After Dawn – Die verborgene Welt - Lars Meyer - E-Book

After Dawn – Die verborgene Welt E-Book

Lars Meyer

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Beschreibung

»Unser Leben ist nicht leicht. Aber es ist das einzige, das ich kenne – jetzt habe ich Angst, dass uns selbst das genommen werden könnte.« Die Welt ist vergiftet, in Dornwall haben sich die Bewohner dem unwirtlichen Leben angepasst. Ohne Schutzanzug, Atemfilter und Luftprüfer wagt sich niemand aus der Stadt heraus. Als das Dorf von einem stählernen Koloss und feindlichen Soldaten angegriffen wird, ändert sich das Leben der 15-jährigen Ember von heute auf morgen: Die Einwohner Dornwalls werden gefangen genommen und auch Embers Vater, ihre Geschwister Mina und Ceren und ihr Freund Ryan werden verschleppt – das Dawn-Imperium braucht Arbeiter für die Wandernde Stadt. Ember begibt sich zusammen mit fünf Gefährten auf eine gefährliche Reise mit ungewissem Ausgang – sie hat nur ein Ziel vor Augen: ihre Familie zurückzuholen. Doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch ... - Dieses Jugendbuch ist ein Pageturner! – Lars Meyers Erzählstil ist gradlinig und packend - Embers Suche nach ihrer entführten Familie und ihr Kampf ums Überleben entwickeln einen atemlosen Sog - Spannendes Setting: Wandernde Städte, verlorene Wälder, Staubstürme und eine unterirdische Welt - Für Fans von Die Tribute von Panem, Vortex, Maze Runner, The Loop »In der Schule wurde uns erzählt, dass es irgendwann mehrere Milliarden von Menschen gab, die so viele Maschinen benutzten, dass die Energie nicht mehr reichte und aller Treibstoff schließlich aufgebraucht war. Das war der Grund, aus dem sie anfingen, zu kämpfen. Und dann starb die Welt. Milliarden von Menschen. Das klingt für mich unvorstellbar. In Dornwall leben nicht einmal achthundert. Und es ist eine der größeren Städte.« Bände der Trilogie "After Dawn": After Dawn – Die verborgene Welt (Band 1) After Dawn – Die wandernde Stadt (Band 2) After Dawn – Der fließende Kristall (Band 3 – erscheint Herbst 2023) Stimmen zu "After Dawn – Die verborgene Welt": »Woah, bin ich geflashed! Dieses Buch liest man wirklich mit Herzklopfen vor lauter Spannung. Und zwar ab der ersten Seite!« Marsha Kömpel, Mutter & Söhnchen-Blog »Lars Meyer überzeugt mit toughen Charakteren, unerwarteten Wendungen und einer dystopischen Welt, die beim Lesen lebendig wird « Kilifü - Almanach der Kinderliteratur 2022/23 »spannend und bildgewaltig « Mandys Bücherecke »After Dawn – Die verborgene Welt war mein Buchhighlight 2022 « Lisa, Amazon-Rezension

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Seitenzahl: 425

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Originalcopyright © 2022 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Lars Meyer

Umschlagillustration: Lucas Schmat

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-201-1

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Mehr vom Südpol Verlag auf:

www.suedpol-verlag.de

Inhalt

Der Verlorene Wald

Dornwall

Flucht

Verlust

Entscheidung

Die Spur

Der Feind

In der Wüste

Skulls

Die Schlucht

Allein

Dunkelheit

Devan

Yalla

Unter einem Himmel aus Stein

Das Beben

Der Verlorene Wald

Ich höre ein trockenes Knacken irgendwo vor mir im Wald. Sofort halte ich inne. Mein Blick huscht über gräuliche Baumstämme, knorriges Gebüsch und den mit Moos und Pilzen bewachsenen Boden. Ich kann den Verursacher des Geräusches nicht entdecken, aber dennoch rühre ich mich nicht. Der Verlorene Wald vergibt keine Fehler. Die Narben an meinem rechten Arm erinnern mich oft genug daran.

Neben mir raschelt es leise. Ryan. Ich muss ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er unsere Umgebung ebenfalls genau beob­achtet. Dies ist nicht das erste Mal, dass wir durch den Verlorenen Wald streifen. Ich kann mich auf ihn verlassen – und er sich auf mich.

Erneut ein Knacken. Näher diesmal. Meine Muskeln spannen sich wie von selbst an. Kampf oder Flucht. Ich bin für beides bereit.

Aus einem dornigen Gestrüpp nicht weit von uns entfernt kommt eine rote Echse gekrochen. Ihre lange Zunge schnellt nervös aus ihrem Maul, die Luft prüfend. Dann macht sie blitzschnell kehrt und verschwindet wieder in dem Gebüsch, aus dem sie gekom­men ist. Sie wird uns gewittert haben. Ich entspanne mich. Von der kleinen Echse geht keine Gefahr für uns aus.

»Sollen wir sie jagen?«, will Ryan wissen, wobei er sich bereits nach der Armbrust umsieht, die griffbereit am Sattel seiner Reit­echse hängt.

Ich schüttele den Kopf. »Das kostet nur Zeit. Gehen wir lieber weiter.«

Ich weiß, wie gerne er jagt. Sein Vater war Jäger und Ryan möchte auch einer werden. Seine Mutter ist darüber nicht glücklich. Kein Wunder, wahrscheinlich befürchtet sie, er könne so enden wie sein Vater. Getötet von Skulls.

Ryan zögert noch einen Augenblick, zuckt dann aber mit den Schultern und führt Blitz am Zaumzeug hinter sich her. Ich setze mich ebenfalls in Bewegung. Chan-Chan folgt mir, ohne dass ich sie dazu auffordern muss. Einmal mehr frage ich mich, warum ich meiner Reitechse keinen besseren Namen gegeben habe. Blitz hört sich gut an. Chan-Chan wirkt so ... niedlich. Allerdings war die winzige Echse, die damals aus dem Ei gekrochen ist, auch einfach niedlich. Und ich war acht. Was soll man von einer Achtjährigen erwarten, die etwas Niedliches sieht?

Jetzt bin ich fünfzehn und Chan-Chan würde ich nicht mehr als niedlich bezeichnen. Die grüne Echse mit dem langen roten Strich auf dem Rücken, die so klein war, dass ich sie problemlos in meinen Händen halten konnte, wiegt inzwischen ein Mehrfaches meines Gewichts und ist so groß, dass ich auf ihrem Rücken reiten kann. Aber ich glaube nicht, dass sie jetzt plötzlich auf einen anderen Namen hören würde.

»Chan-Chan.«

Schon ist sie bei mir und schiebt ihren schuppigen Kopf unter meine Hand. Ich streiche über ihren rauen Schuppenpanzer und die Tabi brummt genüsslich.

Wir kommen nur langsam voran, denn in diesem Teil des Wal­­­des sind wir noch nie gewesen. Meist sammeln Ryan und ich dort, wo wir uns auskennen. Wir wissen, wo wir Schleierflechten, Dun­kel­­moos, Zevi-Pilze und viele andere Heilpflanzen finden können. Schon seit fast zwei Jahren arbeiten wir an einer Karte des Ver­lo­renen Waldes, auf der wir die sichersten Routen und ergiebigsten Sammelplätze vermerken. Jeder Sammler hat eine Karte und je aus­­führlicher sie ist, desto leichter wird die Arbeit.

Meine Mutter hatte eine sehr detaillierte Karte, viel genauer als unsere und ein weitaus größeres Gebiet erfassend. Es macht mich immer noch wütend, dass mein Vater sie nach dem Tod meiner Mutter verkauft hat. Als Wächter verdient er genug. Wir hätten das Geld nicht gebraucht. Manchmal frage ich mich, ob er die Karte nur weggegeben hat, damit ich nicht auch Sammlerin werde. Er war nicht besonders glücklich, als ich damit anfing, den Wald zu erforschen. Aber er hat es mir auch nicht verboten.

Wir umgehen in einem weiten Bogen eine Schwindsand-Senke. Ryan notiert die Stelle auf unserer Karte, während ich ein Symbol in die harte Rinde eines Baumes kratze, das andere vor der Gefahr warnen wird. Sammler konkurrieren miteinander, doch wir helfen uns auch gegenseitig.

