Abschied von den Boomern - Heinz Bude - E-Book
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Abschied von den Boomern E-Book

Heinz Bude

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Beschreibung

Bye, bye, Boomer! Das Portrait einer Generation und ihrer inneren Widersprüche von Heinz Bude

Die Boomer nehmen Abschied. Wer zwischen 1955 und 1970 in der Zeit der geburtenstarken Jahrgänge zur Welt gekommen ist, hat den Ruhestand erreicht oder zählt zu den Älteren, die nach und nach ihre Posten freimachen. Die Boomer verbindet das Gefühl, dass es zu viele von ihnen gibt, das spürten sie schon in überfüllten Klassenzimmern und später auf dem Arbeitsmarkt. Daraus resultierte eine Haltung der Skepsis, und die Erfahrung von AIDS und Tschernobyl hat sie in einer entscheidenden Phase ihrer Biografie gelehrt, dass nichts gesichert und gar nichts garantiert ist. Heinz Bude, ein früher Boomer, beschreibt, wie sich mit dieser Generation auch ein Lebensgefühl verabschiedet, das unsere Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt hat.

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Das ist das Cover des Buches »Abschied von den Boomern« von Heinz Bude

Über das Buch

Bye, bye, Boomer! Das Portrait einer Generation und ihrer inneren Widersprüche von Heinz BudeDie Boomer nehmen Abschied. Wer zwischen 1955 und 1970 in der Zeit der geburtenstarken Jahrgänge zur Welt gekommen ist, hat den Ruhestand erreicht oder zählt zu den Älteren, die nach und nach ihre Posten freimachen. Die Boomer verbindet das Gefühl, dass es zu viele von ihnen gibt, das spürten sie schon in überfüllten Klassenzimmern und später auf dem Arbeitsmarkt. Daraus resultierte eine Haltung der Skepsis, und die Erfahrung von AIDS und Tschernobyl hat sie in einer entscheidenden Phase ihrer Biografie gelehrt, dass nichts gesichert und gar nichts garantiert ist. Heinz Bude, ein früher Boomer, beschreibt, wie sich mit dieser Generation auch ein Lebensgefühl verabschiedet, das unsere Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt hat.

Heinz Bude

Abschied von den Boomern

Hanser

»Stop Making Sense«

Talking Heads, 1984

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Heinz Bude

Impressum

Inhalt

»Wir waren in diese Stadt gekommen

Die Kohorte

Frühe Prägungen

Das nicht übertriebene Wir

Die Generation in der Mitte

Kulenkampff, Willy Brandt und die RAF

Die nachgeholte Verstörung

Ironie und Tragik

Brokdorf

Die Entdeckung der eigenen Stimme

Aids und Tschernobyl

Operationen am offenen Herzen

Die Roaring Nineties

Die Inversion des Zukunfts glaubens

Das Denken der Boomer

Abschied von den Eltern

Weder schlechte noch gute Vorfahren

Anmerkungen

»Wir waren in diese Stadt gekommen, von der wir nicht wussten, dass die Toten einem hier den Platz zuweisen. Hätten wir doch Heiner Müller gelesen. Doch wir waren jung und interessierten uns nicht für den Tod.«1

Das Wir ist eine Gruppe von Jungmenschen, die Ende der 1970er Jahre zum Studium nach Westberlin gegangen waren, auf eine Insel mitten in der DDR, weit weg von Heilbronn, Wuppertal oder Trier. Sie sind um 1960 geboren. Damit gehören sie der Generation der Boomer an, wie die Kohorte der zwischen 1955 und 1964 oder, sozialgeschichtlich vielleicht treffender, zwischen 1955 und 1970 Geborenen genannt wird, weil sie die geburtenstärksten Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg bilden.

