Adelaide Peel: Rheuma, Mord und Rauhaardackel - Katie Kento - E-Book

Adelaide Peel: Rheuma, Mord und Rauhaardackel E-Book

Katie Kento

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zielsicher wie eine Schrotflinte – Miss Adelaide Peel ermittelt. Schwarzhumoriger Cosy Crime für Fans von Miss Marple und dem »Donnerstagsmordclub«  »Schwungvoll trat sie ihn gegen das Schienbein. Er krümmte sich und stöhnte. ›Orthopädische Schuhe‹, keuchte sie, ›haben es besonders in sich.‹«  Nachdem die 83-jährige Adelaide Peel aus Versehen ihr Haus niedergebrannt hat, bleibt ihr keine Wahl, als mit ihrem hypochondrischen Rauhaardackel in das Seniorenheim Three Willows einzuziehen. Von den anderen Bewohnern und deren Marotten will sie erst nichts wissen und eckt mit ihrer grantigen Art schnell an. Doch als ihre Nachbarin stirbt und eine Reihe skurriler Unfälle ihren Lauf nimmt, rückt Adelaide den verbeulten Fedora zurecht und stürzt sich in die Ermittlungen. Dank ihrer Hartnäckigkeit und der Spürnase ihres schniefenden Kompagnons kommt sie dem Geheimnis um die Anschläge bald bedrohlich nahe ...  »Witzig, stimmig, sprachlich ausgefeilt.« – Jury des Arbeitsstipendiums 2022 der Mörderischen Schwestern »Die Freuden und Leiden des Alltags einer alten Dame stellt sie zielsicher heraus, paart das Ganze mit Humor und einer Mordermittlung.« ((Soester Anzeiger)) »Allen voran ist es die Figur der Adelaide Peel, die einen packt. Sie ist ruppig, hartnäckig, unverschämt, überheblich und doch viel davon nur, um ihre Einsamkeit zu überspielen sowie das Wissen, dass das Alter seine Spuren hinterlässt. Doch mit orthopädischen Schuhen kann man wirkungsvoll zutreten. Das ist wichtig, denn in Three Willows weiß man bald nicht, wer Freund oder Feind ist.« ((Nordwest-Zeitung))

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Krimi gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Adelaide Peel: Rheuma, Mord und Rauhaardackel« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Katja Hemkentokrax, Cover Atelier Buchgestalten, cover-atelier.de

Covermotiv: Katja Hemkentokrax

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Im Gedenken an meine Oma Ulla,

die sich nie daran gestört hat,

was andere dachten.

Kapitel 1

»Willkommen in Three Willows. Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen.«

Schleimer. Adelaide presste die Lippen aufeinander.

»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise, Miss Peel?«

Sie ignorierte das fragende Lächeln und starrte an ihrem Gegenüber vorbei.

Im Spiegel über dem Kaminsims sah sie eine winzige Frau, die in dem lächerlich großen Polstersessel fast verschwand. Ein knautschiges Gesicht. Furchen, nein Schluchten, die sich vom Mund zum Kinn gruben. Wässrige Augen hinter fingerdicken Brillengläsern. Weißes Haar, das unter einem verbeulten Fedora-Hut hervorwuchs wie Gestrüpp. Ein in sich zusammengeschrumpfter Körper – zerknittert und faltig –, an dem Bluse und Hose schlaff herunterhingen. Konnte das wirklich sie selbst sein? Wann war sie zu einer schlecht angezogenen Rosine mutiert?

Der Mann hinter dem Schreibtisch räusperte sich und verlagerte sein Gewicht. »Mein Name ist Reginald Ward. Ich bin der Leiter dieser Einrichtung«, erklärte er mit öliger Stimme. »Meine Mutter hat das Seniorenzentrum vor fünfundsechzig Jahren gegründet. Seitdem ist es im Familienbesitz.«

Adelaide hatte nur ein Brummen als Antwort übrig. Sie drückte die atmende Handtasche auf ihrem Schoß etwas fester an sich.

»Sie werden übrigens das Zimmer neben …«

»Ich kenne meine Rechte.«

Ward verstummte.

Adelaide hob das Kinn. Die meisten Menschen waren irritiert, wenn sie ihre raue Stimme zum ersten Mal hörten. Das gefiel ihr.

»Pardon, Miss Peel?« Er nestelte an seinen Manschettenknöpfen herum. Das Seidenhemd sah teuer aus, aber die Ärmel waren zu lang. Maßgeschneidert für jemand anderen. Wahrscheinlich aus einem Second-Hand-Geschäft.

»Meine Rechte!«, blaffte sie und senkte die Stimme, als ihre Handtasche zusammenzuckte. »Ich habe nichts verbrochen. Also darf man mich nicht einsperren.«

»Aber wir … wir sperren Sie doch nicht ein, Miss Peel!«

Heuchler, dachte Adelaide, und nach kurzem Überlegen sagte sie es auch: »Heuchler.«

Der Mittfünfziger strich über seinen Schnauzbart, so als wollte er sich die Empörung vom Gesicht wischen. Die ärgerliche Röte auf seinen Wangen entging Adelaide nicht.

»Wir bieten Ihnen hier die wunderbare Möglichkeit, mit Menschen in Ihrem Alter zusammenzuleben. Es gibt gemeinsame Aktivitäten. Bingospiele, den Lesezirkel und den Sonntagskaffee, Filmabende mit Zuckerwatte und …«

»Glauben Sie, ich will meine Zeit mit Zuckerwatte und alten Knackern verschwenden?«

Ward fuhr sich mit den Fingern durch das tiefschwarze Haar, das ihm schlecht geschnitten und dicht wie ein Helm auf dem Kopf saß. Der Mann hatte nervöse Hände.

Nachdem er einen Blick auf das Blatt Papier vor sich geworfen hatte, setzte er sein joviales Lächeln erneut auf. »Sie haben fast sechs Jahrzehnte lang allein in einem Häuschen auf dem Land gelebt.«

Die Handtasche knurrte.

»Ich war nicht allein. Ich hatte Broderick.« Adelaide sprach laut, um das Knurren zu übertönen und ihren Rauhaardackel zu besänftigen. Er konnte es nicht ertragen, außen vor gelassen zu werden.

»Miss Peel, ein Hund mag ein netter Gesellschafter sein. Aber er ersetzt nicht den Austausch mit anderen Menschen. Er achtet nicht auf Ihre Gesundheit, er sorgt nicht für eine ausgewogene Ernährung.«

Die Handtasche stieß ein kurzes Wuff aus, und Adelaide täuschte einen Hustenanfall vor.

»Da sehen Sie es.« Ward lehnte sich ein Stück zurück und rieb seine Hände mit dem Desinfektionsmittel ein, das auf seinem Schreibtisch stand. »Eine anständige medizinische Versorgung ist für Leute in Ihrem Alter …«

»Ich war seit vierzig Jahren nicht mehr krank.« Was man von Broderick nicht behaupten konnte. Aus der Tasche war ein verschnieftes Winseln zu hören. »Niemand hat das Recht, mir mein Heim wegzunehmen!«, rief Adelaide.

Wenn Ward glaubte, sie würde diese Entführung anstandslos über sich ergehen lassen, dann hatte er sich geschnitten.

»Aber Miss Peel, in diesen Dokumenten steht … Hier steht, dass Sie selbst Ihr Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt haben.«

Stille breitete sich im Büro aus. Nur Brodericks kratziger Atem war zu hören. Wenn er sich zu lange in der Handtasche verkroch, bekam er asthmatische Symptome.

»Ja … Richtig.« Adelaide erinnerte sich. Nicht gern, aber sie besann sich durchaus, wie sie die Fensterrahmen in ihrem Haus unter Strom gesetzt und dabei versehentlich die Vorhänge in Brand gesteckt hatte.

In der Theorie war der Plan genial gewesen. Sie hatte die Isolierung an einigen Kabeln entfernt, sie anschließend um die Fenstergriffe gewickelt, mit den Steckdosen verbunden und voilà: Auf Brodericks Speiseplan stand gerösteter Einbrecher. Nur hatte das Ergebnis leider nicht ganz ihrer Vorstellung entsprochen.

»Es war Notwehr«, erklärte sie zerknirscht. »Soll ich tatenlos herumsitzen, während zwielichtige Gestalten um mein Haus schleichen?«

Ward hob die Augenbrauen. Er glaubte ihr nicht. Genauso wenig wie die Feuerwehr, die Polizei oder ihr beschränkter Großneffe die Geschichte geglaubt hatten.

Zugegeben, Adelaide hatte diese Gestalten nicht direkt gesehen. Oder gehört. Aber hätte sie erst warten sollen, bis es zu spät war? Bis man sie bestahl? Über die Jahrzehnte war immerhin eine der größten Kriminalliteratur-Sammlungen Cornwalls, wenn nicht gar Englands, in ihrem Häuschen herangewachsen. Schmuckausgaben, Erstauflagen, seltene Fehldrucke und handsignierte Schätze befanden sich in ihrem Besitz!

