«

»Aber ich verstehe doch jedes Wort, das du sprichst!«

Sie legte den Kopf schief, sah ihn interessiert an– so wie man eine fremdartige Pflanze betrachten würde.

»Zugegeben: Du klingst vernünftiger als in deinen Fieberfantasien, aber deine Sprache ist und bleibt mir fremd, auch wenn ich weiß, dass du mich verstehst.«

»Wieso ist dir meine Sprache fremd? Wir reden zusammen! Du lügst doch! So viel Zeit wirst du haben, um mir zu sagen: Wo ist Felt, der schwarze Kämpfer? Und Reva? Juhut– wo ist die Szasla, der Falke? Sag es mir!«

Das Mädchen zuckte die Schultern.

»Ich muss wieder an die Arbeit. Ihr habt einen schlechten Zeitpunkt gewählt, um uns zu besuchen.«

»Warte! Wo bin ich? Wo ist Juhut? Bitte!«

Sie seufzte.

»Mein Name ist Teleia, falls du danach gefragt hast, und ich kann mich nicht um alles kümmern. Iss jetzt.«

2

Das kurze Gespräch mit dem Mädchen hatte Babu so angestrengt, dass er nur zwei Schlucke Suppe trank und danach wieder einschlief. Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrich, während er zwischen Traum und Wachheit wanderte. Er glaubte mehrfach, in die blauen Augen des Mädchens zu sehen– mal lagen Schatten auf ihrem Gesicht, mal strich das Tageslicht darüber. Immer war ihr Ausdruck angespannt und immer roch die Hand süß, die Babu in Suppe eingeweichtes Brot zwischen die Lippen schob. Auch das Brot schmeckte süßlich. Teleia war weder besonders freundlich noch fürsorglich, dennoch war ihre Anwesenheit heilsam. Babus Verstand war zu verwirrt, zu erschöpft, um das zu begreifen. Aber er spürte es. Und er hatte keine Albträume mehr, hörte keine Stimme. Einmal nahm er Flügelschlagen wahr, sah einen Schatten vor dem staubblinden Fenster und das beruhigte ihn. Jedoch tauchten weder Felt noch Reva an Babus Krankenlager auf. Vielleicht waren sie zur Quelle weitergezogen, vielleicht hatte Babu ihren Besuch auch nur verschlafen. Als er sich schließlich erhob, die nackten Füße auf die Dielenbretter setzte, hatte er den Eindruck, eine halbe Ewigkeit in dieser abgeschiedenen Kammer verbracht zu haben. Nun war es genug. Nun wollte Babu endlich wissen, wo er war– und was da unter ihm ohne Unterlass rumorte.

Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. Babu stand in einem langen Leinenhemd, das trotz aller Schlichtheit eine weibliche Trägerin besser gekleidet hätte als ihn, am unteren Ende der Leiter zur Dachkammer, und um ihn herum bewegte sich alles.

Nur fünf Schritte entfernt rollte ein mannsgroßer, zu einer massiven Scheibe gehauener Stein im Kreis über einen gemauerten Sockel. Das wuchtige Steinrad quetschte auf seinem Kreisweg knirschend etwas zu einem klebrigen Brei. Es drehte sich um eine armdicke hölzerne Achse, die wiederum an einer aufrechten, noch dickeren befestigt war. Entlang einer Wand reihten sich mehrere eiserne Bottiche. Unter ihnen brannten kleine Feuer und von oben reichten Stangen hinein und rührten langsam in ihnen wie magische, überlange Löffel. Auch diese Stangen waren mit einer Achse verbunden, die mit Hilfe ineinander verzahnter Räder aus dunklem Holz gedreht wurde. Überhaupt schien alles in diesem großen, vollen, lauten Raum miteinander durch Stangen, Räder und Riemen verbunden zu sein, auch die durch die Decke reichenden Holzbalken, deren oberes Ende Babu schon von seinem Bett aus gesehen hatte. Sie stampften langsam, aber mit Wucht auf und ab. Wie lange Stößel schlugen sie in einen steinernen Trog– dort hantierte Teleia. Gerade steckte sie einen Keil, beinahe so groß wie sie selbst und offensichtlich sehr schwer, zwischen irgendwelche schmalen Kästen in den Trog. Sie war geschickt und der Keil saß, noch bevor der Balken von oben darauf hämmerte. Eine falsche Bewegung und Teleia wäre erschlagen worden oder ihre Arme zertrümmert. Aber sie war ganz auf ihr Tun gerichtet, beachtete Babu nicht. Die Sicherheit, mit der sie sich zwischen all diesen schweren, ächzenden und polternden Steinen, Rädern und Balken bewegte, hatte eine ganz eigene Anmut. Es war die schlichte Schönheit eines Menschen, der eins war mit seinem Handwerk. Teleia wusste, was sie tat, sie tat es seit Langem, und so anstrengend es war: Sie tat es gern. Babu lächelte, als ihn die Erinnerung an Dant, den Gerber, streifte.

