Abgetaucht - Louisa Luna - E-Book

Abgetaucht E-Book

Louisa Luna

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Beschreibung

Sein mysteriöses Verschwinden hat Football-Star Zeb Williams zu einer Legende gemacht: 1984 schnappte er sich kurz vor Spielende den Ball und rannte damit einfach aus dem Stadion. Seitdem ist er verschollen. Wie Elvis wird er immer mal wieder gesichtet.

Alice Vega, Spezialistin im Auffinden verschwundener und entführter Personen, spürt Zebs letzten Aufenthaltsort auf: Die kleine Gemeinde Ilona, Oregon, wo die radikalen Liberty Boys das eigentliche Sagen haben. Als Vega beginnt, in der Vergangenheit des Ortes zu graben, deckt sie verstörende Geheimnisse auf, die nicht nur sie in Gefahr bringen …

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Ähnliche


Cover

Titel

Louisa Luna

Abgetaucht

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Hideout bei Doubleday, an imprint of The Knopf Doubleday Group, a division of Penguin Random House, LLC.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5377.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Copyright © 2022 by Louisa Luna

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagfoto: plainpicture/Design Pics/Dave Reede

eISBN 978-3-518-77777-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Danksagung

Informationen zum Buch

Abgetaucht

Für meinen Vater, Autor des ursprünglichen Hideout, der uns Geschichten von dem in die andere Richtung laufenden Spieler erzählt hat.

1

Zeb Williams trat mit der Spitze seines Stollenschuhs in den Kunstrasen und überlegte, was darunterlag. Das Spielfeld war einmal natürlich grün gewesen, aber als er 1981 an die UC Berkeley kam, wechselte die Uni zum Topfkratzerbelag. Er fand das ätzend, weil er das Spiel vorwiegend auf Rasen gelernt hatte. Allerdings hatte er auch Erfahrung mit Erde, Schlamm, Asphalt. Als Kind hatte er oft das Pflaster geküsst, war mit dem Gesicht auf den Bordstein geknallt. Die Italiener in der Nachbarschaft hatten sich über seine blauen Flecken lustig gemacht, aber die Klappe gehalten, als sie sahen, wie gut er mit dem Ball umgehen konnte. Fußball war nicht sein Ding, Basketball manchmal schon, aber richtig gut war er in jedem Spiel, bei dem man über ein Feld hinweg werfen und fangen musste. Er hatte an der Riordan High School in der City mit Football angefangen, wo die Trainer bald entdeckten, dass er auch kicken konnte. In seinem ersten Jahr hatte er sogar an Cross-Country-Rennen teilgenommen, weil sich herausstellte, dass er obendrein ein guter Läufer war.

Er atmete tief durch die Nase ein und wünschte, das Spielfeld wäre aus Naturrasen, damit er es riechen könnte. Das hätte ihm in diesem Moment das Gefühl gegeben, genau am richtigen Ort zu sein, kurz davor, einen Extrapunkt zu kicken.

»Bereit, Nummer zwei?«, fragte Bear Thomas, der Holder der California Golden Bears, und trabte auf der Stelle, während die letzten Sekunden des Time-Out tickten.

Bear wurde ständig mit Sprüchen aufgezogen wie: »Hey, Bear, was würdest du machen, wenn deine Mama dich Bruin genannt hätte?« Oder »Duck« oder »Trojan«, in Anspielung auf die UCLA Bruins, die Oregon Ducks und die USC Trojans. Wollten sie ihn richtig auf die Palme bringen, hieß es: »Sie hätte dich lieber Cardinal nennen sollen«, denn Stanford Cardinal war der Erzfeind.

Jetzt aber machte niemand Witze, und Bear war voll aufgedreht. Er sah ihn mit der flachen Hand gegen seinen Helm schlagen, dabei weiter auf der Stelle tänzeln.

Zeb hob ein wenig den Kopf und ließ den Blick noch höher wandern, bis hinauf zu den Rängen, und auf einmal konnte er die ganzen Leute hören. Fünfundsechzigtausend, hatten sie gesagt, damit wurde gerechnet. Die Geräuschkulisse versetzte ihn jedes Mal wieder in Erstaunen. Anhaltendes Raunen, das mal leiser wurde, mal zu einem Kreischen anstieg, immer wieder, wie ein hin und her fliegender Kampfjet.

Carmen war irgendwo dort oben. Sie schien zu kultiviert, um ihn mit Geschrei anzufeuern, aber seit sie miteinander gingen, hatte sie gesagt, fiele es ihr schwer zuzuschauen, weil sie sich immer so aufregte. Vorher hatte ihr offenbar nie viel am Ergebnis gelegen.

Zeb lächelte hinter seiner Maske, als er an sie dachte. Er mochte sie, weil sie so ehrlich war. Die anderen Mädchen sagten immer nur, was er ihrer Meinung nach hören wollte, redeten über Spielstatistiken, Gewinnquoten, neue Anwerbungen. Oder sie setzten alles daran, gleichgültig zu wirken, zu beschäftigt mit Modern Dance oder Politik oder was auch immer sie studierten. Carmen würde es nie einfallen, auf cool zu machen. Sie würde gut zurechtkommen im Leben.

Was ihn wieder zu der Frage brachte: Was war unter dem Kunstrasen? Eine dünne Gummischicht, hatte er gehört. Darunter Kies. Darunter Beton. Und darunter Erde. Und darunter und darunter …

Das Time-out war zu Ende. Bear klatschte einmal in die Hände.

»Los«, sagte er und ging in die Hocke, wartete auf den Snap.

Zeb nickte, sah zur Anzeigetafel hinauf. 6:6. Viertes Quarter. Noch 7 Sekunden. Der Kicker von Stanford war bereits in Ungnade gefallen, weil er seinen Extrapunkt nicht gemacht hatte, alle Zuneigung der Fans in dem Moment verloren, als der Ball knapp am linken Torpfosten vorbeigeflogen war. Hätte ich sein können, dachte Zeb. Hätte jeder von uns sein können.

Er schüttelte seine Hände und Füße aus und wippte leicht in den Knien, den linken Fuß vor den rechten gesetzt, Oberkörper vorgebeugt.

Buck Reinhart snappte den Ball und Bear fing ihn, stellte ihn aufrecht auf die Spitze, streckte dabei wie immer den rechten Arm aus, als würde er den Ball mit reiner Geisteskraft in der Balance halten.

Zeb wartete. Der Uhr nach weniger als eine Sekunde lang, aber die Zeit verging anders auf dem Spielfeld. Manchmal kam es ihm vor, als hätte draußen in der Welt schon ein neues Jahr begonnen, wenn das Spiel endlich zu Ende war.

Er lief an, links, rechts, links, doch statt mit dem rechten Fuß zu kicken, bückte er sich, hob den Ball mit einer Hand auf und versetzte mit der anderen Bear einen Stoß, dass der vor Schreck hinfiel.

Zeb sah auf den hübsch in seiner Armbeuge geborgenen Ball hinunter und wieder hinauf zur Uhr. Vier Sekunden noch. Ihm blieb nicht viel Zeit.

Er machte kehrt und lief los, auf Stanfords Endzone zu.

Bear brüllte, rannte ihm hinterher. Sein Freund hatte schon in der Highschool auf der Position des Cornerback gespielt und war entsprechend schnell, aber nicht so schnell wie er. Zeb sah Cals Defense von den Seitenlinien auf ihn zustürmen, Jimmy Moffat, der Tackle, und Roger Swain, Outside Linebacker, Fähnchen knickten unter ihren Füßen. Es würde wieder sein wie in der Jasper Alley in San Francisco, die Italiener allesamt auf ihn, alle aus dem Häuschen vom Spiel, die Schmerzen weglachend.

Seine Mannschaftskameraden lachten nicht. Sie brüllten seinen Namen, Roger Swain schrie: »Wohin, Zwei, falsche Richtung!« Es war schon vorgekommen, dass Spieler nach einem Sack die Orientierung verloren hatten und auf das falsche Spielfeldende zugerannt waren, aber als er weder anhielt noch langsamer wurde, schienen Roger und die anderen zu kapieren, dass es kein Irrtum war.

Das Raunen der Menge hatte jetzt eine himmelhohe Tonlage, in Zebs Ohren klang es wie der Laserstrahl des Marsianer-Raumschiffs in Krieg der Welten, wenn der Priester verbrutzelt wird. Nur lauter.

Dreißig, zwanzig, zehn.

Ein paar Mitglieder von Stanfords Blaskapelle und seiner Cheerleadertruppe standen in der Endzone herum und guckten verwirrt, tranken Dosenbier, warfen lässig Puschel in die Luft.

Zeb erspähte einen schmalen Durchlass zwischen einer Cheerleaderin und einem Typ mit einer Posaune und sprintete noch schneller, mit jedem Schritt leichter. Das musste er dem Kunstrasen lassen, er klebte nicht an den Stollen wie Gras und Erde, sondern federte und gab ihm beim Landen auf den Fußballen zusätzlich Schwung.

Er sauste in die Endzone, das Gekreisch der Zuschauer wurde höher und lauter, das Pfeifen des Schiedsrichters durchdringend. Ein paar Fans kletterten über die Absperrung und sprangen von der Tribüne aufs Spielfeld.