Der Untergrund wird feuchter. Ein gutes Zeichen. Blaupilze mö­­gen es feucht. Ich befürchte bereits, den Mund zu voll genommen zu haben, als ich der alten Drea versprach, ihr einen Beutel mit den seltenen Pilzen zu bringen, deren heilende Kräfte bei vielen Krank­­heiten hilfreich sind. Allerdings bietet der feuchte Boden nicht nur Blaupilzen eine Lebensgrundlage. Ich entdecke mindestens ein Dut­zend giftige Pflanzen in der Nähe. Wie von selbst fällt mein Blick auf den Luftprüfer an meinem Gürtel. Die Anzeige des kleinen Gerätes bleibt grün – die Luft ist sauber. Erleichtert atme ich ein.

»Ember!« Ryan, der ein Stück vor mir geht, deutet auf eine von kahlen Ästen überdachte Insel, die von dunklem Wasser umgeben ist. Der Boden der Insel ist voll von blauen Pilzen. »Genau das, was wir gesucht haben.«

Nur leider gibt es keinen Weg auf die Insel. Sie liegt ziemlich exakt in der Mitte des zwar nicht sonderlich großen, aber wenig ein­­ladend aussehenden Sees. Wir umkreisen das Gewässer in der Hoff­­nung, doch irgendeine Möglichkeit zu finden, trockenen Fußes auf das Eiland zu gelangen. Vielleicht eine flache Stelle oder ein paar passend platzierte Steine. Nichts. Lediglich die fast schwarz wir­­kende Wasseroberfläche, die hin und wieder vom kühlen Wind auf­­gewühlt wird.

»Wir könnten schwimmen«, sage ich mit wenig Begeisterung. Ich habe keine Angst vor Wasser, aber etwas an diesem See gefällt mir nicht.

In der Nähe steht ein vertrockneter Baum, von dessen Stamm ich einen langen, morschen Ast abbreche. Mit dem Ast stoße ich ins Wasser. Schon einen Meter vom Ufer entfernt ist es so tief, dass ich den Grund kaum erreiche. Ich versuche es an einer anderen Stelle; das Ergebnis ist das gleiche.

Ryan holt aus Blitz’ Satteltasche einen Wassertester, kniet sich ans Ufer des Sees und hält das längliche Gerät hinein. Es dauert nur Sekunden, bis die Anzeige am oberen Ende des Testers grün wird. Das Wasser ist unbelastet und stellt somit kein Risiko für uns dar.

»Ich glaube nicht, dass wir anderswo eine bessere Stelle finden.«

Mein Blick gleitet zur Insel, auf der die Blaupilze sich verlo­­ckend in Richtung des grauen Himmels recken. Ryan hat leider recht. Dies ist ein seltener Fund. Wären die Pilze nicht vom See geschützt, hätten die wilden Tiere, die den Verlorenen Wald als Heimat ansehen, sie längst zu einer willkommenen Mahlzeit gemacht.

»Versuchen wir’s.«

Wenigstens müssen wir nicht selbst durch den See schwimmen. Tabis sind sehr gute Schwimmer. Auf den Rücken von Chan-Chan und Blitz haben wir die Insel innerhalb kurzer Zeit erreicht. Wäh­rend Ryan und ich die größten und schönsten Exemplare der Pilze einsammeln, machen sich die Tabis über den Rest her. Eigentlich sind sie zu wertvoll, um in den Mägen von Reitechsen zu landen, aber auch Chan-Chan und Blitz müssen essen. Sie haben sich die schmackhafte Mahlzeit verdient.

Es dauert nicht lange, bis unsere Beutel bis zum Rand gefüllt sind. Ich verschließe meinen sorgfältig und verstaue ihn dann mit der gleichen Sorgfalt in Chan-Chans Satteltasche. Als wir die Insel wieder verlassen, sind immer noch jede Menge Pilze da. Ein weiterer guter Sammelpunkt, der es auf unsere Karte schaffen wird. Drea wird bestimmt zufrieden sein – und wenn sie zufrieden ist, bezahlt sie gut.

Etwa die Hälfte der Strecke bis zum Ufer liegt hinter uns, als die Reitechsen plötzlich nicht mehr weiterschwimmen. Nervös zucken ihre Schwänze durchs Wasser, Chan-Chan faucht. Ich kenne dieses Fauchen. Es bedeutet, dass sie sich bedroht fühlt.

»Was ist los?« Die Echse kann mir nicht antworten. Es ist auch nicht notwendig, denn noch während meine Hand zu dem Messer in meinem Gürtel gleitet, bricht etwas aus der eben noch trügerisch ruhigen Wasseroberfläche hervor. Mit unzähligen Saugnäpfen übersäte Tentakel wickeln sich um Blitz – und um Ryan.

Sein panischer Schrei endet abrupt, als einer der dicken Greif­arme sich um seine Brust schlängelt und ein anderer die Hand packt, die vergeblich nach der Armbrust tastet. Ryan wird von Blitz’ Rücken gezogen und verschwindet unter der Wasseroberfläche.

Das Ganze geht so schnell, dass ich kaum einen Gedanken fassen kann. Mein Herz rast. Ich verliere fast mein Messer, als ich es aus seiner Scheide ziehe. Hektisch sehe ich mich um, Tentakel erwartend, die auch mich umschlingen wollen. Der Angreifer scheint sich jedoch auf Ryan und Blitz zu konzentrieren.

»Ryan!« Mein Ruf hallt über den See, meine Stimme überschlägt sich. Wie konnte das passieren?! Wir waren so vorsichtig.

Aber nicht vorsichtig genug. Der Verlorene Wald verzeiht keine Fehler.

Blitz kämpft mit Zähnen und Klauen um ihr Leben. Sie beißt nach den schleimigen Tentakeln, die sie ebenfalls unter Wasser ziehen wollen, hackt mit ihren scharfen Krallen nach dem Angreifer. Ist es ein Wyrak? Ich habe von ihnen gehört, bin aber nie einem begegnet. Bis jetzt. Sie hausen in größeren Gewässern und ernähren sich von denen, die den Fehler machen, ihrem Revier zu nahe zu kommen, indem sie ihre Beute so lange unter Wasser festhalten, bis diese ertrunken ist. Wie lange ist Ryan schon da unten? Es können bisher nur Sekunden gewesen sein und doch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit.

Wieso taucht er nicht wieder auf? Warum befreit er sich nicht? Ist der Wyrak zu stark?

Ich habe Angst davor, ihm ins Wasser zu folgen. Aber noch mehr Angst habe ich, ihn zu verlieren.

Chan-Chan spürt, was ich von ihr will, ehe ich an ihrem Zaum­zeug ziehen kann. Mit den Füßen paddelnd, nimmt sie Kurs auf Blitz, wobei sie ihren schuppigen Schwanz zum Steuern benutzt. Bis­­her hat Blitz es irgendwie geschafft, sich über Wasser zu halten. Einer der zuckenden Greifarme steckt in ihrem Maul, das mit scharfen Zähnen gespickt ist. Plötzlich jedoch schießen weitere Tenta­­­kel aus der Tiefe und schlängeln sich um den breiten Leib der Echse. Immer verzweifelter strampelt sie mit den Beinen, um sich dem Wyrak zu widersetzen, der sie in die Dunkelheit des Sees zerren will.

Chan-Chan hat Blitz fast erreicht. Ich lasse die Zügel los und setze meine Schutzbrille auf. Sie ist eigentlich nicht zum Tauchen gedacht, sondern soll die Augen vor dem Sand und Schmutz schüt­­zen, den die Staubstürme mit sich bringen. Aber sie schließt so luft­­dicht ab wie eine Taucherbrille. Ich hoffe, das wird mir die Ori­­entierung im Wasser erleichtern. Gerade will ich nach meiner Stein­schleuder greifen, als mir einfällt, dass die mir unter Wasser nichts nützen wird. Fauchend stürzt sich Chan-Chan auf einen Tentakel, der breiter ist als mein Oberschenkel.

Ich hole ein paar Mal tief Luft, während ich darum flehe, dass Ryan einfach auftaucht. Tut er aber nicht und so presse ich so viel Sau­er­­stoff in meine Lungen, wie ich kann, und gleite ins kalte Wasser.