»So etwas gibt es nicht im Langen Tal, noch nicht«, sagte eine Stimme. Klar und mühelos drang sie durch den Lärm an Babus Ohr. Er wandte sich um und sah in Revas helle, narbenumrankte Augen. »Dies ist eine Mühle. Genauer gesagt eine Ölmühle, die älteste des Kontinents. Kleide dich an und komm mit nach draußen, Babu. Dort lässt es sich leichter reden und außerdem werden dir Licht und Luft guttun. Über zwei Zehnen hast du nun unter dem Dach gelegen– eine lange Zeit ohne Himmel für einen Merzer.«

3

Babu hatte sein Lederhemd nicht finden können, dafür einen wollenen Kittel und ein langärmliges Unterhemd. Er hatte beides angezogen und es nicht bereut: Als er auf wackligen Beinen nach draußen trat, schlug ihm klare, kalte Luft entgegen. Es hatte geschneit, zwar nur wenig, gerade genug, um Erdboden und Dächer weiß zu überpudern, aber der Firsten war da. Er war hier nicht so scharf, so blendend weiß wie damals in den Galaten. Dort hatten Kälte und Höhe Babu so zugesetzt, dass er fast gestorben wäre. Dort war er in ein Zwischenreich geraten und irgendetwas war passiert, während er sich zwischen Leben und Tod befunden hatte. Irgendetwas hatte ihn benutzt und war aus jenem Zwischenreich durch Babu hindurch in die Wirklichkeit geschlüpft und zu einem Rudel Wölfe geworden.

Er fuhr sich über den Verband, wischte die Erinnerung weg. Wenn der Splitter fort war, gab es keinen Keil mehr und Babu konnte das Tor schließen. Nichts würde hindurchschlüpfen. Nichts käme aus den Schatten in die Welt, das in den Galaten geschehene Unglück würde sich nicht wiederholen.

Er blickte auf. Sein Herz wurde weit und leicht, als er Juhut seine ewig gleichen Kreise über einen mit feinen Schleierwolken geschmückten Himmel ziehen sah. Er war da. Fern zwar, sehr weit oben, aber der Falke war da. Zuletzt hatte Babu sich selbst nur noch als Last empfunden, als Sack voller Schmerzen und Unheil. Nun war er dankbar, am Leben zu sein. Er war dankbar, dass Juhut ihn nicht verlassen hatte. Und er war dankbar, dass Felt einmal mehr stur geblieben war und ihn gerettet hatte. Dieser Mann gab wohl nie auf– er würde Babu selbst dann aufsammeln, wenn er bloß noch ein Haufen Knochen wäre.

