Abgründige Wahrheit - Bernd Richard Knospe - E-Book

Abgründige Wahrheit E-Book

Bernd Richard Knospe

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Beschreibung

Als der Journalist Eric Teubner mit ersten Recherchen für die Biografie über einen kürzlich verstorbenen Hamburger Verleger beginnt, wird die Hansestadt zeitgleich von einer brutalen Mordserie erschüttert. Schon bald ergeben sich erste Hinweise auf einen über dreißig Jahre zurückliegenden Fall, bei dem ein misslungener Polizeieinsatz ein Blutbad auslöste. Der Hauptschuldige sitzt noch immer hinter Gittern. Die Spuren zweier Lebenswege, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Und doch kreuzen sie sich überraschend und verwandeln die aktuellen Ereignisse auf fatale Weise in einen Albtraum. "Abgründige Wahrheit" ist ein Thriller, der auf der Suche nach der Wahrheit tief in menschliche Abgründe vordringt, bis zur Enthüllung einer unfassbaren Schuld. Nach "Blue Note Girl" der zweite Eric Teubner Roman.

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Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, solltest du auch sagen.

Voltaire

Inhaltsverzeichnis

Prolog Child In Time

Kapitel 1: Ein neues Projekt

Kapitel 2: Die Gang

Kapitel 3: Neuanfänge

Kapitel 4: Walker

Kapitel 5: Undercover

Kapitel 6: Opfer

Kapitel 7: Kräftemessen

Kapitel 8: Verworrene Verhältnisse

Kapitel 9: Neue Besen

Kapitel 10: Fragen und Antworten

Kapitel 11: Geständnisse

Kapitel 12: Spurensuche

Kapitel 13: Fortschritte

Kapitel 14: Die Unruhe vor dem Sturm

Kapitel 15: Der Mensch in der Bestie

Kapitel 16: Geheimnisse

Kapitel 17: Panik

Kapitel 18: Party Time

Kapitel 19: Schlechte Nachrichten

Kapitel 20: Die Suche

Kapitel 21: Entscheidungen

Kapitel 22: Endlich

Kapitel 23: Wo ist Gott?

Kapitel 24: Ungeduld

Kapitel 25: Child In Time Reprise

Kapitel 26: Danach

Kapitel 27: Abgründige Wahrheit

Epilog: Launen des Schicksals

Was noch zu sagen bleibt

Prolog Child In Time

November 1978. Die letzte Stunde vor Mitternacht war soeben angebrochen. Trotz Laternen und Hausbeleuchtungen wirkte die Brückwiesenstraße im beschaulichen Hamburger Stadtteil Groß Borstel düster und bedrohlich. Im Innenraum des Dienstwagens war es kalt. Matthias Ziemer blies sich in die klammen Finger. Im Radio besangen John Travolta und Olivia Newton-John gerade Summer Nights. Klang fast ein wenig unwirklich, dieses fröhliche Sommergezwitscher, während sich hier im echten Leben zwei Drogenfahnder die Ärsche abfroren.

„Dieser Sommer war scheiße“, murmelte Ziemer. „Das ist mal sicher.“

Sein Kollege Thorsten Lehmann starrte weiterhin schweigend nach draußen. Der diesjährige Sommer war ihm egal. Ihm machte dieser offiziell nicht abgestimmte Einsatz zu schaffen. Ihr laxes Vorgehen hatte ihm von Anfang an nicht gepasst, was zwischen den beiden gegensätzlichen Beamten vor einigen Minuten zu einem heftigen Disput geführt hatte. Danach hatte sich neben der Kälte und dem Zigarettengestank im Wagen auch noch eine miese Stimmung breit gemacht.

Zu allem Überfluss gönnte sich Ziemer jetzt auch noch einen dünnen Joint. Darüber konnte Lehmann nur noch mit dem Kopf schütteln. Bisher hatte er die Marotten des Kollegen meist ignoriert. Heute aber regten ihn sogar dessen Atemzüge auf. Besonders dann, wenn sie den Rauch eines Joints tief in die Lunge sogen.

Ziemer pflegte seinen Drogenkonsum gern als notwendige Tarnung eines Undercover-Bullen zu verharmlosen. Das mochte für einige Situationen sogar zutreffen, aber hier und jetzt war es aus Lehmanns Sicht völlig daneben.

Undercover war an diesem Abend ohnehin zum Reizwort geworden, stand es doch für alles was bis heute falsch gelaufen war. Darüber hatten sie allerdings mehr als genug debattiert.

Lehmann blieb stur auf die Villa konzentriert, die schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite wie ein Spukschloss aus dem verwilderten Grundstück emporragte. Wieder mal kreisten seine Gedanken um die Informantin, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo in diesem Gebäude aufhielt. Undercover!

Ziemer hatte die junge Frau vor einiger Zeit in einer Kiez-Kneipe auf der Reeperbahn aufgerissen. Ein Polizist, für den sich die Grenze zwischen Schwarz und Weiß längst verwischt hatte und eine Prostituierte, die gewöhnlich im Stadtteil St. Georg anschaffen ging - eine Verbindung, die von Anfang an ohne Licht auskommen musste. Der frustrierte Bulle und die süchtige Hure nahmen lediglich, was sie voneinander kriegen konnten. Hauptsächlich Drogen und Sex. Symbiose, nannte Ziemer das und war zufrieden. Lehmann wollte lieber nicht genauer darüber nachdenken, wie er das nennen würde.

Nachdem Ziemer die junge Frau zum ersten Mal erwähnt hatte, war im Kopf seines Partners das Klischee der typischen Fixerin entstanden. Dieses Bild hatte er nach der ersten Begegnung mit ihr erheblich korrigieren müssen, traf er doch auf eine beeindruckend attraktive junge Frau, die er weder mit Prostitution noch mit Drogensucht in Verbindung hätte bringen mögen. So war er von der neuen „Eroberung“ seines Partners auf Anhieb fasziniert. Nach seinem Empfinden gehörte sie nicht auf den Strich von St. Georg - schon gar nicht ins Drogenmilieu. Und ein Klotz wie Ziemer passte nicht zu ihrem sanften und künstlerisch veranlagten Wesen. Zudem passte Lehmann ab sofort auch nicht mehr zu seiner Verlobten Mareike, denn in seinem Kopf hatte sich längst die Andere breit gemacht. Immer wieder besuchte er heimlich die Geliebte seines Partners in deren kleiner Wohnung in der Langen Reihe. Im Gegensatz zu Ziemer aber bezahlte er für jeden Besuch. Für ihre Stimme, ihre Gedanken, ihre Nähe, ihren Körper. Sogar dafür, ihren entrückten Träumen lauschen zu dürfen. Einmal bezahlte er sie für eine ganze Nacht, um sich mit ihr zeitlos in einer Szenekneipe - Max & Consorten - in der Nähe des Hauptbahnhofs über Gott und die Welt unterhalten zu können. In dem trügerischen Gefühl, sie wären ein ganz normales Paar im Anfangsstadium. Sie sprach vor allen Dingen über ihre Welt, über künstlerische Ambitionen und große Pläne. Sie vertraute Lehmann all das an, was Typen wie Ziemer nicht interessierte - und das war eine ganze Menge. Dass sie Gedichte schrieb und vom Drogenrausch inspirierte Bilder malte. Gelegentlich erwähnte sie einen geheimnisvollen reichen Gönner, der sie von der Straße holen würde, sobald er einige private Dinge geregelt hätte. Es klang wie das Märchen vom Aschenputtel und dem Prinzen. Aber ihre Augen strahlten dabei so zuversichtlich und waren nur allzu bereit, an Märchen zu glauben. Lehmann kannte genügend Nutten, die ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft mit solchen angeblichen Edelmännern verknüpften. Kleine Fluchten, um sich die Wirklichkeit etwas erträglicher zu gestalten. Verklemmte reiche Idioten, die unter den Prostituierten ihre Prinzessin suchten, und melancholische Huren, die davon träumten, eines Tages von einem selbstlosen Ritter aus dem Dreck befreit zu werden. Es hörte sich nach einem verdammt schlechten Drehbuch an. Das wahre Leben sah anders aus. Freier blieben Freier, Nutten blieben Nutten - auch wenn sie Gedichte schrieben. Und Bullen blieben Bullen. Selbst wenn sie wie Ritter dachten und fühlten.

Die Frage, ob nicht auch ein Bulle mit normalem Einkommen ausreichen könnte, Aschenputtel vom Strich und von der Nadel wegzuholen, hatte Thorsten Lehmann dennoch gestellt. Aber diese Überlegungen hatte sie völlig falsch interpretiert, dachte, er meine Ziemer und amüsierte sich über die absurde Vorstellung. Der würde sie nie von der Straße holen. Sie würden sich grade mal so viel geben, wie sie im Augenblick brauchten. Für größere Ziele reichte es nicht. Die andere Sache aber, von der sie gesprochen hätte, das wäre wirklich ernst. Das würde eines Tages klappen. Spätestens dann wäre sie weg. Davon war sie zutiefst überzeugt. Schaute wohlig seufzend in eine Zukunft, in der es für Bullen keinen Platz gab.