Hatten sich in ihrem Besitz befunden.

Ein Stich zog sich durch Adelaides Brust. Sie stieß ein Räuspern aus, wippte mit den Beinen und schwang sich aus dem Sessel.

»Würden Sie sich nicht verteidigen, wenn es jemand auf Ihren Plunder abgesehen hätte?«

Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen schritt sie durch das Büro. Zumindest tat sie das in ihrer Vorstellung.

In Wahrheit hatte Broderick seit seiner Hüftdysplasie ordentlich zugelegt, sodass sie beide Hände in die Handtasche krallen musste, um ihn nicht fallen zu lassen. Adelaides Beine waren auch einmal länger gewesen. Und das Buttermesser, das in ihrem rechten Schuh steckte, war beim Gehen nicht gerade förderlich.

Mit wackelndem Getrippel und einer gehörigen Schlagseite zog sie durch das Büro und beäugte die Einrichtung. Dunkle Holzmöbel mit durchgesessenen Polstern. Golden gerahmte Bilder einer schwarzhaarigen Frau, bei der es sich wahrscheinlich um die eben erwähnte Mutter handelte. Ein Mantelhalter samt Schirmständer in der hintersten Ecke des Raumes. Ein Aktenschrank mit Vorhängeschloss, daneben eine zweite Tür. Und gegenüber vom Schreibtisch eine alles überschattende Schrankwand, in der Dutzende Modellschiffe in Glasflaschen thronten.

Geschmacklos und verstaubt.

»Was ist hinter der Tür?«, wollte sie wissen.

»Meine Privaträume. Die Heimleitung steht den Bewohnerinnen und Bewohnern von Three Willows rund um die Uhr zur Verfügung«, erklärte Ward in einem Ton, als wäre er auf einer Pressekonferenz. »Ich wohne hier.«

»Mein Beileid.«

Auf dem Kaminsims hinter dem Schreibtisch standen ebenfalls von Glas umschlossene Schiffsmodelle. Adelaide zog sich den Gurt ihrer schlafenden Handtasche über die Schulter, ging auf die Zehenspitzen und tippte gegen die größte der bauchigen Flaschen.

»Man kann mich nicht dafür verurteilen, dass ich mein Eigentum schützen wollte. Was ist, wenn Ihnen einer Ihre Sammlung klauen will, hm?«

»Ich denke nicht, dass sich ein Einbrecher dafür interessieren würde. Dieses Modell ist unter uns gesagt auch nicht sonderlich wertvoll. Ich habe …«

Adelaide klopfte gegen die nächste Flasche. Sie wackelte auf dem Holzsockel, fiel zu Boden und zersprang.

Reginald Ward schoss aus seinem Sessel empor. »Dieses Modell war wertvoll«, keuchte er und deutete auf den Platz gegenüber. »Bitte, Miss Peel, setzen Sie sich wieder.«

Adelaide rührte sich nicht. Sie warf nur einen betont interessierten Blick auf ein weiteres Schiffsmodell und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Stirn des Heimleiters vor Schweiß zu glänzen begann.

»Glauben Sie mir.« Wards Stimme klang gepresst. »Ich habe kein Interesse daran, Sie gegen Ihren Willen hier festzuhalten.«

»Ach nein? Damit verdienen Sie doch Ihr Geld!« Sie gab sich keine Mühe, ihre Verachtung dieses schmutzigen Geschäfts zu verbergen.

Ward ließ seinen Blick über die Glasscherben und den zerbrochenen Mast des Schiffchens auf dem Boden wandern. »Weniger, als Sie denken«, murmelte er und seufzte. »Geben Sie der Sache eine Chance. Zwei Wochen. Wenn es Ihnen hier bis zur Mitte des Monats nicht gefällt, können Sie abreisen.«

Adelaide streckte ihm ihren Arm entgegen. »Hand drauf! Oder ich glaube kein Wort.«

Ward musterte ihre Finger, die vom Rheuma leicht geschwollen und rot waren. Zögerlich ergriff er die Hand und stieß den Atem aus, als sie zudrückte.

»Keine Spielchen«, knurrte Adelaide. »Deal ist Deal.«

Zu ihrem Erstaunen hielt der Heimleiter dem bohrenden Blick stand. Obwohl er aussah wie ein in die Jahre gekommener Fernsehmoderator aus den Siebzigern, trat so etwas wie jugendlicher Tatendrang in seine Miene.

»Dazu müssen Sie Ihren Teil der Abmachung aber auch erfüllen«, stellte er klar. »Hier wird nichts mehr zu Bruch gehen in den nächsten vierzehn Tagen, verstanden? Sie fangen keinen Streit an und machen uns keine Umstände. Wenn ich mich bei Ihrem Großneffen dafür einsetzen soll, dass Sie wieder allein leben können, dann müssen Sie mir auch beweisen, dass Sie dazu in der Lage sind.«

Adelaide zog eine Grimasse. Diesen angeblichen Großneffen, der ihr die ganze Sache eingebrockt hatte, würde sie zu gern in die Finger kriegen.

»Miss Peel, hören Sie mir zu? Sie müssen uns allen hier zeigen, dass Sie selbstständig und klar im Kopf sind. Und vernünftig.« Das letzte Wort betonte er besonders, so als hätte er an Adelaides Vernunft irgendetwas zu bezweifeln.

»Abgemacht.« Sie drückte ein weiteres Mal zu, dann ließ sie los.

Ward schüttelte seine Hand aus. »Gut. Ich schlage vor, Sie gehen zurück auf Ihr Zimmer und richten sich dort für die nächsten Tage ein.« Er griff nach dem Fläschchen mit dem Desinfektionsmittel. »In einer Stunde gibt es Abendessen im Speisesaal. Finden Sie den Weg allein oder …?«

»Seh ich aus wie eine verwirrte Alte, die man bei der Hand nehmen muss?«, motzte Adelaide. Ward wollte sie testen und ihre Schwächen gegen sie verwenden. Doch bei dem Spielchen machte sie nicht mit. »Schreiben Sie sich das hinter die Ohren: Ich komme zurecht!«

Es läutete bereits zum Essen, als Adelaide zum dritten Mal durch die Eingangshalle trippelte und ihr Zimmer noch immer nicht gefunden hatte. Wie war sie jetzt schon wieder im Erdgeschoss gelandet? Dieses Gebäude hatte mehr verwinkelte Treppen und verlassene Zimmer als Rutherford Hall in Miss Marples siebtem Fall.

Sie wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, da hallte der Klang eines Orchesters durch die Gänge. Die Musik war durchsetzt von einem Knistern und Rauschen. Es schien sich um eine alte Aufnahme zu handeln.

»Sì. Mi chiamano Mimì, ma il mio nome è Lucia«, ertönte eine helle Stimme. Zuerst klang sie zart, dann schraubte sie sich in die Höhe und wurde immer durchdringender. Glockenklar schwebte der Gesang durch die muffige Luft der Eingangshalle. Er stammte sicher nicht von der Aufnahme.

Adelaide blieb stehen. Sie lauschte und versuchte zu ermitteln, aus welchem der Gänge die Musik kam.

»La storia mia è breve. A tela o a seta ricamo in casa e fuori …« Das verrauschte Orchester verblasste hinter der Stimmgewalt der Sopranistin.

Adelaide verstand nichts von Opernmusik. Aber sie lauschte einer professionellen Sängerin, so viel war klar.

Ihre Ohren führten sie den Gang entlang. Bis zu einer halb geöffneten Tür. Durch den Spalt linste sie in einen Saal mit zerschrammtem Parkettboden und fleckiger, golden gemusterter Tapete. Die dreckigen Fenster trübten das Tageslicht. Ein Klavier in der Ecke sowie Bilder oder Spiegel an den Wänden waren mit Laken abgehängt worden.

»Son tranquilla e lieta ed è mio svago far gigli e rose«, sang die Stimme nun so nah und melancholisch, dass sich die Härchen auf Adelaides Armen aufstellten.

Broderick war in der Tasche ganz ruhig geworden. Er schien ebenfalls die Ohren zu spitzen.

Sie schlich etwas näher an die Tür und spähte schräg in den Raum hinein. Dort stand sie, die Primadonna. Die Frau wirkte verloren und winzig in diesem verlassenen Ballsaal. Über ihr schwebte ein riesiger Kronleuchter aus mattem Glas. Sie breitete beim Singen die Arme aus und wogte mit dem Oberkörper sanft vor und zurück.

Adelaide rückte ihre Brille zurecht und kniff die Augen zusammen, um die Opernsängerin genauer zu mustern. Doch in diesem Moment knarrte eine Tür. Schritte erklangen am Ende des Ganges.

»Sie singt wieder!«, hörte sie eine Frau brüllen. »ILENA SINGT!«

Adelaide wich von der Tür zurück und verschwand auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war. Ihr stand der Sinn nicht nach neuen Bekanntschaften.

