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Beschreibung

Maya Williams ist eine hart arbeitende Karrierefrau, ehrgeizig und ambitioniert, an die Spitze eines New Yorker IT-Unternehmens zu gelangen. Eines Tages erhält sie ihre Chance: Sie soll ihren Chef bei einer Investorenkonferenz auf Hawaii vertreten. Nach ihrem Vortrag wird sie nicht befördert, sondern gefeuert – und ihr bisheriges Leben komplett über den Haufen geworfen. Durch die besondere Atmosphäre Hawaiis sieht sie das Leben, die Arbeit, die Liebe und sich selbst in neuem Licht. Bis sie nach einigen Monaten auf der Insel ein Angebot bekommt, von dem ihr altes Ich immer geträumt hatte …

Aloha und alles auf Anfang ist eine Hommage an Hawaii und gleichzeitig ein inspirierender, charmanter Roman voll positiver Energie, der Mut macht, das Glück zu suchen und seine Träume zu leben.

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Seitenzahl: 430

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Titel

Annicken R. Day

Aloha und alles auf Anfang

Roman

Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger

Insel Verlag

Widmung

Für mein Schmetterlingsmädchen

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Der Anfang

Letzter Aufruf

TechnoGuard Inc.

Ruth

Der Siebenunddreißigste

Die Präsentation

Lisa

Alistair Parker

Flut an Erinnerungen

Die Konferenz

Der Strand

Der Traum

Der Tag danach

Ruhe

Der Schlüssel zum Paradies

Josh

Das Strandhaus

George

Lani und Liat

Strandyoga

Ein Traum anderer Art

Chill, Strandbabe

Begegnung

Aimee

William

Inselleben

Die Kinder des Regenbogens

Den eigenen Traum finden

Ein unerwarteter Gast

Gestalten

Zurück in New York

Tag eins

Das erste Jahr

Das zweite Jahr

Das dritte Jahr

Loslassen

Weihnachten in New York

Zwischenlandung

Zurück auf der Insel

Die Wanderung

Ein Platz mit Ausblick

Heiligabend

Gute Reise, George

Flieg

Zwei Jahre später

Vielen Dank!

Über die Autorin

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Die Freiheit wartet auf dich

In den Lüften des Himmels

Und du fragst, »Was, wenn ich falle?«

Oh, Liebling, aber

Was, wenn du fliegst?

Erin Hanson

Wir bestaunen die Schönheit eines Schmetterlings,

und vergessen dabei so oft, was für Veränderungen er durchlaufen musste, um so schön zu werden.

Maya Angelou

Der Anfang

Nichts an einer Raupe sagt dir, dass aus ihr mal ein Schmetterling wird.

R. Buckminster Fuller

Letzter Aufruf

»Letzter Aufruf für Passagiere gebucht auf Hawaiian Airlines Flug 51 nach Honolulu! Ms Maya Williams wird gebeten, sich umgehend zu Ausgang neunundvierzig zu begeben. Das Gate schließt in wenigen Minuten.«

Mist, verdammter! Ob ich wohl jemals lernen würde, zum Fliegen keine High Heels anzuziehen? Sowieso schon knapp dran gewesen, hatte ich wegen der dämlichen Wasserflasche in meiner Tasche bei der Sicherheitskontrolle durch einen zusätzlichen Check gemusst. So was von typisch!

»Bitte, bitte, warten!«, stieß ich tonlos hervor und rannte aufs Gate zu. Ich hatte ganz vergessen, wie groß JFK war, besonders, wenn man es eilig hatte.

»Zwanzig Sekunden später, und wir hätten Sie nicht mehr durchlassen können«, teilte mir die Frau am Gate streng mit. Ich war zu sehr außer Atem, um irgendein Wort hervorzubringen, also lächelte ich sie nur dankbar an, scannte meine Bordkarte und ging durch die Brücke ins Flugzeug.

Beim Durchqueren der Business Class, wo die Passagiere bereits an teurem Champagner nippten, verfluchte ich die Geschäftsreiseregelung von TechnoGuard Inc. Nur die Vorstände durften Business Class fliegen. Da ich gerade mal einfache Bereichsleiterin Vertrieb war und damit Vorgesetzte von läppischen fünfhundert Angestellten der Firma – die wohlgemerkt jährlich IT-Sicherheitsprodukte für eine Milliarde Dollar verkauften –, musste ich in die Economy Class. Oder Touristenklasse, wie ich sie insgeheim nannte.