Zeb warf den Ball rückwärts über seine Schulter, wusste genau, dass seine Mannschaftskameraden ihn reflexartig fangen würden wie Brautjungfern den Brautstrauß, obwohl das Spiel jetzt vorbei war.

Vom Ball befreit, pumpte er mit den Armen und hielt auf die ausgemachte Lücke zu, doch da drehte sich der Posaunenspieler halb zur Seite, so dass der Zug seines Instruments ihm den Weg versperrte.

Zeb rammte den Musiker an der Schulter und schlug ihm die Posaune aus der Hand, lief aber unbeirrt weiter auf den Ausgang zu. Er konnte das Haarspray einer Cheerleaderin riechen, stark wie Reinigungsalkohol, hörte seine Kameraden mit der Kapelle und den Cheerleadern zusammenstoßen, den dumpfen Aufprall, als einige hinfielen. Er sah sich nicht um, konnte sich aber das Gewirr vorstellen, wie manche lachten, andere sich aufrappelten, um ihm weiter hinterherzujagen.

In den Tunnel hinein und dann statt nach rechts in die Umkleidekabine direkt hinaus auf den Parkplatz, wo er für ein paar Sekunden langsamer wurde, erst auf einem Fuß hüpfte, dann auf dem anderen, seine Stollenschuhe abstreifte und sie von sich schleuderte. Er zog sein Trikot aus und warf es hoch in die Luft, während er wieder Tempo machte und auf den Rand des Parkplatzes zuhielt, dabei immer noch den kollektiven Aufschrei der Menge hörte. Er dachte daran, zur Piedmont Avenue zu laufen, wo er sich vielleicht unter die Studis mischen konnte, oder noch ein bisschen weiter bis zu Carmens Studentinnenverbindung, um dort auf sie zu warten. Er dachte daran, bis zur Interstate zu laufen, rund fünf Kilometer, schätzte er. Er dachte daran, über die Bay Bridge in die City zu laufen, zurück zur Jasper Alley, wo er aufgewachsen war, und dort vielleicht all die Kids von früher zu treffen, und vielleicht hatten sie sich gar nicht verändert, waren immer noch zehn oder elf oder zwölf Jahre alt, rissen immer noch dreckige Witze und tranken in einem Zug ihre Cola leer, wickelten Klebeband um ihre alten Footballs, damit die Luft nicht rausging. Vielleicht standen sie genau da an der Ecke, wo er sie zurückgelassen hatte, und wenn er endlich dort ankam und auf sie zulief, würden sie rufen: »Wo warst’n du, Zeb?«

San Francisco war nicht Alice Vegas Lieblingsstadt, und das lag am Wetter. Sie hatte es lieber richtig heiß, schaltete die Klimaanlage in ihrem Haus im Sacramento Valley nur während der brutalsten Hitzewellen an und ließ sonst immer alle Fenster offen. Zu Hause lief sie in Yogashorts und Trägershirt herum, aber für die Arbeit trug sie stets Schwarz – Hose, Hemd, Jackett, Stiefel. Dazu eine Springfield in einem Schulterholster über dem Hemd, unter dem Jackett. Die Riemen hatte sie all die Jahre immer so fest geschnallt, dass sie sich fast das Blut abschnürte und jetzt einen dauerhaften Abdruck der Holstertasche auf der Haut trug, rosa Linien wie eine Architekturskizze über den Rippen, knapp unter ihrer linken Brust.

Ihr Beruf führte sie an viele Orte, aus denen sie sich nichts machte. Im Moment stand sie auf der Vordertreppe einer großen gelben Villa in Pacific Heights und drückte auf die Klingel neben der breiten Glastür in einem dekorativen, schmiedeeisernen Rahmen. Sie hörte den Doppelklang drinnen und schätzte, dass es ein Weilchen dauern würde. Viele Treppen. Die Straße war leer und ruhig für einen Samstag. Mittagszeit, dreizehn Grad, die Sonne noch von ein paar Nebelfetzen verschleiert.

Ein junger, sonnengebräunter Mann kam zur Tür, kahlköpfig, schwarzer Bart und Brille, bekleidet mit einem senfgelben Hemd und einer weißen, überweiten Hose, die teuer aussah. Als er ihr aufmachte, surrte die in ihrem Rahmen erzitternde Glastür.

»Ms Vega?«, fragte er zögerlich.

»Ja«, sagte sie. »Mr Fohl?«

»Nein, nein, ich bin Samuel, Mr Fohls Assistent«, sagte er verlegen. »Bitte kommen Sie herein.«

Vega betrat einen Vorraum, der ungefähr so groß war wie ihr ganzes Haus. Schwarzweiß gewürfelter Parkettboden und eine Holzdecke mit Kunstschnitzerei. Ein gekachelter Wandbrunnen plätscherte leise in einer Ecke.

»Das ist Tiffany«, sagte Samuel, als er ihren Blick bemerkte.

Sie nickte, nahm die Information entgegen wie ein Ticket aus einem Parkautomaten.

»Hier entlang, bitte«, sagte der Assistent und führte sie in ein angrenzendes Zimmer.

Die Decke war auch hier aus geschnitztem Holz. Zwei weinrote Ledersofas, kein einziger Knick darin, standen sich gegenüber.

»Was möchten Sie trinken«, fragte Samuel mit auf dem Rücken verschränkten Händen. »Wir haben stilles Wasser und welches mit Kohlensäure oder auch etwas Stärkeres, falls Sie wollen.«

»Nein, danke«, sagte Vega.

»Bitte sehr«, sagte Samuel. »Anton bringt gerade noch etwas zum Abschluss, er ist gleich bei Ihnen.«

Damit ging er. Vega ließ ihren Blick an der Fensterfront entlangwandern. Draußen wuchs ein Strauch mit papierartigen, violetten Blüten, der kastenförmig beschnitten war.

Sie sah sich in dem Raum um. Ihr gegenüber stand ein Sideboard aus dunklem Holz, so lang wie die gesamte Wand, darauf eine weiße Vase mit einem Arrangement aus schwarz lackierten Stöcken. Über dem Möbel erstreckte sich ein langer, rechteckiger Spiegel, der ein wenig nach vorn geneigt war, als sollte er die Person oder Personen auf dem Sofa am Fenster vollständig zeigen. Vega sah ihr Spiegelbild, die krummen schwarzen Stöcke durchkreuzten ihr Gesicht.

»Ms Vega«, sagte der Mann, wegen dem sie hier war.

Fohl kam hereingeeilt, wobei er seinen rechten Arm zurücknahm, als wollte er Schwung zum Händeschütteln holen. Vega stand auf und ihre Handflächen schlugen gegeneinander, so dass eher ein Abklatschen daraus wurde. In der anderen Hand hielt er ein zusammengefaltetes Blatt Papier.

»Anton Fohl«, stellte er sich vor. »Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ. Eins von diesen Telefonaten …«

Er unterbrach sich und sah sie beifallheischend an, erwartete wohl, dass sie sagte: »Ach, kein Problem« oder »Ich bitte Sie, es war ein Vergnügen, in diesem geschmackvoll eingerichteten Zimmer zu warten.« Doch er war ihr natürlich noch nie begegnet und wusste daher nicht, dass sie sich nie an Smalltalk beteiligte, es sei denn, sie wollte Informationen aus jemandem herausbekommen, so ähnlich wie jemand gezielt das Fleisch von den feinen Gräten eines gedünsteten Fischs löst.

»Bitte«, sagte er und bedeutete ihr mit einer Geste, wieder Platz zu nehmen.

Vega setzte sich, während Fohl das Sofa gegenüber nahm, so dass ein Abstand von gut zwei Metern zwischen ihnen war. Sie hatte im Vorfeld keine Recherchen über ihn angestellt, wollte sich lieber auf ihren ersten Eindruck verlassen und den Rest später ergänzen. Die sozialen Medien waren toll für diesen Zweck, aber dort wurde alles durch den Filter des Bildschirms und den Filter der Selbstinszenierung präsentiert, was zwei Filter zu viel waren für ihren Geschmack. Sie traute ihren eigenen Augen mehr.

Fohl sah gut aus. Mitte fünfzig, melierte, walnussbraune Haare mit weißen Schläfen, die sich so symmetrisch über seine Ohren zogen, dass sie wie gefärbt wirkten. Seine Augen waren von einem satten Blaugrün und bei Weitem das Auffallendste an seinem Gesicht, abgesehen von dem Grübchen in der linken Wange, das nur zum Vorschein kam, wenn er lächelte.

»Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, erkundigte er sich mit einem Seitenblick zu Samuel, der an der Tür herumstand.

»Nein, danke«, sagte Vega.

»Dann ist das alles, Samuel, danke.«

Samuel zog sich zurück, und Fohl legte das zusammengefaltete Blatt neben sich auf das Sitzpolster. Er beugte sich zu ihr vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt.

»Sie müssen eine ziemlich lange Fahrt hinter sich haben«, sagte er. »Von wo kommen Sie? Sacramento?«

»Nicht ganz so weit«, antwortete Vega. »Ein Stück südlicher.«

Fohl pfiff leise durch die Zähne.

»Also, danke, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben für dieses persönliche Gespräch.«

Vega lächelte knapp und wartete auf mehr.

Fohl nickte rhythmisch wie ein Wackeldackel auf der Hutablage.