Während sie sich von der Musik entfernte, kam Broderick seine eigene Unzufriedenheit wieder in den Sinn. Der Dackel zappelte und jaulte, als sie erneut mit dem klapprigen Fahrstuhl hinauffuhren. Wenn er sich zu wenig bewegte, bekam er Migräne, und er hatte sich bereits auf der Fahrt nach Chestnut Grove still verhalten müssen. Schließlich war er offiziell in den Flammen des Feuers gestorben.

»Tote Hunde winseln nicht«, wisperte sie ihm zu und tätschelte die Tasche. »Nur zwei Wochen, alter Knabe. Dann ziehen wir irgendwo hin, wo Hunde erlaubt sind.«

Sie stieg auf gut Glück im zweiten Stockwerk aus und sah gerade noch einen Polizisten um die Ecke biegen. Der kam ihr genau richtig. Immerhin hatte sie die ein oder andere Beschwerde vorzubringen.

»He, Sie!« Adelaide trippelte ihm hinterher. Das Buttermesser drückte gegen ihren Knöchel. »Stehen bleiben, ich rede mit Ihnen!«

Sie holte den uniformierten Mann ein, da machte er gerade vor einer der Türen Halt und hob die Hand zum Klopfen.

»Sie müssen mir helfen! Ich will jemanden anzeigen.« Sie schnappte nach Luft, um von dem erzwungenen Umzug und der unrechtmäßigen Bevormundung zu berichten.

Der Polizist drehte sich um. Ein sommersprossiges Gesicht musterte sie durch einen Blumenstrauß aus weißen Lilien, Schleierkraut und Efeu.

»Tante Adelaide?« Sein breites Lächeln strahlte mit den hellgrünen Augen um die Wette. Auf seinen Wangen zeigten sich Grübchen, und das rötliche Haar fiel ihm ungeordnet in die Stirn.

»Na wunderbar«, brummte sie ihrer Handtasche zu. Der Feind trug Uniform.

»Ich bin’s, dein Großneffe Oliver«, erklärte er überflüssigerweise. »Wie schön, dass wir uns endlich kennenlernen. Als ich von dem Brand in deinem Haus erfahren habe, war ich wirklich besorgt. Nun ja, zuerst war ich natürlich verwundert.« Er kratzte sich mit der freien Hand am Nacken. »Ich wusste ja gar nicht, dass ich eine Großtante habe. Genau genommen dachte ich immer, ich hätte überhaupt keine Verwandtschaft mehr. Ist das nicht aufregend?« Er schaute sie erwartungsvoll an. Als sie nicht antwortete, fragte er: »Findest du nicht auch, dass es hier irgendwie verbrannt riecht?«

Adelaide seufzte und schob sich an dem schlaksigen Kerl vorbei. Zumindest hatte sie so nun ihr Zimmer gefunden. Neben dem Türschild ihrer Nachbarin Hazel hing sogar ein Zettel, auf dem man ihren Vornamen behelfsmäßig notiert hatte.

Das Lächeln rutschte dem jungen Mann aus dem Gesicht. »Tante Adelaide … Freust du dich gar nicht, mich zu sehen?«

»Du bist ein Blitzmerker, was?« Mit einem gezielten Handkantenschlag wehrte sie die Blumen ab, die er ihr überreichen wollte. Weiße Blüten rieselten zu Boden. »Jetzt hör mal zu, Bursche. Ich bin dreiundachtzig Jahre allein zurechtgekommen. Ohne Familie und ohne Altersheim.«

»Aber dein Haus ist doch …«

»Ich lasse mich weder entführen noch einsperren!« Sie reckte sich in die Höhe und stieß mit ihrem knubbeligen Zeigefinger gegen seine Brust.

Oliver zuckte zurück. »Es tut mir leid, ich … Ich dachte …« Er schluckte hörbar und wich ihrem Blick aus. »Ich dachte, die Gesellschaft hier würde dir guttun.«

Dafür konnte Adelaide nur ein Schnauben erübrigen. Die Handtasche pflichtete ihr knurrend bei.

»Tante Adel…«

Sie schlüpfte in ihr Zimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

»Deine Blumen …«, hörte sie ihn noch kleinlaut sagen.

Dann entfernten sich seine Schritte.

Adelaide setzte die Handtasche auf dem Boden ab und öffnete den Reißverschluss. Sofort lugte der Kopf ihres Rauhaardackels daraus hervor. Sein graubraunes Fell war zerzaust. Er ließ den Blick durch den kargen Raum schweifen, über die Kisten voller angekokelter Bücher und die zwei Koffer mit geräucherter Kleidung – mehr hatte sie aus ihrem brennenden Haus nicht retten können. Dann blinzelte er Adelaide vorwurfsvoll an. Seine Barthaare zitterten.

Ein Kloß entstand in ihrem Hals, und sie wischte sich schnell über die Augen, bevor sie Broderick aus der Tasche befreite. Missmutig taperte er durch das Zimmer. Seine Krallen klackerten auf dem Linoleum.

»Ich weiß, es ist nicht ideal.« Die Worte waren heiser, und fast brach ihre Stimme, als sie hinzufügte: »Wir bleiben nicht lange, versprochen. Ich finde ein neues Zuhause für uns.«

Kapitel 2

 

Grüne Lichtstreifen surrten durch die Dunkelheit. Sie flackerten über die Kartons und den abgeplatzten Putz an den Wänden, bis sie sich in den Spinnweben an der Decke zu verfangen schienen.

Die Frau im Nebenzimmer hatte schon wieder einen Hustenanfall. Irgendwo im oberen Stockwerk ging eine Toilettenspülung, und die Heizung gluckerte. Über Adelaides Kopf brachten Schritte die Dielen zum Knarren.

Sie stöhnte und schlug die Decke beiseite. Der Bezug fühlte sich kratzig an. Er roch falsch. Daheim hatte ihre Bettwäsche ein Aroma von Lavendel und Seife verströmt, und in ihrem Häuschen hatte der Duft von Schwarztee und Kaminfeuer in der Luft gehangen. Aber hier roch alles fremd. Nach billigem Waschmittel und Scheuermilch, nach Plastikbelag auf dem Boden und nach … alten Menschen.

Adelaide strich das wirre Haar aus ihrer Stirn und setzte sich auf. Die Federkernmatratze quietschte, und Broderick antwortete mit einem Winseln.

»Komm her, alter Junge«, flüsterte sie.

Der Rauhaardackel fiepte und kam zwischen den Kartons zum Vorschein. Adelaide stand auf und bückte sich nach ihrem langjährigen Gefährten. Dabei stieg ihr der Rußgestank, den ihre Habseligkeiten verströmten, in die Nase. Ihre Augen begannen zu jucken.

»Kannst auch nicht schlafen, was?«

Sie drückte den Dackel an ihre Brust. Der Geruch seines Fells hatte etwas Tröstliches. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wieder in ihrem Häuschen zu sein. Umringt von Büchern, die sich bis unter die Decke stapelten, von benutztem Teegeschirr und Tellern voller Biskuitkrümel. Sie sah die Couch vor sich, den Ohrensessel beim Kamin und hinter dem Fenster den wuchernden Garten.

Die Frau im Nebenzimmer brach in einen weiteren Hustenanfall aus, und die Illusion zerfloss vor Adelaides innerem Auge. Sie schluckte mühsam, ihre Kehle war eng.

Broderick schnarchte inzwischen.

Mit winzigen Schritten durchquerte Adelaide das Zimmer und stieß sich einen Zeh an dem Tischlein, das unnütz unter dem Fenster herumstand. Sie fluchte unterdrückt und linste durch die Jalousie. Das staubige Teil hing schief im Rahmen und ließ sich weder ganz hochziehen noch herunterlassen.

Durch die Schlitze sah sie das grüne Leuchtreklame-Kreuz der gegenüberliegenden Apotheke. Es war defekt und stieß ein surrendes Flackern aus, das dank der Jalousie in schauderhaften Streifen in ihrem Zimmer pulsierte.

Adelaide verzog den Mund und verkniff sich ein Grummeln, um Broderick nicht zu wecken. In dem Prospekt, den Oliver vor ihrer Verschleppung geschickt hatte, war Three Willows in einem gänzlich anderen Licht dargestellt worden: Die Villa ist umgeben von lokalen Geschäften, sodass die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Besorgungen fußläufig erledigen können.

Sie fragte sich, aus welchem Jahrhundert die verblichene Broschüre stammte. Von dem angepriesenen Optiker, dem Bekleidungsgeschäft, der medizinischen Fußpflege und der Apotheke war nur Letztere übrig geblieben. Alle anderen Geschäfte waren pleite gegangen, marode geworden und mussten schließlich abgerissen werden. Das hatte ihr der redselige Taxifahrer erzählt, der zum Zwecke ihrer Entführung instrumentalisiert worden war. Mittlerweile lag Three Willows ganz einsam auf der Anhöhe außerhalb von Chestnut Grove.