Ich trat aus dem ruhigen, luxuriösen Bereich der Business Class in eine Welt aus schmalen, engen Sitzen voll Familien in zueinanderpassenden Trainingsanzügen, Hawaiihemd tragenden Frauen und Männern im Rentenalter und plärrenden Kindern, die mit schokoladeverschmierten Gesichtern auf den Sitzen auf und ab hopsten, alle dicht an dicht.

Und das nun für die nächsten elf Stunden. Seufz.

In meinem anthrazitfarbenen Hosenanzug, den High Heels und mit der Laptoptasche aus schwarzem Leder stach ich eindeutig heraus. Und das bemerkten den Blicken nach zu urteilen auch meine Mitpassagiere.

Ein korpulenter Mann, dessen Hose gefährlich nah Richtung Poritze rutschte, kämpfte damit, eine viel zu große Tasche oben im Gepäckfach zu verstauen. Ich versuchte, geduldig zu bleiben, keine Miene zu verziehen, rollte aber innerlich mit den Augen. Was ich nicht alles aushalten musste … Hoffentlich würde es das am Ende wert sein.

Doch als wäre das alles noch nicht genug, stellte ich, als ich endlich meinen Platz in der vierunddreißigsten Reihe erreicht hatte, fest, dass ich zwischen einem älteren Ehepaar in identisch aussehenden Hawaiihemden eingequetscht sein würde, deren Augenbrauen in einer Art dauerhaften Überraschung nach oben gezogen waren. Ich nickte zu dem Sitz zwischen ihnen, um anzuzeigen, das sei mein Platz.

»Hallo, Schätzchen. Warte kurz, dann kannst du dich setzen«, sagte diese seltsam aussehende Frau in tiefstem Südstaatenakzent und mit einem fröhlichen Lächeln um die Lippen. Ich bemühte mich, ihren Enthusiasmus zu teilen.

Allein nur aus dem Sitz hochzukommen, forderte von ihr sämtliche Körperkraft, und der Gedanke, für die nächsten elf Stunden zwischen den beiden eingeklemmt zu sein, versetzte mich leicht in Panik.

»Könnte ich vielleicht den Gangplatz haben?«, fragte ich vorsichtig. Vielleicht hatten sie ja Mitleid mit mir.

Die Frau blickte zu ihrem Mann oder war er ihr Zwillingsbruder? »Engelbert, Liebling, schenken wir diesem zarten Geschöpf doch etwas Ellbogenfreiheit.« Mit diesen Worten wechselte sie auf den Sitz in der Mitte. Ihr massiger Körper passte nur mit Mühe und Not hinein.

»Vielen Dank.« Mit einem stillen Seufzer ließ ich mich auf den Platz am Gang nieder.

Vielleicht gab es doch einen Gott.

Nach der Durchsage des Kabinenchefs, dass das Boarding abgeschlossen sei, setzte sich das Flugzeug Richtung Rollbahn in Bewegung, und ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloss die Augen. Ich dachte an den gestrigen Tag und die zweifellos merkwürdigsten sechsunddreißig Stunden meines dreiundvierzigjährigen Lebens. Als ich gestern Morgen die Augen aufgemacht hatte, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, dass ich heute in einem Flugzeug sitzen würde – und ausgerechnet nach Hawaii …

TechnoGuard Inc.

Diesmal war ich am ersten Montag im Monat gestresster gewesen als üblich. Dieser Tag war wichtig, denn an ihm hatte ich meinen festen Termin für eine halbstündige Präsentation vor dem Vorstand – meine Chance zu glänzen, meinem Boss zu imponieren und zu zeigen, wie erfolgreich ich als Bereichsleiterin Vertrieb war.

Ich hatte das ganze Wochenende durchgearbeitet und war in der Nacht zuvor bis drei Uhr wach gewesen. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden.

»Wer sich nicht genug vorbereitet, bereitet sich aufs Scheitern vor«, lautete mein Motto. Ich war erst vor einem Jahr auf die Position einer Bereichsleiterin befördert worden. Ein nicht unbedeutender Erfolg: Immerhin war ich in der zwanzigjährigen Geschichte von TechnoGuard die erste Frau in der Vertriebsleitung.

Aber mein wahres Ziel, mein Bestreben, war eine Beförderung zur Vertriebsvorständin, mit einem Eckbüro (und Business-Class-Flügen) und allem, was sonst so dazugehörte. Um das zu erreichen, musste ich jeden Augenblick beweisen, was ich draufhatte, sowohl vor meinem direkten Vorgesetzten wie auch den anderen Männern des Vorstands.