»Ich, äh …«, begann er und hüstelte in seine Faust. »Es geht um etwas, das ich nicht in einer E-Mail erklären wollte. Ich wollte von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen sprechen, erstens, um Sie kennenzulernen, aber auch, weil das …« Er unterbrach sich und schürzte die Lippen, als würde er angestrengt nach den richtigen Worten suchen, obwohl er sie nach Vegas Eindruck längst kannte. »… ein etwas anderer Fall ist als Ihre üblichen.«

Wieder legte er eine Pause ein, vermutlich, um ihr Zeit zu geben, diese Vorwarnung zu verdauen. Wenn der wüsste, dachte Vega. Wenn er auch nur von der Hälfte ihrer Fälle Kenntnis hätte, über die es keine Medienberichterstattung gegeben hatte, würde er seine Behauptung vielleicht überdenken.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr Fohl mit abwehrender Geste fort. »Es ist dennoch ein Vermisstenfall. Nur wahrscheinlich der größte in Ihrer bisherigen Laufbahn.«

Er zog eine Grimasse über seine großsprecherischen Worte, wirkte zugleich aber aufgeregt über das, was er zu sagen plante.

»Meine Frau Carmen hat an der Cal in Berkeley studiert, wie auch ihr Vater und ihr Großvater, während man in meiner Familie nach Stanford geht. Sie können sich vorstellen, wie die Stimmung war, als sie mich das erste Mal mit nach Hause nahm, um mich ihren Eltern vorzustellen.«

Er lachte nicht, lächelte nur wissend mit schmalen Augen. Als Vega weder lachte noch lächelte, sondern ihn nur weiter abwartend ansah, schwand sein Lächeln zusammen mit dem Grübchen. Für einen Augenblick schien er den Faden verloren zu haben, nahm ihn aber gleich wieder auf.

»Wir haben uns im Herbst 1985 kennengelernt und drei Jahre später geheiratet. Zwei hübsche Töchter.«

Fohl räusperte sich.

»Jetzt werden Sie sich fragen, wer ist die vermisste Person?«

Vega sagte noch immer nichts, beugte sich aber vor und stemmte die Ellbogen auf die Knie, spiegelte seine Haltung.

Fohl legte die Hände ineinander und atmete tief aus.

»Vor mir war Carmen fest mit einem anderen jungen Mann zusammen, und er ist es, den Sie für mich finden sollen. Damit aber«, sagte er und hob den Zeigefinger, »wird es kompliziert.« Er atmete noch einmal tief durch, ehe er den Namen hervorstieß. »Es ist Zeb Williams.«

Fohl rieb sich die Knie und machte eine Miene, die halb Stirnrunzeln, halb Grinsen war. Um langsam in Verwirrung überzugehen.

»Zeb Williams«, wiederholte er, offenbar für den Fall, dass sie in den letzten Minuten einen mittelgradigen Hörverlust erlitten hatte. »Der Kicker von Cal«, fügte er mit einem nachsichtigen Blick hinzu, als bedürfte es nur dieses Zusatzes, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

»Okay«, sagte Vega. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Fohl kniff den Mund zusammen.

»Im Jahr 1984«, sagte er. »Am siebzehnten November. Das war das letzte Mal, dass er überhaupt gesehen wurde.« Er kratzte sich am Kinn. »Sie wissen wirklich nicht, wer Zeb Williams, der Footballspieler, ist?«

»Nein«, sagte Vega ohne Zögern oder Entschuldigung.

Fohl lachte kopfschüttelnd. »Tut mir leid, ich dachte einfach, dass ihn jeder kennt.«

»Ich nicht.«

»Okay«, sagte er, immer noch verblüfft. »Jetzt weiß ich gerade nicht, wo ich anfangen soll.«

Seine Unsicherheit wirkte echt, weshalb sie es für das Beste hielt, ihm unter die Arme zu greifen.

»Gehen wir mal davon aus, dass ich das, was allgemein bekannt ist, im Internet herausfinden kann«, sagte sie. »Erzählen Sie mir doch, was nicht alle wissen. Was nur Sie wissen.«

Das leuchtete Fohl ein. Er nickte erleichtert.

»Sie sind sich, also meine Frau und Zeb, in einem naturwissenschaftlichen Seminar an der Uni Berkeley begegnet. Waren dann zwei Jahre zusammen.« Er hüstelte wieder in seine Faust. »Sie hat ihn gut gekannt, das dachte sie zumindest, und war tief verletzt, als er einfach verschwand.«

»Er hat nie Kontakt zu ihr aufgenommen nach seinem Verschwinden?«, fragte Vega.

»Nein«, sagte Fohl.

Sie glaubte ihm. Trotzdem passte da irgendetwas nicht richtig. Ein klappernder Golddeckel auf einem zu kleinen Schraubglas.

»Und Sie haben ihn nie persönlich kennengelernt.«

»Nein«, bestätigte Fohl. »Ich weiß nur, was Carmen mir über ihn erzählt hat, und eben das, was durch die Medien bekannt ist.«

Vega schwieg einen Moment und blickte kurz zu ihrem von den schwarzen Zweigen geteilten Spiegelbild hinauf.

»Es würde die Sache vereinfachen, wenn ich Ihre Frau direkt über ihn befragen könnte.«

Fohl kratzte sich am Knie. »Sie ist gerade nicht zu Hause.«

Vega ließ einen Moment verstreichen. Dann: »Ich warte gern.«

»Also, das ist es eben«, sagte er. »Wenn ich ehrlich zu Ihnen sein soll.«

Wieder ein Hüsteln.

»Sie weiß nichts von unserem Treffen hier«, fuhr er mit einem Anflug von Zerknirschung fort. »Sie weiß nicht, dass ich versuchen will, Zeb zu finden.« Dann seufzte er, wirkte mit jedem Satz matter, ließ den Kopf hängen. »Und Sie möchten wahrscheinlich wissen, warum.«

»Nicht unbedingt«, sagte Vega.

Fohl hob überrascht den Kopf. »Nicht unbedingt«, wiederholte er. »Warum nicht?«

»Es geht mich nichts an«, antwortete sie. »Wenn ich den Auftrag annehme, sind Sie mein Kunde, nicht Ihre Frau, es sei denn, Sie verfügen etwas anderes.«

»Das ist sehr gut«, sagte Fohl erleichtert. »Ich dachte … ich bin davon ausgegangen, dass Sie zuerst mit ihr sprechen müssten.«

»Nein«, sagte Vega. »Sollte sich irgendwann herausstellen, dass ich den Fall nicht voranbringen kann, ohne sie zu befragen, ist die Lage anders.«

»Natürlich«, sagte Fohl. »Ungelegte Eier und so.«

»Ohne Ihre Frau brauche ich möglicherweise länger, um an bestimmte Informationen zu kommen, aber ich bekomme sie.«

»Ich bewundere Ihre Zuversicht«, sagte Fohl. »Wenn man bedenkt, dass viele, viele Leute vergeblich versucht haben, Zeb Williams zu finden. Und das seit über dreißig Jahren.«

Vega sah nach ihrem Spiegelbild an der Wand, immer noch hinter den Zweigen.

»Sie haben nicht meine Mittel.«

»Und die wären?«, fragte Fohl, plötzlich überheblich, als hätte er sie nicht selbst hergebeten.

»Damit meine ich meine Erfahrung«, sagte Vega. »Und meine speziellen Fähigkeiten.«

»Natürlich«, sagte er. »Deshalb habe ich Sie ja kontaktiert. Wegen Ihrer Erfolge in …« Er zögerte, suchte nach dem treffenden Ausdruck. »… besonderen Fällen.«

»Sollte ich den Fall annehmen, müssten Sie das von mir festgesetzte Honorar bezahlen, und dann, wenn ich ihn finde, noch etwas obendrauf«, sagte sie.

»Falls Sie ihn finden«, stellte Fohl klar.

»Ja«, sagte Vega. »Falls.«

»Das ist in Ordnung«, sagte er. »Ich bezahle, was Sie für angemessen halten. Da ist noch eine Sache, eine Information, die Sie haben sollten.«

Er faltete das Blatt Papier auseinander und reichte es ihr.

Es war die Kopie eines Fotos, vier Leute in einem Straßencafé. Eine Frau mit dunklen Haaren und Augen, die eine Schürze umhatte. Sie schien sich mit zwei älteren Männern an einem der Tische zu unterhalten, der eine in einem weißen Anzug, der andere mit einem Spazierstock. An einem Nachbartisch saß ein junger Mann, der zu der Frau aufsah.

»Carmens Vater hatte damals nach Zebs Verschwinden einen Privatdetektiv engagiert, der ihn in einer Kleinstadt in Oregon namens Ilona ausfindig machte. Dieses Foto ist die letzte verbriefte Spur von Zeb. Seitdem hat es einen Haufen Spekulationen gegeben.«

»Hat sonst noch jemand dieses Foto?«, fragte Vega. »Könnte ich es online finden?«

»Nein, es stammt von dem Detektiv. Carmens Vater mochte keine offenen Fragen und verfügte über unbegrenzte finanzielle Mittel, verstehen Sie.«

Vega betrachtete das Foto, die vier Menschen, ihre Gesichter, ihren jeweiligen Blickpunkt.

»Ihr Mädchenname ist Wirth«, fuhr Fohl fort.

Der junge Mann, offenbar Zeb Williams, starrte die dunkelhaarige Frau an.