Na ja, nicht ganz einsam, erinnerte Adelaide sich an die Worte des Taxifahrers. Der Friedhof daneben wird noch betrieben. Er hatte ihren Blick im Rückspiegel bemerkt und schnell das Radio aufgedreht.

Adelaide tippelte zum Bett und legte den schnarchenden Dackel auf dem Kopfkissen ab, weil ihre Hände vor Wut zu zittern begannen. Ihr dämlicher Großneffe hatte sie in das Wartezimmer des örtlichen Friedhofs gesteckt – und dann auch noch die Frechheit besessen, mit einem Blumenstrauß hier aufzutauchen, der aussah, als gehörte er auf ein Grab.

»Unverschämter Bulle«, grollte sie leise. »Tut so, als wäre ich schon halb tot.«

Mit dem giftgrünen Flackern, der kratzigen Decke und dem permanenten Gehuste nebenan kam sie sich tatsächlich vor, als schmorte sie bereits in der Vorhölle. Nun … an einem ihrer Probleme konnte sie arbeiten.

Adelaide bückte sich und zog die geheime Handtasche unter dem Bett hervor. Sie sah genauso aus wie die Tasche, mit der sie Broderick herumtrug, wenn die Arthritis seine kurzen Beinchen streiken ließ. Aber diese Handtasche war in Wahrheit eine Waffe. Und weil niemand damit rechnete, dass eine schrumpelige Rosine mit derartiger Schlagkraft aufwartete, war sie umso heimtückischer.

Zugegeben, auf ihren Spaziergängen kam Adelaide nur langsam voran, und ihre Schulter hieß die Belastung nicht gerade gut. Aber im Notfall musste sie den Tragegurt nur um ihre Hand wickeln und die Tasche ein paar Mal durch die Luft schwingen. Schon war sie mit einer potenziell kieferbrechenden Schleuder ausgestattet.

Sie öffnete den Reißverschluss und nahm zwei faustdicke Steine heraus. Dann schob sie die störrische Jalousie beiseite und riss so lange an dem Fenstergriff herum, bis er quietschend nachgab.

Die Fassade der Apotheke war etwa fünf Meter weit entfernt. Adelaide fixierte das grün leuchtende Schild, holte aus und … warf das Schaufenster ein.

Es schepperte und klirrte.

Sie hielt die Luft an und wartete auf das Schrillen einer Alarmanlage, auf Blaulicht oder wütende Rufe. Doch draußen regte sich nichts.

Die Frau im Nebenzimmer hustete. Broderick schmatzte im Schlaf.

Adelaide lockerte ihre Schultern. Sie musste höher zielen. Mit zusammengekniffenen Augen holte sie erneut aus, und dieses Mal traf sie – das Dachfenster.

Ein zweites Klirren schallte durch die Nacht. Glasscherben flogen grün glitzernd an dem flackernden Schild vorbei.

»Verdammte …!«

Schritte auf dem Gang.

Adelaide fuhr herum. Jemand näherte sich, um nach dem Rechten zu sehen.

Schnell schloss sie das Fenster und eilte zur Tür. Angriff war die beste Verteidigung. Sie würde selbst so tun, als habe das Scheppern sie aus dem Schlaf gerissen.

Blinzelnd und gähnend trat sie aus dem Zimmer. Im spärlichen Nachtlicht sah sie jemanden den Flur entlanghuschen. Doch bevor ihre kurzsichtigen Augen sich scharf gestellt hatten, war die Person schon um die Ecke verschwunden, und Adelaide erhaschte nur noch einen Blick auf den wehenden Morgenmantel.

Während das Klackern von Absätzen in der Ferne verhallte, ließ sie ihre Aufmerksamkeit schweifen. Sie betrachtete den Wäschewagen weiter oben im Gang, die Klappe des Müllschluckers an der Wand und die Blumenkübel mit den staubigen Plastikpflanzen.

Irgendetwas kam ihr seltsam vor …

Adelaide lauschte. Das Husten war verstummt.

Hatte ihre Zimmernachbarin etwas beobachtet und war losgelaufen, um sie anzuschwärzen? Es war wohl das Beste, die geheime Handtasche wieder unter dem Bett verschwinden zu lassen und sich schlafend zu stellen.

Also schlich sie zurück in ihr Zimmer, legte sich neben Broderick und wartete. Doch nichts geschah. Irgendwann knipste sie die Nachttischlampe wieder an, ignorierte das vorwurfsvolle Winseln des Dackels und schlug ein Buch auf.

Der tiefe Schlaf schien ihr eine passende Lektüre zu sein. Den Kriminalroman um den hart gesottenen Detektiv Philip Marlowe hatte sie schon Dutzende Male zu Hause im Bett gelesen. Und so brachte ihr die Geschichte über Erpressung, Mord und verschwundene Leichen wenigstens ein bisschen Geborgenheit. Sie schaffte es, Adelaide zumindest für ein paar Stunden aus dem Seniorenzentrum zu befreien und zurück in ihr altes Schlafzimmer zu bringen.

Das Gesicht auf eine angesengte Buchseite gebettet schlief sie schließlich ein.

 

Das Läuten zum Frühstück erklang in aller Herrgottsfrühe. Neun Uhr. Für jemanden, der seine Nächte in Krimis versunken verbrachte, war es quasi Morgengrauen.

Adelaide schlurfte mit winzigen Schritten zum Aufzug und schlief auf der ruckeligen Fahrt nach unten fast wieder ein.

Ihr Magen zog sich zusammen, als ihr in der Eingangshalle der Geruch von Haferschleim und gebackenen Bohnen entgegenwehte. Sie hörte das Gemurmel grauer Stimmen, begleitet von Gabeln, die über Teller kratzten, und wäre am liebsten wieder umgekehrt.

»Bist du neu?«, fragte ein helles Stimmchen.

Adelaide fuhr herum. Doch hinter ihr stand niemand. Hatten ihre alten Ohren ihr einen Streich gespielt?

»Bist du neu?«, fragte es noch einmal.

Sie senkte den Blick und entdeckte ein kleines Mädchen vor sich. Höchstens fünf Jahre alt. Reichte ihr kaum bis zur Hüfte. Große dunkle Augen, haselnussfarbene Engelslocken, gold-braune Haut. Sie trug ein rotes Kleid mit weißen Punkten und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

Wie sonderbar. Es kam nicht oft vor, dass Adelaide zu jemandem herabblicken konnte, seit sie auf 1,50 Meter zurückgeschrumpft war.

»Bist. Du. Neu?« Die Kleine wippte auf den Füßen vor und zurück.

»Seh ich so aus?«, ranzte Adelaide, die endlich ihre Stimme wiederfand.

Wie lange hatte sie nicht mehr mit einem Kind gesprochen? Diese winzigen Wesen waren ihr schon immer suspekt vorgekommen.

Das Mädchen legte den Kopf schief und schob die Augenbrauen zusammen. »Nein, du siehst alt aus«, lautete seine naseweise Einschätzung. »Urig alt. Wie eine Ururur-Granny.«

»Na schönen Dank.« Adelaide wollte weitergehen.

»Ich bin fast fünf.« Die Kleine streckte vier Finger in die Höhe und präsentierte mit einem stolzen Grinsen sämtliche Zahnlücken.

»Hast trotzdem kein besseres Gebiss als ich.« Adelaide fletschte die Zähne. »Alle echt.«

Das Kind schien es mit der Angst zu tun zu bekommen und machte einen Schritt rückwärts. Dennoch ließ die Neugier ihm keine Ruhe. »Ich heiße Marigold. Wie heißt du?«

»Peel.«

»Ist das ein Jungenname oder ein Mädchenname?«

»Was glaubst du?«

Ein Schulterzucken. »Weiß nicht. Alte Leute sehen alle gleich aus. Und ihre Stimmen klingen wie Krähen. Egal, ob sie ein Mädchen oder ein Junge sind.« Eine erwartungsvolle Pause. »Also?«

»Was also?« Adelaide schlurfte Richtung Speisesaal, doch der Giftzwerg hüpfte um sie herum wie ein Flummi.

»Junge oder Mädchen?«

»Warum willst du das wissen?«

»Mummy sagt, ich soll höflich sein. Deswegen muss ich wissen, ob du eine Mrs oder ein Mr bist.«

»Es heißt Miss Peel.« Adelaide hoffte, dass die Fragerei nun ein Ende hatte.

»Wohnst du jetzt hier, Miss Peel?«

»Was geht dich das an?«

»Ich wohne auch hier. Dann wohnen wir zusammen.«

»Bist du nicht zu klein, um im Seniorenheim zu wohnen?«, fragte Adelaide.