Manchmal frustrierte mich das und laugte mich aus, aber wenn ich die Karriereleiter weiter hinaufklettern wollte, hatte ich nun mal keine Wahl, als meine Rolle in diesem Spiel zu spielen. Eine Rolle, in der ich genaugenommen so gut geworden war, dass ich mitunter vergaß, dass ich sie spielte.

Vorm Verlassen meiner Wohnung in der Upper West Side Manhattans hatte ich einen letzten Blick in den Spiegel geworfen. Ich hatte mich für einen schwarzen, engen Rock und eine weiße Bluse mit leichtem Dekolletee entschieden.

Ich war zufrieden mit meinem Talent, den klassischen Businesslook und subtile Sexyness zu kombinieren. Ein wichtiger Teil des Spiels. Der Effekt von High Heels, roten Lippen und ein bisschen nackter Haut auf die Konzentration und den Verhandlungswillen eines Manns überraschte – oder belustigte – mich immer wieder.

Es war keine Seltenheit, dass meine Kundinnen – vorwiegend Männer – gar nicht mitkriegten, was vorging, bevor der Vertrag abgeschlossen war und ich ihre Unterschrift schwarz auf weiß hatte. Jedes Mal ein kleiner Sieg. Ein Sieg – und eine klitzekleine Rache für all die Blicke, Kommentare und herablassenden Haltungen, die ich in dieser Branche als Frau erfahren und aushalten musste.

Doch heute ging es nicht nur darum, einen Kunden einzuwickeln, sondern den gesamten Vorstand. Ich hatte eine wichtige Mitteilung, deren Überbringerin ich nicht besonders gerne sein wollte, nur blieb mir nichts anderes übrig.

Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel fuhr ich mit dem Lift ins Erdgeschoss, grüßte Fred, den Pförtner, und trat durch die breiten Türen hinaus auf die Central Park West. Es war Viertel nach sechs und noch dunkel, aber New Yorks Straßen waren hektisch wie immer, vollgestopft mit Autos und Menschen. Alle hatten es eilig und die meisten wirkten noch gestresster als ich, was einiges hieß.

Ich trat an das Taxi, das mir Fred herangewinkt hatte. »Einen wunderbaren Tag, Ms Williams«, wünschte er und öffnete mir dabei die Autotür mit einem strahlenden Lächeln um den Mund. Wo er das hernahm, war mir schleierhaft. Ganz egal, ob es regnete oder schneite, er hatte immer ein freundliches Lächeln und einen netten Kommentar parat.

»Danke gleichfalls, Fred.« Ich erwiderte sein Lächeln, während ich hinten in den Wagen stieg. Nach nicht einmal fünf Sekunden war mir klar, dass die Laune des Taxifahrers nicht ebenso gut war wie die von Fred. Ich beobachtete vom Rücksitz aus, wie er hupte, andere Fahrer anbrüllte und, wenn es niemanden gab, den er beschimpfen konnte, vor sich hin fluchte.

Kurz gesagt: ein ganz normaler Morgen in New York.

Zum Schutz vor den Schimpftiraden des Taxifahrers steckte ich mir das Headset in die Ohren, hörte die Morgennachrichten und überflog dabei auf dem Smartphone meinen Posteingang. Seitdem ich zwischen Duschen und Anziehen zum letzten Mal nachgesehen hatte, waren über einhundert neue Mails eingegangen.

Ich klickte mich durch, ob irgendetwas eine unmittelbare Antwort erforderte. Eine Mail fiel mir ins Auge. »Einladung zur Versammlung des Netzwerks junger Frauen in Business und Management«, stand im Betreff.

Die Vorsitzende des Netzwerks, Cynthia Jones, fragte, ob ich für ihre Mitglieder einen Vortrag darüber halten könne, wie man es als Frau in der männerdominierten Geschäftswelt schaffte.

Ich blickte aus dem Taxifenster. Auf den Bürgersteigen hasteten Männer und Frauen in fast ununterscheidbarer Kleidung vorbei. Die Scheinwerfer der hunderten aggressiv südwärts durch den zähflüssigen, dichten Verkehr manövrierenden Autos demaskierten ihre leeren, gefühllosen Gesichter.

Ich seufzte. Was könnte ich diesen jungen Frauen schon sagen, was ihnen helfen würde, es in dieser brutalen Arbeitswelt zu etwas zu bringen?

»Arbeitet hart, härter als Männer.«

»Seid anpassungsfähig – gewöhnt euch daran, dass man euch als minderwertig behandelt.«

»Seid klug, aber nicht so klug, dass sich eure männlichen Kollegen bedroht fühlen.«

»Seht gut aus, aber nicht so gut, dass sich euer männlicher Boss von euch angezogen fühlt.«

Mir wurde plötzlich etwas übel. Nein, das konnte ich auf keinen Fall sagen. Womöglich würde jemand neugierig werden und Fragen stellen. Und das war wirklich das Letzte, was ich jetzt brauchte und wollte. Ich beschloss, abzulehnen.