Vorher allerdings hatte Matthias Ziemer sie mit einer speziellen Aufgabe überrumpelt, es als „kleine Gefälligkeit“ bezeichnet. Sie sollte sich ihr Quantum Stoff vorübergehend mit einer Art Job für ihn verdienen. Sollte sich in den Dunstkreis eines zwielichtigen Mannes einschleichen, den die Drogenfahndung seit geraumer Zeit im Visier hatte. Matthew Walker! Der mysteriöse Deutsch-Amerikaner, der Mitte der Siebzigerjahre von Kassel nach Hamburg gekommen war. Ein dämonischer Freizeit-Prediger, langhaarig, vollbärtig und immer in schwarzen Lederklamotten, der in der Brückwiesenstraße seit einiger Zeit eine große Villa bewohnte. Geld schien für ihn keine Rolle zu spielen. Außerdem beschaffte Walker sich in größerem Umfang Drogen und verteilte sie wie Manna unter seinen Anhängern. Was genau er predigte, drang nicht in die Außenwelt. Der Kreis seiner sektenmäßig funktionierenden Kommune erwies sich als äußerst verschwiegen. Da es in der Villa häufig hoch herging, hatte es bereits einige Polizeieinsätze wegen nächtlicher Ruhestörung gegeben. Weitere Auffälligkeiten waren aus Walkers Wohngemeinschaft jedoch nicht bekannt geworden, so dass man sie eher als harmlose Spinner abstempelte. Ziemer sah das anders, er hielt Walker für gefährlich und wollte außerdem an dessen Drogenlieferanten herankommen. Zugleich wollte er mehr über Walker selbst in Erfahrung bringen, dem diese Schar gescheiterter Existenzen schon länger folgte, wie einst die Kinder dem Rattenfänger von Hameln.

Ziemers attraktiver Lockvogel konnte schnell die Aufmerksamkeit des unheimlichen Propheten gewinnen. Beim letzten Treffen mit den beiden Drogenfahndern berichtete sie nicht ohne Stolz, wie Walker vom ersten Moment ihrer Begegnung an sofort auf sie abfuhr. Danach hatte er keinen anderen mehr in ihre Nähe gelassen. Ansonsten gab es in der Gemeinschaft weder sexuelle noch materielle Besitzansprüche. Man teilte alles. Nur bei ihr entschied Walker anders, was allgemein respektiert wurde.

„Na, herzlichen Glückwunsch“, war Ziemers einziger Kommentar zu ihrem rasanten Aufstieg.

Da saßen sie in einem kleinen Imbiss in Barmbek, und Lehmann hatte sich gefragt, ob ihm gerade von den Essensgerüchen so schlecht wurde oder eher von dieser Geschichte, in die sie das ahnungslose Mädchen getrieben hatten. Vielleicht wurde ihm aber auch von seiner eigenen Rolle übel, dieser feigen Tatenlosigkeit und dem Mangel an Courage. Ernüchtert lauschte er dem Bericht, wie leicht sich Walker von ihr hatte verführen lassen. Staunte über die Coolness, mit der sie auf ihre übliche Drogenration von Ziemer verzichtete, wo sie doch jetzt an der Quelle saß. Es schien ihr Selbstwertgefühl erheblich zu steigern, von mehreren Männern begehrt zu werden. In diesem Moment hatte Lehmann sie endgültig abhaken wollen. Die brauchte seine Liebe nicht, ebensowenig wie seine Sorge um ihre Zukunft. Gleichgültig ließ sie sich von einem finsteren Burschen aushalten und funkelte sogar noch vor Stolz, nur weil der sie für sich allein beanspruchte. Sollte sie doch ins Unglück rennen, mit all ihren naiven Träumen und Plänen!

„Sieh zu, dass du mal an echte Infos rankommst, statt andauernd mit diesem Typen rumzumachen“, hatte Ziemer gereizt gebrummt, offensichtlich auch von ihrem überheblichen Auftritt genervt. „Du hast einen klaren Auftrag, Schätzchen.“

Das war vor vier Wochen gewesen. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihr gehört oder gesehen. Also froren und langweilten sie sich durch eine weitere Nacht vor Walkers Domizil und hatten außer Warten, Beobachten und Rauchen keinen Plan.

Diese Tatenlosigkeit verbunden mit Ziemers Lethargie zehrte an Lehmanns Nerven. Er platzte fast vor Ungeduld. Sein Kollege hielt ihm den halb gerauchten Joint vor die Nase.

Lehmann drehte verärgert den Kopf weg und knurrte:

„Wir sollten sie da jetzt endlich rausholen. Seit einem Monat gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Das ist bedenklich.“

Ziemer feixte. Äffte Lehmanns Tonfall nach.

„Bedenklich! Was soll denn daran wohl bedenklich sein, Mann? Die Kleine wird mit Stoff versorgt und täglich vom Boss persönlich gepimpert. Das ist besser, als in St. Georg Opas die verschrumpelten Schwänze zu lutschen. Hat uns längst vergessen, die verdammte Schlampe!“

„Ja, und?“

„Ja, und was?“

„Wozu hängen wir hier dann immer noch rum?“

Ziemer grinste selig.

„Weil wir verdammte Bullen sind. Was sollen wir sonst machen?“

„Dann geh ich da jetzt rein!“, entschied Lehmann und suchte seine Waffe, die irgendwo auf der Rückbank in einer Sporttasche steckte. Alles, was er momentan sagte oder tat, steigerte Ziemers Heiterkeit.

„Da rein? In Walkers Schloss? Die kleine Drogenpussi befreien? Für wen hältst du dich? Für James Bond?“

„Scheiße, Matze, merkst du eigentlich noch was?“

Ziemer kicherte.

„Hab ich etwa vorgeschlagen, Walkers Bude zu stürmen, oder wie? Was heißt denn das? Reingehen? Und dann noch mit der Wumme. Ehrlich Mann, du hast sie nicht mehr alle! Bleib mal locker.“

Lehmann hatte mittlerweile seine Waffe gefunden und überprüfte das Magazin - alles andere als locker.

„Gibt’s wenigstens einen Plan?“, wollte Ziemer wissen, der Mühe hatte, ernst zu bleiben. „Oder umzingeln wir beide das Haus?“

Lehmann bedachte ihn mit einem vernichtenden Seitenblick.

„Du kannst gern im Auto bleiben und dir in aller Ruhe die Birne zukiffen. Ich jedenfalls werde an der Tür klingen, den Koks-Nasen meinen Dienstausweis zeigen und sagen, dass ich eine verdächtige weibliche Person suche. Wir hätten Hinweise vorliegen, dass sie sich in dem verdammten Haus befindet. Dann geh ich da rein und hol sie raus.“

„Geiler Plan! Da bin ich dabei.“

„Vor allem bist du bekifft.“

„Ja, Mann, das auch.“

Ziemer wühlte umständlich im Fußraum herum, bis er seine Waffe fand.

„Pass bloß auf, dass die nicht versehentlich losgeht“, murmelte Lehmann, während er ausstieg. Ziemer zwängte sich ächzend auf der anderen Seite aus dem Wagen. Er war ein großer und schwerer Bursche, wirkte in vielen Situationen noch wie ein unbekümmerter Junge.

Die beiden Beamten bewegten sich auf die Villa zu; Lehmann wachsam und angespannt, Ziemer überdreht und aufgekratzt. Die meisten Fenster waren dunkel. Nur im oberen Stockwerk brannte Licht und auch der hintere Bereich – vermutlich die Küche - war hell erleuchtet.

Ziemer gluckste immer wieder in sich hinein, und Lehmann war klar, wie unprofessionell dieser Einsatz ablief. Die ganze Aktion war idiotisch! Keine angenehme Vorstellung, sich im Notfall auf einen bekifften Partner verlassen zu müssen. Im nüchternen Zustand aber hätte ihn Ziemer vermutlich gar nicht erst begleitet. Nur waren Lehmanns düstere Vorahnungen inzwischen unerträglich geworden, und das trieb ihn an.

Sie hatten den verwilderten Garten der Villa durchquert und blieben im unbeleuchteten Eingangsbereich stehen.

„Lampe kaputt“, stellte Ziemer fest. „Vielleicht kriegen wir sie damit irgendwie am Arsch.“

Er presste sich die Hand vor den Mund, um seine überbordende Fröhlichkeit zu dämpfen.

„Oder wegen des Gartens“, fügte er wimmernd hinzu. „Hast du gesehen, wie der aussieht? Eine Schande. Wir verhaften die ganze Bande wegen unterlassener Gartenpflege.“

Resignierend musterte Lehmann seinen Partner. Es hatte einfach keinen Sinn.

„Gehen wir wieder. Das Ganze ist eine Schnapsidee.“

Ziemer sank endgültig zu Boden, sein Körper bebte vor unterdrücktem Gelächter.

Er hatte eine Stimmung erreicht, in der er mit seinem Humor alleine war, niemanden mehr brauchte.

Kopfschüttelnd steckte Lehmann die gesicherte Waffe hinten in den Hosenbund und wandte sich ab, um die planlose Aktion vorzeitig abzubrechen. Ziemer kam nur mühsam wieder auf die Beine und schien seine Lachflashs nicht mehr kontrollieren zu können. Das klang schon fast wie Grunzen.

In diesem Augenblick ging langsam die Haustür auf. Fast zögernd fiel etwas Licht von innen auf die überraschten Männer. Im schwach beleuchteten Eingangsbereich stand eine Frau. Sie war etwas übergewichtig und hatte leicht gewellte, schulterlange rötliche Haare. Außer einem Stirnband trug sie nichts. Große schwere Brüste ruhten prall auf einem straff gespannten Schwangerschaftsbauch. Das hätte harmlos und skurril wirken können, wäre die Frau nicht am ganzen Körper und im Gesicht voller Blut gewesen. Außerdem richtete sie mit nervösen Händen und glasigen Augen einen Revolver auf Ziemer. Sie murmelte etwas Unverständliches. Er hob grinsend die Arme. Sie drückte ab. Eine Sache von Sekunden. Die erste Kugel traf den überraschten Polizeibeamten in die linke Schulter, die zweite in das rechte Auge. Der verblüffte Lehmann brauchte viel zu lange, um seine Waffe aus dem Hosenbund zu zerren, sie zu entsichern und auf die leicht wankende Frau anzulegen. Als der Lauf des Revolvers und ihr irrer Blick in seine Richtung schwenkten, drückte Lehmann mehrfach ab. Mit leisem Stöhnen sackte die Frau auf der Türschwelle zusammen. Lehmann warf einen erschütterten Blick auf seinen Partner, der mit einem verzerrten Grinsen im Gesicht gestorben war. Dann sprang er über die Leiche der Schwangeren hinweg in den Eingangsbereich der Villa. Er duckte sich und lauschte angestrengt in das Innere des Hauses. Sein Herz schien pure Entschlossenheit in seinen Körper zu pumpen. Er war fokussiert und erstaunlich ruhig.