Die Kohorte

Die Boomer als Pulk geburtenstarker Jahrgänge gibt es in allen Ländern, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt gewesen sind, zeitlich allerdings verschoben. In den USA, die den Krieg nicht zu Hause führten, war die Geburtenrate während der »Great Depression«, die das Land im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der späten 1920er Jahre erfasst hatte, auf den Tiefpunkt gesunken und stieg dann beginnend mit dem »New Deal« der »Roosevelt-Ära« kontinuierlich bis in die 1960er Jahre an. Der erste globale Boomer war der 1946 geborene Bill Clinton, von 1993 bis 2001 der 42. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Er stammt aus kleinen Verhältnissen und spielt Saxofon und verleitete seine Landsleute dazu, die Schulden zu machen, die sich der Staat nicht mehr leisten konnte.2 Auch in den Niederlanden, in Frankreich, in Belgien oder in Großbritannien, Dänemark, Finnland und Norwegen wurden schon während des Krieges mehr Kinder geboren. Die Geburtenentwicklung in Deutschland ist durch die ausfallende Kriegsgeneration gekennzeichnet. Das sind die Jahrgänge 1910 bis 1920, die 1939 eingezogen worden waren, in fünf Jahren an der Front und während vier Jahren in der Kriegsgefangenschaft dezimiert wurden und deren Restbestände sich nach ihrer Rückkehr erst wieder an ein ziviles Leben mit Frau und Kindern gewöhnen mussten, bevor sie daran denken konnten, in familialer Eintracht ein Kind des Neuanfangs in die Welt zu setzen. In diesem Punkt gab es keinen Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland. Nur stieg in der DDR die Kinderzahl je Frau etwas später an und begann schon früher wieder zu sinken.

Den Höhepunkt erreichte der Babyboom in beiden Deutschlands übrigens 1964 mit 1,36 Millionen zur Welt gebrachten Kindern — so viele wie vorher nicht und nachher nicht. 1,07 Millionen betrug die Zahl im Westen und 0,29 Millionen im Osten. Der nachfolgende »Pillenknick« hat vermutlich weniger mit der Verfügbarkeit der »Antibabypille« zu tun, die in der Bundesrepublik schon seit 1961 auf dem Markt war. Allerdings stiegen die Verschreibungszahlen erst um 1970 deutlich, was vermutlich mit der wachsenden Bildungsbeteiligung von Mädchen und jungen Frauen zusammenhing. Seit 1999 studieren mehr junge Frauen als junge Männer an deutschen Universitäten. Mit der Verlängerung der Bildungszeit erhöht sich das Heiratsalter, sodass selbst das katholische Mädchen aus einem Arbeiterhaushalt vom Lande3 bis zur Beendigung seiner Ausbildung Sex ohne Zeugung bevorzugt. Daran ändert auch die Akzeptanz nichtehelicher Formen des Zusammenlebens mit Kindern nichts. Die Kinder sollen nach und nicht während der Ausbildung kommen. Aus dem Blick eines langfristigen »demografischen Übergangs« erscheint der Babyboom des Nachkriegs daher wie eine kriegsbedingte Anomalie. Zum Vergleich: 2022 wurden in Deutschland, seriös geschätzt, 739.000, also rund 600.000 weniger Kinder geboren als 1964.

Die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1970 stellen derzeit fast 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Die Jüngeren bereiten sich auf den Ausstieg aus dem Erwerbsleben vor, die Älteren sind schon in Rente gegangen. Der Übergang verläuft fließend, weil bei den Babyboomern bereits die schrittweise Anhebung der regulären Altersgrenze auf 67 Jahre bis 2029 greift und außerdem immer mehr Boomer ihre Lebensarbeitszeit verlängern. Zu Beginn der 2030er Jahre, also in weniger als zehn Jahren, wird die Mehrheit des stärksten Jahrgangs 1964 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein, um in einen neuen, vermutlich langen und aktiven Lebensabschnitt einzutreten. Die damit verbundenen Wünsche nach einem guten Leben im Alter werden Wirtschaft und Gesellschaft beleben und belasten.