»Ich bin schon groß, sagt meine Mama. Deswegen darf ich ganz allein hier Ferien machen, während Mummy arbeitet.«

»Ach ja?«

Eifriges Nicken, gefolgt von einer regelrechten Flut aus Worten. »Der Kindergarten macht zwei Wochen Urlaub. Eigentlich bin ich dann immer bei Granny und Granpy. Aber Granny und Granpy sind auf einer Kreuzfahrt, und da dürfen Kinder nicht mit. Meine Mama ist ein bisschen sauer, glaub ich, weil Granny und Granpy eigentlich immer in den Ferien auf mich aufpassen. Aber jetzt passe ich halt auf mich selbst auf, wenn Mummy arbeitet. Ich bin ja schon groß. Und wenn sie von der Kreuzfahrt zurück sind, besuche ich dann Granny und Granpy.«

»So. Wohnen die auch hier?« Wahrscheinlich langweilte sich das Mädchen bei einem Familienbesuch und dachte sich deshalb diese Geschichte aus.

Marigold schüttelte den Kopf, sodass ihr die Locken ins Gesicht flogen. »Ne! Die sind noch gar nicht so urig uralt wie du, Miss Peel! Die sind noch viel weniger schrumpelig.«

Reizend.

»Sag deiner Mama, das mit dem höflich sein musst du noch üben.«

Die Nervensäge runzelte die Stirn und wollte etwas fragen.

Doch Adelaide ließ sie einfach stehen, schlüpfte in den Speisesaal und zog die Tür hinter sich zu.

Sie hatte weder Hunger noch Lust auf Gesellschaft. Aber wenn sie ohne ein Würstchen oder zumindest ein paar Stücke Speck zurückkehrte, brauchte sie Broderick gar nicht erst unter die vorwurfsvollen Dackelaugen treten. Also drückte sie ihren alten Rücken durch, so gut es ging, schob den Fedora zurecht – durch den Filzhut mit der breiten Krempe fühlte sie sich wenigstens etwas größer – und trippelte erhobenen Hauptes durch den Raum.

Die Insassen des Seniorenheimes nahmen scheinbar keine Notiz von ihr, aber hier und da schnappte Adelaide sehr wohl einen verstohlenen Seitenblick auf. Sie durchquerte den Saal mit extra kurzen Schritten, um sich Zeit für eine Analyse zu verschaffen.

Gab es eine Hierarchie? Gangs? Ausgestoßene?

Auf den ersten Blick sah sie nur einen Haufen Rosinen, die wahllos – mal in kleinen Grüppchen, meist jedoch allein – an sechs großen Tischen verstreut saßen. Sie sah rauchgraues Haar, weißes Haar, aschgraues Haar, weißes Haar, silbergraues Haar, weißes Haar … nur ein einzelner rot gefärbter Schopf stach heraus. Widerwillig bemerkte Adelaide, wie gut sich das farblose Gestrüpp auf ihrem eigenen Kopf ins Gesamtbild einfügte.

Zweiundsiebzig Plätze, überschlug sie in Gedanken, während sie den Tisch in der hintersten Ecke ansteuerte, und zählte dann: Zwanzig Einsitzende. Sich selbst rechnete sie nicht mit, immerhin wurde sie in zwei Wochen entlassen.

Sie nahm gegenüber von einem Mann Platz, dessen runzlige Haut sie an Baumrinde erinnerte. Sein weißes Haar war ungekämmt, genauso wie der Zottelbart. Neben ihm lehnte ein Gehstock an der Tischplatte.

Er sah von seinem mit Büroklammern und Zetteln gespickten Notizbüchlein auf und nickte ihr zu. Dann schaute er die junge Frau an, die einen Wagen voller Tabletts herbeirollte.

»Was darf es heute sein, Dr. Uddin?«, fragte die Küchenhilfe mit einem Zahnspangenlispeln. Sie musste um die sechzehn Jahre alt sein.

»Chander«, korrigierte der Doktor. »Du sollst mich doch mit meinem Vornamen anreden, Poppy.« Seine Stimme war hell und leise. Ein Akzent, kaum hörbar, schwang darin mit. Adelaide tippte auf Indisch. »Schwarztee und ein Schälchen Obst, wie immer. Du musst nicht jedes Mal fragen.« Er lächelte, doch seine Augen erreichte dieses Lächeln nicht.

Das Mädchen namens Poppy ging die Beschriftungen der Kannen auf dem Wagen durch und suchte dann umständlich nach dem Tablett mit dem Obstsalat. Mit einem entschuldigenden Nicken servierte sie dem Doktor eine halbe Ewigkeit später sein Frühstück.

»Bis zum Ende der Ausbildung lern ich das noch.« Dann zog sie einen Notizzettel aus der Hosentasche und fragte: »Was möchten Sie gern essen, … Adelaide?«

»Miss Peel.« Adelaide verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Keine Schwäche zeigen am ersten Tag. »Was hast du zu bieten?«

»Ich, äh … Also, es gibt Kaffee, Saft und Tee mit Gebäck …« Die Auszubildende schielte auf die Tabletts und zählte weiter auf: »Außerdem haben wir Rührei, Bacon, Bohnen in roter Sauce … Obstsalat, Porridge, Toast mit Orangenmarmelade und … das wars.« Sie begegnete Adelaides unbeeindrucktem Blick mit einem Achselzucken.

»Tee, Porridge und zwei Portionen Bacon.«

Adelaide ließ sich zu keinem Dank herab, als der Teller voll fetttriefendem Speck, die Schale Haferbrei und eine dampfende Tasse vor ihr abgestellt wurden. Stattdessen sah sie Poppy fest in die Augen, bis diese unruhig vom einen Bein auf das andere trat und sich verzog.

»SIEHST DU DIE NEUE?«, brüllte jemand durch den Saal. »IHRE AURA IST VERKÜMMERT!« Ein kollektives Zischen ertönte, doch die drahtige Sprecherin am anderen Ende des Raumes schien es nicht wahrzunehmen.

Adelaide reckte den Kopf, um zu sehen, wer da gerade ihre Aura beleidigt hatte.

»WIR MÜSSEN SIE MIT OFFENEN ARMEN EMPFANGEN!«, schrie die Frau mit der Blume im Haar und glotzte ungeniert in ihre Richtung. »ICH KANN SPÜREN, DASS SIE UNFREIWILLIG HIER IST!«

»Es ist ja nicht gerade ein Luxushotel«, maulte ein grauhaariger Mann mit Halbglatze vom Nebentisch herüber. Er hatte ein breites Kreuz, trug ein Abzeichen am Pullunder, und seine Stimme dröhnte. Mit einer ruppigen Geste schlug er gegen das Rad seines Rollstuhls. »Manche von uns haben ihr Leben nicht mit Traumfängern und Mandalas verschwendet, sondern etwas geleistet. Da kann man durchaus der Ansicht sein, eine bessere Unterkunft für seinen Lebensabend zu verdienen.«

»WAS HAST DU GESAGT, GILBERT?!«

Er wiederholte seine Antwort brüllenderweise, sodass die Tassen auf den Untertellern klirrten. Adelaide kam sich vor wie in einem Drill-Camp für Soldaten. Es überraschte sie nicht, dass niemand den invaliden General zur Ruhe mahnte.

»Und jetzt schalte endlich deine verfluchten HÖRGERÄTE ein, Ethel Young!«, donnerte er, warf ein Stück Teegebäck nach ihr und traf sie an der Stirn.

»Kopfschuss«, murmelte Adelaide. Vor diesem Gilbert musste sie sich in acht nehmen.

»Ich brauche die Dinger nicht!«, rief Ethel nun mit etwas mehr Zurückhaltung, aber immer noch unüberhörbar. »Geistige Größe kann körperliche Gebrechen unsichtbar machen – Tschuang Tse! NICHT WAHR, CHANDER?!«

Der Doktor senkte sein Gesicht etwas tiefer über das Büchlein und tat so, als habe er die Frage nicht gehört.

»So einen Murks lernt man im Medizinstudium?«, fragte Adelaide.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich bin in Neu-Delhi geboren. Deswegen glaubt Ethel, ich könnte mit ihren buddhistischen Weisheiten etwas anfangen.«

Ein esoterischer Alt-Hippie also. Adelaide rümpfte die Nase. Um die machte sie besser ebenfalls einen Bogen.

»AUSSERDEM WILL ICH GAR NICHT MIT DIR REDEN, GILBERT! DEINE ENERGIE IST JA KAUM AUSZUHALTEN!«, ließ Ethel beleidigt verlauten. »ICH UNTERHALTE MICH MIT COUSINE CAROL! DIE VERSTEHT MICH OHNE WORTE!« Sie schloss die Augen und faltete die Hände vor der Brust. Ihr runzliges Gesicht wurde ganz friedlich.

»Ist sie eingeschlafen?«, wollte Adelaide wissen.

»Sie, ähm, unterhält sich mit dem Geist ihrer verstorbenen Cousine«, erklärte Dr. Uddin etwas peinlich berührt. »Ein Verdrängungsmechanismus, nehme ich an. Unverarbeitete Trauer.« Er zuckte mit den Schultern.