Das Taxi erreichte das Bürogebäude in der 57th Street, und ich sprang heraus, hastete durch den Eingang und nahm den Lift in den sechsunddreißigsten Stock. Ich kam immer vor sieben Uhr ins Büro und erwartete das auch von meinem Team. Selbst wenn wir abends meist bis acht oder neun blieben. Wer es schaffen wollte, musste sich anstrengen. Die Konkurrenz war brutal. »Fressen oder gefressen werden«, sagte mein Vater immer.

Er hatte vierzig Jahre Erfahrung, ich nun knapp fünfzehn und wusste dennoch, er hatte Recht.

Im vollgestopften Lift standen ein paar Leute aus meinem Team, ich nickte ihnen kurz zu und vertiefte mich dann in mein Smartphone, ein glasklares Signal, dass ich nicht reden wollte. Für sinnloses Blabla hatte ich weder Zeit noch Interesse.

Als ich im sechsunddreißigsten Stock aus dem Lift stieg, sah ich, dass die meisten Teammitglieder bereits in ihren Kabinen saßen und mit Headsets auf dem Kopf auf ihre Bildschirme starrten.

Das Grüppchen an der Kaffeemaschine zerstreute sich bei meinem Anblick schnell zu seinen Arbeitsplätzen. Ich tat, als hätte ich es nicht bemerkt.

Ruth

Vor meinem Büro saß Ruth bereits an ihrem Schreibtisch. Sie war wie einem Magazin für smarte, elegante Geschäftsfrauen um die fünfzig entsprungen. Ihr extrem aufgeräumtes Organisationshirn gepaart mit ihrem höchst professionellen Stil machte Ruth zum Traum von einer persönlichen Assistentin.

Sobald sie mich entdeckte, stand sie auf, folgte mir dann ins Büro, machte die Tür hinter uns zu und überreichte mir eine Tasse frischgebrühten Kaffee, unsere tägliche Morgenroutine.

»Bereit, es denen zu zeigen?«, fragte sie mit einem spitzbübischen Grinsen.

»Immer«, antwortete ich und lächelte selbstsicherer, als ich mich fühlte.

Ruth setzte sich mit überschlagenen Beinen und dem iPad auf dem Schoß mir gegenüber und betrachtete mich über den Rand ihrer Brille, einem Fünfzigerjahremodell mit dickem, schwarzem Rahmen, welches das Bild der perfekten Sekretärin vervollkommnete.

»Okay, Boss. So sieht deine Woche aus.«

Wir hatten ja keine Ahnung, wie wenig sie nach Plan verlaufen würde.

Ich war Ruth vor fünf Jahren zum ersten Mal begegnet. Am Tag meiner Beförderung zur Vertriebsleiterin hatte sie an meine Tür geklopft, sich vorgestellt und erklärt, sie wolle für mich arbeiten.

»Wenn Sie es ernst meinen und es in dieser Firma zu etwas bringen wollen, dann brauchen Sie jemanden, der die Leute hier kennt, der Ihnen die Informationen beschafft, die Sie benötigen, inklusive der, die eigentlich nicht für Sie gedacht sind«, hatte sie gesagt und mir verschwörerisch zugezwinkert.

Ich hatte ihre Beherztheit bewundert.

Zwei Wochen später war ihr Chef, der Marketingdirektor, gefeuert worden. Und da hatte ich begriffen, wie gut informiert Ruth tatsächlich war. Sie hatte vom bevorstehenden Rausschmiss ihres Chefs gewusst, lange bevor er es tat.

Am Tag, als er verschwand, begann sie, für mich zu arbeiten.

Natürlich war es ungewöhnlich, dass sich eine persönliche Assistentin ihre Chefin aussuchte und nicht andersherum, aber an Ruth war nichts gewöhnlich.

»Wir Frauen müssen zusammenhalten«, sagte sie immer. Ich wusste, welche Frauen sie dabei meinte: die ambitionierten, zielstrebigen und vielleicht etwas gnadenloseren als üblich.

***

Von diesem Tag an war ich die Karriereleiter von TechnoGuard rasant nach oben geklettert. Dank Ruths kundigem Rat und ihrer Weisung wusste ich, wo ich sein sollte, was ich tun musste und was wann zu wem sagen.