Dunkelheit umfängt mich. Die Sicht ist noch schlechter, als ich befürchtet hatte. Ich schwimme in die Richtung, in der Ryan verschwunden ist. Obwohl erst Sekunden vergangen sind, habe ich das Gefühl, die Luft würde mir bereits knapp werden. Ich ignoriere es und schwimme weiter.

Etwas streift mich am Bein.

Ich zucke zusammen, versuche, in der mich umgebenden Schwärze etwas zu erkennen. Ein weißer Fleck taucht vor mir auf. Eine Sekunde später wird daraus ein mit Saugnäpfen überzogener Greifarm. Der Wyrak will auch mich schnappen. Einen Herzschlag lang denke ich darüber nach, wie er sich wohl in der Dunkelheit zurechtfindet, bis mir klar wird, wie bedeutungslos das jetzt ist. Das Einzige, was Bedeutung hat, ist, Ryan zu befreien und aus diesem verdammten See herauszukommen.

Mein Messer versinkt bis zum Heft im weichen Fleisch des Tentakels. Er zuckt zurück und ich folge ihm. Er wird mich zu Ryan führen. Er muss mich zu Ryan führen.

Vor mir schält sich ein Ungetüm aus den Schatten, die mich umgeben. Es ist größer, als ich erwartet hatte, viel größer! Von seinem aufgedunsenen, bleichen Leib gehen unzählige Tentakel aus. Sein aufgerissenes Maul, das sich in der Mitte seines Körpers befindet, ist so riesig, dass es mich komplett verschlingen könnte. Und direkt davor entdecke ich Ryan!

Er ist gefangen in der Umklammerung zweier Greifarme. Sie ziehen ihn immer näher zum Maul der Kreatur. Der vielarmige Tod – so werden die Wyraks auch genannt. Ein passender Name. Aber nicht heute, heute wird das Biest leer ausgehen!

Meine Lungen brennen. Ich will unbedingt auftauchen, um Luft zu holen, doch dann werde ich Ryan nicht mehr retten können. Er ist schon viel länger unter Wasser als ich. Wenn ich ihm jetzt nicht helfe, wird er ertrinken!

Ich weiche einem nach mir tastenden Tentakel aus und erreiche Ryan mit einem letzten kräftigen Schwimmzug. Er setzt sich immer noch zur Wehr, aber selbst in der schmutzigen Brühe, die mir die Sicht erschwert, kann ich erkennen, dass er schwächer wird.

Halt durch! Ich weiß nicht, ob ich damit ihn meine oder mich. Mein Messer dringt in den dünneren der beiden Greifarme ein. Blut strömt aus der Wunde und macht das Wasser noch schwärzer, als es ohnehin schon ist. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht versehentlich Ryan verletze.

Der kleinere der beiden Tentakel löst sich von ihm und verschwindet in der Finsternis. Sein Arm ist wieder frei. Er tastet nach seiner Kehle. Einen Herzschlag lang kann ich seine Augen sehen, normalerweise braun und von Leben erfüllt, jetzt weit aufgerissen und voller Angst.

Ihm bleibt keine Zeit mehr.

Ich stoße mein Messer in den anderen Greifarm des Wyraks. Wieder und wieder, obwohl inzwischen mein ganzer Körper nach Luft schreit. Endlich wird sein Griff lockerer. Ryan strampelt mit Armen und Beinen. Im nächsten Moment ist er frei!

Wir schwimmen beide der Oberfläche entgegen, nur von dem einen Gedanken erfüllt, Sauerstoff in unsere Lungen zu pumpen. Der Weg kann nicht weit sein. Über mir wird es bereits heller. Das Licht des Tages führt uns nach oben. Meine Hände durchbrechen die Wasseroberfläche, nur ein Herzschlag trennt mich von der süßen Luft.

Plötzlich packt mich etwas am Fußgelenk und zerrt mich wieder nach unten. Der Schock ist so groß, dass ich die wenige verbleibende Luft in meinen Lungen in Form blubbernder Bläschen ausstoße. Während diese der Oberfläche entgegentreiben, werde ich in die Tiefe gezogen. Ich blicke nach unten und sehe den Tentakel, der mein Fußgelenk umklammert hat. Ich will danach stechen, aber das Messer scheint auf einmal Tonnen zu wiegen. Meine Sicht ver­­schwimmt. Ich muss an das Sauerstoffgerät denken, das zu­sam­men mit dem Atemfilter und meiner übrigen Ausrüstung in Chan-Chans Satteltaschen steckt. Es ist nicht zum Tauchen ge­­dacht, sondern dazu, keine vergiftete Luft einzuatmen, wenn man in einen Staubsturm gerät. Trotzdem hätte es mir jetzt das Leben retten können. Wie dumm von mir.

Meine Gedanken verwirren sich und ich weiß, dass mich nur noch Augenblicke davon trennen, Luft zu holen. Luft, die es nicht gibt. Hier gibt es nur Wasser. Ich will nicht ertrinken! Es würde Mina und Ceren das Herz brechen. Sie brauchen mich.

Ein blitzschneller Schatten huscht neben mir durchs Wasser. Erst befürchte ich, es wäre ein weiterer Greifarm, stattdessen schließen sich plötzlich Chan-Chans Kiefer um den viel zu starken Tentakel, der mich tiefer und tiefer zerrt. Die Zähne der Tabi zerfetzen ihn und befreien mich. Ich will nach oben schwimmen, aber ich schaffe es nicht, ich kann nicht mehr.

Geschickt setzt Chan-Chan sich unter mich und steigt hoch, wo­­bei sie mich mit sich trägt. Ich halte das Brennen in meinen Lungen nicht mehr aus und atme ein. Wasser dringt in meinen Mund. Im nächsten Moment durchstoßen wir die aufgewühlte Oberfläche des Sees.

Ich versuche gleichzeitig, das geschluckte Wasser wieder auszuspucken und zu atmen. Keine gute Idee. Ich huste und spucke Wasser. Es dringt mir aus Mund und Nase, aber das ist immer noch besser, als zu ertrinken. Mit letzter Kraft klammere ich mich an Chan-Chans Sattel, während sie zum Ufer schwimmt. Keuchend sauge ich Sauerstoff in meine Lungen. Ich wusste nicht, wie wundervoll es ist, atmen zu können!

Irgendwo hinter mir explodiert das Wasser in einer wütenden Fontäne. Erschöpft drehe ich den Kopf, nur um zu sehen, wie der Wyrak aus dem gischtenden Wasser auftaucht. Der vielarmige Tod ist gekommen, um uns zu holen.

Ein Armbrustbolzen saust pfeifend über mir durch die Luft und dringt schmatzend in den übergroßen Kopf des Ungetüms ein. Seine Tentakel zucken wütend und es stößt einen spitzen Schrei aus, der in meinen Ohren schmerzt. Das Seewasser um den Wyrak herum scheint zu kochen. Dem ersten Bolzen folgt ein zweiter, dann ein dritter. Ich will nach meiner Steinschleuder greifen, um Ryan zu unterstützen. Es funktioniert nicht. Meine Arme wollen sich nicht bewegen.

Ryan ist damit beschäftigt, den nächsten Bolzen auf seine Armbrust zu legen, als Chan-Chan endlich das rettende Ufer erreicht. Auch der Wyrak scheint erkannt zu haben, dass ihm die schon sicher geglaubte Beute entkommen ist. Er versinkt in den dunklen Fluten, die ihn ausgespien haben. Kurz darauf ist die spiegelnde Oberfläche des Sees so glatt, als hätte es die Gefahr nie gegeben.

Völlig erschöpft rutsche ich von Chan-Chans Rücken und schleppe mich in den blattlosen Wald, weg vom Ufer, weg vom See, der fast zu einem nassen, kalten Grab für Ryan und mich geworden wäre. Ich muss husten und würge Reste des verschluckten Wassers hoch, dann lasse ich mich auf den bemoosten Boden fallen. Mit geschlossenen Augen konzentriere ich mich darauf, einfach nur zu atmen. Der Hustenreiz lässt nach und mein rasendes Herz kommt langsam wieder zur Ruhe.

»Bist du in Ordnung?«, höre ich Ryans Stimme zwischen zwei angestrengten Atemzügen.