Adelaide nippte an ihrem Tee und nahm einen Löffel Porridge. Eins wässriger als das andere. Gerade wollte sie Poppy heranwinken, um etwas Neues zu bestellen, da öffnete sich die Tür zum Speisesaal und eine röchelnde Rauchwolke schwebte herein.

Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Adelaide die kugelrunde Frau mit Lederhaut in den Schwaden. Sie hielt in jeder Hand eine Zigarette, und ein weiterer Glimmstängel klemmte in ihrem Mundwinkel. Zielstrebig steuerte sie den nächsten Tisch an.

»Besetzt«, wurde die Rauchwolke von einer weichen Frauenstimme abgewiesen, sie nahm aber dennoch Platz. »Wollen Sie mich beleidigen?«, rief die Frau und erhob sich mit einer theatralischen Geste.

Adelaide neigte den Kopf und linste an dem Doktor vorbei. Die empörte Dame – anders konnte man sie nicht bezeichnen – trug einen Rock mit goldenem Webmuster, dazu eine Seidenbluse, eine Pelzstola und um den Kopf ein buntes Tuch gewickelt. Sie massierte mit behandschuhten Fingern ihre Schläfen und verzog die tiefviolett geschminkten Lippen.

»Samantha! Ich lasse mir von Ihrem Gequarze weder den Appetit noch die Stimmbänder ruinieren«, verkündete sie.

Obwohl sie nicht schrie, füllte ihre Stimme den gesamten Speisesaal aus. Ein Zucken der Augenbrauen, ein Stampfen mit dem Fuß, und alle Köpfe wandten sich der Dame zu. Ihre Präsenz war raumgreifend. Fast rechnete Adelaide damit, dass ein Scheinwerfer auf sie gerichtet wurde. Das musste die Sopranistin sein.

»Sei nicht so eine Diva, und setz dich woanders hin«, krächzte Samantha und steckte sich eine Zigarette, die erloschen war, wieder an.

Die Diva hob anklagend den Arm. »Das hier ist mein Tisch. An jedem Dienstag mit ungeradem Datum …«

Samantha unterbrach sie mit einem Husten. »Liebes, kein Mensch kann sich all deine Marotten merken. Kein Tee an einem Mittwoch, nichts Grünes an einem Donnerstag …«

»Freitag!«

Adelaide warf Doktor Uddin einen fragenden Blick zu, und als er nicht reagierte, räusperte sie sich. Er sah von seinem Buch auf und blinzelte, wie aus einem Traum geweckt. »Oh. Ilena Dragomir, rumänische Opernsängerin«, erklärte er. »Sie ist abergläubisch.«

»Wie auch immer«, paffte Samantha, und Ilena zückte einen Fächer, mit dem sie den Rauch zu seiner Urheberin zurückwedelte. »Wenn’s dir nicht passt, dass ich hier frühstücke, verzieh dich in den Ballsaal und träller eine Arie darüber.«

»An einem Dienstag!«, kreischte Ilena. »Willst du uns alle ins Verderben stürzen?! Nicidecum!«

»Sprich unsere Sprache, oder geh dahin zurück, wo du herkommst.« Der Mann im Unterhemd, der an einem der mittleren Tische saß, blickte nicht von der Zeitung auf, während er sprach. Er leckte an seinem Daumen und blätterte um.

»Was hat der Bierbauch für ein Problem?«, fragte Adelaide und musterte den Zeitungsleser.

Er besaß ein aufgeschlossenes Knitter-Gesicht, auch wenn sein Schnauzbart etwas verwahrlost ausschaute, und eine freundliche Stimme. Seine Worte hatten beiläufig geklungen, als lese er eine Annonce vor. Aber das, was er gesagt hatte, war …

»Eine Unverschämtheit«, zischte Ilena und hielt ihren Fächer vor sich ausgestreckt wie eine Waffe. »Ich lebe seit Jahrzehnten in England und habe es davor auf meinen Tourneen unzählige Male besucht. Ganze Konzerthäuser habe ich gefüllt, Benefizgalas unterstützt, Menschen inspiriert!« Ein feiner Akzent schimmerte durch ihre volltönende Stimme hindurch. »Ich bin seit jeher willkommen in diesem Land, und daran werden Ihre kleingeistigen Ansichten nichts ändern, domnul Arnold. Absolut nimic!«

Der Bierbauch sah noch immer nicht von seiner Zeitung auf, doch sein linker Mundwinkel wanderte nach oben. »Sie waren willkommen als Gast, nicht als Schmarotzerin. Was tun Sie denn noch für unsere Gesellschaft? Außer sich durchfüttern zu lassen und …«

Das Donnern der Tür übertönte seine Worte. Ilena Dragomir war aus dem Speisesaal gerauscht.

Mit einem selbstgefälligen Grinsen schob Arnold sich einen Löffel gebackener Bohnen in den Mund.

»ICH SPÜRE SCHLECHTE ENERGIEN!«, schrie Ethel. »HIER BRAUT SICH EIN STREIT ZUSAMMEN!«

Der Doktor neigte sich Adelaide zu und senkte die Stimme. »Man merkt es ihm nicht unbedingt an, aber Arnold ist dement.«

»Und Demenz macht einen zum Arschloch?« Sie rührte vier Löffel Zucker in ihren Tee und probierte ihn erneut.

Dr. Uddin zuckte zusammen und flüsterte: »So hätte ich es zwar nicht formuliert, aber ja, unter Umständen kann sie das. In Arnolds Fall … Nun, die Veranlagungen waren wohl schon da. Aber durch die Krankheit kann er seine Ansichten nicht mehr reflektieren und auch seine Impulse nicht kontrollieren.«

»Halt die Schnauze, Mogli«, bat Arnold in absurd freundlichem Tonfall.

Adelaide stellte die Tasse so schwungvoll auf den Tisch zurück, dass der Tee überschwappte.

Sie fangen keinen Streit an, geisterte die Forderung des Heimleiters durch ihren Kopf. Doch sie merkte, wie sich ein bissiger Protest den Weg ihre Kehle hinaufbahnte.

Jemand schrie.

Dann flog die Tür zum Speisesaal auf, und eine kreischende Frau kam hereingerannt. Schlohweißes Haar und ein Nachthemd umflatterten ihren sehnigen Körper. Die nackten Füße patschten über den Linoleumboden, den man auf den Dielen ausgerollt hatte, und sie lief heulend um die Tische wie ein Schlossgespenst.

»Sybill!« Eine Pflegerin hechtete ihr hinterher, rannte in der entgegengesetzten Richtung um den Tisch herum und schnitt ihr den Weg ab. »Sybill, bitte beruhige dich.« Sie umfasste sanft die Schultern der Seniorin und redete auf sie ein. »Alles gut, ich tu dir doch nichts. Hab keine Angst.«

Nola Jelani, erinnerte Adelaide sich, das war der Name der jungen Frau. Die Altenpflegerin hatte sie gestern bei ihrer Ankunft in Three Willows begrüßt und die nach Rauch stinkenden Kisten und Koffer entgegengenommen. Ihre hüftlangen schwarzen Haare trug sie heute zu einem Zopf geflochten.

»D-du kannst mir nicht verbieten, in den Garten zu gehen«, stammelte Sybill. »Das ist Freiheitsberaubung!«

Adelaide brummte zustimmend. Endlich jemand, der ihre Ansichten teilte.

»Sybill ist senil«, wisperte der Doktor, und Adelaide stellte das zustimmende Brummen ein.

Klar im Kopf, hatte Reginald Ward betont, musste sie sein, um entlassen zu werden. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken bei dem Gedanken, man könnte sie fälschlicherweise für senil halten und auf ewig hier einsperren.

»Ich verbiete dir lediglich, auf Bäume zu klettern. Das ist gefährlich«, erklärte Nola geduldig und führte Sybill zu einem freien Platz.

»Wenn die hinter mir her wäre, würde ich auch vor Schreck auf einen Baum steigen«, lachte Arnold in seine Zeitung hinein. »Vielleicht dachte sie, ein fetter Bär wäre hinter ihr her.«

Adelaide durchschaute ihn inzwischen genug, um zu verstehen, dass er nicht nur auf die kurvige Figur, sondern vor allem auf die sanft braune Hautfarbe der Pflegerin anspielte.

Nola ignorierte den Kommentar. Sie winkte Poppy mit dem Essenswagen herbei, damit die senile Sybill ihren Haferbrei bekam, und ließ den Blick durch den Raum wandern. Kurz blieb ihre Aufmerksamkeit an Adelaide hängen.

Dann hob sie die Stimme: »Meine Lieben, ich habe etwas zu verkünden.«

Nicht doch! Adelaide gab ihr mit einer halsabschneidenden Geste zu verstehen, dass sie sich gar nicht erst die Mühe machen sollte, sie vorzustellen.