»Der meiner Frau, meine ich. Ihrer Familie gehört Pacific Airlines.«

Er wollte, dass sie das zur Kenntnis nahm, merkte Vega, nicht, um sie zu beeindrucken, sondern weil er es für wichtig hielt, wie reich seine Frau und deren Familie war. Sie wusste nicht, ob es überhaupt von Bedeutung war, und hatte anderes im Sinn.

»Wissen Sie, wer das ist?« Sie zeigte auf die Frau auf dem Foto.

Fohl richtete sich auf und machte eine zufriedene Miene, zog sein Handy aus der Hosentasche.

»Allerdings«, sagte er und tippte auf den Bildschirm. »Cara Simms. Cara mit C.«

»Das wissen Sie von ihm, dem Privatdetektiv Ihres Schwiegervaters?«

»Genau.«

»Was ist mit diesen beiden anderen Männern?« Vega hielt das Foto hoch.

»Nichts, er hat nur den Namen der Stadt und den der Frau herausgefunden.«

Vega faltete das Blatt wieder zusammen.

»Kennen Sie den Namen dieses Detektivs?«

»Er ist leider Ende der Neunziger verstorben«, sagte Fohl mit einem betrübten Ausdruck, der auf einer Aufrichtigkeitsskala von eins bis zehn etwa bei fünf lag.

Vega überlegte. Sie würde das anders angehen müssen. Als Erstes würde sie sich über Football schlaumachen müssen.

Sie stand auf. »Ich brauche achtundvierzig Stunden, um darüber nachzudenken. Falls ich den Auftrag annehme, hätte ich weitere Fragen an Sie.«

Verdutzt erhob Fohl sich ebenfalls.

»Natürlich … wenn Sie meinen.«

»Ja. Ich rufe Sie übermorgen an«, sagte sie und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.

»Gut«, sagte er, wobei so etwas wie Besorgnis über sein Gesicht huschte.

Vega wartete nicht auf sein Angebot, sie hinauszubegleiten, sondern ging durch die Vorhalle. Fohl beeilte sich, sie zu überholen, und sie machte einen kleinen Schritt rückwärts, um ihn vorzulassen.

»Dieses Schloss ist ein bisschen verzwickt«, sagte er und drehte an einem kleinen, goldfarbenen Bolzen unter dem Türknauf, der überhaupt nicht verzwickt wirkte.

Er hielt ihr die Haustür auf, und sie trat hinaus, stieg die Treppe hinunter.

»Vielen Dank, dass Sie die Fahrt hierher gemacht haben«, sagte er.

»Gern geschehen«, sagte sie. »Wir sprechen uns in zwei Tagen.«

Auf dem Weg zu ihrem Auto hörte sie ihn noch »Ja« sagen, dann das Geräusch der schweren, einrastenden Tür.

Der Nebel hatte sich inzwischen vollständig aufgelöst, und sie blinzelte zur Sonne hinauf, ehe sie einstieg und überlegte, wie schnell sie zum SFO gelangen und einen Flieger nach New York, Newark oder Philadelphia bekommen konnte. Es würde wahrscheinlich auf einen Nachtflug hinauslaufen, aber das hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Sie brauchte nicht viel Schlaf.

Die Sonne wärmte ihr Gesicht. Eine überraschende Wohltat, noch ein wenig Hitze zu spüren.

Doch sie konnte es nicht richtig genießen. Sie vermisste jemanden.

Der Heizkessel machte ein Geräusch, als würde er eine Beute verdauen. Ein Ächzen und Gluckern, das zehnmal von einer Seite zur anderen wanderte, dann aufhörte, dann in der Gegenrichtung wieder anfing.

Max Caplan und seine achtzehnjährige Tochter Nell starrten bang auf das Ding.

»Also, das hört sich nicht so gut an«, sagte Nell nach einer Weile.

Cap fuhr sich durch die ungekämmten Haare an seinem Hinterkopf.

»Nee«, sagte er. »Eher nicht.«

»Erklärt wohl, warum die Heizung ständig mitten in der Nacht ausfällt.«

Cap nickte. Seit etwa einer Woche wachten Nell und er mit tauben Nasen und Zehen auf. Zuerst hatte er vermutet, dass eine Armee von entschlossenen Mäusen sich methodisch durch das Dämmmaterial fraß (was vor ein paar Jahren schon einmal vorgekommen war), aber nachdem er jede Ecke des Dachbodens mit einer LED-Taschenlampe abgesucht und alles unbeschädigt vorgefunden hatte, hatte er schließlich den Heizkessel verdächtigt.

»Wie lange hält so ein Kessel?«, fragte Nell und knabberte an ihren schwarzlackierten Fingernägeln.

»Ungefähr fünfzehn Jahre, glaube ich. Deswegen verstehe ich das nicht. Wir haben den doch erst gekauft.«

»Wirklich?«, sagte sie. »Ich erinnere mich nämlich nicht daran, dass er neu hier ankam, was bedeutet, dass er gekauft wurde, als ich noch zu klein war, um mich zu erinnern, also etwa drei Jahre alt?«

Cap überlegte. Es kam ihm bestimmt nicht wie fünfzehn Jahre vor, aber er erinnerte sich an den alten Kessel, der von einer anderen Marke und Machart war und den sie mit dem Haus übernommen hatten, und daran, wie der jetzige geliefert wurde und seine damalige Frau Jules gesagt hatte: »Das geht komplett gegen meine Haltung als Feministin, die für die Beseitigung von Geschlechterstereotypen eintritt, aber dieser neue Heizkessel hat einen neuen Menschen aus mir gemacht.«

Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Er war noch mit Jules verheiratet gewesen, als dieser Kessel kam, also war das mindestens sieben oder acht Jahre her. Und sie waren noch glücklich miteinander gewesen, was die Zeit um einiges weiter zurückdrehte. Es konnten tatsächlich fünfzehn Jahre sein. Bevor er bei der Polizei von Denville gefeuert wurde, vor der Scheidung, bevor er sich als Privatermittler selbständig gemacht hatte.

Vor Vega. VV.

»Kommt wohl hin«, räumte er ein. »Ich kann’s einfach nicht fassen, dass das schon so lange her ist.«

»Vor langer Zeit, in den Nullerjahren, Old Man Caplan«, sagte Nell und klopfte ihm auf die Schulter. »Hilfst du mir jetzt mit der Basstrommel oder was?«

Cap starrte noch einen Moment auf den Kessel, seufzte dann und wandte sich zu seiner Tochter um.

»Klar. Und danach muss ich wohl ein paar Anrufe machen.«

»Wenigstens ist es nicht so kalt«, sagte Nell, während sie zur Treppe ging. »Sollen heute zehn Grad werden laut meiner App.«

»Wie gut, dass die Erderwärmung nur ein Hirngespinst ist«, bemerkte Cap und folgte ihr.

Oben war es ein paar Grad wärmer als im Keller. Nell stand schon bei ihrem fünfteiligen Schlagzeug neben der Haustür.

»Wie auch der ganze Klimawandel, hab ich gehört«, sagte sie und nahm ihre hellblaue Puffajacke von dem Haken an der Wand.

Cap lächelte seine Tochter an. Es ging ihr gut, viel besser als noch vor einiger Zeit. Seit fast anderthalb Jahren fuhr sie alle zwei Wochen zur Therapie, um das Trauma zu verarbeiten, das sie durch ihre Geiselhaft während seines ersten gemeinsamen Falls mit Alice Vega erlitten hatte. Jetzt zahlten sich die Sitzungen endlich aus. Nell hatte einen produktiven, erfolgreichen Herbst gehabt, hatte ihre Energie in die Band gesteckt, in der sie zusammen mit Freunden spielte, und so wortgewandt über ihre schlimme Erfahrung geschrieben, dass ihr das zusammen mit einem exzellenten Notendurchschnitt, der Mitgliedschaft im Fußballteam der Schule und ihrer Freiwilligenarbeit eine vorzeitige Aufnahme an einer Ivy-League-Uni eingetragen hatte.

Im Gegensatz zu früher machte Cap sich auch keine Sorgen mehr wegen des Finanziellen. Natürlich würde er Kredite aufnehmen müssen, aber er hatte jetzt schon länger eine feste Arbeit, seit er die Vollzeitstelle als leitender Ermittler für Vera Quinn, Denvilles ansässige Gemeinwohlanwältin, angenommen hatte.

Als er Nell jetzt so ansah, stellte er fest, dass die Schuldgefühle, weil er sie in Gefahr gebracht hatte, ihn nicht mehr total niederdrückten. Sie war nicht zu dünn und nur mäßig mürrisch. In den letzten zwei Monaten schien sie auch wieder ein bisschen zu ihrem alten Schwung zurückgefunden zu haben. Er sah zu, wie sie den Reißverschluss ihrer Jacke hochzog und die Taschen nach Portemonnaie, Schlüsseln, Handy abtastete. Dann ging sie leicht in die Hocke, um die Snaredrum und die Tom-Toms an den Ständern aufzuheben, so dass er den natürlichen kastanienbraunen Ansatz ihrer schwarzgefärbten Haare erkennen konnte.

»Dad, was ist?«, fragte sie, als er sich nicht rührte.

Auf einmal wurde er von Gefühlen überwältigt und traute sich nicht zu antworten, aus Angst, dass ihm die Stimme versagte.

»Wirst du gerade ein bisschen sentimental?«, fragte sie freundlich.