Aus irgendeinem Raum weiter hinten ertönte in extremer Lautstärke Child in Time von Deep Purple. Das ließ die Situation noch irrealer erscheinen, wie die Szene eines Films. Eine Männerstimme schrie verzweifelt einen Frauennamen, mehrfach. Anschließend kreischte eine weibliche Stimme, um danach in hysterisches Weinen auszubrechen. Jemand brüllte etwas Unverständliches. Irgendwo wurde gelacht. Während Child in Time Fahrt aufnahm, peitschten Schüsse auf. Ziellos summten die Kugeln durch den Flur und klatschten über Lehmanns Kopf in Wände und Türen. Putz spritzte und rieselte auf ihn herab. Im Dienst an der Waffe ausgebildet zu werden, war eine Sache. Doch stand man plötzlich unter Beschuss, bekam der Tod eine Stimme, sie klang hart und kompromisslos. Lehmann hatte sich im Kugelhagel eng auf den Boden gepresst und blieb dort schwer atmend und mit geschlossenen Augen liegen. Sobald die Waffen schwiegen, rappelte er sich wieder auf und robbte weiter in das dunkle und muffige Herz der Villa. Er konnte das Böse spüren. Es riechen. Genau hier schien es auf ihn gewartet zu haben. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt. Aber in seiner Fantasie rief Aschenputtel aus dem Dunklen seinen Namen. Er würde sie finden und retten und mit ihr ein neues Leben beginnen. Außerhalb dieser dreckigen Wirklichkeit! Das war der Plan!

Kapitel 1: Ein neues Projekt

Fünfunddreißig Jahre später. In der Empfangshalle des gläsernen Gebäudes in der Hafencity musste er lange warten. Vertrieb sich zunächst die Zeit damit, sämtliche Gemälde und Grafiken zu betrachten, die einzigen farbigen Akzente der ansonsten schlichten Innenarchitektur. Danach blätterte er mit mäßigem Interesse in den auf den Tischen ausgelegten Magazinen des Michaelsen Verlags. Zuletzt bewunderte er durch großzügige Panoramascheiben den Blick auf den Hafen. Dann war seine Geduld restlos aufgebraucht, zumal die Initiative für den heutigen Termin nicht von ihm ausgegangen war.

Daniela Michaelsen, nach dem Tod ihres Vaters vor einigen Monaten die neue Chefin der mittelständischen Verlagsgruppe, hatte Eric Teubner um ein Gespräch gebeten, um ihn jetzt hier schmoren zu lassen. Gerade als er gehen wollte, eilte ein junger windschnittiger Mann auf ihn zu und ergriff Erics Hand, als wolle er sie nie wieder loslassen. Sanft aber bestimmt lotste er den Journalisten und Buchautoren vom Ausgangsbereich wieder zurück in Richtung Fahrstühle.

Eric betrachtete den Mann, der ihn an einen Konfirmanden erinnerte, sich als Stefan Kaminski vorstellte und wortreich für die lange Wartezeit um Verständnis bat. Frau Michaelsen habe aber nun sofort Zeit für ihn und erwarte ihn voller Ungeduld. Da waren sie schon im Fahrstuhl auf dem Weg ins oberste Stockwerk.

Daniela Michaelsen stand nach dem Tod des Vaters ganz besonders im Fokus der Hamburger Öffentlichkeit. Aber vor allen Dingen stand sie mit dem Rücken zur Wand. Würde es der Mitte Dreißigjährigen, die vor wenigen Wochen noch in Paris gelebt und gearbeitet hatte, gelingen, das angeschlagene Familienunternehmen zu retten? Besaß sie die Innovationskraft und das Durchsetzungsvermögen, einen Zeitschriftenverlag, der in einer allgemein kränkelnden Branche orientierungslos vor sich hindümpelte, wieder auf Kurs zu bringen? Niemand hatte damit gerechnet, dass die zuletzt in Paris erfolgreiche Geschäftsführerin eines Kunstbuchverlages ihren guten Posten gegen dieses Himmelfahrtskommando eintauschen würde. Sie ging ein großes Wagnis ein, was allgemein mit regem Interesse verfolgt wurde.

In den ersten Wochen an der Spitze der Michaelsen-Gruppe hatte sie sich in Zurückhaltung geübt, sich erst einmal mit der Hierarchie und den Strukturen des Unternehmens vertraut gemacht. Dabei hatte sie die Öffentlichkeit gemieden und war Interviews und Einladungen zu Veranstaltungen konsequent ausgewichen. Zum Antritt der neuen Aufgabe hatte sie lediglich ein kurzes offizielles Statement abgegeben und eine knappe aber sehr emotionale Rede auf einer außerordentlichen Betriebsversammlung gehalten. Dort schien sie den richtigen Ton getroffen zu haben, denn große Teile der Belegschaft zeigten sich von der neuen Chefin angetan und hielten sie für glaubwürdig und kompetent, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Das galt mehr für das Fußvolk und weniger für das mittlere und gehobene Management. Auf dieser Ebene begegnete man ihr mit an Misstrauen grenzender Zurückhaltung.

Als Eric der frisch gebackenen Verlegerin gegenüberstand, tat sie ihm fast leid. Sie wirkte im großen väterlichen Büro mit dem atemberaubenden Hafenblick klein und verloren. Weder die gediegene Einrichtung noch die pathetisch-maritimen Gemälde an den Wänden schienen den Geschmack einer Frau widerzuspiegeln, die kürzlich noch eine feste Größe in der Pariser Kunstszene gewesen war. Von dort aus war sie direkt in ein Umfeld gewechselt, das ihr noch nicht so ganz zu passen schien.

Daniela Michaelsen war von sportlicher, mittelgroßer Statur, trug die kurzen Haare und eine schlichte Hornbrille verlieh ihr eine gewisse Strenge. Ein klassischer Hosenanzug verstärkte die etwas maskuline Ausstrahlung. Seit ihrer Rückkehr nach Hamburg hatten erste Meldungen über sie auch gern die Beziehung zu einer französischen Aktionskünstlerin erwähnt, mit der sie in Paris seit einiger Zeit zusammenlebte, die ihr aber nicht nach Hamburg gefolgt war. Eine bekennende Lesbe, die ein altehrwürdiges Hamburger Unternehmen retten wollte - das war eine neue Personalie in der Hamburger Öffentlichkeit, die für gewisse Medien durchaus interessant werden könnte!

Die junge Verlegerin betrachtete Eric während der Begrüßung mit einem offenen, aufmerksamen Blick.

Sie lobte sein letztes Buch, die Dokumentation über eine junge Hamburger Sängerin, die vor vielen Jahren spurlos verschwunden war, und versicherte ihm, es geradezu verschlungen zu haben. Es habe ihr außerordentlich gut gefallen, trotz fehlendem Happy End, wie sie betonte.

Natürlich wollte Eric wissen, welches Happy End sie sich denn gewünscht hätte.

Daniela Michaelsen lächelte.

„Dass sie noch lebt. Sie irgendwo auf der Welt einen Platz gefunden hat, an dem sie bis heute glücklich und zufrieden ist.“

„Ich habe nichts davon ausgeschlossen“, entgegnete Eric.

Die Verlegerin bot ihm einen Platz in einer ledernen Sitzecke an. Während sie sich setzten, kam sie auf seine Fähigkeit zu sprechen, mit der er die Strahlkraft und Leidenschaft einer innovativen Künstlerin wunderbar eingefangen hatte. Daraus habe sich eine ergreifende Lebensgeschichte ergeben. Genau genommen sei es sogar eine Liebesgeschichte geworden. Eine Liebesgeschichte zwischen Autor und Figur. Das habe sie sehr berührt.

Eric bedankte sich für das Kompliment, nach dieser Einleitung sah er dem Angebot der Verlegerin mit noch größerer Spannung entgegen.

Zunächst aber brachte eine Assistentin Kaffee und Kekse, und Daniela setzte das Gespräch erst fort, als sie wieder unter sich waren.

„Ich benötige Ihr Können, derart vielschichtig und einfühlsam über einen Menschen zu schreiben“, erklärte sie und ließ Eric nicht aus den Augen, so als wolle sie keine seiner Reaktionen versäumen. Er wartete auf weitere Details und sie fuhr fort.

Natürlich ging es um ihren verstorbenen Vater! Sie hatte in seinem Nachlass viele private Informationen und Unterlagen gefunden. Briefe, Tagebücher, Fragmente, Berichte, Dokumente, Fotos. Sein Leben mit ihrer Mutter. Sein Leben mit anderen Frauen. Sein Leben mit wichtigen Persönlichkeiten und prominenten Zeitgenossen. Seine dokumentierten Träume und Ziele. Zahlreiche Beispiele seiner unternehmerischen Energie. Wie er aus der kleinen und bescheidenen Firma seines Vaters die Michaelsen-Gruppe aufbaute. Der Mut, zu expandieren und neue Strömungen einzubinden. Seine Visionen, besondere Magazine zu kreieren, Premium, Lifestyle und die Leidenschaft, mit der er Luxus, Genuss, Kunst und Kultur aus der elitären Ecke holte und gesellschaftsfähiger machte. Die junge Verlegerin bat Eric, er möge die Fülle an Unterlagen sichten und bewerten, darüber befinden, ob sich daraus ein interessantes Buch über das Leben ihres Vaters machen ließe. Eine Biografie, die sich auf dem Büchermarkt einen angemessenen Platz erobern könnte. Dabei ging es ihr - damit sie sich gleich richtig verstanden - besonders um eine sensible, literarisch anspruchsvolle Würdigung und weniger um einen Bestseller. Mit dem Porträt der Sängerin Janina Nossak war Eric ja gleich beides gelungen. Gut, Qualität wäre planbar, Erfolg eher weniger. Um einen Verlag müssten sie sich dabei keine Gedanken machen. Zum Michaelsen-Konzern gehörte auch ein Buchverlag.