Nola sah die Handbewegung, und für einen Moment entglitten ihr die Gesichtszüge. Dann runzelte sie die Stirn und fuhr fort: »Ich möchte euch mitteilen, dass …«

»WAS HAT SIE GESAGT?!«, schrie Ethel.

Die quarzende Samantha stieß ein Zischen aus, und eine Rauchwolke zog durch den Speisesaal.

»Trag deine verdammten Hörgeräte!«, bellte Gilbert.

Adelaide hatte genug von dieser altersschwachsinnigen Gesellschaft. Sie nahm ihren Bacon und erhob sich. Ein fettiger Sud hatte sich auf dem Teller gebildet, und sie balancierte ihn mit größter Vorsicht. Broderick würde vor Freude einen Luftsprung machen, sofern seine steifen Beinchen es zuließen.

Als Nola sich räusperte, trippelte Adelaide schneller, um ihre Beute in Sicherheit zu bringen. Wenn der Dackel nicht zeitig frühstückte, übersäuerte sein Magen, und mit Sodbrennen war er unerträglich.

»Ich habe eine traurige Mitteilung zu machen. Ihr alle wisst ja von Hazel Wards Krankheit. Sie ist gestern Nacht gestorben.«

Adelaide hielt inne.

Hazel. Der Name stand an ihrer Nachbartür. Und Ward hieß doch der Leiter des Heimes. Die Frau mit den nächtlichen Hustenanfällen …

»Wir alle sind geschockt und traurig.« Nolas Stimme klang belegt. »Hazel hat viel für diese Stadt getan. Sie hat Chestnut Grove mit ihren sozialen Projekten geprägt. Und sie hinterlässt ein wundervolles Vermächtnis.« Mit einer ausladenden Geste bedachte sie den Speisesaal, der durchaus eindrucksvoll war mit seinen hohen Decken, dem Stuck, den Kristallleuchtern und den Flügeltüren. Doch die Jahrzehnte der Vernachlässigung hatten alles mit einer grauen Patina aus Staub und Verschleiß überzogen. Von den Türen blätterte die grüne Farbe, hinter den angelaufenen Fensterscheiben konnte man den Garten nur erahnen, und an den Lampen hingen zerfetzte Spinnennetze.

Ein Schniefen erklang. Dr. Uddin wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. Auch in den Gesichtern der anderen Anwesenden erkannte Adelaide Beklommenheit. Nur die Rothaarige musterte teilnahmslos ihren Obstsalat, und Ethel runzelte die Stirn und hielt ihre flachen Hände an die Ohrmuscheln.

»Hazel ist tot!«, schrie der General sie an.

Da verdüsterte sich auch ihre Miene. Sie kramte in ihrer Handtasche und steckte sich zwei Hörgeräte in die Ohren. Dann verkündete sie in unerwartet gemäßigter Lautstärke: »Wasser erstarrt zu Eis, Eis schmilzt zu Wasser. Was geboren ist, stirbt wieder. Was gestorben ist, lebt wieder. Wasser und Eis sind letztlich eins. Leben und Tod, beides ist gut so.«

»Schwachsinnige alte Hexe«, flüsterte Arnold direkt neben Adelaide in seine Zeitung.

»Das hab ich gehört!«, rief Ethel von der anderen Seite des Saales aus. Sie faltete erneut die Hände vor der Brust und schloss die Augen. Ob sie einen Plausch mit der frisch Verstorbenen abhalten wollte?

Sybill schluchzte auf und heulte: »Sie war noch so jung!«

Nola strich ihr über den Rücken. »Ich weiß, Hazels Tod kommt überraschend. Wir haben gehofft, dass sie den Kampf gegen den Krebs gewinnt.«

Sybill schnäuzte in den Ärmel ihres Nachthemdes und blinzelte zu Nola hoch. »Wer ist Hazel noch gleich?«

»Die Frau aus dem Nachbarzimmer«, murmelte Adelaide zu sich selbst. Gestern Nacht hatte sie die Kranke noch husten gehört, und dann … war es still geworden. Sie dachte an die Schritte auf dem Gang, an den flatternden Morgenmantel.

»Wahrscheinlich ist ihr Herz stehen geblieben.« Arnold leckte erneut über seinen Daumen und blätterte die Zeitung um. »Kein Wunder. Wenn man frühmorgens von so einem Gesicht geweckt wird, da kriegt man’s mit der Angst zu tun.«

Der Teller voll fettigem Speck begann, in Adelaides Hand zu vibrieren. In all den Jahren seit ihrer Pensionierung, in denen sie mit Broderick allein gelebt hatte, war ihr ganz entfallen, wie es sich anfühlte, jemanden zu verachten. Das Gefühl war säuerlich, scharf und irgendwie erfrischend.

Sie griff nach der Zeitung, und das Papier zerriss, als sie es Arnold aus der Hand schlug. »Immerhin wurde sie nicht von einer aschfahlen Visage mit Popelbremse unter der Nase geweckt.«

Arnold fasste sich an den Schnauzbart. Adelaide beobachtete zufrieden, wie seine Nasenflügel bebten und die buschigen Augenbrauen sich zusammenschoben.

»Hazel ist friedlich eingeschlafen, und so sollten wir heute auch miteinander sein. Friedlich«, wiederholte Nola Jelani und lächelte dünn.

Adelaide war fasziniert von ihrer Gelassenheit. Es musste an Folter grenzen, sich nicht gegen die Sprüche der dementen Arschgeige wehren zu dürfen.

Arnold war derweil an seinem breiten Grinsen anzusehen, dass er glaubte, mit einer angemessenen Erwiderung aufwarten zu können. »Zumindest sind meine Finger sauber.« Er fuchtelte vor Adelaides Gesicht herum und deutete dann auf die Pflegerin. »Wer kann schon sagen, wann sie ihre Hände das letzte Mal gewaschen hat? Sie sollte Handschuhe tragen, wenn sie Kranke behandelt.«

Nola schnappte nach Luft. Ihre Fäuste zitterten, doch sie sagte und unternahm nichts. Deshalb beschloss Adelaide, dass es an der Zeit für ein kleines Missgeschick war.

Sie trippelte zwei Schritte, wankte nach links, imitierte ein Stolpern und entleerte den Bacon-Teller über Arnolds Kopf. »Hoppla.«

Die Fleischstreifen landeten mit einem Klatschen auf der Halbglatze, während der fettige Sud ihm über das Gesicht, in die Ohren und den Nacken entlanglief.

Arnold stieß einen Fluch aus und fuhr sich mit den Händen über den Kopf, wobei er das glänzende Fett nur weiter verteilte. Es durchtränkte den Saum seines Unterhemdes und tropfte auf die Hose. Um ihn herum regneten Speckstücke zu Boden.

Der Doktor hüstelte, die Rauchwolke johlte, selbst die Rothaarige schaute schmunzelnd von ihrem Obstsalat auf, und der General stieß ein schadenfrohes »Ha!« aus. Nur die Esoterikerin verzog das Gesicht und fasste sich an die Stirn. »Nola, bitte sag ihnen, dass sie leiser sein sollen. Ich kann diesen Lärm nicht ertragen.«

Doch Nola hatte sich abgewandt und den Mund mit beiden Händen bedeckt. Ob vor Entsetzen oder Belustigung war schwer zu sagen. Aber Adelaide fiel ein verdächtiges Beben ihrer Schultern auf.

Sie nutzte die Gunst der Stunde und verzog sich aus dem Speisesaal, bevor die Pflegerin oder Arnold die Fassung wiedererlangten. Es gab schließlich noch tragische Nachrichten zu überbringen, und damit wartete man besser nicht.

Adelaide musste dem Heimleiter von Three Willows mitteilen, dass seine Mutter ermordet worden war.

 

»Meine Mutter wurde was?«

»Er-mor-det«, wiederholte Adelaide zum dritten Mal. Ihr war klar, dass man mit Hinterbliebenen geduldig sein musste. Aber dieses Exemplar weigerte sich regelrecht, das Offensichtliche einzusehen.

Reginald Ward sah blass und müde aus. Der Blick seiner rot geränderten Augen huschte ziellos im Büro umher. »Miss Peel, ich habe viel zu tun. Ich muss …« Er schien etwas im Kopf zu überschlagen. »Die Todesanzeige, die Trauerfeier, der Blumenschmuck – das will alles organisiert werden. Der Termin mit dem Testamentsvollstrecker, der Grabstein, die Zukunft von Three Willows!« Seine Stimme schraubte sich in die Höhe, während er mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. Beim letzten Wort kreischte er fast.

Mit einem langgezogenen Ausatmen ließ er sich in seinen Sessel zurückfallen und legte beide Hände – sie zitterten – auf sein Haar. Leise und etwas heiser fuhr er fort: »I-ich dachte nicht, dass sie so schnell von uns geht. Jetzt liegt das Schicksal dieser Einrichtung, das Potenzial, das in diesen Mauern steckt, ganz allein in meiner Verantwortung. Ich muss …« Er räusperte sich und schüttelte den Kopf, als habe er gerade erst bemerkt, dass Adelaide anwesend war. »Entschuldigen Sie, Miss Peel. Ich habe momentan keine Zeit für …« Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an.