Cap nickte.

»Ist es okay, wenn wir morgen damit weitermachen und du mir jetzt mal kurz mit der Bassdrum hilfst?«, fuhr sie genauso freundlich fort.

Er lachte.

»Ja, klar, ich drück mal eben auf ›Pause‹.«

Nell nahm lächelnd die Snare und die Toms und öffnete die Haustür. Cap hob die Bassdrum auf, die nicht schwer, aber sperrig war, und folgte ihr nach draußen.

Es war wirklich nicht besonders kalt, die Luft feucht und mild, und der trübgraue Himmel verhieß eher Regen als Schnee. Ein Winter sollte nach Winter aussehen, dachte er missmutig.

Nell ließ die Heckklappe aufschnappen, und Cap schob die große Trommel hinein, der Rücksitz war schon nach vorn geklappt. Er half Nell, die Snare und die Toms zu verstauen, bemerkte dabei, dass die Becken schon so auf dem Beifahrersitz angeordnet waren, dass sie an Stoppschildern möglichst wenig ratterten.

»Danke, Dad.« Nell schloss die Heckklappe.

»Alles klar, Bug. Bleibst du heute Nacht bei Carrie?«

»Ja, ich glaube schon. Ist dir das recht?«

»‘türlich«, sagte er und musste gegen den Stich in seiner Magengegend anatmen.

»Ich bin morgen früh wieder da«, sagte sie. »Ich muss ein bisschen was über europäische Geschichte lesen, aber wir könnten zusammen joggen gehen, wenn es nicht regnet, okay?«

Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er lächelte erleichtert.

»Gut, dann warte ich auf dich.«

»Abgemacht«, sagte Nell und stieg ein.

Cap ging die Treppe zum Haus hinauf, während sie den Motor anließ und das Beifahrerfenster öffnete.

»Was isst du heute zu Abend?«, rief sie über die Becken hinweg.

»Reste«, rief Cap ohne nachzudenken.

Nell zog eine Grimasse. »Dad, es ist praktisch nichts mehr da. Bestellst du dir bitte was? Wir können morgen einkaufen gehen.«

Cap nickte und hoffte, es wirkte überzeugend.

»Versprichst du mir, dass du dir etwas zu essen bestellst?«, beharrte Nell.

Er hielt drei Finger in die Höhe, Pfadfinderehrenwort.

»Na gut«, sagte sie misstrauisch.

Sie hantierte mit ihrem Handy, worauf Ambient-Sound aus ihren Lautsprechern dröhnte. Nur noch gedämpft, nachdem sie das Fenster wieder hochgefahren hatte. Sie winkte ihm zu, setzte flott aus der Einfahrt zurück und fuhr los.

Cap sah ihr nach, bis sie um die Ecke gebogen war, und eilte dann ins Haus. Schloss die Tür, verriegelte sie mit den beiden Bolzenschlössern. Überprüfte, ob die Fenster im Wohnzimmer abgeschlossen waren. Überprüfte die im Bad unten. Dann die Außentür und die Fenster in seinem Büro.

Er lief hinauf in sein Schlafzimmer, das obere Bad, das kleine Gästezimmer.

Schließlich in Nells Zimmer, wo das Fenster einen Spalt offen stand. Cap zog den Rahmen mit unnötigem Kraftaufwand herunter und verriegelte ihn.

Er lief wieder nach unten, lugte durch die Jalousien am Wohnzimmerfenster. Ein fremder weinroter Kleinbus stand auf der anderen Straßenseite. Niemand darin. Das Stechen im Magen machte sich wieder bemerkbar, er drückte die Hand darauf. War es möglich, mit einem Heizkessel mitzufühlen? Doch wenn er ehrlich war, hatte er schon länger Magenschmerzen, schon seit seiner Rückkehr von dem letzten Fall mit Vega in Kalifornien vor fünf Monaten. Also fühlte der Kessel vielleicht mit ihm mit.

Er nahm die Fernbedienung vom Sofa und machte den Fernseher an, schaltete zu den Lokalnachrichten. Bald würde er sich ein Bier aufmachen und die Firma wegen des Heizkessels anrufen. Zuerst aber ging er nochmal in sein Arbeitszimmer, zu dem Wandschrank dort, und nahm den kleinen quaderförmigen Safe vom obersten Regal, in dem er seine SIG Sauer aufbewahrte. Er tippte den Code ein und hörte das Schloss aufschnappen, öffnete den Pistolenkasten.

Cap nahm die Sig und das geladene Magazin aus den Schaumstoffvertiefungen, schob das Magazin in die Pistole.

So war das an den Abenden, wenn er allein war. Tagsüber ging es meist besser.

Zurück im Wohnzimmer, setzte er sich aufs Sofa. Er stellte den Fernseher lauter, legte die Pistole vor sich auf den Couchtisch und wartete, dass die Stunden vergingen.

Auf ihrem Nachtflug recherchierte Vega im Internet. Sie wollte zuerst einen groben Umriss, den sie später farbig ausmalen würde, und suchte ausschließlich nach Informationen über Zeb Williams von vor 1984. Sie erfuhr, dass er in San Franciscos Stadtteil North Beach aufgewachsen war, und zwar bei seiner Großmutter. Er hatte auf der Highschool Football gespielt, dann ein Stipendium für die UC Berkeley bekommen.

Sie sah sich die Mannschaftsfotos auf den Fansites an, auf der Ehemaligenseite der Schule, solche von alten Zeitungsausschnitten, aber sie waren alle zu gestellt: Zeb Williams knieend in der vordersten Reihe oder stehend weiter hinten, genauso jung und dumm dreinblickend wie die anderen. Aus seinem flachen Gesicht auf dem Bildschirm war nichts herauszulesen.

Jeder hatte eine Meinung zu ihm, aber für sie klang das alles nach Blödsinn: weshalb er ein so großartiger Spieler war, weshalb er so toll kicken konnte, die Form seiner Füße, daran lag es, seine Schnelligkeit hob ihn hervor, dass er einen Schlag einstecken konnte. Vega klickte sämtliche Fenster wieder zu. Die Kommentatoren wussten nicht mehr als sie, für sie war er auch nur ein flaches Gesicht auf einem Bildschirm.

»Bitte besorg mir alles über Zeb Williams, Kicker bei Cal Berkeley von 1981 bis 1984«, mailte sie Bastard, ihrem treuen freiberuflichen Hacker.

Dann klappte sie ihren Laptop zu und blickte hinaus in den heller werdenden Himmel, sah, dass es nach Ortszeit schon kurz vor sechs war.

Er würde bald auf sein.

Sonntagmorgen, Cap erwachte auf dem Sofa. Zwei leere Dosen auf dem Couchtisch, der Fernseher noch an, aber stumm gestellt. Seine Sig lag auf seiner Brust, er hatte die Hand darauf.

Als er sich aufsetzte, sah er Atemwolken. Es war kälter im Haus als am Tag zuvor, der Heizkessel lag in den letzten Zügen. Gestern Abend hatte er den Monteur angerufen, der sagte, am Wochenende würde er das Doppelte berechnen, worauf er meinte, er solle es vergessen, und dachte, dass Nell und er sich bis Montag irgendwie einmummeln konnten. Jetzt bereute er die Entscheidung, als er sich die kalte Nasenspitze rieb.

Blinzelnd sah er nach der Zeitanzeige auf der Kabelbox, 7:08, und war erleichtert, dass er bis Sonnenaufgang geschlafen hatte. Oft wachte er nachts gegen drei oder vier Uhr auf und lag dann wach, bis die Vögel anfingen zu zwitschern. Aufzuwachen, wenn es draußen schon hell war, gab ihm ein Gefühl von Normalität, von Alltäglichkeit, das er sonst nur die Hälfte der Zeit spürte. Aber er nahm, was er kriegen konnte.

Er stand auf, spürte das Älterwerden in den Knochen – er war seit zwei Tagen nicht gelaufen, doch sein Kreuz und seine Hüften fühlten sich an, als wäre er fünf Kilometer barfuß auf dem Fußgängerstreifen gejoggt – und schlurfte in sein Arbeitszimmer, um die Pistole wegzuschließen. Dann ging er nach oben und duschte.

Wieder in seinem Büro, rief er die E-Mails ab und las eine Nachricht von seiner Chefin Vera, die ihm die Kontaktdaten eines neuen Klienten schickte. Er klickte auf »Drucken«, und während er darauf wartete, dass der Drucker sich warmlief, schrieb er eine Textnachricht an Nell: »Willst du vielleicht noch eine Nacht bei Carrie schlafen? Der neue Heizkessel kommt erst morgen.« Er tippte auf »Senden«, schickte dann noch eine Schneeflocke mit »Eiskalt hier« hinterher.

Nell antwortete mit einem unter Tränen lachenden Smiley und: »Bist du sicher? Bin dann bis Mittwoch bei Mom.«

Cap lächelte. Er wusste, dass sie problemlos jede Nacht bei Freundinnen oder Freunden verbringen konnte. Feinfühlig, wie sie war, verstand sie jedoch, dass sowohl er als auch Jules gern Zeit mit ihr verbringen wollten, umso mehr, da sie bald aufs College gehen würde.

»Klar doch!«, tippte er und fügte ein zweites Ausrufezeichen hinzu, um seine Zustimmung noch deutlicher zu machen.