Eric ließ sich das durch den Kopf gehen. Sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um eine Antwort zu finden, trank unterdessen Kaffee, knabberte an einem Keks und blieb auf ihren Gast fixiert.

„Auch inklusive der düsteren Seiten?“, fragte Eric nach einer Weile.

Sie runzelte die Stirn.

„Bitte?“

„Es gibt immer düstere Seiten in einem menschlichen Leben.“

Er sagte dies, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

Irgendwie wirkte die Frau, als sei ihr das nie in den Sinn gekommen. Reagierte ein wenig überrascht. Sich vorbeugend erwiderte sie:

„Sie meinen, dass er vielleicht Geschäftspartner aufs Kreuz gelegt oder meine Mutter betrogen haben könnte? Dass er möglicherweise in dunkle Machenschaften verstrickt war? Etwas in der Art?“

„Alles in der Art.“

Sie zuckte mit den Achseln.

„Mein Vater war eine vielschichtige und tolerante Persönlichkeit. Ein Lebemann und Freigeist. Gar nicht unwahrscheinlich, dass er meiner Mutter so lange sie lebte nicht immer treu war. Nach ihrem Tod gab es auch noch zwei weitere Ehefrauen, und davor hatte es ja auch schon eine gegeben. Das gehört durchaus in eine Biografie, sofern es angemessen behandelt wird. Ich bin davon überzeugt, dass gerade Sie das können. Sonst würden wir hier nicht sitzen.“

„Das heißt, ich hätte freie Hand bei dem Projekt?“

„Das heißt, Sie sichten erst einmal die Unterlagen und sagen mir, ob sich das Projekt überhaupt lohnt. Ich erwarte totale Ehrlichkeit. Dann hätte ich gern vorab eine Präsentation Ihres Konzeptes, und wenn alles passt könnten Sie loslegen. Darüber hinaus würde ich mir von Zeit zu Zeit ein Update wünschen, damit ich immer ungefähr die Richtung kenne, in die sich das Buch bewegt. Dafür werden Sie angemessen bezahlt, das garantiere ich Ihnen. Über finanzielle Einzelheiten sollten wir aber erst sprechen, wenn wir uns generell einig sind. Sie sind ein toller Autor, weil in Ihren Worten so viel Respekt und Liebe für Ihre Figuren mitschwingt, egal was die tun oder nicht tun. Genau das würde ich mir in dem Buch über meinen Vater wünschen. Ich meine, dass Sie meinen Vater als Figur ... lieben könnten.“

„Haben Sie Ihren Vater geliebt?“

Daniela schwieg eine Weile bevor sie antwortete.

„Wäre ich sonst überhaupt hier?“ Das klang fast so als spräche sie mehr zu sich selbst. „Ich versuche, sein Lebenswerk zu retten. Einen größeren Liebesbeweis hätte ich nicht erbringen können. In Paris war ich längst eine eigenständige Frau. In Hamburg bin ich erst mal wieder nur die Tochter.“

„So empfinden Sie das?“

Sie lachte etwas unterkühlt.

„Genau so läuft das hier. Entweder die Tochter oder die Lesbe aus Paris. Ich weiß genau, welche Meinungen über mich im Umlauf sind. Aber glauben Sie mir, keiner hier hat die geringste Ahnung, zu was ich fähig bin. Ich will und werde dieses Unternehmen wieder stark und erfolgreich machen. Verlassen Sie sich darauf.“

Eric zweifelte nicht daran. Zumal er Daniela Michaelsen direkt vor Augen hatte, während sie das sagte.

***

Oliver Druve war vierzehn Jahre alt und ein Einzelgänger. Unsportlich, leicht übergewichtig, nicht besonders groß, blass, linkisch und mehr in der Computerwelt zu Hause als in der Wirklichkeit. Sobald er die drei Jugendlichen in das Abteil der S-Bahn steigen sah, geriet er in Panik. Es war keine unbegründete Angst. Viel zu oft hatte ihn das Schicksal schon für die Rolle des Opfers auserkoren. Im S-Bahnabteil waren die drei Jungen in ihren coolen Klamotten allerdings zunächst auf zwei Mädchen fixiert. Oliver hoffte inständig, dass ihn die Bedrohung dieses eine Mal übersah. Er versuchte im hintersten Winkel des Abteils unsichtbar zu werden, indem er den Blick senkte, den Atem anhielt und mit dem Schatten der Ecke verschmolz. Die beiden größeren Typen beleidigten die Mädchen mit sexistischen Sprüchen, der Kleinere bedrängte sie mit Berührungen und obszönen Fragen. Die wenigen Fahrgäste im Abteil starrten beharrlich aus den Fenstern. Ein älterer Herr, der hörbar sein Missfallen äußerte und den Blick auf die Jugendlichen richtete, wurde von ihnen beschimpft und bedroht, bis er eine interessante Stelle vor sich auf dem Boden entdeckte.

Einige Stationen zu früh versuchte Oliver sich mit eingezogenem Kopf und gebeugter Haltung aus der Gefahrenzone abzusetzen. Stieg aus. Er könnte die nächste Bahn nehmen. Er könnte unbemerkt bleiben. Er könnte durch diese spontane Entscheidung einer möglichen Gefahr entrinnen und einen bis jetzt langweiligen Tag ohne besondere Vorkommnisse ausklingen lassen. So verharrte er mit beschleunigtem Herzschlag auf dem Bahnsteig in demütiger Haltung und vermied es, sich umzudrehen. Das wagte er erst, als die Türen der S-Bahn hinter ihm wieder zugeknallt waren und sich die Wagen in Gang setzten. Hoffnungsvoll atmete er tief durch und blickte zurück, bereit für ein kleines Freudentänzchen, sollte sein Manöver erfolgreich verlaufen sein. Doch der zuversichtliche Blick traf auf drei feixende Kerle, die ihre Hosen justierten, die Caps neu ausrichteten und ihren Auftritt als dreiköpfiger Drache sichtlich genossen. Mit dem Gespür für potenzielle Opfer hatten sie Olivers Verzweiflung geradezu gewittert wie Haie das Blut. Die Jagd konnte beginnen! Sie waren Spezialisten für solche Gelegenheiten.

„Wart mal, Dicker!“, rief der Kleinste von ihnen. Die Kleinsten hatten oft die größten Klappen. „Fahrkartenkontrolle!“

Oliver drehte ihnen den Rücken zu und rannte einfach los. Er wusste, was ihm bevorstand, wenn sie ihn erst mal erwischt hatten. Sie wollten Handy, Geld und Uhr, vielleicht noch die Jacke und das Cap, aber auf jeden Fall seinen letzten Rest Stolz. Sie wollten ihn schlagen, quälen und mit Messern bedrohen, seine Demütigung mit Smartphones filmen. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen. Die meisten waren mit anderen Dingen beschäftigt, wenn ein Außenseiter durch Hamburgs Straßen gehetzt wurde.

Trotz Übergewicht und Unsportlichkeit war Oliver kein schlechter Läufer. Die Angst wirkte wie zusätzliches Doping. Er hetzte stolpernd die Treppe hinab aus der S-Bahnhaltestelle hinaus und rannte eine einsame Straße entlang. Obwohl er sich hier nicht auskannte, zweifelte er nicht und zögerte nie. Seine Instinkte funktionierten bestens. Er spurtete bei anbrechender Dämmerung über die Straße, um auf der gegenüberliegenden Seite in ein verwildertes Gelände einzutauchen. Er verschwand in hohem Gestrüpp und kämpfte sich geduckt weiter voran. Wenig später erreichte er ein großflächiges Areal mit diversen verlassenen Gebäuden einer ehemaligen Fabrik. Dreck und Gestank, brüchiger Backstein, bedeckt von Graffiti-Schichten, dunkle Fensterhöhlen, vernagelte Türen. Wildnis. Pfützen. Müll. Ein großes Schild kündigte an, dass hier bald gebaut werden sollte. Der Junge umrundete das erste Gebäude, hielt sich dicht an einer Mauer und zwängte sich unter der erstbesten Lücke eines mit Brettern vernagelten Tors durch in eine ehemalige Lagerhalle. Drinnen war es weitgehend dunkel und muffig. Es waren Umrisse alter Maschinen und Gerümpel zu sehen, auf die durch manchen Spalt etwas Licht fiel. Die Luft war stickig, und Oliver musste sich seinen Weg zum Teil ertasten, während er mit seinen Sneakers stellenweise knöcheltief in Wasser und Matsch versank. Draußen hörte er in einiger Entfernung die Rufe, mit denen sich seine Verfolger verständigten. Der Vorsprung schien erfreulich groß zu sein, so blieb ihm die Hoffnung, dass der Bande bald die Lust verging, ihn zwischen all dem Unrat und Gerümpel zu suchen. Er stieß an eine Stahlleiter und kletterte keuchend und immer wieder abrutschend nach oben. Die Schmerzen an den Schienbeinen ignorierte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er war ein Kämpfer auf der Flucht vor Zombies. Er war im Labyrinth. Er eroberte die nächste Ebene. Er wünschte sich, mehrere Leben zu haben und aus allen Rohren auf seine Verfolger ballern zu können. Darin war er gut. Monster töten und neue Rekorde holen. Gern könnte ihn jetzt auch die Stimme seiner Mutter zum Essen rufen. Ausnahmsweise mal hoch erfreut würde er sofort aufspringen und dem virtuellen Feind den Rücken kehren - wie schon so oft, wenn im wirklichen Leben die Zeit zum Abendessen gekommen war. Aber heute hatte er nur ein einziges Leben zu verteidigen - und keine Waffen. Auch auf der oberen Etage fiel an manchen Stellen etwas Licht durch die zum größten Teil mit Holzlatten vernagelten Fenster. Oliver stolperte im Halbdunkel an einigen Matratzen vorbei. Leere Flaschen, Bierdosen und gebrauchte Kondome verrieten, was sich hier oft abspielte. Weiter hinten wurde es wieder finster. Er fand eine schmale Lücke zwischen zwei sperrigen Maschinen und kroch hinein. Ein kleiner Raum, fast wie eine Höhle. Oliver sackte zu Boden und schlug sich an einer Eisenplatte beide Knie auf. Er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur einen Schritt weiterzulaufen. Keuchend übergab er sich. Sein Herz raste. Tränen liefen ihm über die Wangen. Da er vor der Heimfahrt gerade bei McDonald‘s gewesen war, kotzte er eine große Portion Pommes mit Majo und Ketchup, zwei Cheeseburger und eine Sprite kaum verdaut in die Dunkelheit. Anschließend versuchte er, den schnaufenden Atem zur Ruhe zu bringen. Lauschte. Immer wieder brüllten sich die Verfolger Kommandos und Fragen zu und kurze Zeit später hörte er unter sich in der Halle Geräusche und Stimmen. Sie waren da! Riefen nach ihm und lachten.