»Für den Mordfall Ihrer Mutter«, half sie ihm auf die Sprünge. Er schien wirklich nicht ganz bei sich zu sein.

»Bei allem Respekt, meine Mutter war krebskrank.«

Adelaide brummte. »Seit wann schützt Krebs vor Mord?«

»Meine Mutter war weit über achtzig. Sie wissen doch, in diesem Alter …« Er bremste sich. »Sie hatte sich in der letzten Woche eine Erkältung zugezogen. Bei einer alten Dame mit schwachem Immunsystem kann das …«

»Ihrem Mörder Deckung geben!«, fiel Adelaide ihm ins Wort. »Ich habe Hazel Wards Husten gehört. Dann waren da Schritte. Jemand rannte über den Gang und danach: Stille. Totenstille.« Sie hob die Augenbrauen.

Ward zuckte mit den Schultern.

»Der Mörder oder die Mörderin ist gestern Nacht in ihr Zimmer geschlichen!« Adelaide konnte nicht fassen, dass sie ihm das erklären musste. Die Trauer schien ihn konfus zu machen. »Ist das so schwer zu verstehen? Ich bin eine Augenzeugin. Ich habe die Person fliehen gesehen!«

Der Heimleiter schaute auf seine Uhr, eine Rolex, die verdächtig nach golden angemaltem Plastik aussah, und erhob sich. »Miss Peel, Sie sehen Gespenster. Wenn ich ehrlich sein soll, besorgt mich das. Ich werde Ihnen nicht attestieren, dass Sie bedenkenlos allein leben können, wenn Sie sich in solche Ideen hineinsteigern.«

Adelaide öffnete den Mund. Und klappte ihn wieder zu. Dieser Möchtegern-Schnösel konnte von Glück reden, eine erfahrene Kriminologin in seinem Haus zu beherbergen. Und wie dankte er ihr? Mit einer Drohung!

»Ich lasse mich nicht einsperren«, grollte sie, legte eine flache Hand auf den Schreibtisch und beugte sich zu ihm herüber. Die Geste wäre eindrucksvoller gewesen, wenn ihr die Schreibtischkante nicht bis an die Brust gereicht hätte.

»Entschuldigen Sie meine deutlichen Worte«, seufzte Ward. »Ich stehe vor einigen großen Entscheidungen, die mich sehr unter Druck setzen. Bitte, nehmen Sie sich ein Biskuit, und bereden Sie Ihre Sorgen mit Miss Jelani.« Sobald ihm der Name der Pflegerin über die Lippen kam, trat ein verträumter Ausdruck auf sein Gesicht. »Bestimmt kann Nola Ihre Bedenken zerstreuen. Sie ist eine erstklassige Fra… ich meine Fachkraft.« Mit einem flehenden Lächeln wedelte er mit der Hand in Richtung Tür.

Adelaide musterte die bunte Blechkeksdose auf dem Tisch. Sie dachte an Brodericks Frühstück, das sie auf dem Kopf der rassistischen Popelbremse verteilt hatte. Der Dackel musste inzwischen ganz ausgehungert sein. Wahrscheinlich würde er wieder ein Magengeschwür vortäuschen, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.

Sie nahm den Deckel der Keksdose ab und entleerte den krümeligen Inhalt in ihre Handtasche. Dann nickte sie Ward zu und verabschiedete sich mit den Worten: »Schließen Sie Ihr Zimmer nachts ab, wenn Sie an Ihrem Leben hängen.«

 

Brodericks Schmatzen war bis auf den Flur hinaus zu vernehmen. Adelaide lief es eiskalt den Rücken herunter. Jemand fütterte ihren Hund.

Sie stürmte zur Zimmertür, so schnell ihre trippelnden Schritte es zuließen, und stieß sie auf. »Eine falsche Bewegung, und ich knall dich ab!«, blaffte sie.

Leider besaß sie keine Pistole, mit der sie dieses Versprechen untermauern konnte. An das Messer im Schuh kam sie auf die Schnelle nicht dran. Und so fuchtelte sie nur drohend mit ihrer Handtasche herum.

Keksstücke und -krümel rieselten durch die Luft, doch Broderick schenkte dem Gebäckregen keine Beachtung. Er hatte sein Köpfchen tief in einer Suppenschüssel versenkt und grunzte selig.

Nola Jelani wandte sich von der Heizung ab und hob mit gespieltem Entsetzen die Hände, in denen sie einen Lappen und einen Schraubenzieher hielt. »Kein Grund, gleich das Feuer zu eröffnen«, lachte sie. »Ich entlüfte nur den Heizkörper.«

»Was frisst er da?!«, wetterte Adelaide.

»Hirsebrei. Glutenfrei und bekömmlich«, erklärte die Pflegerin gut gelaunt.

»Wer hat Ihnen erlaubt, meinen Hund zu füttern?«

»Wer hat Ihnen erlaubt, einen Hund mit hierher zu bringen? Reginald wird nicht begeistert sein.«

Touché.

Adelaide musterte die Altenpflegerin. Ihr schiefes Grinsen, die gehobene Augenbraue.

»Leg dich nicht mit mir an, Mädchen«, raunte sie und ärgerte sich über das Lachen, das sie zur Antwort bekam.

»Mein Name ist Nola. Wenn Sie wollen auch Miss Jelani, aber sicherlich nicht Mädchen. Nicht Kleine, nicht Liebes und nicht Schätzchen. Verstanden, Miss Peel?«

»… Adelaide«, bot sie nach kurzem Zögern an und ließ die Handtasche sinken. »Also, Nola, wie viel?«

»Bitte?«

»Tu nicht so scheinheilig. Jeder Mensch ist käuflich. Nenn mir deinen Preis für zwei Wochen Schweigen.« Sie hoffte inständig, dass die Pflegerin nicht wusste, dass ihr gesamter Besitz sich in Rauch und Asche aufgelöst hatte.

»Tut mir leid. Ich kann meinem Vorgesetzten nicht verschweigen, dass sich ein Tier im Haus befindet. Schon allein wegen der Hygienebestimmungen und möglicher Allergien.«

Adelaide schnalzte anerkennend mit der Zunge. Das Mädchen wusste, wie man verhandelte. »Ich halte dir die Popelbremse vom Hals. Wenn ich mit ihm fertig bin, verkneift er sich die Sprüche. Das kann ich dir versprechen.« Sie ließ ihre Fingerknöchel knacken, und bereute es sofort. Das tat weh.

»Um Himmels willen, ich kann nicht noch mehr Konflikte gebrauchen!«, rief Nola. »Diesen Haufen Streithähne zu hüten ist schon anstrengend genug, seit meine Kollegin in Rente gegangen ist.«

»Was willst du dann? Informationen? Personenschutz?«

»Personenschutz?«

»Mädchen, hier läuft ein Mörder frei herum!« Mit einer ruppigen Kopfbewegung deutete Adelaide auf das Zimmer nebenan. »Ich kann ihn – oder sie – überführen, wenn du willst. Aber dafür erwarte ich Verschwiegenheit. Und ich benötige deine Kooperation, immerhin bin ich nur bis zur Mitte des Monats hier.«

Nola schien einen Moment zu brauchen, um das Gesagte zu verarbeiten. Sie war so perplex, dass ihr nicht einmal das Mädchen auffiel. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Hazel Ward hatte Krebs. Hier gibt es keinen Mörder.«

Adelaide hob ihren knubbeligen Zeigefinger. »Genau das würde eine Mörderin sagen.«

Nola lachte. »Das hier ist keiner deiner Raymond-Chandler-Romane.« Sie zeigte auf das Bett, auf dem Der tiefe Schlaf lag. »In Three Willows sterben die Menschen an Altersschwäche und an Krankheit. Da steckt nichts Mysteriöses dahinter, erst recht kein Mord.«

»Auch das …«

»Würde eine Mörderin sagen. Schon klar.« Mit einem leichtfertigen Kopfschütteln legte Nola den Schraubenzieher zurück in ihren Werkzeugkasten und klappte ihn zu. »Ich will vor dem Lunch noch Gilbert zur Physiotherapie überreden, also lass uns das Ganze folgendermaßen abkürzen: Ich verliere kein Wort über deinen illegalen Mitbewohner und besorge Futter für ihn. Aber nur zwei Wochen lang. Wenn du länger bleibst, muss ich ihn melden und Regi wird ein neues Zuhause für ihn suchen.«

»Ich verbringe nicht einen Tag länger hier als nötig. Nur über meine Leiche«, pampte Adelaide.

Nola tätschelte im Vorbeigehen ihre Schulter. »Das wollen wir mal nicht hoffen. Eine Tote reicht mir fürs Erste.«

»Was willst du für dein Schweigen?«