»Ich bin nicht ertrunken und wurde auch nicht vom Wyrak ge­­fressen«, sage ich mit rauer Stimme. »Demnach muss ich wohl in Ord­­­nung sein.« Es sollte scherzhaft klingen, was kläglich misslingt. Wir wissen beide, wie nahe wir daran waren, im Magen des Wyraks zu enden. Ich öffne meine Augen und blicke zu Ryan, der sich neben mich gesetzt hat. Seine dunklen Haare tropfen vor Nässe, er sieht blass aus. »Und du?«

Er reibt seinen linken Arm, dort, wo der Tentakel des Monsters ihn gepackt hatte. »Das Vieh hatte ganz schön Kraft.« Er schüttelt den Arm ein paar Mal prüfend. »Aber es hat mich nicht verletzt.«

Mühsam raffen wir uns auf und sehen nach Chan-Chan und Blitz. Auch die beiden Tabis haben die Begegnung mit dem Wyrak unbeschadet überstanden. Wir sind anscheinend alle mit dem Schrecken davongekommen. Glück gehabt.

Der Beutel mit Blaupilzen, die Ryan gesammelt hatte, ist verschwunden. Während des Kampfes muss er sich von Blitz’ Sattel gelöst haben. Ärgerlich, dass wir die Hälfte unserer Beute verloren haben, vor allem, da wir ganz sicher keinen Nachschub mehr von der Insel holen werden. Noch einmal wage ich mich bestimmt nicht in diesen See. Auch Ryans Messer ist weg. Er hat es verloren, als er sich von den Tentakeln befreien wollte. Ein ähnliches Schicksal muss auch meinen Luftprüfer ereilt haben, der normalerweise an meinem Gürtel befestigt ist.

Selbst wenn wir von Drea einen vernünftigen Preis für die verbleibenden Pilze bekommen, wird es vielleicht gerade dafür rei­­­chen, die verlorene Ausrüstung zu ersetzen. Die Erkenntnis, dass wir unser Leben völlig umsonst riskiert haben, bessert unsere Laune nicht gerade. Mit einem letzten wütenden Blick wende ich mich vom See ab. Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor Einbruch der Dun­kel­heit wieder in Dornwall sein wollen.

Ich fange an zu frieren. Mein dunkler Schutzanzug ist zwar wasserfest, aber das heißt nicht, dass man damit ein Bad nehmen kann. Das Seewasser hat mich bis auf die Knochen durchnässt und ich habe keine Sachen zum Wechseln dabei. Hoffentlich werde ich nicht krank. Ich hasse es, krank zu sein. Und ich hasse Krankhei­­­ten – besonders die, die einen töten. Wie meine Mutter.

Es ist drei Jahre her, dass sie an Staublunge gestorben ist. Es war kein schneller Tod. Sie hat fast ein Jahr lang um ihr Leben gerungen. Ich war dabei. Jeden Tag. Niemals zuvor habe ich mich so hilflos gefühlt.

Drei Jahre sind eine lange Zeit und dennoch kommt es mir manchmal vor, als hätte ich sie gerade erst begraben. Ich vermisse sie so sehr. Ich vermisse die Abende, an denen sie den Zwillingen und mir vorgelesen hat. Ich vermisse die Tage, an denen sie mich zum Sammeln mitgenommen und mir den Wald gezeigt hat. Ich vermisse es, wie sie mich manchmal an sich gedrückt und festgehalten hat, als wäre ich das Wichtigste auf der ganzen Welt.

Der Schutzanzug, den ich trage, hat ihr gehört. Alle paar Monate habe ich ihn anprobiert, um zu sehen, ob er mir passt. Hat er aber nie. Bis vor ein paar Monaten. Jetzt wartet mein alter Schutzanzug darauf, dass Mina ihn eines Tages tragen kann.

»Wir erzählen keinem, was heute passiert ist«, reißt Ryan mich aus meinen Gedanken. »Okay?«

Ich nicke zustimmend. »Ist wohl besser so.«

»Wenn meine Mutter wüsste, dass ich fast von einem Wyrak ge­­­fressen worden wäre, würde sie mich nie wieder aus der Stadt las­­sen.«

Ryans Mutter – Karina Tranner – gehört zum Rat Dornwalls. Der Rat lenkt die Geschicke der Stadt und ist für die Sicherheit seiner Bewohner verantwortlich. Karina sähe es gern, dass Ryan sich ebenfalls für die Politik der Stadt interessiert, denn eines Tages soll er in ihre Fußstapfen treten und ihr Nachfolger werden. Ich kann sie sogar ein bisschen verstehen. Ihr Mann wurde bei einem Kampf von Skulls getötet und Tomman, einer ihrer anderen Söhne, hat sich vor ein paar Jahren beim Sturz von einem Baum so schwer verletzt, dass er im Rollstuhl sitzt. Seitdem verbringt Tomman die meiste Zeit damit, sich zu betrinken. Derran, Ryans ältester Bruder, ist schon vor Jahren in eine andere Stadt gezogen, wo er seine Frau getroffen hat. Bleibt nur noch ihr jüngster Sohn, um den Sitz der Familie im Rat zu übernehmen.

»Und wenn mein Vater wüsste, dass ich heute fast ertrunken wäre, würde er meinen Schutzanzug verkaufen und Chan-Chan da­­vonjagen, damit ich nie wieder sammeln kann«, sage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass das stimmt. Mein Vater hat kein so behütendes Wesen wie Karina. Er war früher Jäger und wurde später einer der Wächter, die für Dornwalls Sicherheit sorgen. Er weiß, dass wir in einer harten Welt leben. Er weiß es besser, als ich es weiß. Davon zeugen all die Narben, die seinen Körper zieren, je­­­de davon mit ihrer eigenen Geschichte. Manche davon kenne ich, an­dere nicht. Meine Mutter war ein sehr warmer, herzlicher Mensch. Sie hatte immer ein Lächeln für diejenigen übrig, die ihr etwas be­­deuteten. Mein Vater lächelt nicht viel. Er ist wie ein Messer, das in einer Scheide steckt. Solange es von der Scheide geschützt wird, scheint es harmlos. Aber wenn es gezogen wird, kann es verletzen.

Ich habe meinen Vater nur ein Mal wirklich wütend gesehen. Es war an dem Tag, an dem meine Mutter gestorben ist. Er saß neben ihrem Leichnam und hielt immer noch ihre Hand. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sah ganz friedlich aus, als würde sie schlafen. Aber ich wusste sofort, dass sie tot war, denn das mühsame, rasselnde Atmen, das die Staublunge mit sich bringt, war verstummt. Ich eilte zu ihrem Bett, Tränen liefen über meine Wangen. Doch mein Vater weinte nicht und statt Trauer entdeckte ich eine unbeschreibliche Wut in seinen Augen. Später verstand ich, dass er nicht wütend auf meine Mutter gewesen war. Er war wütend auf die Staublunge, diese verfluchte Krankheit, die die Menschen langsam ersticken lässt, wütend auf das Schicksal, das Tabatha von uns gerissen hatte, und wütend auf sich selbst, weil er sie nicht hatte retten können.

Aber in dem Moment habe ich mich vor ihm gefürchtet, denn solchen Zorn hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich wollte aus dem Zimmer stürmen, mich verstecken. Vor meinem wütenden Vater, der wie ein Fremder wirkte. Vor der Tatsache, dass meine Mutter tot war und nie wieder für mich da sein würde, mich nie wieder in den Arm nehmen konnte. Vor einem Leben ohne sie, denn so ein Leben wollte ich mir nicht vorstellen.

Bevor ich die Tür erreichte, packte mich mein Vater und zog mich an sich. Ich glaube, ich habe geschrien und nach ihm getreten. Aber er hat mich nicht losgelassen. Er hielt mich einfach nur in seinen starken Armen und als ich aufhörte, zu schreien und zu treten, und in seine Augen blickte, war dort kein Zorn mehr. »Ich bin hier«, sagte er zu mir. Das war alles. Und es war genug.

Ich habe jedoch nie vergessen, wie wütend er damals war. Wenn er wüsste, dass ich beinahe gestorben wäre, nur weil ich zu dumm war sicherzustellen, dass in dem See keine Gefahr lauerte, würde er wahrscheinlich wieder wütend werden. Deshalb werde ich es ihm nicht sagen.