Fahrkartenkontrolle, Dicker!

Polterten, fluchten, drohten und randalierten. Eine Weile schien es ihnen mehr Spaß zu bringen, unten ihre Zerstörungswut auszutoben. Lärm zu machen. Sie würden schlau genug sein, sich mit Handys Licht zu verschaffen. Im Gegensatz zu Oliver hatten sie Zeit und Ruhe. Sie würden alles absuchen und die Leiter entdecken. Sie würden nach oben kommen und ihn finden. Sie würden ihn für alles büßen lassen. Egal was!

Der Atem hatte sich beruhigt, die Blase sich wie von selbst entleert, und der Tränenfluss wollte einfach nicht aufhören. Oliver hörte die schlimmsten Drohungen durch das Gebäude hallen. Plötzlich aber ertönte ein fast unmenschlich klingender Schrei. Es folgten ein paar wilde und hektische Rufe. Scheppern. Poltern. Gebrüll. Alle Geräusche entfernten sich, wurden leiser. Wenige Minuten später war nichts mehr zu hören, als hätte es die Verfolgungsjagd nie gegeben. Aber Oliver war nicht nur ein routinierter Fluchtexperte, sondern auch ein kluger und geduldiger Stratege. So schnell ließ er sich nicht aus der Reserve locken. Wollte nicht einfach auf ein billiges Täuschungsmanöver hereinfallen. Die Stille konnte eine Falle sein. Gar nicht unwahrscheinlich, dass die Verfolger in der Nähe auf ihn lauerten. Zur Sicherheit blieb er weiter mit durchnässter Hose in seinem eigenen Erbrochenen liegen und horchte. Um solche Gefahren zu überstehen, brauchte man Ausdauer und Willenskraft. Man musste die Fähigkeit besitzen, in unerträglichen Situationen ausharren zu können. Das bewies Oliver so lange, bis er sich einigermaßen sicher sein konnte, von der Bande nicht mehr bedroht zu werden. Vermutlich hatten sie aufgegeben, weil ihnen die Lust vergangen war, ihr Opfer ausgerechnet hier suchen zu müssen und sich womöglich noch die Klamotten einzusauen.

Erleichtert kroch Oliver aus dem Versteck und versuchte, sich so gut es ging zu säubern. Langsam beruhigte er sich und wagte es, mit dem Handy Licht zu machen, um den Weg nach draußen komfortabler zu gestalten. So fand er die Leiter nach unten schneller, um sie mit immer noch zitternden Beinen abwärts zu steigen.

Auch in der Lagerhalle konnte er jetzt Matratzen erkennen. Er leuchtete in die Dunkelheit und entdeckte etwas, das er sich nicht erklären konnte. Es dauerte eine Weile, bis er den nackten Körper auf der Matratze als menschlich identifizierte. Weil Kopf und Hände fehlten war das nicht so einfach. Daneben stand jemand in leicht gebückter Haltung. Oliver ließ den Lichtkegel langsam höher gleiten. Es war ein Reflex, der sich einfach nicht mehr stoppen ließ. Das Licht erfasste ein Gesicht, und plötzlich erfüllte den Jungen das bleierne Gefühl totaler Ausweglosigkeit. Sein Fluchtinstinkt war ausgepowert. Jetzt war er zu keiner Bewegung mehr fähig. Das Handy rutschte aus der kraftlosen Hand des Jungen und fiel zu Boden. Er wünschte sich, die Gang hätte ihn erwischt. Sie hätten ihn geschlagen, gequält und beklaut - aber dann wieder laufen lassen. Irgendwie wäre der Schrecken zu ertragen gewesen. Mit Schmerzen und gekränkter Ehre. Aber lebend! Doch nun schien der Albtraum erst zu beginnen. Olivers Sinne suchten nach einem Schlupfloch, klammerten sich an Reste von Normalität. Verkehrsgeräusche in weiter Ferne. Gedanken an seine Mutter, die zu Hause bestimmt schon das Abendessen vorbereitete. Er dachte an seine ältere Schwester, mit ihrem tollen Job bei der Sparkasse und den Plänen von Auszug und Heirat. Dachte an den älteren Bruder, dem immer alles gelang, ohne dass er sich besonders anstrengen musste. Erinnerte sich an Gelegenheiten, in denen die Mutter ihrem Jüngsten liebevoll über die struppigen Haare strich und aufmunternd lächelte, als wüsste sie genau, wie schwer er es oft hatte, in der Familie, aber auch im restlichen Leben. Der geborene Pechvogel.

Schon wieder Pech, dachte Oliver, während das Licht seines Handys wie ein letzter Hoffnungsschimmer vom matschigen Boden verschlungen wurde. Großes Pech! Hier zu sein. Jetzt. Er hätte nur in der verdammten S-Bahn bleiben und an seiner verdammten Station aussteigen brauchen. Alles wäre halb so schlimm geworden.

„Ich habe gar nichts gesehen“, flüsterte er in die Dunkelheit. „Da waren die anderen Jungen. Die haben mich verfolgt. Jetzt sind die ja weg. Ich geh dann auch mal. Wollte jetzt sowieso ...“

Er drehte sich um und wankte vor Angst zitternd einfach in die Richtung, in der er das Tor vermutete, unter dem er vorhin aus seinem langweiligen Leben in diese Hölle geraten war, wie in ein neues Computerspiel. Doch dieses Spiel ließ sich nicht stoppen. Die Chancen waren ungleich verteilt. Oliver betete um einen Fluchtweg. Wäre das hier ein Computerspiel und irgendeine Macht hätte die Möglichkeit, ihn zu retten, wäre dafür jetzt ein guter Zeitpunkt gekommen! Er sah ein paar Strahlen versiegendes Tageslicht einige Meter voraus. Dachte plötzlich an Gott. Vielleicht gab es ihn doch. Und vielleicht kümmerte er sich zur Abwechslung auch mal um pubertierende Pechvögel. Ein Fünkchen Hoffnung keimte auf, als er die Tür fast erreicht hatte. Dann hörte er das Geräusch hinter sich. Spürte eine Berührung am Hals. Etwas, das die Panik in seiner Kehle durchtrennte bevor sie zum Schrei werden konnte. Der Schnitt ging direkt und tief durch seine Stimme und die Gedanken purzelten ohne jeden Halt ins Nichts. Eine wachsende Dunkelheit füllte seine Augen und erstickte die Sehnsucht nach all jenem, was einmal sein Leben gewesen war.

Kapitel 2: Die Gang

Kriminalhauptkommissar Jonas Pfennig, Leiter der Mordkommission, interessierte sich nicht für die Unterlagen auf dem Konferenztisch. Um Einzelheiten über die drei Gangmitglieder zu erfahren wartete er lieber auf die mündliche Unterrichtung durch die junge Ermittlerin Anna Paulsen. Sie war neu im Hamburger Team und musste sich im Kreis der Kollegen erst noch durchsetzen. Heute bot sich ihr eine erste Chance. Besser gesagt: Pfennig bot ihr diese Chance.

Vor einigen Wochen war sie mit offiziell besten Referenzen von Hannover nach Hamburg gewechselt. Die Hansestadt habe sie schon immer gereizt, hatte Anna Pfennig versichert, sehe sie hier doch besondere Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Vor allen Dingen aber war es ihr wichtig gewesen, aus Hannover wegzukommen. Pfennig wusste warum. Ihm waren darüber mehr Hintergründe bekannt, als die Akten verrieten. Genau genommen war Anna Paulsen aus Hannover geflohen. Es hatte dort einen Vorfall mit einem Vorgesetzten gegeben, an dem sie zwar keine unmittelbare Schuld trug, der aber eine Versetzung sinnvoll machte. Deshalb war ein Ortswechsel der jungen Beamtin von allen Verantwortlichen befürwortet worden. Sie wollte weg und niemand wollte sie aufhalten. Ein Tausch mit einem Hamburger Kollegen, der aus privaten Gründen zufällig nach Hannover zu ziehen plante, bot sich an und ließ sich zum Wohl aller Beteiligten kurzfristig realisieren.