Es dauerte nicht lange und ich wurde zur Teamleiterin Vertrieb befördert, dann zur Abteilungsleiterin Vertrieb, bis ich schließlich meine jetzige Stellung als Bereichsleiterin Vertrieb erhielt.

Wie lange es wohl dauern würde, bis ich mich Vertriebsvorständin nennen und mein eigenes Eckbüro im siebenunddreißigsten Stock beziehen konnte?

Ruth war wieder an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und ich ging ein letztes Mal alles durch, als sich der Alarm meines Telefons meldete. Es war Viertel vor neun und meine Präsentation vor der Geschäftsführung auf neun Uhr angesetzt.

Auf dem Weg in die »Herrenclubetage«, wie der Siebenunddreißigste gern genannt wurde, dachte ich über ein paar der Spitznamen nach, die mir die Chefs dort oben gegeben hatten: »Knutschemündchen«, »Eiskönigin« und »Ms Dauersingle«.

Daraus sprach verletztes Männer-Ego. Die meisten von ihnen hatten irgendwie versucht, mich anzubaggern, oder bei einem dieser grässlichen geselligen Firmenabende, zu deren Teilnahme ich mich gezwungen hatte, nach ein paar Glas zu viel durchblicken lassen, sie könnten mir gerne eine Nacht Gesellschaft leisten.

Sie waren klar abgeblitzt, ausnahmslos. Nicht so gnadenlos, wie ich mir das gewünscht hätte, aber wenn man bedenkt, dass es keiner ein zweites Mal versucht hatte, war ich wohl deutlich genug gewesen.

Der Siebenunddreißigste

Der siebenunddreißigste Stock war wie eine andere Welt – mit großen Räumen und dicken Teppichen. In der Mitte des Vorraums erstreckten sich zwei riesige, braune Sofas, die nach altem Leder rochen.

Jedes Büro hatte die Größe von zehn Kabinen des sechsunddreißigsten Stocks zusammen, die Eckbüros waren noch größer. Die Türen waren immer geschlossen, und ein rotes beziehungsweise grünes Licht signalisierte, ob man klopfen durfte oder nicht.

Ich setzte mich auf eines der Ledersofas und sah mich um. Der Wartebereich hätte auch ins Set der Fernsehserie »Mad Men« gepasst. Die Einrichtung war altmodisch, schwer und dunkelbraun und triefte vor Macht, Testosteron, Selbstverherrlichung und Gier.

Agnes, die Rezeptionistin, passte perfekt in diese Umgebung. Ihre enganliegende Bluse ließ wenig Raum für Fantasie, und der Spalt zwischen ihren Brüsten hätte leicht als Halter für zehn bis zwölf hintereinander steckende Bleistifte dienen können. Ehrlich gestanden erstaunte mich, dass der Finanzvorstand mit seinem offensichtlichen Faible für großbusige Frauen nicht noch mehr mit den Zahlen herummurkste als ohnehin schon.

Dank Ruth wusste ich das meiste, was hier oben im Siebenunddreißigsten vor sich ging.

Es faszinierte mich, dass die Vorstände, die sich garantiert selbst als überdurchschnittlich intelligent ansahen, dumm genug waren, ihre kleinen schmutzigen Geheimnisse bei ihren persönlichen Assistentinnen in Sicherheit zu wähnen. Die Assistentinnen wurden wie Dreck behandelt und galten als sowohl unintelligent wie auch loyal, aber ich wusste, diese Frauen waren beides nicht.

Jeden letzten Freitag im Monat trafen sich die Assistentinnen in einer nahgelegenen Bar zum »Therapieabend«. Bei großen Gläsern Margarita beschwerten sie sich über ihre grausamen Chefs und tauschten Klatschgeschichten aus, eine schockierender als die andere. An den Montagen danach konnte Ruth kaum erwarten, mir zu erzählen, was sie über die Politik, die Idiotie, die Machtkämpfe und die geheimen Leben der Herren Geschäftsführer herausgefunden hatte.

Der Höhepunkt des Monats.

Ich wusste von Agnes und dem Finanzvorstand, der angeblich ziemlich viele »Überstunden schob«. Einmal hatte jemand gehört, wie er bei einer Telefonkonferenz am späten Abend mitten in einer Diskussion über die Einführung neuer Bilanzroutinen »Oh, ja!« gestöhnt hatte. »Der Finanzvorstand fährt offenbar ziemlich auf Zahlen ab«, hatte ein Kollege trocken kommentiert.

Eine andere Geschichte drehte sich um den Marketingvorstand, dessen Macke es war, neue Mitarbeiter mit einem in Geschenkpapier verpackten Stapel von irgendwann in den 80ern geschriebenen Marketingbüchern willkommen zu heißen, die sie lesen sollten.