Unsere Gruppe strebt in die Frontstadt der Systemkonfrontation, um dem Bund zu entgehen oder um sich auszuprobieren. Sie treffen jedoch auf eine Stadt, die auf sie den Eindruck macht, als ob der Zweite Weltkrieg erst seit 14 Tagen vorbei sei, und es dämmert ihnen, dass die Flucht aus der Enge Westdeutschlands den Wiedereintritt in eine Welt von Bildern und Vorstellungen bedeutet, aus der sie geflohen waren. Von Heiner Müller, damals der einzige gesamtdeutsche Schriftsteller, dessen Stücke im Osten geschrieben worden waren und im Westen uraufgeführt wurden, hätten sie etwas von den Nibelungen vor Stalingrad, von den Leichen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Landwehrkanal, von Albert Speer im Kriegsverbrechergefängnis Spandau und von der Wahnverwandtschaft von Hitler und Stalin erfahren können. In einem Text von 1979, den Müller für einen Auftritt in New York geschrieben hatte, hätten sie zudem diesen Hammersatz finden können: »Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken.«4

Frühe Prägungen

Man darf nicht vergessen, dass die Boomer im Nachbeben des Weltkriegs aufgewachsen sind. Sie erinnern sich an den Friseur, der sich durch seinen Salon mit einer Beinprothese jonglierte, und an den Nachbarn von gegenüber, dem ein Arm fehlte und der sich als Nachtwächter sein Geld verdiente; sie haben als Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen erlebt, wie die ganze Energie ihrer Eltern in den Bau eines Eigenheims floss; sie haben nach der Schule im Radio die Sendungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes gehört; sie wussten genau, welche ihrer Lehrerinnen und Lehrer Nazis waren. Da war früher nichts besser.

Die Oma hatte noch labbrige Geldscheine über hunderttausend Reichsmark aus der Inflationszeit von 1923 in der Schublade und sie erzählte, dass man dafür gerade mal ein Ei kaufen konnte. Onkel Helmut, der alle drei Wochen am Sonntagnachmittag zum Kaffeetrinken kam, tischte jedes Mal die Geschichte von der »Schlacht um Narvik« auf, als er 1940 mit der Gebirgsjäger-Division der Deutschen Wehrmacht im besetzten Norwegen der alliierten Übermacht, wie er sich eigentümlich gewählt ausdrückte, trotzte. Und wenn man in Wuppertal aufwuchs und mit dem Papa sonntagnachmittags nach dem Gang durch das Osterholz im Ausflugslokal »Neu-Amerika« einkehrte, servierte einem der dicke Kellner mit der weißen Jacke die nackte Brühwurst ganz allein auf einem großen weißen Teller, als wäre sie eine Spezialität aus der Neuen Welt. Nach dem Verzehr des unglaublich leckeren glitschigen Teils musste der Kleine dann noch zur Theke gehen, um dem Vater eine Fehlfarben zu 30 Pfennig zu holen, die dieser anbiss und, nachdem er das abgebissene Stück ausgespuckt hatte, mit einem Streichholz der Marke »Welthölzer« mit ein paar genüsslich paffenden Zügen anzündete.

Die Boomer sind die Kinder von jungen Weltkriegsteilnehmerinnen, die keine tragfähige Erinnerung an die erste deutsche Republik mehr hatten. Die Väter waren mehrheitlich zwischen 1920 und 1926 und die Mütter zwischen 1930 und 1936 geboren. Anfang der 1970er Jahre beherrscht diese relativ geburtenstarke Generation die Arbeits- und Gesellschaftswelt in beiden deutschen Staaten.5 Die Eltern sind im »deutschen Wirtschaftswunder der dreißiger Jahre« (Sebastian Haffner6) herangewachsen und haben zuerst das Nazi-Spektakel mit Autokult (der KdF, das heißt: Kraft-durch-Freude-Wagen als Volkswagen, kurz VW), mit Schlagern aus dem Volksempfänger (»Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n«) und mit Kinoglamour (das Traumpaar Lilian Harvey und Willy Fritsch) erlebt und nach dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Sowjetunion den Ausbruch der Angst und des Terrors in der Heimat.7 Schönheit und Gewalt passten plötzlich nicht mehr zusammen. Die Eltern der Boomer wurden als junge Soldaten in die Endoffensiven des Zweiten Weltkriegs geworfen oder mussten als junge Mädchen mit Luftschutzkellerkompetenz auf ihre kleinen Geschwister aufpassen. Den bei der HJ und beim BDM eingeübten Leistungsfanatismus (so ein ganz schön brennender Ausdruck von Hans-Ulrich Wehler8) haben sie in den Wiederaufbau der Bundesrepublik wie der DDR eingebracht. Als kindliche Zeugen dieser Affektverwandlung von Weltkriegern in Wiederaufbauerinnen haben die Boomer eine Ahnung vermittelt bekommen, wie Größe kleingearbeitet wird und wie aus Träumen Schäume werden.