Pfennig hatte kein Problem damit, die Episode aus Anna Paulsens Dienstzeit in Hannover zu ignorieren und ihr in Hamburg eine neue Chance zu ermöglichen. Auch wenn ihr in Hannover der Ruf angedichtet worden war, sie zöge nicht nur Männer, sondern auch das Unglück an. Er mochte die junge Frau, die erst kürzlich fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Nicht wegen der blonden Haare oder der leuchtend blauen Augen. Auch nicht wegen des attraktiven Äußeren. Am meisten schätzte er ihre positive Ausstrahlung. Freundlich, natürlich und zuversichtlich - Eigenschaften, die einem routinierten und eingefahrenem Team guttaten!

Jetzt stand sie vor den Kollegen und lächelte tapfer, während Pfennig sie vor versammelter Mannschaft in der kurzfristig einberufenen Dienstbesprechung forderte. Im Zusammenhang mit einem brutalen Doppelmord hatte man drei Jugendliche einer polizeibekannten Gang aufgrund von Überwachungskameras identifiziert. Die Jungen hatten sich zur mutmaßlichen Tatzeit zumindest in der Nähe der Leichenfundstelle herumgetrieben. Polizeistreifen hatten sie im Hamburger Stadtteil Billstedt schnell ausfindig gemacht und aufgegriffen. Alle drei hatten sie nun in den Vernehmungsräumen sitzen. Deshalb wollte Pfennig wissen, auf welche Typen sie da treffen würden. Ob diese Jungs dazu fähig waren, eine Frau und einen Jungen in ihrem Alter auf bestialische Weise zu ermorden. Aus diesem Grund hatte er Anna gebeten, ihn und das Team so präzise wie möglich über das Wichtigste aus den Akten zu informieren - wohl wissend, dass ihr zum Studium der Unterlagen kaum Zeit blieb.

Die anderen Kolleginnen und Kollegen lehnten sich bereits entspannt auf den Stühlen zurück und starrten Anna Paulsen so erwartungsvoll an, als würde sie gleich einen verblüffenden Zaubertrick vorführen.

Pfennig nickte ihr wohlwollend zu. Er war gespannt darauf, wie sie sich heute schlagen würde. Mit ruhiger Stimme startete die Neue den Bericht.

Sie hatte sich die Kontaktdaten eines Sozialarbeiters besorgt, der in Billstedt tätig war. Die drei Jungen kamen alle aus seinem Bezirk, aus der Großsiedlung Mümmelmannsberg. Anna berichtete, dass der dort verantwortliche Sozialarbeiter Marko Secovic hieß, ein Mann Anfang Vierzig und Sohn einer kroatischen Flüchtlingsfamilie, die schon seit Beginn der Neunzigerjahre in Hamburg lebte. Nach ihrer Einschätzung kannte kaum jemand die Jugendszene in Billstedt besser als er. Mit ihm hatte sie ausführlich telefoniert. Ihn hatte sie zu den drei Jungen befragt. Auch sie hatten einen Migrationshintergrund, und Secovic kannte sie gut. Sie kamen mehr oder weniger regelmäßig zu seinem Boxunterricht. Ein Projekt, das er während seiner Freizeit in einem Billstedter Jugendzentrum leitete. Secovic, so berichtete Anna Paulsen, habe ihr gegenüber am Telefon eine klare Meinung zu den drei Jungs geäußert.

Die Ermittlerin erlaubte sich eine bedeutsame Pause und ließ einen forschenden Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen, bevor sie die blauen Augen wieder fest auf Pfennig richtete. Sie hatte das Interesse der Kollegen gewonnen. Man hörte ihr aufmerksam zu.

„Er hält es für ausgeschlossen, dass diese drei Jungen etwas mit den beiden Morden zu tun haben“, sagte sie. „Sie gelten zwar als aggressiv und gewalttätig. Sind außerdem aktenkundig und für uns alles andere als unbeschriebene Blätter. Aber Secovic glaubt nicht, dass sie zu dieser brutalen Gewalttat fähig wären. Mord und dann noch Verstümmelung der Opfer? Seiner Meinung nach ausgeschlossen! Durch die Videoüberwachung an verschiedenen Stellen konnten wir den Weg des ermordeten Jungen und seiner drei Verfolger bis zum Leichenfundort rekonstruieren. Die drei haben ihn tatsächlich gejagt, das steht fest. Aber was auf dem alten Fabrikgelände tatsächlich geschehen ist, sollten wir uns mal von ihnen persönlich erzählen lassen. Wenn sie als Täter nicht in Frage kommen, könnten sie wichtige Zeugen sein. Genau so sollten wir die Gespräche angehen. Als Befragung potenzieller Zeugen. Anders geht es sowieso nicht - ohne Eltern und Rechtsbeistand.“

Pfennig erkundigte sich nach mehr Hintergrundinformationen zu den Jungs, um sich in den Befragungen besser auf sie einstellen zu können.

Paulsen nickte, als wäre sie für die Frage besonders dankbar. Dann ging sie detaillierter darauf ein, mit wem sie es hier eigentlich zu tun hatten.

Der Intelligenteste war zweifellos Kasim Fahrenholz. Fünfzehn Jahre alt. Vater Deutscher, Mutter Türkin. Hatte eine ellenlange Liste registrierter Straftaten vorzuweisen. Aber keine extremen Gewalttaten. Zwar hatte er auch schon Körperverletzung begangen, aber im Vergleich zu anderen war er geradezu ein Friedensengel. Er galt als kluger Junge, und nach Meinung Secovics könnte bei richtiger Anleitung aus ihm noch was werden. Die Eltern boten dafür allerdings wenig Hoffnung. Drogen- und Alkoholprobleme, vermüllte Wohnung, vermülltes Leben. Dazu immer wieder häusliche Gewalt. Kasim war deshalb selten zu Hause und trieb sich lieber herum.

„Leider“, schloss Anna den Bericht zu diesem Jungen. „Er hätte Potenzial, mehr aus seinem Leben zu machen.“

„Ich kenne ihn nur als ein großmäuliges Arschloch“, warf David Nolte ein, ein Kollege, mit dem Anna nicht besonders gut auskam. Er nannte sie gern Bambi und beantwortete ihre Fragen immer eher unwillig und wortkarg.

Anna fuhr unbeeindruckt fort. Kam auf den zweiten Jungen zu sprechen, zu dem sie den Sozialarbeiter befragt hatte: Patryk Nowak. Ein großer, bulliger Typ. Mit mehr Ehrgeiz und mehr Trainingsfleiß hätte er ein guter Boxer werden können. Die aus Polen stammenden Eltern hatten sich schon vor Jahren scheidenlassen. Die Mutter war ins Rotlichtmilieu abgedriftet. Der Vater - ein trockener Alkoholiker - schlug sich mit Jobs im Niedriglohnbereich durch. Im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten versuchte er, wirklich alles für seinen Sohn zu tun. Aber Patryk zog es vor, möglichst bei jeder Prügelei in Hamburg dabei zu sein und seinen Vater als Versager zu verachten.

„Steht das so in den Akten?“, staunte Birte Keller, die stellvertretende Ermittlungsleiterin.

Anna musterte die Kollegin lächelnd.

„Ich sagte es doch schon zu Beginn: ich gebe hier nur die Meinung eines Sozialarbeiters wieder, der die Jungen betreut. Er ist besonders dicht an ihnen dran. Hat am Telefon einen kompetenten Eindruck auf mich gemacht. Kommen wir zum letzten unserer drei Kandidaten. Okay?“

Das Team erwartete schweigend ihre weiteren Ausführungen.

Der vierzehnjährigen Nazar Rudenker war Sohn ukrainischer Eltern, die schon seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebten und neun Kinder hatten. Sie sprachen noch immer kaum Deutsch und niemand konnte so genau sagen, womit sie eigentlich ihr Geld verdienten. Ihr jüngster Sohn Nazar war schon mehrfach am Hauptbahnhof aufgegriffen worden. Er schien sich drauf spezialisiert zu haben, Männer auszunehmen, die nach jugendlichen Strichern suchten. Nazar spielte den Lockvogel, und seine älteren Brüder tauchten dann im passenden Moment auf, um die Männer zu bedrohen und zu erpressen. Für Nazar war Gewalt an der Tagesordnung. Egal aus welcher Richtung, ein Geben und Nehmen.

Anna faltete das Blatt mit den Notizen zusammen, und Pfennig nickte zufrieden. Das war deutlich mehr, als er erwartet hatte.

„Secovic sagte mir übrigens noch, dass Kasim im Verhör vermutlich der härteste Brocken sein wird“, fügte Anna hinzu.

„Ich mag harte Brocken!“ Nolte blickte seinen Chef aufmunternd an.

Pfennig schüttelte den Kopf. Anna und Birte sollten sich den vermeintlich härtesten Brocken vornehmen. Auch für die anderen Befragungen teilte er David Nolte nicht ein. Dann klatschte er aufmunternd in die Hände.

„Okay Leute, an die Arbeit. Wir haben nicht viel Zeit, bevor die Eltern oder Rechtsbeistände hier anrücken. Denkt daran, wir befragen Zeugen und keine Verdächtigen!“

„Dir ist aber schon klar, dass wir uns mit dieser Befragung auf dünnem Eis bewegen?“, warf Birte Keller ein, Pfennigs kritikfreudige Stellvertreterin. „Wenn diese Typen doch was mit den Morden zu tun haben, wäre die geplante Befragung juristisch heikel. Da wäre es meiner Ansicht nach besser, auf die Rechtsbeistände zu warten und die Jungen wie Tatverdächtige zu behandeln. Vielleicht auch mit einer sorgfältigeren Vorbereitung.“

„Danke für deinen Rat“, sagte Pfennig. „Dennoch legen wir jetzt bitte los. Ich nehme das auf meine Kappe, okay?“

Birte war anzusehen, dass sie wieder mal anderer Meinung war als der Chef. Keine ungewöhnliche Situation. Bevor die Beamten sich in Bewegung setzen konnten, hob Pfennig die Arme wie bei einer Orchesterprobe, brachte alle noch einmal zum Verstummen.