In dem Moment gab der Drucker ein ratschendes Geräusch von sich. Cap legte sein Handy ab und drehte sich zu dem Regal hinter dem Schreibtisch um, auf dem das Gerät stand. »Papierstau in Fach 2«, zeigte das Display an. Er grunzte verärgert, mehr aus Gewohnheit als aus echtem Frust, zog das Fach heraus und glättete den Papierstapel darin. Mehr war normalerweise nicht nötig. Kein Stau, bloß ein Knick.

Sein Handy brummte wieder. Er sah kurz hin, rechnete mit einem weiteren Emoji von Nell.

Aber das war es nicht, es war eine Nachricht von Alice Vega.

Ihm stockte buchstäblich der Atem, als er das Telefon nahm und auf den Bildschirm starrte.

»Kannst du sprechen?«, lautete der Text.

Jetzt oder allgemein?, dachte er mit einem leisen Lachen. Sie wollte mit ihm reden. Er hatte seit fast fünf Monaten nichts mehr von ihr gehört, seit sie sich vor dem San Diego Police Department voneinander verabschiedet hatten. Sie hatten sich nicht umarmt. Ihre Blicke waren matt gewesen vor Erschöpfung nach dem beendeten Fall und von der schlaflosen Nacht in Caps Hotelbett.

Mehr als dieser hastige Abschied auf der Straße hatte sich ihm der Sonnenaufgang an diesem Morgen ins Gedächtnis geprägt, wie die ersten Strahlen durch den Spalt zwischen den Vorhängen hereingefallen waren und er es nicht fassen konnte, dass die Nacht schon vorbei war, während er ihr Gesicht mit Küssen bedeckte.

Sie hatten nicht viel miteinander geredet. Ich bin zu alt für so was, hatte er mehrmals gedacht, allerdings nicht unbedingt im Hinblick auf das Körperliche. Es war die Intensität des Ganzen, die ihm zu schaffen machte, das Emotionale. Er hatte nie Probleme mit dem Blutdruck gehabt, aber es war, als könnte sein Herz dem allen nicht standhalten – beinahe gewaltsam zu sterben, drei unschöne Tode in drei Tagen, und dann Vega, ihr Körper, ihre Stimme, ihr Mund.

So körperlich ihr Zusammensein auch gewesen war, war es das zugleich nicht. Sie hatten beide innerhalb kurzer Zeit so viel durchgemacht, dass es etwas Überirdisches, beinahe Erhabenes gehabt hatte, sie in der hereinströmenden Morgensonne zart zu küssen, und sein Körper sich ausnahmsweise einmal leicht, alterslos angefühlt hatte.

Bei seiner Rückkehr nach Hause jedoch war er hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet, nichts als ein Haufen gebrochener Knochen. Gefangen in dem Trauma der Elektroschocks, die ihm ein Irrer zugefügt hatte, woran ihn bei jedem Blick in den Rückspiegel die kreisförmige Brandwunde an seiner linken Schläfe erinnerte. Er merkte, dass es ihm nur gut ging, wenn er mit Nell zusammen war und er sich von ihren Aktivitäten ablenken lassen konnte, von seiner Liebe zu ihr und seiner Sorge um sie, oder wenn er draußen war und lief. Die Arbeit war okay, aber fast zu langweilig, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Konnte er sprechen? Das war die Frage.

Leider war es nicht möglich, sich in Vega zu hacken, selbst wenn er alles daransetzte, die Erinnerung an ihr Gesicht, ihre Hände und Haare auszublenden. Es war zwecklos zu versuchen, ihr einen Schritt voraus zu sein. Sie war immer schon dort, hatte schon ein Dutzend Züge vorweggeplant. Ihr Verstand arbeitete nun mal so. Cap wusste genug über sie, um das nicht als Gabe zu bezeichnen. Es war nichts, was ihr von einer unsichtbaren Neuronen-Fee in die Wiege gelegt worden war. Ein Teil davon war sicher angeboren, zum Beispiel hatte sie ein gutes Gedächtnis für Zahlen und Namen, aber den Rest hatte sie sich in all den Jahren mit wenig Schlaf und Essen und viel Denken antrainiert: wie das Opfer zu denken, wie der Täter zu denken.

»Hallo«, schrieb er zurück. »Klar, hab jetzt Zeit.«

Danach starrte er volle drei Minuten lang auf sein Handy. Keine wandernden Pünktchen, kein Klingeln, kein Brummen.

Mach einfach mit deinem Tag weiter, sagte er sich, ein Ratschlag, den er Nell gegeben hätte. Mach dein Ding. Kümmere dich um dich selbst. Sei kein Jammerlappen. Letzteres hätte er nicht zu ihr gesagt, fand es aber als Aufforderung an sich selbst völlig in Ordnung. Er zog das Blatt mit den Klienteninformationen aus dem Drucker und überflog es.

Nachdem er noch einen Blick auf sein Handy geworfen hatte, um sicherzugehen, dass Vega nicht gerade in dem Moment schrieb oder anrief, wählte er die Nummer des Klienten. Er wurde sofort zur Voicemail geleitet und spulte sein Sprüchlein ab.

»Hallo, Mr Ferad, hier ist Max Caplan von Vera Quinns Dienststelle. Ich glaube, sie hat Ihnen meinen Anruf angekündigt.«

Es klingelte an der Haustür. Er sprang auf und ging zum Fenster, während er weitersprach. »Ich hätte bloß ein paar Fragen an Sie, Ihren Fall betreffend.«

Ein paar Autos standen an der Straße: ein zerbeulter Ford Pick-up, der seinem Nachbarn gehörte, zwei gewöhnliche Kombis, die er nicht kannte, und dann, etwas weiter unten, der weinrote Minivan vom Vortag. Cap drückte seinen Kopf an die Scheibe und kniff die Augen zusammen, haspelte seine Nachricht zu Ende: »Wenn Sie, äh, einen Moment Zeit haben, rufen Sie mich bitte zurück.«

Er hinterließ seine Nummer und beendete den Anruf, steckte das Handy in die Gesäßtasche. Angestrengt spähte er weiter hinaus, als wäre sein Auge die Linse einer endoskopischen Kamera und könnte um die Ecke sehen, um festzustellen, wer vor der Haustür stand, obwohl er genau wusste, dass er dazu aus dem Wohnzimmerfenster auf die Veranda blicken musste, wobei er natürlich selbst gesehen werden konnte.

Das durfte nicht wahr sein, dachte er.

Er ging zur Haustür, machte aber nicht auf. Wartete noch eine Minute.

Es klingelte wieder. Diesmal zuckte er nicht zusammen, musste dafür gegen eine aufwallende Übelkeit ankämpfen. Cap schüttelte den Kopf, ob über sich selbst oder über sie, wusste er nicht genau.

Dann machte er die verdammte Tür auf.

Er war dünn. Sie konnte keine Körperformen unter seinem Sweatshirt und den Jeans ausmachen. Das Gesicht schmal, selbst sein Lächeln wirkte schwächer. Doch er war es, seine Augen, dunkel wie der schwarze Kaffee, den er morgens meistens trank, es sei denn, er war todmüde und nahm Sahne und Zucker, weil er das Protein und den Insulinkick brauchte.

»Du bist zu dünn«, sagte Vega.

Cap lachte. »Du hörst dich an wie Nell.«

»Nell ist aufmerksam.«

Er nickte. »Willst du reinkommen, Vega?«, fragte er und hielt ihr die Tür auf.

Sie trat ein.

Sah sich im Wohnzimmer um, ließ den Blick über die Möbel schweifen, das braune Sofa mit einer anderen Decke über der Lehne (vor knapp zwei Jahren, bei ihrem letzten Besuch, war es eine bunte Häkeldecke, jetzt aber eine dunkelblaue, leichte, so wie die, die man am Flughafen vor einem Langstreckenflug kauft). Sie atmete tief ein, roch Bierdunst und spürte die kalte Luft scharf an den Nasenlöchern.

»Tut mir leid, dass es so kalt ist«, sagte Cap, während er die Tür schloss. »Der Heizkessel ist kaputt, der neue kommt morgen.«

Vega drehte sich zu ihm um. »Ist Nell da?«

Cap schüttelte den Kopf. »Bei einer Freundin.«

Wie er es sagte, wie er den Kopf schüttelte, mit diesen gebeugten Schultern, die ihr noch nie zuvor an ihm aufgefallen waren – er hatte nicht nur abgenommen, er schlief auch schlecht.

»Du bist müde«, sagte sie.

Er lachte schnaufend und kniff sich in die Nase, als juckte sie. Seufzte. »Ja, ich bin müde, Vega. Ich schlafe nicht gut.« Er deutete mit dem Kinn auf sie. »Bist du den ganzen Weg hergekommen, um mir zu sagen, wie scheiße ich aussehe?«

Jetzt roch Vega noch etwas anderes. Es war Aggression, die konnte sie immer wittern, selbst aus einem Häuserblock Entfernung, vor allem, wenn sie von Männern ausging. Bei einem Mann, den sie so gut kannte wie Cap, nahm sie es schon in einer Silbe wahr, einem Atemzug, einem Nicken.

»Nein«, sagte sie und ging hinüber in die Küche.