Das alles spielte sich ab in einer Welt mit Einbauküchen, Schmelzkäseecken und Whisky der Marke Racke Rauchzart, mit Müttern, die sich als Genusszigarette eine Astor gönnten, und mit Vätern, die am Donnerstagabend zum Kegeln verschwanden. Ein Gefühl für sich selbst entwickelten die Heranwachsenden nur dann, wenn sie sich den Mysterien des Pettings, der Kraft des Mopeds und den Songs aus dem leise unter dem Handtuch spielenden Radio überlassen konnten.9

Das Mädchen trug eine samtblaue Cordhose und ein orangefarbenes Twinset, der Junge eine hellbraun gestreifte Hose mit Schlag und einen karierten Pullunder aus Polyamid. Man traf sich zum Überspielen der neuesten Platte der Beatles, weil der Junge einen Plattenspieler von Dual besaß, das Mädchen aber nur ein Tonbandgerät, immerhin von Grundig. Der Junge sagte, dass er am liebsten »Nowhere Man« und »Norwegian Wood« und natürlich »Michelle« habe, wozu das Mädchen jedoch schwieg.

In beiden deutschen Staaten haben die Boomer von Anfang an die zwiespältige Erfahrung gemacht, Hoffnungsträger eines gesellschaftlichen Neubeginns und zugleich Betroffene einer bildungspolitischen Notlage zu sein. Für sie wurde die »reformierte Oberstufe« eingerichtet, sie haben in »Kurzschuljahren« Bildungszeit gespart, aber dafür mussten sie sich dann an einer Massenuniversität in Einführungsseminaren mit 150 Leuten und in Sprechstunden mit Arbeitsgruppen von sechs oder acht Kommilitoninnen durchschlagen. Das Andere der Zahlenmacht der Jungen war die Ressourcenknappheit der für sie vorgesehenen Einrichtungen. Man wurde gelockt (»Auf euren Schultern liegt die Zukunft«) und kriegte einen auf den Deckel (»Leider reicht es nicht für alle«). Sie waren einfach immer zu viele. Aus dieser Erfahrung rührt eine gewisse Skepsis gegenüber großen Erwartungen. Man verlässt sich besser auf sich selbst als auf die anderen, die einen doch nur vor deren eigenen Wagen spannen wollen. Die Boomer trauen sich was (weil sie den Pop in der Musik, in der Literatur oder als Haltung inhaliert hatten), können schlauer lesen (weil sie behaupten konnten, dass Peter Handke ihnen mehr sagt als Theodor Storm) und schlauer reden (weil sie sich das kritische Vokabular der Achtundsechziger angeeignet hatten), aber sie lassen sich nicht so leicht dazu verführen, mit einer neuen Zeit zu ziehen.10 Bewegungsformeln (»Aufbruch«, »Rückkehr« oder »Standhalten«) wirken auf sie verstaubt und mit Generationsausrufen (»Erfindet euch neu!«, »Ergreift eure Chancen!« oder »Nehmt euch, was euch zusteht!«) können sie nichts anfangen. Das ist die Sprache von Leuten, die ihre eigenen Probleme zu denen der anderen machen.