Sie waren nicht weitergezogen zur Quelle. Denn nicht nur Babu hatte Zeit gebraucht, um wieder zu Kräften zu kommen, das sah er nun. Eine erneute Welle der Dankbarkeit schwappte in Babu hoch und hätte beinahe seine Augen erreicht. Er hielt die Tränen gerade noch zurück, als er Felt sah. Der Welsenoffizier saß, eingepackt in Decken, auf einer Bank am Mühlteich. Er musste bis an seine äußersten Grenzen gegangen sein, um Babu hierherzubringen. Hunger und Anstrengung hatten neue, tiefe Falten in Felts Gesicht gegraben, die auch eine fortschreitende Erholung nicht glätten konnte. Die Ubid Engat und alles, was dort geschehen war, hatten für immer ihre Spuren hinterlassen.

Reva hatte Babu zu der Bank begleitet, und als sie nun nähertraten, sah er, dass neben Felt noch eine weitere, gebeugte Gestalt saß. Es war eine steinalte Frau, ebenso in Decken gehüllt wie der große Mann neben ihr. Felt lächelte Babu an und bedeutete ihm dann, sich zu setzen.

»Setz dich und hör einfach zu«, flüsterte Reva. »Die gute Melrunden hat wahrlich einen Narren an Felt gefressen– und dich wird sie auch mögen. Das liegt in ihrer Natur.«

»… aber das war noch lange nicht das Ende, nein!«, hörte Babu die Alte gerade krächzen, doch da bemerkte sie ihn und unterbrach sich.

»Oh, was für ein hübscher junger Mann! Nein, wirklich! Was habe ich für ein Glück. Nun kann ich mich an zwei Männern wärmen, das ist der beste Firsten seit Soldern, auch wenn es wohl mein letzter sein wird. Komm, setz dich, mein Junge, setz dich zu uns. Ich war gerade dabei, das Ende einer Geschichte zu erzählen. Das selbstverständlich gleichzeitig der Anfang einer neuen ist. Das ist bei allen guten Geschichten so, musst du wissen.«

Umständlich, aber für ihr Alter recht flink und mit einem schelmischen Glitzern in den wässrigen Augen rückte sie näher an Felt, um für Babu Platz auf der Bank zu machen. Kaum hatte der sich niedergelassen, rückte sie wieder etwas von Felt weg und an den Jüngeren heran. Felt verkniff sich sein Grinsen nicht. Endlich hatte sich die Alte zwischen den beiden Männern zurechtgeruckelt und grunzte zufrieden.

»Um mich müsst Ihr Euch nun nicht mehr sorgen, Hohe Frau, Ihr könnt gehen. Ihr habt doch sicher Besseres zu tun, als mir altem Weib beim Schwatzen zuzuhören, nicht wahr?«

Sie sagte das hoffnungsvoll und gleichzeitig auf eine liebenswerte Art frech; eine Mischung, die nur Kindern und sehr alten Frauen gelingt. Dennoch war es eine Unverschämtheit, die Unda einfach wegzuschicken. Reva nahm es mit einem nachsichtigen Lächeln. Babu kam der Gedanke, dass die beiden sich nicht erst seit Zehnen, sondern schon viel länger kennen mussten.

Ich kenne dich nicht, ich weiß nur von dir.

Ja, so musste es sein: Reva wusste seit Langem von der alten Melrunden, sie wusste von ihr seit deren Geburt. So viele Wunder umgaben Babu– ein Haus, das sich bewegte; ein Falke, der Babus Seele durch die Zeit tragen konnte; eine Unda, unerschöpflich in ihrem Fassungsvermögen und ihrer Geduld; ein Welse, ein strenger Soldat und dennoch sorgender als ein Vater, den Babu nie hatte haben dürfen. Als er so dasaß, die leichte Hand der alten Frau auf dem Oberschenkel, war sich Babu all dieser Wunder bewusst und wunderte sich dennoch nicht. Er ahnte, dass dies ein kostbarer Moment war. Denn dieses eine Mal, in diesem einen Augenblick, zweifelte er nicht, sondern nahm alles so, wie es war: Er war am rechten Ort zur rechten Zeit und in der besten Gesellschaft, die es für ihn auf dieser Welt geben konnte.

Babu war glücklich. Und Melrunden begann zu erzählen.