Ich schaue an meiner Kleidung herab, die mir nach wie vor feucht am Leib klebt. Sie scheint nicht trocknen zu wollen. Es ist wohl nicht warm genug. Aber wenn ich so in die Stadt zurückkehre, wird jeder, der mich sieht, wissen, dass etwas passiert ist. Niemand nimmt freiwillig ein Bad im Verlorenen Wald.

Ich krame eine Wasserflasche aus einer der Satteltaschen und spüle meinen Mund aus. Das Seewasser hat dort einen fauligen Geschmack hinterlassen. Bei dem Gedanken daran, wie viel ich davon geschluckt habe, wird mir ganz mulmig. Ich trinke etwas von dem klaren Wasser aus der Flasche, das direkt aus der unter Dornwall liegenden Quelle stammt. Vielleicht hilft das.

Endlich erreichen wir den Teil des Waldes, den wir kennen. Ryan sucht auf unserer Karte den kürzesten Weg zur Stadt. Wir sind beide erschöpft und durchnässt und haben keine Lust, länger hier zu verweilen als notwendig. Gerade als wir aufbrechen wollen, vernehme ich ein seltsames Brummen. Ryans Miene verrät, dass er es ebenfalls hört.

Der Verlorene Wald ist normalerweise ein ruhiger Ort. Es gibt keine Blätter an den Bäumen, durch die der Wind rauschen könnte. Früher, bevor die Welt starb, sollen Wälder voller Vögel gewesen sein, die zwitschernd und piepsend in den grünen Baumkronen saßen. Aber ich habe nie einen Vogel gesehen. Ich denke nicht, dass es sie noch gibt. Die Tiere, die hier leben, sind klug genug, sich still und leise zu bewegen, denn jedes Geräusch könnte die Auf­­merk­samkeit eines Feindes auf sich ziehen. Deshalb achten alle, die durch den Verlorenen Wald streifen, auf jeden Laut. Und wenn man etwas hört, das man nicht kennt, schenkt man dem besser seine volle Aufmerksamkeit.

Der Verlorene Wald verzeiht keine Fehler.

Mein erster Gedanke ist, dass wir uns in der Nähe eines Schat­ten­­baumes aufhalten. Sie werden von Tausenden von Insekten be­­­völkert, die kriechend, flatternd und brummend im Inneren der Bäu­­me hausen. Das Problem ist, dass diese Insekten Fleischfresser sind. Kommt man ihrem Bau zu nahe oder fühlen sie sich bedroht, schwärmen sie aus und fallen wie ein tödlicher Schatten über ihre Opfer her. Auch der beste Schutzanzug kann einen nicht lange vor den scharfen Zangen der schwarzen Käfer schützen. In der Schule haben sie uns Bilder von Opfern gezeigt – oder dem, was von ihnen übrig war. Ich hatte danach wochenlang Albträume.

Die Aussicht, nach unserer Begegnung mit dem Wyrak auch noch auf einen Schattenbaum zu stoßen, gefällt mir überhaupt nicht. Für heute hatte ich mehr als genug Aufregung. Angestrengt lausche ich dem Brummen und je länger ich das tue, desto überzeugter bin ich davon, es nicht mit einem Schattenbaum zu tun zu haben. So hören sich keine Käfer an. Es klingt mehr wie ... eine Maschine? Oder mehrere? Aber es gibt im Wald keine Maschinen.

Regungslos stehen Ryan und ich im Unterholz. Chan-Chans Schwanz zuckt nervös über den Boden. Eine Minute vergeht, dann eine zweite. »Es kommt von da.« Ich deute mit der Hand nach vorn und etwas links von mir.

»Und es kommt näher.«

Ryan irrt sich nicht. Das Brummen ist eindeutig lauter geworden.

»Wir müssen herausfinden, was es ist.«

Das Einzige, was gefährlicher ist als eine Gefahr, die man kennt, ist eine Gefahr, die man nicht kennt.

Wir lassen Chan-Chan und Blitz zwischen den Bäumen zurück. Sie werden auf uns warten. Das tun sie immer. Es wäre mir lieber gewesen, die Reitechsen mitzunehmen. Die Vegetation ist jedoch so spärlich, dass die großen Tabis kaum zu verbergen gewesen wären. Solange wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben, wird es besser sein, unsichtbar zu bleiben.

Ich schleiche durchs Gebüsch, leise, aber schnell. Ryan ist direkt neben mir. Er hat seine Armbrust in der Hand, ein Bolzen ist be­­reits aufgelegt. Ich trage meine Steinschleuder, die Tasche mit den Ge­­schossen griffbereit am Gürtel. Meine Mutter hat mir gezeigt, wie man damit umgeht. Die Durchschlagskraft einer Steinschleu­der ist zwar begrenzt, aber wenn man sie zu benutzen weiß, kann man damit genug Schaden anrichten. Ich hoffe, ich werde sie nicht be­nutzen müssen.

Das Brummen steigert sich zu einem nicht mehr zu überhören­den Dröhnen, je näher wir kommen. Auch das Splittern von Ästen ist zu vernehmen. Durch meine Stiefel spüre ich eine leichte Vibra­tion im Boden. Was auch immer sich da seinen Weg durch den Wald bahnt, muss groß sein.

Wir werden langsamer und huschen von Baum zu Baum, von Deckung zu Deckung. Dass ein Tier solchen Krach verursachen könnte, ist praktisch ausgeschlossen. Es müssen Menschen sein. Doch keiner der Jäger oder Sammler aus Dornwall verfügt über etwas, das den Boden erzittern lassen würde. Also Fremde – und jeder Fremde ist ein potenzieller Feind, bis das Gegenteil bewiesen ist.

Ryan und ich kauern uns hinter die ausladende Wurzel eines umgestürzten Baumes. Hier warten wir, während die Geräusche immer lauter werden. Als ich endlich sehe, was da auf uns zukommt, stockt mir fast der Atem!

Ein stählerner Koloss, getragen von riesigen Kettenrädern, die den Boden des Waldes aufreißen, nähert sich von Süden her. Die Bäume, die dem monströsen Gefährt im Weg sind, werden von zwei mächtigen Greifarmen gepackt, entwurzelt und mit lautem Krachen zur Seite geworfen. Langsam, aber sicher bahnt sich das mit dunklen Panzerplatten bestückte Fahrzeug eine Schneise durch den Wald. Es ist nicht allein. Hinter dem stählernen Riesen folgt eine ganze Kolonne von Fahrzeugen. Nicht so groß wie ihr Anführer, aber ebenso beängstigend.

Meine Hoffnung, es könne sich vielleicht um Händler aus einer anderen Stadt handeln, die nach Dornwall kommen, um ihre Waren anzubieten oder bei uns einzukaufen, hat sich zerschlagen. Viele der Fahrzeuge sind schwer gepanzert, manche haben Geschütze auf ihren Dächern montiert.

Das ist eine Armee!

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich im Geiste den Weg verlängere, den sich die Fremden bahnen. Er wird sie direkt nach Dornwall führen!

Einer der Greifarme reißt splitternd einen weiteren Baum aus dem festen Erdreich und schleudert ihn in unsere Richtung. Ich ducke mich tiefer hinter die Baumwurzel und zucke zusammen, als der dicke Stamm nicht weit von uns über den Boden schlittert, ehe er in einem dichten Gebüsch stecken bleibt. Ryan berührt mich am Arm und zieht mich mit sich. Rückwärtskriechend entfernen wir uns vom weiter vordringenden Fahrzeugtross. Das Letzte, was ich davon sehe, ist ein Symbol, ein Wappen auf der Seite eines Wagens: eine silberne Maske auf schwarzem Grund, hinter der sich zwei Schwerter kreuzen.

Keiner von uns sagt ein Wort. Wir wissen beide, was wir zu tun haben. Wir müssen Dornwall vor den Angreifern erreichen. Wir müssen die Einwohner der Stadt warnen – sonst sind wir alle verloren.