Einmal hatte er jedoch einer Mitarbeiterin das falsche Päckchen gegeben. Sein Irrtum war ihm aufgegangen, als das Escort-Mädchen, das er sich in regelmäßigen Abständen holte, angerufen und gefragt hatte, was sie mit diesen ganzen Büchern solle.

Schnell hatte er seine Assistentin in die Marketingabteilung gescheucht, um das Paket von der neuen Marketingmitarbeiterin zu holen, aber zu spät. Sie starrte schon schockiert auf den riesigen rosa Dildo vor sich auf dem Schreibtisch.

Aber die Krönung aller Geschichten war die über den Produktvorstand, der weithin für einen machohaften Führungsstil und sexistisches Benehmen bekannt war. Als er eines Tages nicht zur Arbeit erschienen und weder ans Telefon gegangen war noch auf Nachrichten reagiert hatte, hatte sich seine Assistentin Sasha Sorgen gemacht und seine außerhalb der Stadt weilende Ehefrau angerufen. Auch die war beunruhigt und hatte Sasha gebeten, zuhause nach dem Ehemann zu sehen, der Pförtner sollte ihr die Schlüssel zur Wohnung geben.

In der Penthousewohnung an der Park Avenue angekommen, fand Sasha ihren Chef am Boden liegend – brüllend und knurrend, mit hinterm Körper gefesselten Füßen und Händen und mit nicht mehr bekleidet als einer Windel und einem rosa Tutu.

»Ich wurde mit Drogen ausgeknockt! Jemand hat mich überfallen! Es ist nicht so, wie es aussieht!«, schrie er bei ihrem Anblick.

»Ja, sicher«, dachte Sasha insgeheim und eilte in die Küche, um ein Messer zu holen. Während sie ihren Chef von dem straff um Knöchel und Handgelenke gewickelten Seil befreite, fiel ihr Blick auf einen Zettel auf dem Tisch.

»Das passiert mit gierigen Drecksäcken und Lügnern. Such dir 'nen anderen Babysitter«, stand da. Neben dem Zettel lag die offene Brieftasche. Mit Ausnahme von ein paar Kreditkarten leer.

Ihr Chef wickelte sich eilig eine Decke um den Körper, wodurch das Tutu um seine Hüften eine lächerliche Silhouette bildete, und bettelte Sasha unter gleichzeitigen Drohungen an, nur ja niemandem davon zu erzählen. Sie bekäme dafür auch eine ordentliche Kompensation, in Form von, wortwörtlich zitiert, »einem Arsch voll TechnoGuard-Aktien«.

Sasha hatte ihm mit regungsloser Miene versichert, sein Geheimnis sei bei ihr sicher, und war dann gegangen, damit sich ihr Chef in Ruhe anziehen konnte.

Aber ihr Schweigen sollte nicht lange währen.

Beim nächsten »Therapieabend« sprudelte die Geschichte nach dem zweiten Margarita aus ihr heraus. Unter der Wirkung des Alkohols und dem Gemeinschaftsgefühl zwischen den Assistentinnen konnte Sasha das Geheimnis nicht länger für sich behalten. Als sie detailreich das Geschehnis beschrieb, lachte sie dermaßen, dass sie kaum sprechen konnte. Am Ende lagen zwei ihrer Kolleginnen mit Lachkrämpfen auf dem Boden, eine von ihnen machte sich vor Lachen gar in die Hose.

Ruth war kein großer Fan dieser Assistentinnenabende, ging aber trotzdem hin, weil sie wusste, dass die Informationen, die sie an diesen Abenden bekam, eines Tages nützlich sein könnten.

Für sie und für mich.

Die Präsentation

Um zehn nach neun sagte Agnes, die Vorstände seien bereit für mich.

Ich betrat das große Konferenzzimmer mit den raumhohen Fenstern Richtung Central Park und dem riesigen, dunklen Holztisch, der die Männer rundherum kleiner aussehen ließ, als sie eigentlich waren. Ich bezweifelte, dass ihnen klar war, wie lächerlich sie wirkten, wie kleine Jungs, die Männer spielten.

Sie waren in ein Gespräch über die verspätete Markteinführung eines Produkts vertieft und beachteten mich kaum.

Mich hatte es immer wieder mal gereizt, anzudeuten, was ich über sie wusste, besonders, wenn sich ihre aufgeblasenen Egos, ihr selbstgefälliges Grinsen und ihre herablassende Haltung bemerkbar machten, während ich sprach. Aber Wissen ist Macht, egal, ob man es einsetzt oder nicht. Was ich über sie wusste, verschaffte mir einen psychologischen Vorteil, von dessen Existenz die Herren Geschäftsführer nicht den blassesten Schimmer hatten.