4

»Da waren einmal brave Leute, die hatten einen kleinen Hof und drei schöne, liebe Töchter. Und wie die so im Haus ihr Tagwerk verrichteten, da kam ein großer Rehbock in den Garten und fraß der Mutter ihre geliebten Rosen ab. Als die das sah, ward sie vor Ärger ganz starr und steif und rief nach ihrer ältesten Tochter: ›Komm schnell, der Bock ist in den Rosen, treib ihn fort!‹ Die Tochter, die gerade die Stube fegte, kam mit dem Besen und schlug nach dem Tier. Das aber schaute sie dreist aus schwarzen Augen an und spottete: ›Du willst mich schlagen? Dazu musst du mich erst kriegen!‹ Und sprang davon. Die Tochter, herzensgut, aber leicht reizbar, sprang hinterdrein und hörte nicht auf die Rufe der Mutter. Die warnte sie nämlich, nicht zu weit in den Wald zu laufen. Dort hinein sprang der Rehbock, wie es so seine Art ist. Bald hatte sich die Tochter verlaufen und stand ganz traurig mit ihrem Besen zwischen den Bäumen und wusste nicht ein noch aus. Da trat zwischen den Stämmen ein Jägersmann hervor, schaute sie mit schwarzen Augen listig an und sagte: ›Schönes Kind, du hast dich verlaufen und findest den Weg nach Hause nicht mehr. Komm mit mir, ich werde für dich sorgen und du musst nichts weiter tun, als mir eine Nacht von drei Nächten zu Diensten sein. Die andere Zeit hast du für dich.‹ Das gefiel dem Mädchen nicht, aber was sollte es tun? Es ging also mit dem Jägersmann mit.«

Die Alte unterbrach sich mit einem leisen Kichern und klopfte Felt vergnügt auf den Schenkel.

»Sah er gut aus, dieser Jägersmann? Trug er vielleicht Pfeil und Bogen?«, fragte der mit Seitenblick auf Babu.

»Der Bock hatte sich verwandelt, das ist euch bestimmt klar«, sagte sie und nickte bedächtig. »Und natürlich musste sich das Mädchen ein wenig zieren, das gehört sich so. Aber unter uns: So gern sie ihre Eltern hatte, sie war doch froh, einmal aus dem Haus zu kommen und etwas zu erleben.«

Sie kicherte wieder und Babu begriff: Sie hatte nicht oder nur so ungefähr verstanden, was Felt gefragt hatte. Und da fiel es ihm wieder ein. Sie beide, der Welse und der Merzer, hatten sich nur verstehen können, weil sie ein besonderes Sprachverständnis aus Wiatraïn mitgebracht hatten. Deshalb hatte auch Teleia so eigenartig reagiert– Babu verstand jedes Wort von ihr, sie aber verstand ihn nicht. Genauso musste es auch mit Melrunden sein. Was nicht ausschloss, dass sie zudem schwerhörig war. Welche Sprache mochte sie sprechen? Wo genau waren sie hier überhaupt? Melrunden murmelte geistesabwesend in sich hinein und Babu ließ seinen Blick schweifen.

Dieser Ort musste im Lendern wunderschön sein und war selbst jetzt, im beginnenden Firsten, nicht kalt und abweisend. Ringsum stieg das Land sanft an, die Hügel waren mit Sträuchern bewachsen, an denen sich noch die roten Blätter festklammerten. Die Bank stand unter einem Baum mit weit ausladenden Ästen, direkt daneben floss ein Bach in den Mühlteich. Das Wasser war dunkel und klar, an den Ufern des Teichs hatte sich eine dünne Eishaut gebildet. Sie knisterte über dem Glucksen des Bachs und wenn Wind darüberstrich. Es hörte sich an wie ein vielstimmiges Wispern. Von der Bank aus konnte man gut das große Rad der Mühle sehen, das sich, angetrieben vom Wasser aus dem Teich, beständig drehte. Ob Teleia genau wie das Rad stets in Bewegung war, immerzu in ihrer Mühle arbeitete?