Sie stellte sich an den schmalen Tisch und legte ihre Hand auf die Lehne des Stuhls, auf dem sie vor zwei Jahren gesessen hatte, erinnerte sich daran, Spaghetti gegessen zu haben. Flüchtig blickte sie in den kleinen offenen Mülleimer an der Wand, der mit einem blauen Recyclingbeutel ausgekleidet war, sah zwei Bierdosen darin.

»Willst du was trinken?«, fragte Cap und griff an den Hängeschrank über der Spüle. »Ich glaube, Nell hat irgendeinen Tee hier drin.«

»Nein, danke.«

Er lehnte sich an die Arbeitsplatte und taxierte sie. »Willst du dich setzen?« Seine Verärgerung schlich sich jetzt auch in seinen Ton.

»Ich stehe gern«, sagte Vega.

Er lachte wieder, es klang nicht gezwungen, aber auch kein bisschen froh.

»Also, worüber zum Teufel willst du reden?« Er wurde lauter. »Ich höre fünf Monate lang nichts von dir, und dann tauchst du einfach hier auf.«

»Ich habe auch nichts von dir gehört«, erwiderte sie ruhig.

»Stimmt«, sagte Cap. Er stieß sich vom Schrank ab und fing an, auf und ab zu gehen. »Du kannst mir nicht erzählen, dass dir das nicht bewusst ist, aber manchmal machst du es einem schon ein bisschen schwer, mit dir zu kommunizieren, oder?«

Vega antwortete nicht, ließ ihn sich Luft machen.

»Außerdem habe ich mir gesagt, wenn du mit mir reden wolltest, würdest du mit mir reden. Du hast es nicht getan. Hast mich denken lassen, was ich wollte, hast mich das alles immer wieder im Kopf rumwälzen lassen.«

Er beschrieb Kreise in der Luft mit dem Zeigefinger.

»Und dann hast du plötzlich Lust zu reden, und hier stehst du. Also, rede, Vega.«

Er packte den Stuhl vor sich an der Lehne, hob ihn leicht an und knallte ihn auf den Boden.

»Rede«, wiederholte er, fester diesmal.

Vega setzte sich.

»Du bist wütend«, sagte sie.

Er starrte sie an.

»Ausgezeichnet, Frau Detektivin.«

Vega ignorierte seinen Ton. »Ich glaube nicht, dass du sauer bist, weil ich dich nicht angerufen habe. Ich glaube, du bist wütend, weil du meinetwegen dreimal beinahe umgebracht worden wärst.«

Cap wirkte verdattert. Er zuckte halbherzig die Achseln. »So lief es nun mal«, sagte er schlicht. »Wir haben unseren Job erledigt.«

»Du hättest nicht in dem Fall ermittelt, wenn ich dich nicht dazugeholt hätte.«

»Du hast mich ja nicht mit Handschellen ans Lenkrad gefesselt«, sagte er. »Ich hätte jederzeit aussteigen können.«

»Nein, hättest du nicht.«

»Was?«, rief Cap, jetzt eher trotzig als aufgebracht. »Hättest du mich etwa daran gehindert?«

»Nein«, sagte Vega. »Ich meine damit, dass du, Caplan, in deinem ganzen Leben noch keinen Fall unerledigt gelassen hast.«

Er schwieg. Vega sah ihn nachdenken, seine Züge einen Augenblick weicher werden, sich dann wieder grollend verhärten. Er schniefte und grinste spöttisch, führte eine Mini-Debatte mit sich selbst.

»Ich brauche keine Genehmigung von dir, um sauer zu sein«, sagte er schließlich. »Wenn du also deshalb gekommen bist …« Er verstummte, lachte. »Warum bist du gekommen?«

Vega antwortete nicht gleich. Sie konnte seinen Zorn verkraften. Sie konnte alles verkraften, womit er ihr kam. Es brachte sie nicht mal ansatzweise aus dem Gleichgewicht.

»Mir ist ein Fall angeboten worden und ich wollte hören, wie du darüber denkst«, sagte sie.

Cap sah sie verblüfft an. Einen Moment lang herrschte Schweigen.

Dann sagte er: »Und anrufen, mailen, Textnachrichten schreiben – diese Kommunikationswege haben dich nicht interessiert?«

»Nein, irgendwie nicht«, sagte sie. »Ich brauche deine Meinung zu dem Auftrag, ob ich ihn annehmen soll oder nicht, und ich dachte, es wäre einfacher, wenn ich persönlich mit dir rede. Du hast vorhin geantwortet, dass du Zeit hast. Stimmt das noch?«

Es lag kein Hauch von Sarkasmus in ihrer Stimme.

Cap war momentan entwaffnet.

»Ja, das stimmt noch«, sagte er und massierte sich das Kinn mit dem Daumen. »Du bist extra hergekommen. Also erzähl’s mir halt.«

Vega faltete ihre Hände zu einem ordentlichen Knoten auf dem Tisch. »Mir ist eine erhebliche Summe angeboten worden, um jemanden namens Zeb Williams zu finden.«

Cap hörte mit dem Kinnreiben auf. Seine Augen wurden groß, die dunklen Halbmonde darunter verschwanden.

»Den Footballspieler«, fügte Vega hinzu.

»Ja, ich weiß«, sagte Cap. »Wer will, dass du ihn findest?«

»Ein Silicon-Valley-Typ namens Anton Fohl, verheiratet mit Williams’ alter Studentenliebe.«

»Der Airline-Erbin, ja?«

»Genau«, sagte Vega. »Also, wer ist das nochmal, dieser Zeb Williams?«

Cap lachte wieder, aber diesmal war es das Lachen, das sie von ihm kannte und mit ihm verband, nicht mehr mit Bitterkeit durchsetzt wie zuvor. Er war schockiert von ihr, aber zugleich entzückt.

»Zeb Williams, der Kicker von Cal?«, rief er ungläubig. »Nummer zwei? Warte mal, Vega«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Du willst behaupten, du weißt wirklich nicht, wer er ist?«

»Nicht so richtig.«

»Du bist aus Kalifornien!«, sagte er, immer noch entzückt. »Wie kannst du nie was von ›Wohin-Williams‹ gehört haben?«

Vega zuckte die Achseln und breitete die Hände aus, wie um zu zeigen, dass sie nicht mit verdeckten Karten spielte.

»Ich interessiere mich nicht so für Sport.«

Jetzt bedachte er sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Zeb Williams geht weit über Sport hinaus«, sagte er. »Er war so was wie ein kulturelles Phänomen.«

Vega schüttelte den Kopf, dabei froh, ihn plötzlich so angeregt zu sehen.

»Hast du nicht über ihn recherchiert?«

»Nur das Gröbste. Von seiner Oma aufgezogen, Stipendium für UC Berkeley«, antwortete sie. »1984 verschwunden.«

»Richtig, aber weißt du auch, wie er verschwunden ist? Unter welchen Umständen?«

»Nein, ich dachte, das könntest du mir sagen.«

»Du brauchst nur seinen Namen zu googeln oder ›Zebs Lauf‹ oder wahrscheinlich auch nur ›Der Lauf ‹. Ich kann meinen Laptop holen«, sagte er, auf sein Büro zeigend.

»Oder du kannst es mir einfach erzählen.«

»Okay.« Cap wirkte tatsächlich belebt durch die Herausforderung. Sein Blick schweifte herum, als überlegte er, wo er anfangen sollte. »Okay«, wiederholte er bestimmter. »Jedes Jahr tragen Cal und Stanford ein Footballspiel aus, ›The Big Game‹ nennen sie es. Schon seit hundert Jahren oder so, so lange besteht die Rivalität zwischen ihnen.«

Vega dachte an Anton Fohls launiges Bekenntnis, dass seine Familie von Stanford-Ehemaligen nicht gerade begeistert war, als er ein Mädchen von Cal heiraten wollte.

»Also, es ist das vierte Quarter, es steht unentschieden. Noch fünf oder sechs Sekunden bis zum Schluss. Cal hat gerade einen Touchdown erzielt, wir sind also beim Point after«, erklärte Cap. »Mit dem Extrapunkt würde Cal vorn liegen, klar? Also, fünf, sechs Sekunden, die Uhr tickt, Williams steht an der Drei-Yard-Linie. Normalerweise hat ein Kicker innerhalb von dreißig Yards leichtes Spiel.«

Vega nickte knapp.

»Der Snapper snappt«, fuhr Cal fort, wobei er einen imaginären Football rückwärts durch seine Beine warf. Danach joggte er ein Stück zurück, nahm eine andere Rolle ein. »Der Holder fängt und setzt den Ball direkt vor Williams ab.«

Cap ging in die Hocke, hielt seine Hand etwa dreißig Zentimeter über dem Boden. Richtete sich wieder auf und trat einen großen Schritt zurück, weg vom Küchentisch und dem Phantomball. Machte anschließend einen kleinen Schritt nach vorn und einen nach links.

»Williams stellt sich auf, als wollte er kicken, okay?«, sagte er.

Vega nickte wieder, obwohl sie keine Ahnung hatte, was er da pantomimisch vorführte. Ab und zu hatte sie mal Spiele im Fernsehen gesehen, manchmal schaute TJ, der zweite Mann ihrer Mutter, sich eins an, oder es liefen welche im Hintergrund bei ihrem Vater oder ihrem Bruder, wenn sie zu Besuch war, was nicht oft vorkam. Mal in einer Bar, wenn sie beruflich unterwegs war. Vielleicht war sie in der Highschool zu ein, zwei Matchs gegangen, sie konnte sich nicht erinnern.