Die Machtspielchen von Männern fühlten sich nämlich nicht besonders bedrohlich an, wenn man wusste, dass hinter dem riesigen Ego ein Kleiner-Schwanz-Komplex steckte, oder sie der Versuch waren, einen Mangel an mütterlicher Liebe in der Kindheit zu kompensieren.

Aber es gab andere, besorgniserregendere Dinge, die mir Ruth erzählt hatte, als die lächerlichen, sexuellen Eskapaden: zum Beispiel unethische Absprachen, schmutzige Machtspiele und illegale Geschäftspraktiken. Manchmal fragte ich mich, ob mein Vorgesetzter Alistair Parker ebenfalls davon wusste oder gar selbst involviert war.

Ich hatte mehrmals überlegt, mit ihm darüber zu sprechen. Wenn nur die Hälfte dessen, was ich gehört hatte, stimmte, war das Unternehmen womöglich ernsthaft in Gefahr. Aber zur Whistleblowerin zu werden, war selten eine gute Karriereentscheidung. Vermutlich war dichtzuhalten und weiter meinen Job zu machen die bessere Strategie, als die Mutter Teresa der Firma zu spielen.

Denn nichtsdestotrotz redeten wir hier über das Business, eine Welt voller Grauzonen, in der die Grenze zwischen richtig und falsch vage war, wo Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit selten vorteilhaft waren und wo die Kontrolle hatte, wer an der Macht war.

Auch wenn man im rosa Tutu und in Windeln erwischt wurde.

***

Ich verband meinen Laptop mit dem Beamer und betrachtete die Männer, während ich darauf wartete, dass sie still wurden. Auf der anderen Seite des Konferenztischs saß Mike Harrow, der Technikvorstand. Bei den Ingenieuren der Forschungs- und Entwicklungsabteilung galt er mit seinen schlecht geschnittenen, nicht sitzenden Anzügen und bunten Krawatten, mit denen er zwischen den IT-Ingenieuren in ihren T-Shirts und Sandalen herumstolzierte, als wandelnde Witzfigur.

Er hatte keine Ahnung, woran sein Team saß, und schien auch kein besonderes Interesse zu haben, es herauszufinden. Aber den Ruhm für ihre Arbeit strich er, ohne mit der Wimper zu zucken, ein. Diese Mischung aus mangelndem Wissen und riesigem Ego war gefährlich. Einige Ingenieure hatten artikuliert, sie machten sich Sorgen, er würde eher das gesamte Team kündigen, als seine eigene Inkompetenz einräumen – eine berechtigte Angst, wie sich herausgestellt hatte, als er einen der brillantesten Köpfe des Teams feuerte, weil der seine Entscheidungen hinterfragt hatte.

Rechts von mir saß der Finanzvorstand, Harry Johnson, und blätterte durch ein paar Papiere. Er war ein trockener Buchhaltertyp mit dem Lebensmotto: »Was nicht in einer Tabellenkalkulation steht, existiert nicht.« Es war schier unmöglich, nicht an seine garantiert alles andere als trockenen, abendlichen Überstunden zu denken. Für einen Moment musste ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Laptopbildschirm richten, um nicht laut loszuprusten.

Neben Harry saß Brad Miller, der Marketingvorstand – ein glatzköpfiger, übergewichtiger Mann von etwas über sechzig, dessen Definition von Marketing im Schalten von Zeitungsannoncen bestand. Er wirkte wie ein uralter Opa, was ihn nicht an dem Vorschlag gehindert hatte, mit mir eine Geschäftsreise zu machen, zwinker, zwinker. Er sollte sich glücklich schätzen, dass ich alle Vorstände mit mehr Respekt behandelte, als sie verdient hatten.

Links von mir saß Alistair Parker. Mein Chef war ein intelligenter, tüchtiger Geschäftsmann, der seine Karten zu spielen wusste. Langsam, aber sicher war er die Rangleiter bei TechnoGuard hochgestiegen, bis man ihm vor sieben Jahren den Posten als CEO übertragen hatte, ein paar Monate bevor ich in der Firma angestellt wurde. Er war immer gut angezogen, gepflegt und auf diskrete, bescheidene Art freundlich. Alistair war einer der wenigen Männer, der sich von mir nie zu einem Flirt oder chauvinistischen Kommentar provoziert gefühlt hatte. Und er war der, der einmal entscheiden würde, ob ich einen Platz am Tisch der Vorstände bekommen würde.