„Moment noch, Leute. Ich fasse jetzt mal zusammen, weil wir heute zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder fast vollzählig sind. Letzten Dienstag ist ein Obdachloser bei der Suche nach einem geeigneten Nachtquartier in einer alten Fabrik über zwei Leichen gestolpert. Alle Daten dazu bekommt ihr noch. Vorbildlich hat er sofort die Polizei verständigt. Das Gelände wurde von Kollegen abgesperrt und Spusi und Gerichtsmedizin haben ihren Job gemacht. Die Leiche des Jungen konnte bereits identifiziert werden. Furchtbare Geschichte! Es handelt sich um den vierzehnjährigen Oliver Druve, von seinen Eltern kürzlich als vermisst gemeldet und inzwischen vom Vater eindeutig identifiziert. Als Zweites fand man eine Frauenleiche ohne Kopf und ohne Hände. Die Verstümmelungen werden vermutlich allein dem Zweck gedient haben, die Identifizierung der Leiche zu erschweren. Bei ihr tippen wir auf eine Frau im Alter zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahren. Hier warten wir noch auf Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin. Das Fabrikgelände wurde sorgfältig abgesucht. Es wurden weder der Kopf noch die abgetrennten Hände gefunden. Auch keine Tatwaffen. Aber zwei Eisenstangen mit Fingerabdrücken von Patryk Nowak und Nazar Rudenker und eine Zigarette mit den Speichelresten von Kasim Fahrenholz. Das hat zu der heutigen Aktion geführt, die drei als potenzielle Zeugen herzuholen. Genau mit diesem Ansatz werden wir sie jetzt schnellstens befragen. Als Zeugen, bitte nicht vergessen! Lasst uns loslegen, bevor die ersten Anwälte auftauchen!“

***

Eric Teubner betrachtete die Fülle an Unterlagen, die ihm Daniela Michaelsen hatte anliefern lassen. Einige Kartons randvoll mit Fotos, ein paar Alben, viele Dias, lückenhafte Tagebücher, Notizbücher, Zeitungsausschnitte, Bücher, Aktenordner, CDs, DVDs, Sticks – eine Überdosis Leben, angehäuft zu einem beachtlichen Berg aus analogen und digitalen Speichermedien. Eric wartete immer noch auf das Kribbeln in der Magengegend. Er brauchte dieses Kribbeln, um sicher zu sein, ein Projekt mit Leib und Seele zu wollen. Nur dann würde er das Buch wirklich schreiben können. Der Verleger Michaelsen war ihm natürlich bekannt. Ein Mann, der in Hamburg nicht nur gelebt, sondern immer als ein echter Hanseat gegolten hatte. Nach außen ein eher zurückhaltender Charakter, der von der Öffentlichkeit lebte, indem er sie mit seinen Printmagazinen seriös und anspruchsvoll ansprach, unterhielt und informierte, ihre Sinne reizte. Erst nach dem Tod waren seine engagierten und vielschichtigen Aktivitäten zum Wohle Hamburgs bekannt geworden, die er bevorzugt in aller Stille praktiziert hatte. So war er zum Beispiel Zeit seines Lebens ein treuer Freund des Tierparks Hagenbeck gewesen und ein Unterstützer sozialer Projekte und kultureller Einrichtungen der Stadt. Besonders hatten es ihm die Kunsthalle und Laeiszhalle angetan, zu deren regelmäßigen Besuchern und Unterstützern er zählte. Unermüdlich aktiv hatte er sich bis zuletzt um seinen Verlag gekümmert. Am Ende hatte er mit ansehen müssen, wie Zeitschriften und Magazine durch die digitalen Medien und die Mobilisierung von Informationen immer mehr an Bedeutung verloren. In seinem letzten Interview hatte er sich über die zunehmende Verflachung der Information beklagt und verbittert von Kommunikationsmüll und einer Inflation wert- und sinnloser Nachrichten gesprochen. Statt in die Tiefe ginge es mehr in die Breite. Nicht die Nachricht und die Hintergründe gewännen an Bedeutung, sondern immer mehr die Form ihrer Verbreitung. Im Grunde genommen stand der Michaelsen-Konzern schon seit einiger Zeit am Abgrund, und dem alten Verleger war es zuletzt nicht mehr gelungen, seinem Lebenswerk eine neue Richtung und neue Impulse zu geben. Zu spät hatte man sich beispielsweise den digitalen Medien geöffnet, sie unterschätzt und zu beharrlich nur an Print festgehalten. Der Glaube, Qualität, Tiefe und Nachhaltigkeit über Print am besten gewährleisten zu können, hatte als unternehmerisches Dogma abweichenden Optionen oft nicht genug Spielraum geboten. Zweifellos hatte Michaelsen die Entwicklungen in der Medienlandschaft unterschätzt, und seinen Beratern war es offensichtlich nicht gelungen, ihn frühzeitig zu einem Kurswechsel zu bewegen – sofern sie es überhaupt versucht hatten. In der Branche war es ohnehin ein offenes Geheimnis, dass Michaelsen sich für Kritik aus den eigenen Reihen nur schwer zugänglich zeigte. Ratschläge von Geschäftsführern nahm er ungern an. Am Ende der Entscheidungskette vertraute er am liebsten auf die eigene Nase, die ihn immer gut durch sein Leben geführt hatte. Doch diese Nase war zuletzt achtzig Jahre alt gewesen, kaum noch in der Lage, so manche moderne Duftnote richtig einzuordnen.

Am Ende hatte er akzeptieren müssen, dass mobile Endgeräte, E-Books, E-Paper und das Internet ihm zwar in ihren Grundzügen verständlich waren, er jedoch ihre Möglichkeiten und die sich ständig verändernden Formen nicht mehr ausreichend beurteilen konnte. Er musste sich junge Berater ins Boot holen. Menschen, die sich mit den neuen Medien auskannten, die damit verbundenen Chancen und Optionen aufspürten und weiter ausbauten. Spezialisten, die dem Michaelsen-Konzern gerade in der Führungsspitze und auf den Entscheidungsebenen endlich das gaben, was er besonders nötig hatte: Jugend, Frische, Innovation und Pioniergeist.

Neben der für die letzten Jahrzehnte tragenden Idee, Menschen hochwertige Magazine mit hervorragenden Texten und anspruchsvollen Fotos zu bieten, war es an der Zeit, auch die gesellschaftlichen Veränderungen zu erkennen und sich mit dem Portfolio anzupassen.

Der Chefredakteur von SPEISEN & REISEN, einem der Magazine des Michaelsen-Verlags, das sowohl in den Auflagen als auch in den Anzeigenerlösen bedenklich eingebrochen war, hatte es erst kürzlich auf den Punkt gebracht: „Bei Print wachsen keine Zielgruppen mehr nach.“

Eric spürte eine zunehmende Sympathie für den kürzlich verstorbenen Verleger, für dessen unerschütterlichen Glauben an Qualität mit tiefen Wurzeln, für seinen aussichtslosen Kampf, an jenen Philosophien festzuhalten, die jahrzehntelang das exzellente Verlagsprogramm getragen hatten. Nie war die Michaelsen-Verlagsgruppe zu den ganz großen Medienunternehmen in Hamburg oder gar Deutschland aufgestiegen. Aber die Titel hatten sich in der Branche und bei den Lesern allerhöchsten Respekt erworben.

Nun also hatte Daniela Michaelsen das schwere Erbe des Vaters angetreten. Sie musste eine neue Philosophie entwickeln. Außerdem würde es unvermeidlich sein – da waren sich die meisten Fachleute einig – den einen oder anderen altbewährten Titel einzustellen oder zu verkaufen. Alles musste auf den Prüfstand. Nur durch einen konsequenten Sparkurs ließ sich die gezielte Stärkung der noch funktionierenden Magazine einleiten und somit ein solides Fundament bewahren. Verschlankung war das Zauberwort. Danach galt es, sich mit neuen Ideen weiterzuentwickeln. Das wäre mit Heinrich Michaelsen nicht mehr möglich gewesen. Diejenigen, die zuletzt noch dichter am alten Verleger dran gewesen waren, hatten ihn als entmutigt und vergrämt beschrieben. Er habe den Verfall seines Lebenswerkes vor Augen gehabt und nicht verkraftet. Das Herz, das so eng mit seinem Unternehmen verbunden war, hörte einfach mit dem Schlagen auf.

Eric wollte jetzt im Auftrag der Verlegertochter recherchieren, wofür dieses stolze, mutige und risikobereite Herz geschlagen hatte. Er wollte herausfinden, von welchen Ideen es angetrieben worden war und welche beruflichen und privaten Geschichten Michaelsens Leben bewegt und geprägt hatten. Er wollte alles über die Frauen wissen, die das Herz des Unternehmers im Lauf der Jahre erobert hatten und sich mit den Ideen, Plänen und Träumen beschäftigen, für die der gradlinige Mann gelebt hatte.

Eric hatte ein Foto aus einem Karton herausgezogen, das einen noch blutjungen Heinrich Michaelsen zeigte. Zuversichtlich grinsend, lässig gekleidet, hemdsärmelig und mit einer aparten Frau im Arm. Ein handschriftlicher Vermerk auf der Rückseite lautete In Rom mit Pia 1958.

Der junge Heinrich Michaelsen, noch mit all der Begeisterung im Blick, die ihn im letzten Abschnitt seines Lebens völlig abhanden gekommen war. In einer Pose, die Eric im Verlauf der weiteren Recherchen immer wieder begegnen sollte: ein Mann, der sich gern mit Stil und Schönheit umgab.

Ein ganz besonderes Detail hatte Eric relativ schnell und einfach in Erfahrung bringen können. Genau genommen den Rosebud der Geschichte. Michaelsens letzte Worte, bevor sein Herz versagte. Genau genommen war es eine Frage gewesen, die er mit dem letzten Atemzug an seine vierte Frau Franca gerichtet hatte. Die Frage, wo seine Tochter war.