Sie starten in den 1960er Jahren als Kinder mit der Mitgift eines Wirtschaftswunders, das die deutsche »Orientierung am Unwirklichen« durch die bundesrepublikanische »Konzentration aufs Konkrete« ersetzte: Die ganze Familie klatscht vor den gebratenen Hähnchen vom »Hühner Hugo« in die Hände, zum Sommerurlaub an den Gardasee ist der VW Käfer pickepacke voll mit Menschen, Freizeitkleidung und Dosenwurst und der Kartoffelsalat wird, jedenfalls in der süddeutschen Variante, mit Fleischbrühe von Knorr zubereitet. »Kraft in den Teller — Knorr auf den Tisch«, empfiehlt Hans Tilkowski, hörbar aus Herne, der Torhüter beim Wembley-Tor am 30. Juli 1966, in der Fernsehwerbung in Schwarzweiß.11

Als Jugendliche erleben die Boomer in den 1970er Jahren eine Zeit mit autofreien Sonntagen, Smogalarm und »Sockelarbeitslosigkeit«. Das entscheidende Stichwort zur Lage der Dinge lautete »Grenzen des Wachstums« (Club of Rome). Anhand von unmissverständlichen Daten und Grafiken skizzierten Donella und Denis Meadows mit ihren Mitstreiterinnen in ihrem 1972 erschienenen Klassiker12 verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten des von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffen und der Zerstörung von Lebensraum angetriebenen »Weltsystems« bis zum Jahr 2100, die alle auf einen planetarischen Kollaps hinausliefen. Das war keine apokalyptische Fantasie, sondern eine mit wissenschaftlichen Mitteln erstellte Prognose begrenzter Ressourcen auf einem übervölkerten Planeten. Die Erde war durch den Menschen endlich geworden und es erhob sich die leninistische Frage »Was tun?«. »Smog« hieß ein 1973 ausgestrahltes Dokuspiel nach einem Drehbuch von Wolfgang Menge, das eine Smogkatastrophe im Ruhrgebiet als Erstickungsnotstand in Szene setzte. Die vielen Anrufe, die den WDR noch während der Sendezeit erreichten, belegten, dass der ökologische Horror dem Publikum als eine mögliche Realität erschien.

Aber nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur schien den Menschen die Luft abzuschneiden. Der Krebs wird als Metapher einer Krankheit entdeckt, die von der Unfähigkeit der Erkrankten rührt, ihre Gefühle auszusprechen und auszuleben, und wird damit als Ausdruck einer weitverbreiteten expressiven Inkompetenz verstanden. War die Tuberkulose auf dem »Zauberberg« von Thomas Mann noch eine Krankheit der Melancholie, so war der Krebs eine graue Krankheit für Menschen, denen weder eine erfüllende Liebesbeziehung noch eine persönliche Entwicklung gelungen ist. »Mars« hieß der 1977 publizierte autobiografische Bericht eines Lehrers aus der Schweiz, der sich Fritz Zorn nannte, in dem der Krebs als Resultat eines nicht gelebten Lebens dargestellt wurde.13 Diese Abrechnung mit sich selbst war ein riesiger Erfolg. Susan Sontag bot ihre ganze intellektuelle Kraft auf, um dem zu widersprechen und den Krebskranken ihre Würde wiederzugeben.14 Man muss nicht die Schuld bekennen, sein Leben verfehlt zu haben, man kann sich seiner Krankheit auch vermittels einer Operation oder Bestrahlung stellen. Die Diagnose Krebs ist eben kein durch innere Dispositionen herbeigeführtes Todesurteil. Das Aufkommen von Urschrei-Therapie als Weg der Heilung durch den Schmerz15, von Gestalt-Therapie, die die Belebung eines Ichs verspricht, das nicht nur dazu auf der Welt ist, um den Erwartungen der anderen gerecht zu werden16, und der Erfolg der Bhagwan-Sekte17 bestätigten jedoch den ungeheuren Lebenshunger eines depressiven Jahrzehnts.

Die 1970er Jahre werden von der Zeitgeschichte des europäischen Westens als eine Periode des Strukturbruchs beschrieben18