Dornwall

Das Knacken zersplitternder Bäume und das Brummen motorbetriebener Fahrzeuge bleiben hinter uns zurück. Jetzt ist nur noch das Brechen kleiner Äste unter den Füßen der Tabis und ihr pfeifendes Atmen zu hören. Aber wir sind viel zu langsam! Reitechsen sind treu und ausdauernd, doch ihre Beine sind zu kurz, als dass sie wirklich schnell laufen könnten. Normalerweise ist das kein Pro­­blem. Die Beute von Sammlern kann nicht wegrennen und im Verlorenen Wald sollte man sich mit der gebotenen Vorsicht be­­wegen. Doch in diesem Moment bin ich bereit, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen. Wir müssen schneller sein, schneller als die feind­­liche Armee, die uns auf den Fersen ist! Je früher wir Dorn­wall erreichen, desto mehr Zeit bleibt, um sich auf die Verteidi­­gung vorzubereiten.

Blitz macht ihrem Namen alle Ehre. Sie hat sich schon ein gu­­tes Stück vor Chan-Chan gesetzt und der Abstand wird mit jeder Mi­­nute größer. Auch Ryan bemerkt, dass ich zurückfalle. Ich beobachte, wie er an Blitz’ Zügeln zieht, um sie etwas langsamer laufen zu lassen. »Reite vor! Du musst die anderen warnen«, rufe ich ihm zu, während meine Haare im Wind flattern. »Ich komme nach!«

Er dreht sich zu mir um. Einen Augenblick scheint er meinen Vorschlag in Betracht zu ziehen, aber dann schüttelt er den Kopf. »Ich lasse dich nicht zurück.«

Ich weiß nicht, ob ich darüber wütend oder dafür dankbar sein soll. Statt zu diskutieren, beuge ich mich zu Chan-Chan herab und treibe sie an. »Schneller, Chan-Chan, schneller!« Die Lücke zwischen den beiden Reitechsen schließt sich.

Während meine Tabi alles aus sich herausholt, mache ich mich auf ihrem Rücken möglichst klein, um den Luftwiderstand gering zu halten, und suche mit meinen Blicken die Umgebung nach Hindernissen ab. Fragen schießen mir durch den Kopf, die nicht geeignet sind, mein rasendes Herz zur Ruhe zu bringen. Wer sind die Angreifer? Woher kommen sie und was wollen sie von uns?

Im Norden gibt es weitere Siedlungen, manche größer, andere kleiner als Dornwall. Lichtheim. Kliffberg, wo meine Tante Es­­me­­­rau­­­de mit ihrer Familie lebt. Nordstern und Südstern, deren Herr­scher schon seit Jahrzehnten im Streit liegen. Dazwischen viele kleine Dörfer, die oft aus nicht mehr als ein paar heruntergekomme­­nen Hütten bestehen und meist von denen bewohnt werden, die aus den Städten verbannt wurden. Keiner von denen hat die Ressourcen, eine Armee dieser Größe aufzustellen.

Im Osten, jenseits des Verlorenen Waldes, liegen die Giftsümpfe. Ich war nie dort und habe auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Die Sümpfe sind genau so, wie ihr Name vermuten lässt: vergiftet. Es gibt Menschen, die dort leben. Keine Ahnung, wie sie das anstellen, aber es muss einen Grund dafür geben, dass man sie die Verdammten nennt. Westlich des Waldes beginnt das Leere Land, eine Wüste, die kein Ende nimmt. Irgendwo muss sie wohl en­­den, aber es ist noch nie jemand aus ihr zurückgekehrt, der davon be­­richtet hätte. Könnte die anrückende Streitmacht aus dem Leeren Land kommen? Unwahrscheinlich. Der Feind nähert sich aus südlicher Richtung. Im Süden liegt das Gebiet der Skulls. Aber das sind keine Skulls. Da bin ich mir sicher. Skulls haben keine gepanzerten Fahrzeuge. Eigentlich hat niemand gepanzerte Fahrzeuge.

Ich werfe einen hastigen Blick über die Schulter, während Chan-Chan unermüdlich weiterrennt. Es ist kein Zufall, dass Ryan und ich auf Echsen reiten. Die Echsen sind alles, was wir haben. Wir reiten sie oder lassen unsere Kutschen von ihnen ziehen. Das war nicht immer so. Früher, Jahrhunderte, bevor ich geboren wurde, fuhren alle in von Maschinen angetriebenen Wagen. Aber diese Maschinen brauchten Energie, benötigten Treibstoff. In der Schule wurde uns erzählt, dass es irgendwann Milliarden von Menschen gab, die so viele Maschinen benutzten, dass die Energie nicht mehr reichte und aller Treibstoff schließlich aufgebraucht war. Das war der Grund, aus dem sie anfingen, sich zu bekämpfen. Und dann starb die Welt.

Milliarden von Menschen. Das klingt für mich unvorstellbar. In Dornwall leben nicht einmal achthundert. Und es ist eine der grö­ße­­ren Städte.

Wo haben die Fremden diese Fahrzeuge her? Von was werden sie angetrieben? Dornwall bekommt seine Energie vom Grünen Kristall, einem Überbleibsel der alten Welt. Er ist nicht der einzige seiner Art. Andere große Städte haben ebenfalls Grüne Kristalle. Er ist unser wertvollster Besitz. Mein Vater sagt, er ist das Einzige, was uns am Leben hält. Der Kristall liefert die Energie für die ganze Stadt. Er sorgt für Licht, wärmt die Heizungsrohre in unseren Häusern und lässt die Pumpen frisches, unbelastetes Wasser aus der Tiefe fördern. Ein paar unserer Wissenschaftler behaupten sogar, dass die Grünen Kristalle der Grund dafür sind, dass die Menschen in den Städten gesund bleiben, obwohl so viel von unserer Welt vergiftet wurde. Wieso das so ist, können sie nicht erklären, und sie haben nicht mehr die Mittel, es herauszufinden. Viel von dem alten Wissen ist zusammen mit der alten Welt untergegangen. Die Wälder sind gestorben und nun nicht mehr als blattlose Skelettfinger, die sich gen Himmel recken. Die Städte haben sich in verbrannte Ruinenlandschaften verwandelt, inzwischen verschwunden unter dem Staub von Jahrhunderten. Selbst der meist wolkenverhangene Himmel schenkt uns nicht mehr als sauren Regen, der jeden Versuch zunichtemacht, etwas im Freien anzubauen.

Unser Leben ist nicht leicht. Aber es ist das einzige, das ich kenne – jetzt habe ich Angst, dass uns selbst das genommen wer­den könnte.

Endlich verlassen wir den Verlorenen Wald. Dornwall liegt direkt vor uns und die Mauern der Stadt ragen vor mir auf. Sie bestehen aus einem dichten, undurchdringlichen Wall von Dornengewäch­sen. Normalerweise gibt mir der Anblick dieser Dornenmauer, die selbst an der niedrigsten Stelle über zwanzig Meter hoch sein muss, ein Gefühl der Sicherheit. Doch ich habe gesehen, wie die Greif­arme des Kettenfahrzeugs ebenso hohe Bäume ohne Mühe aus dem Erdreich gerissen haben. Wird es Dornwall ähnlich ergehen?

Die vier Wachtürme der Stadt, die einen ungehinderten Blick auf die gesamte Umgebung erlauben, sind bemannt. Ich kann jedoch keine besondere Aktivität feststellen. Der Feind muss noch außer Sicht sein. Zum Glück! Das heißt, wir haben unsere Reitechsen nicht umsonst geschunden. Und es heißt, dass uns Zeit zur Vorberei­­­tung bleibt.

Ryan und ich halten aufs offene Südtor zu. Erst bei Anbruch der Dunkelheit wird es geschlossen. Blitz huscht als Erste durch das breite Tor und eine Sekunde später folgt Chan-Chan. Sie hat das Tor kaum passiert, als sie vor Erschöpfung zusammenbricht. Der plötzliche Stopp reißt mich aus dem Sattel und schleudert mich über den Kopf der Echse hinweg. Ich rolle mich ab und komme schnell wieder auf die Beine. Chan-Chan liegt mit bebenden Flanken auf dem Boden. Ich will zu ihr, aber in diesem Moment kommt mein Vater auf mich zugelaufen. Er weiß sofort, dass etwas nicht stimmt.

»Was ist passiert?«, fragt er, kaum dass er vor mir steht. Ich muss daran denken, wie nervös mich die Aussicht gemacht hat, dass er von der Begegnung mit dem Wyrak im See erfahren könnte. Jetzt spielt es auf einmal keine Rolle mehr. Seltsam, wie schnell sich die Dinge ändern können.