Nun war Daniela da. Hier in Hamburg. Mitten im Zentrum des bröckelnden Familienunternehmens. Eric spürte, wie die ersten Emotionen und Ideen für die Geschichte von Vater und Tochter in ihm heranreiften, wie das Thema ihn zu packen begann und sein Autorenblut in Wallung brachte.

Ob er Heinrich Michaelsen als Figur einer Biografie so lieben könne, wie die verschwundene Sängerin, über die er zuletzt ein erfolgreiches Buch verfasst hatte? Dies hatte ihn Daniela Michaelsen gefragt und ihn dabei beschwörend angesehen. Jetzt war er der Antwort ganz nahe. Er betrachtete den jungen Michaelsen auf dem Foto mit der Schönheit Pia und wusste, dass er es konnte. Er mochte den Blick. Er mochte das Lächeln. Er mochte es, wenn ein Mensch unangepasst blieb und bis zuletzt unerschütterlich für seine Werte und Ideen stand. Selbst wenn er damit falsch lag und zu scheitern drohte.

Schließlich tat Eric das, was er vor Beginn eines jeden neuen Buchprojektes zu tun pflegte. Er öffnete eine Flasche Rotwein, setzte sich damit feierlich an seinen Schreibtisch, platzierte das Foto seiner zukünftigen Hauptfigur vor sich, schenkte sich ein Glas voll und prostete Michaelsen zu. Damit war die Entscheidung gefallen. Bis er die Flasche Wein geleert hatte, würde der Arbeitstitel für sein Werk gefunden sein. Dann gab es kein Zurück mehr. Heinrich Michaelsen und Eric Teubner würden ab sofort und unbeirrt ihren gemeinsamen Weg gehen - bis zum letzten Kapitel. Zur letzten Seite. Zum letzten Wort! Das war das Ziel!

***

Kasim malträtierte das Kaugummi zu intensiv, um noch cool zu wirken. Er lag mehr auf dem Stuhl, als dass er saß. Ein hübscher Junge mit kurzen Haaren und modischen Klamotten, mit einem glitzernden kleinen Ohrring und ein paar simplen Tattoos, die fast wie selbstgemacht aussahen. Er wirkte völlig unbeteiligt, als habe man ihn nur zum Kaugummikauen hergeholt.

„Ihr habt Oliver also nicht verfolgt?“, stellte Anna gerade fest und tat so, als würde sie sich Notizen machen. Es war ein Tick von ihr. Sie schrieb selten wichtige Dinge auf, kritzelte meist nur sinnloses Zeug aufs Papier. Aber kritzeln musste sie, das förderte die Konzentration und half ihr bei der Gesprächsführung.

Sie sah Kasim forschend an.

„Da bist du dir ganz sicher? Obwohl die Aufnahmen der Überwachungskameras ziemlich eindeutig sind. Ein Junge, der später ermordet aufgefunden wird, rennt über den S-Bahnhof. Und ihr hinterher. Du und deine beiden Freunde.“

„Hatten es eilig “, murmelte Kasim gelangweilt. Gähnte.

„Warum?“, fragte Anna sanft.

„Weiß nicht mehr.“

„Weißt du nicht mehr? Ist das dein Ernst?“

„Wollten uns, glaub ich, Pommes holen. Hatten Hunger.“

„Das ist eine ziemlich schwache Geschichte. Weißt du auch warum?“

„Nö.“

„Weil ihr auf der nächsten Überwachungskamera unten am S-Bahnhof an einem Imbiss vorbeirennt. Hattet ihr da plötzlich keine Lust mehr auf Pommes?“

„Die Pommes da sind voll ranzig. Weiß jeder.“

„Bis du dir sicher, dass du dich richtig erinnerst, wie das an dem Tag wirklich ablief?“

Kasim erweckte für Sekunden den Eindruck, als dächte er ernsthaft über die Frage nach, bevor er entgegnete:

„Warum werde ich hier eigentlich von Bullen mit Titten vollgelabert?“

Sein Grinsen wurde noch breiter, und dann kaute er wieder äußerst zufrieden weiter.

Anna blieb vor seinem Stuhl stehen, stemmte die Hände in die Hüften und blickte mitleidig auf ihn herab.

„Du hältst dich für besonders clever und abgebrüht, nicht wahr, Kasim? Aber im Moment bist du alles andere als das.“

Er sah grinsend zu ihr auf.

„Weil ich Titten gesagt habe?“

„Weil du nicht einfach erzählst, was passiert ist. Als Zeuge meine ich. Dann sind wir hier ganz schnell durch. Ansonsten müssten wir eure Aktion in der S-Bahn mal genauer unter die Lupe nehmen.“

„Hä?“

„Besonders deine Rolle!“

Kasim starrte Anna an, und für einen Augenblick vergaß er das Kauen.

„Na und? Hat sich da wer beschwert?“

„Das könnte durchaus noch passieren.“

„Glaub ich nicht.“

„Bleiben wir bei der Verfolgungsjagd“, sagte Anna unbeirrt. „Ich weiß, was ihr vorhattet. Ihr wolltet Oliver nur ein bisschen abzocken.“

„Oli was? Wer soll das denn sein?“

„Der ermordete Junge.“

„Ich hab niemand gekillt.“

„Darum geht es hier nicht. Es geht um die Frage, ob ihr als Zeugen was gesehen habt. Etwas, das uns auf die Spur eines gefährlichen Mörders bringen könnte. Bei der alten Fabrik.“

„Da waren wir gar nicht.“

„Weil ihr Pommes essen wolltet?“

„Genau. Mehr weiß ich nicht. Kann ich jetzt gehen?“

„Wo willst du denn so dringend hin?“

„Heim zu Mami. Die weint bestimmt schon, weil ich nicht da bin.“

„Du findest das witzig?“

„Wollen Sie mich anscheißen? Warum sind meine Eltern nicht hier? Und warum hab ich keinen Anwalt. Ich bin minderjährig. Ich brauch hier nix sagen. Gar nix!“

„Wir befragen dich nur“, erklärte Anna geduldig. „Dein Rechtsbeistand ist bestimmt schon unterwegs. Ich brauche von dir auch nur eine Zeugenaussage. Du bist nicht tatverdächtig oder so was, okay?“

„Gut, dann sage ich jetzt als Zeuge alles, was ich weiß: Ich. Weiß. Nix!“

„Nun gibt es blöderweise noch eine Überwachungskamera in der Nähe des alten Fabrikgeländes, die zeigt immerhin, wie du und deine Freunde Oliver auch dort immer noch durch die Gegend hetzt. Wir haben das Gelände überprüft. Da werden nirgendwo Pommes verkauft.“

Kasim holte tief Luft und stieß sie hörbar aus, ohne etwas zu antworten. Sein Blick wechselte zwischen Anna und der schweigenden Birte Keller hin und her.

Anna blieb unverändert freundlich.

Der Junge murmelte etwas, das wie „miese Bullenfotze“ klang. Sie beugte sich vor und hielt die Hand hinter das Ohr.

„Wie bitte?“

„Ohne meinen Anwalt läuft hier nix mehr“, sagte er laut.

Birte Keller, stellvertretende Ermittlungsleiterin, die an der Befragung ebenfalls teilnahm und oft für die härtere Gangart zuständig war, schaltete sich an dieser Stelle ein. Sie war eine große und kräftige Frau mit kurzen Haaren, kantigem Gesicht und einem übellaunigen Zug um den Mund, der sich nie ganz weglächeln ließ. Gründe zum Lächeln fand sie ohnehin selten. In solchen Gesprächen wie heute schon gar nicht. Sie hatte selbst Kinder und war oft fassungslos, wie verroht manche Großstadtkids schon in jungen Jahren waren. Vor ihr saß ein Musterexemplar, dessen klassischer Weg in eine kriminelle Karriere vorgezeichnet war. Ein Junge ohne Chancen und Hoffnung. Ein Junge, dessen Klappe um einiges größer war als das Selbstwertgefühl. Ein Junge, dem sie liebend gern mal kräftig in den Arsch treten würde, damit er regelmäßig zur Schule ging, um sich wenigstens ein Minimum an Zukunftschancen zu sichern.

„Wenn dein Rechtsbeistand hier ist, könnte es bei der jetzigen Beweislage durchaus möglich sein, dass sich aus der Zeugenbefragung etwas anderes ergeben wird“, sagte Birte. „Damit das schon mal klar ist.“

Kasim richtete sich kauend an Annas Kollegin und blickte ihr geringschätzig auf das T-Shirt, unter dem sich nicht mal der Ansatz eines Busens abzeichnete.

„Was denn, Herr Kommissar?“, wollte er wissen.

„Das besprechen wir im Beisein deines Anwalts.“

„Ihr wollt mich am Arsch kriegen, weil ich diesen fetten kleinen Idioten umgebracht haben soll?“

„Fett?“ Birte sah ihn aufmerksam an. „In der Öffentlichkeit wurden noch keine Angaben zur Person gemacht, keine Fotos gezeigt.“

Kasim schmatzte aufgeregt und lümmelte sich noch lässiger auf den Stuhl.

„Geraten, Herr Kommissar. Meistens werden doch die dicken Jungs ermordet, oder nicht? Weil sie nicht schnell genug abhauen können. Hat es halt nicht mehr geschafft, seinen fetten Arsch zu retten.“

„Vor wem?“

„Keine Ahnung.“

„Wenn deine Freunde und du in Tatverdacht geratet, dann hört der Spaß auf“, fuhr Birte Keller fort. „Du kannst es einfacher haben. Du erzählst uns als Zeuge alles, was du gesehen hast und bestätigst das Protokoll später im Beisein deines Anwalts. Dann wissen wir alle bescheid, und du kannst wieder heim zu Mami.“

Kasim tat so, als denke er angestrengt nach.