»Der Holder hat den Ball nur noch eine Sekunde, vielleicht anderthalb, Zeb tritt vor wie zum Kicken, doch dann, in der letzten Millisekunde, kickt er nicht.«

Cap erstarrte, um die Spannung zu steigern, stand vorgebeugt mit den Händen auf den Knien da und schielte zu Vega hin.

»Er stößt den Holder weg, seinen Mannschaftskameraden, ja?, schnappt sich den Ball …«

Cap richtete sich auf, drückte einen Arm an die Brust.

»… und rennt in die andere Richtung«, sagte er mit Nachdruck, zeigte dabei aufs Wohnzimmer. »Weg von seinem Team, weg von seiner Position, auf der er das Field Goal hätte kicken sollen.«

Cap trabte um den Küchentisch herum, dann um das Wohnzimmersofa.

»Williams war ein ziemlich guter Kicker«, fuhr er fort, »aber niemand hatte auf dem Schirm, dass er vorher auch Langstreckenläufer gewesen war, Cross Country. Er hatte die entsprechende Puste.« Cap klopfte sich auf die Brust.

»Er rennt also los«, sagte er, auf das Fenster zuhaltend. »Bei der vierziger Linie, der dreißiger, ist das ganze Cal-Team hinter ihm her, die Fans drehen komplett durch, springen von den Rängen über die Absperrung.« Cap deutete auf die Wand hinter dem Fernseher, als würden dort gerade Massen von Fans herunterhüpfen. »Aber niemand kann ihn einholen, und er läuft weiter, läuft in die Endzone, wo eigentlich Stanford punkten soll. Also signalisiert der Schiedsrichter ein Safety.«

Cap hob die Arme über den Kopf und formte ein Dreieck, die Handflächen aneinandergepresst, als würde er beten.

»Was praktisch zwei Strafpunkte sind, die an die andere Mannschaft gehen, also gewinnt Stanford acht zu sechs. Und Williams lässt das Ei fallen und rennt einfach weiter, raus aus dem Stadion, rempelt Leute um, Reporter, Cheerleader, einen Posaunisten, und die anderen immer hinter ihm her, aber sie blockieren sich gegenseitig, Fans stürmen das Spielfeld, und Williams verliert sich irgendwie in der Menge.«

Cap breitete die Hände aus, Ende des Zaubertricks.

»Puff.«

Er verschnaufte, Vega starrte ihn an.

»Keine Smartphones damals, weißt du«, sagte er, wieder ruhiger. »Später hat man seinen Helm, das Trikot und die Stollenschuhe auf dem Parkplatz gefunden. Aber keinen Williams.«

Cap wandte sich um und sah zum Fenster hinaus, indem er zwei Lamellen der Jalousie mit den Fingern trennte. Vega glaubte nicht, dass er nach Zeb Williams Ausschau hielt.

»Und dann?«, fragte sie.

Er ließ die Jalousie los und sah sie wieder an.

»Niemand hat ihn je gefunden. Jede Menge Fans haben nach ihm gesucht, haben sich ›die Zweier‹ genannt, nach seiner Trikotnummer. Er ist zu einer Art Volksheld geworden oder zu so was wie Elvis oder Bigfoot, ab und zu postet immer noch jemand ein Foto online. Und man muss nicht lange graben, um auf irgendwelche Verschwörungstheoretiker zu stoßen, weißt du, die glauben, dass er von Aliens entführt worden ist oder …«

Cap führte den Gedanken nicht zu Ende und kam vom Wohnzimmer zurück in die Küche. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Sie musterten sich.

»Hast du schon mal in einem so lang zurückliegenden Vermisstenfall ermittelt?«, fragte er.

»Nicht wirklich«, sagte sie. »Tote Kautionsflüchtlinge zahlen nichts mehr.«

»Und er ist auch kein Minderjähriger in Not. Was interessiert dich dann an dem Fall?«

»Das Geld«, antwortete Vega.

»Ich wusste nicht, dass Alice Vega sich um solche Belange sorgt«, bemerkte er.

»Tue ich auch nicht. Alle paar Fälle lege ich einen ordentlichen Batzen bei der Bank an, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche.«

»Warum will der Mann seiner Exfreundin ihn überhaupt finden?«, schoss Cap zurück, jetzt voll im Cop-Modus.

»Ich weiß es nicht.«

»Du willst das also rein des Geldes wegen machen«, stellte er klar.

»Genau.«

»Und du bist quer durchs Land geflogen, um meine Meinung zu hören, richtig? Ob du diesen Auftrag annehmen sollst oder nicht.«

»Nicht so ganz.«

»Du hast also gelogen, als du gesagt hast, dass du deswegen hier bist?«

»Ja.«

Sie schwiegen. Vega hatte kalte Hände und knetete sie auf dem Tisch, um die Blutzirkulation anzuregen.

»Warum bist du also gekommen?«, fragte Cap schließlich.

»Ich habe bereits beschlossen, den Fall anzunehmen. Ich bin gekommen, um dich zu bitten, ihn mit mir zusammen zu bearbeiten.«

Cap wirkte plötzlich wieder müde.

»Ich habe jetzt einen festen Job hier«, sagte er.

»Aber du hast wahrscheinlich Urlaubstage«, erwiderte sie.

Cap lächelte. Zurückhaltend zwar, aber er lächelte.

»Ich habe eine Nell.«

»Sie ist schon groß«, sagte Vega. »Ist im November achtzehn geworden, oder?«

Jetzt lachte er. »Ja, das stimmt. Sie ist schon achtzehn.«

»Geht sie nächstes Jahr auf die Uni?«

»Und ob«, antwortete Cap. »Vorzeitige Aufnahme in Princeton.«

»Princeton«, sagte Vega. »Das ist eine tolle Sache, was?«

»Allerdings.«

»Ziemlich nahe außerdem. New Jersey ist nah, oder?«

»Etwa zwei Stunden Fahrt, also nahe, ja.«

»Du bist stolz«, bemerkte Vega.

»Immer«, sagte Cap.

Sein Ausdruck wurde wieder gequält, als der Gedanke an Nell sich verflüchtigte.

»Du brauchst mich nicht. Du könntest diesen Auftrag mit gefesselten Händen und Füßen erledigen. Ich meine, ich bin nicht überzeugt, dass Zeb Williams gefunden werden kann«, schränkte er ein, »aber verdammt, wenn irgendwer eine Chance hat, dann du.«

Vega wollte wärmend auf ihre Hände pusten, ließ es aber.

»Sag bloß.«

»Wie bitte?«

»Sag bloß«, wiederholte sie, und als er sie weiter anstarrte, fuhr sie fort: »Ich brauche dich nicht, aber ich hätte gern, dass du mitkommst. Ich finde, du solltest mitkommen. Ich glaube, dann geht es dir besser.«

Cap spielte es im Kopf durch: Nachrichten an Nell und Jules und Vera schreiben, Klamotten und Toilettenartikel und die Sig in einen Koffer werfen, mit Vega einen Flieger besteigen, Hinweisen nachjagen und Zeugen befragen. Selbst wenn dieser Job recht harmlos klang, würde er ihn immer noch mit Vega zusammen machen, und sie würde als Vega aufwachen und als Vega einschlafen und zwischendurch tonnenweise Scheißärger auf sich ziehen.

Er schloss die Augen, schauderte unwillkürlich. Eine Zeitlang hatte er gewohnheitsmäßig mit dem Finger über sein Ohr gestrichen, über den oberen Rand, der ihm beim ersten Fall mit ihr abgeschossen worden war, während er jetzt manchmal auf die runde Elektroschocknarbe tippte. Was würde es beim nächsten Mal sein? Würde er sich behutsam den Stumpf reiben, wo mal seine Hand oder sein Fuß gewesen war?

Cap machte die Augen auf.

»Willst du nicht doch einen Tee, Vega? Die Temperatur fällt gerade hier drin, glaube ich.«

Vega schüttelte den Kopf. Normalerweise war das Problem, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte, aber jetzt, in diesem Moment, fürchtete sie, nicht mehr aufhören zu können, wenn sie einmal angefangen hatte. Davon, dass auch für sie nichts mehr wie vorher war, seit sie sich vor fünf Monaten in San Diego voneinander verabschiedet hatten, davon, dass das Narbengewebe über der Messerwunde an ihrer Seite verheilt war, der Anblick nicht unähnlich einer langen, verwickelten Angelschnur, davon, dass diese Wunde sie manchmal mitten in der Nacht aufweckte und wie eine Arterie pulsierte und dass sie danach nicht wieder einschlafen konnte, weil ihre Gedanken sich unvermeidlich und endlos um die Erinnerung drehten, wie sie Caps Zähne an ihrem Hals, ihrem Kinn und ihren Fingern gespürt hatte, als wollte er sie ganz verschlingen, als wäre sie ein sehr blutiges Steak.

Endlich blies sie warmen Atem auf ihre Hände. Cap hatte recht: Die Temperatur fiel merklich.

»Der Typ ist schon lange in der Versenkung verschwunden. Keine E-Mail, keine Steuern, kein Social Media«, hatte Bastard geschrieben, ihr aber weitere Links und Dateien und Fotos geschickt, die alle öffentlich im Internet verfügbar waren.