Atemlos berichten wir von der sich nähernden Armee, die sich langsam, aber unaufhaltbar ihren Weg durch den Verlorenen Wald erkämpft. Die Miene meines Vaters verdunkelt sich zusehends. Ihm ist klar, was diese Nachrichten für Dornwall bedeuten können. Dann fängt er an, Fragen zu stellen. Wie viele Fahrzeuge hat der Feind? Über wie viele Geschütze verfügen die Wagen? Wie stark sind sie gepanzert?

Ryan und ich versuchen, so genau zu antworten wie möglich, was nicht sehr genau ist. Wir sind nicht mal auf die Idee gekommen, die Fahrzeuge zu zählen oder Berechnungen darüber anzustellen, wie viele Geschütze sie mitführen könnten. Der Anblick des heranrückenden Feindes hat uns viel zu sehr geschockt.

»Schließt die Tore!«, ruft mein Vater seinen Leuten zu und gibt weitere Befehle. Sofort setzt sich das in den Dornenwall eingearbeitete Tor in Bewegung und gleitet, von quietschenden Schienen geführt, in seine geschlossene Position, wo es mit einem lauten Kli­­­­cken einrastet. Nun versperrt eine glatte stählerne Wand den Zu­­­gang zur Stadt, eine Wand, die gebaut wurde, um jedem Gegner stand­­­zuhalten.

Das zweite Tor liegt im Norden. Sobald auch dieses verriegelt ist, ist Dornwall vollkommen abgeschottet. Dennoch verspüre ich keine Erleichterung. Was, wenn unsere Wälle nicht stark genug sind? Was, wenn sie fallen?

»Gib Alarm«, wendet sich mein Vater an Dario, der ebenfalls herbeigeeilt ist. »Sofort! Und ruf die Wachen zusammen.«

»Wie viele?«

Der Blick meines Vaters wird eisig. »Alle.«

Dario macht sich im Laufschritt daran, die Anweisungen meines Vaters auszuführen. Sekunden später ertönt das laute Heulen der Sirenen aus den Lautsprechern, die an bestimmten Plätzen in der Stadt montiert sind. Es ist ein unangenehmes Geräusch, das aber zweifellos sämtliche Einwohner Dornwalls erreichen wird, egal, wo sie sich gerade aufhalten. Sofort ist meine Nervosität wieder da. Schon früh habe ich gelernt, dass die Sirenen nichts Gutes bedeuten. Sie haben nur zwei verschiedene Töne. Der eine wird benutzt, wenn sich ein besonders schlimmes Unwetter nähert. Jenen Ton habe ich schon öfter gehört und ich wusste immer, was ich zu tun hatte: im Haus bleiben oder Schutz suchen. Der andere kommt nur dann zum Einsatz, wenn die Stadt angegriffen wird. Diesen Ton höre ich zum ersten Mal. Meine Angst wächst.

Ich weiß, dass mein Vater jetzt keine Zeit hat, sich um mich zu kümmern. Das Südtor steht unter seinem Kommando und wenn der Angriff kommt, wird er hier sein. Er muss seine Leute auf den Wällen verteilen, auf deren Innenseiten Wehrgänge verlaufen. Er muss die Geschütze bemannen und feuerbereit machen lassen. Die meisten von ihnen sind so alt wie diese Stadt und haben kaum mehr Munition. Er muss dafür sorgen, dass Dornwalls Verteidiger bereit sind, wenn der unbekannte Feind vor unseren Toren eintrifft. Dennoch legt er mir eine Hand auf die Schulter.

»Ich will, dass du die Zwillinge holst und mit ihnen in die Schutzräume gehst.«

»Ich möchte helfen«, platzt es aus mir heraus, obwohl ich nicht weiß, wie. Die Geschosse einer Steinschleuder können kein gepanzertes Fahrzeug durchdringen.

Der Ausdruck in seinem Gesicht wird etwas weicher. »Du hilfst, indem du tust, was ich dir sage.«

»Du brauchst jeden, den du bekommen kannst.« Wieso diskutiere ich mit ihm und verschwende unsere Zeit? »Lass mich Munition schleppen oder –«

»Die Zwillinge brauchen dich, Ember«, fällt er mir ins Wort. »Das verstehst du doch, oder?«

Natürlich verstehe ich das. Und ich verstehe auch, warum ich nicht gehen will. Ein Angriff steht unmittelbar bevor, mein Vater hat das Kommando über den Wall und wird an vorderster Front kämpfen.

Mein Vater könnte heute sterben.

Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Ich will ihm sagen, dass er mit mir kommen soll. Wir können Mina und Ceren holen und durchs Nordtor fliehen. Zusammen mit Ryan und allen anderen. Wir verstecken uns einfach im Wald, bis der Feind wieder abgezogen ist. Dann muss niemand sterben.

Aber ich sage es nicht. Mein Vater wird seinen Posten nicht verlassen. Er hat seine Aufgabe – und ich ebenfalls.

Er mustert mich noch einen Atemzug lang, als wolle er sich mein Gesicht genau einprägen. Der Blick seiner klaren blauen Augen ist ste­­chend. Unter seinem linken Auge verläuft eine lange Narbe die Wan­­­ge herab und mit einem sichelförmigen Schwung bis zur Nase – eine der Geschichten, die ich nicht kenne, obwohl ich oft genug danach gefragt habe. Sein wettergegerbtes Gesicht wird von roten Haaren und einem dichten Bart eingerahmt, in dem mehr Grau als Rot zu finden ist. Ich möchte ihm sagen, wie lieb ich ihn habe, tue es aber nicht, denn es würde sich anhören, als würde ich erwarten, ihn nie wiederzusehen.

»Commander Green!«, ruft einer der Männer, die von den Sirenen alarmiert zum Tor gelaufen kommen.

Mein Vater drückt ein letztes Mal meine Schulter. »Geh jetzt. Beschütze die Zwillinge.« Damit wendet er sich von mir ab. Nun ist er nicht mehr mein Vater, sondern Kenneth Green, Commander des Südtores, der seine Truppen auf einen Angriff vorzubereiten hat.

Ich blinzele meine Tränen fort und kümmere mich endlich um Chan-Chan. Die Tabi ist inzwischen auf die Beine gekommen, macht aber einen sehr erschöpften Eindruck. Und wo ist Ryan? Be­­­stimmt will er sichergehen, dass sein Bruder in einen der Schutzräume kommt und nicht irgendwo betrunken herumsitzt.

Ich bringe Chan-Chan zu den in der Nähe gelegenen Stal­lun­­gen, während immer mehr Leute herbeieilen, um sich in der Waf­­fenkammer ausrüsten zu lassen, die direkt daneben untergebracht ist. Die meisten von ihnen sind Männer, doch es gibt auch weib­liche Mitglieder der Wache. Die Stallungen sind fast verlassen, nur ein junges Mädchen, das zusammen mit meinen Geschwistern zur Schu­­­le geht, wird gerade von seiner Mutter weggezerrt. Das Mäd­chen weint. Ich nehme an, es wollte seine Tabi mitnehmen. Aber in die Schutzräume passen kaum alle menschlichen Einwohner der Stadt, da bleibt kein Platz für Tiere.

In Chan-Chans geräumiger Box nehme ich ihr den Sattel ab. Normalerweise würde ich die Tabi mit Wasser abspritzen und ih­­­ren Schuppenpanzer mit einer harten Bürste abreiben, was sie besonders gern hat. Heute ist dafür keine Zeit. Auch die Zwillinge werden die Sirenen gehört haben. Ich hoffe inständig, dass sie nicht pa­­nisch auf die Straße gerannt sind, sondern warten, bis jemand sie abholt. Ich gebe Chan-Chan noch schnell Wasser und Futter und streiche ein letztes Mal sanft über ihren Kopf. »Pass auf dich auf.«

Chan-Chan ist damit beschäftigt zu trinken und schenkt mir kei­­­­ne Beachtung. Sie hat sich die Pause verdient. Für mich gibt es kei­ne. Ich laufe durch die Stallungen und entdecke dabei Blitz in ihrer Box. Ryan war also auch schon hier.

Draußen herrscht Chaos. Die ganze Stadt ist auf den Beinen! Be­­­waffnete Männer und Frauen nehmen ihre Positionen auf den Wehrgängen ein. Nur die wenigsten von ihnen sind bezahlte Wäch­­­ter wie mein Vater. Die meisten sind Jäger, Sammlerinnen, Ar­­­bei­­­ter, Ladenbesitzerinnen, Lehrer ... Wird die Stadt angegriffen, stehen alle zusammen. Nur so können wir überleben.

Diejenigen, die nicht kämpfen können oder andere Aufgaben haben, sind auf dem Weg zu den unterirdischen Schutzräumen. Ge­­­schäfte werden geschlossen, Häuser verbarrikadiert. Während ich durch die Straßen renne, sehe ich Familien, die sich von denen verabschieden, die bei der Verteidigung der Wälle helfen wollen. Eltern, die um das Leben ihrer Kinder bangen, Kinder, die um ihre Eltern fürchten. Einen Moment lang fühle ich mich schlecht, denn es kommt mir vor, als hätte ich all das hier ausgelöst. So ein Blödsinn! Ryan und ich haben Dornwall mehr Zeit verschafft. Vielleicht genug. Hoffentlich!

Ich komme am Laden der alten Drea vorbei, der ebenfalls ge­­­schlossen ist. Die Blaupilze liegen vergessen in Chan-Chans Sat­teltasche. Egal. Wenn alles vorbei ist, kann ich sie ihr immer noch verkaufen.

Ich laufe schneller, denn ich will nicht mit den Zwillingen die Letzte im Schutzraum sein. Die Letzten bekommen die schlechtesten Plätze. Obwohl große Aufregung herrscht, bleiben die Einwoh­ner Dornwalls relativ ruhig. Vielleicht liegt es an den Übungen, die regelmäßig abgehalten werden. Schon von klein auf wird uns bei­­gebracht, wie wir uns in bestimmten Situationen zu verhalten haben. Auch wenn es schon lange keine Angriffe mehr auf die Stadt gab, wissen alle, was zu tun ist. Pack die notwendigsten Sachen. Geh zu deinem Schutzraum – jedem Wohnviertel ist ein bestimmter Schutzraum zugeteilt. Helfe denen, die Hilfe benötigen. Bewahre Ruhe. Bisher funktioniert es ganz gut. Ob das auch so wäre, wenn die Leute gesehen hätten, was ich gesehen habe? Wohl kaum.

Endlich habe ich die Straße erreicht, in der ich wohne. Auch hier werden Vorbereitungen für den Angriff getroffen. Kram, der schon alt war, als ich geboren wurde, ist dabei, Tür und Fenster seines Hauses mit Brettern zu vernageln. Ob das irgendeinen Angreifer auf­­­halten würde, wage ich zu bezweifeln. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kommt Fran aus der Tür, ihre drei kleinen Söhne im Schlepptau. Jeder von ihnen hat einen schweren Rucksack auf dem Rücken, die Jungen tragen Holzschwerter – eine weitere sinnlose Geste.

Als Fran zu mir schaut, hebe ich die Hand zum Gruß, was ich einen Augenblick später bedaure, als sie mir zuruft: »Weißt du, was los ist?«

Sie fragt, weil ich die Tochter eines Wächters bin. Ich schüttele den Kopf. Weshalb sollte ich sie zusätzlich ängstigen?

Während meine Nachbarn aufbrechen, erreiche ich mein Zuhau­se. Es liegt Wand an Wand mit anderen Häusern, Dornwall bietet nicht allzu viel Platz. Die Sirenen hören in dem Moment mit ih­­rem Geheule auf, in dem ich die Tür öffne. Jeder, der nicht tot oder taub ist, wird inzwischen mitbekommen haben, dass Gefahr droht. Die folgende Stille ist fast schlimmer als der Krach. Ich hatte gehofft, meine Geschwister würden bereits fertig angezogen auf mich warten. Sie sind aber nirgendwo zu sehen. Sind sie etwa ohne mich losgegangen? Hat Ryan sie vielleicht abgeholt oder einer der Nachbarn? Aber dann fällt mein Blick auf ihre Schuhe im Flur, also müssen sie noch hier sein.

»Mina!« Ich werfe einen Blick in die leere Küche. »Ceren!« Ir­­gend­­wo über mir rumpelt es. Ich fliege die Treppe zum Obergeschoss hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und stoße die Tür zum Zimmer der Zwillinge auf. Sie sind nicht da. Ein Anflug von Panik zieht meinen Magen zusammen. »Wo seid ihr?!«

Die Tür zum großen Schrank schwingt auf und meine Schwester und mein Bruder klettern heraus.

»Warum habt ihr euch versteckt?«, frage ich und umarme die beiden erleichtert.

»Wir haben auf dich gewartet«, erklärt Mina und Ceren fügt hinzu: »Papa hat gesagt, immer wenn wir die Sirenen hören, sollen wir mit dir gehen.«

Mina nickt bestätigend. »Aber wir waren uns nicht sicher. Weil du zum Sammeln unterwegs warst. Wir haben überlegt, was wir machen sollen ...«

»... und dann hat es an der Tür geklopft«, vervollständigt Ceren den Satz.

»Wir haben uns im Schrank versteckt. Weil wir mit dir gehen wollten.«

Ich hebe die Hände, um den Redeschwall der beiden zu unterbrechen. Mina und Ceren sind neun Jahre alt. Während ich nach meiner Mutter komme, sehen sie eindeutig meinem Vater ähnlich. Ihre Augen sind blau und ihre Haare feuerrot. Sie tragen sie kurz, die beiden mögen es pflegeleicht.

»Habt ihr eure Sachen?«

Sie holen gepackte Rucksäcke aus dem Schrank und folgen mir in mein Zimmer, das neben ihrem liegt, wo ich einige Kleidungsstü­cke in eine Tasche stopfe. Ich mache noch einen Zwischenstopp im Bad, um meine Zahnbürste und ein paar andere Sachen einzupacken. Ein Blick in den Spiegel lässt mich innehalten. Ich sehe furchtbar aus. Meine braunen Haare sind zerzaust, Gesicht und Kleidung verschmutzt. Außerdem rieche ich seltsam. Es muss das schmut­­zige Seewasser sein, das immer noch an mir haftet. Zu gerne würde ich duschen, um den Dreck von mir abzuwaschen, aber dafür bleibt keine Zeit.

Als ich aus dem Bad komme, klopft es an der Tür. Mina öffnet. Es ist Ryan.

»Warum bist du vorhin so plötzlich verschwunden?«

»Ich wollte mit meiner Mutter reden«, antwortet er. »Als Mit­glied des Rates sollte sie wissen, was vor sich geht.«

Für jemanden, der sich für die Politik der Stadt nicht interessiert, ist das erstaunlich umsichtig. »Hast du sie gefunden?«

»Sie war im Ratssaal. Wo auch sonst?« Ein freudloses Lächeln huscht kurz über seine Mundwinkel. »Erst hatte sie keine Zeit für mich. Aber als sie erfahren hat, dass wir diejenigen waren, die den Feind entdeckt haben, konnte sie doch ein paar Minuten für mich erübrigen.«

»Nett von ihr«, sage ich und Ryan weiß genau, was ich meine.

»Ich konnte sie sogar davon überzeugen, dass ich bei der Ver­teidigung des Walls helfen kann.«

Ryan kämpft für die Stadt, während ich Babysitter spiele. Groß­artig. »Wie das?«

Diesmal ist sein Lächeln echter. »Ich habe ihr gesagt, dass es nicht gut aussehen würde, wenn alle ihre Söhne sich in einem Bun­ker vor dem Kampf verstecken.«

Jetzt verstecke ich mich also? Seine Worte machen mich ein bisschen wütend, obwohl ich weiß, dass er es nicht so gemeint hat.

»Welcher Kampf?«, fragt Mina ängstlich. »Werden wir angegriffen?«

»Ich erkläre es dir später«, versichere ich ihr.

»Ich muss los.« Ryan hebt seine Armbrust. Will er damit auf ge­­­panzerte Fahrzeuge schießen? »Ich wollte nur sehen, ob die Zwil­linge in Ordnung sind.«

Und ich dachte, du wärst wegen mir hier.

»Passt auf euch auf.« Er wendet sich zum Gehen.