»Dann fangen wir an«, sagte Alistair, und um den Tisch wurde es ruhig.

Meine PowerPoint-Präsentation zeigte die Verkaufszahlen des letzten Monats, deren Kurve eine Spur abgeflacht war, die Verkaufsziele hatten wir aber nichtsdestotrotz vollständig erreicht. Immer mehr Firmen weltweit erkannten, was alles gehackt werden konnte, und angesichts unserer gut etablierten IT-Sicherheitslösungen wirkte sich ihre Angst zu unserem Vorteil aus.

Die meisten der Vorstände folgten meiner Präsentation von Verkaufsaussichten und Informationen über einige mögliche Vertragsabschlüsse mit Neukunden. Nur Mike Harrow schien Besseres zu tun zu haben – er klebte mit dem Blick auf seinem Telefon. Ich erhob die Stimme eine Spur. Was ich nun sagen würde, sollte er mitkriegen.

»Nach mehreren Monaten der Verhandlungen sind wir nur noch ein paar Schritte vom Vertragsabschluss mit einer Reihe äußerst prestigeträchtiger, staatlicher Kund:innen entfernt«, sagte ich, ließ die Worte kurz nachhallen, beugte mich vor und stützte mich mit den Händen auf den Tisch. Das war der Augenblick, auf den ich mich die halbe Nacht lang vorbereitet hatte.

»Aber mir ist etwas zu Ohren gekommen, eine Sache, die im nächsten Monat Verträge für ungefähr 50 Millionen Dollar gefährden könnte.«

Ich betrachtete die Männer. Die Spannung in der Luft war zum Greifen.

»Mehrere Leute der Forschungs- und Entwicklungsabteilung berichten, es gebe in einem der IT-Sicherheitssysteme, das wir bei einer Vielzahl unserer Kund:innen installiert haben, einen Bug, einen Programmfehler.«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, um sicherzugehen, dass auch alle die Botschaft empfangen hatten.

»Wie Sie verstehen, ist das eine äußerst ernsthafte Situation und selbstverständlich können wir, bis das Problem gelöst ist, keinen einzigen neuen Vertrag abschließen.« Ich machte eine winzige Pause und sprach dann weiter. »Und ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, was für potentielle Konsequenzen das für unseren Ruf, die Verkaufszahlen und nicht zuletzt für den Aktienwert des Unternehmens haben könnte.«

Der letzte Punkt schlug am meisten ein. Wahnwitzig großzügige Aktienoptionspläne waren Teil des Gehaltspakets aller um den Tisch versammelten Vorstände, weswegen sich jede Änderung des Aktienkurses in ihren Brieftaschen bemerkbar machen würde. Im Laufe der Jahre hatte ich begriffen, dass das das Einzige war, wofür sie sich wirklich interessierten.

Selbstverständlich hatte ich die Sache mit dem Bug als Erstes von Ruth gehört. Ein kurzer Besuch in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung und das Gerücht war bestätigt. Es gab in einem IT-Sicherheitssystem von TechnoGuard einen Fehler, den keiner zu beheben wusste. Der Entdecker des Fehlers war auf der Stelle von Mike Harrow gekündigt worden. Problematischerweise war der Gefeuerte auch der Einzige, der wusste, wie der Fehler zu beheben war.

Bei der Vorbereitung meiner Präsentation hatte ich vermutet, heute eine wohl unangenehme Enthüllungsbombe in den Raum zu schmeißen. Aber erst als sie hochging, wusste ich, wie groß sie eigentlich war.

Alistairs Augen zogen sich zu einem Schlitz zusammen, als er den Kopf drehte und Mike anstarrte, der innerhalb weniger Sekunden einen extremen Schweißausbruch bekommen hatte. Ausgehend von den Schweißperlen auf seiner Stirn hatte er von dem Problem gewusst, aber seinem Vorgesetzten die Information vorenthalten.

»Ist das wahr, Mike?«, fragte Alistair.

»Ich hatte vor … hatte vor … hatte vor, das zu erwähnen«, stotterte Mike, und sein Blick raste durch den gesamten Raum, um nur ja nicht in Alistairs wütende Augen zu sehen. Er wirkte verschreckt, wie ein kleiner Junge, der mit heruntergelassenen Hosen erwischt worden war. Fast schon ein bemitleidenswerter Anblick.

»Du hattest vor, es zu erwähnen?«, fauchte Alistair durch zusammengepresste Zähne. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er kochte vor Wut. Alle um den Tisch wirkten panisch.

Alistair wandte sich mit eiskaltem Blick an mich.

»Wir machen hier Schluss. Lass uns jetzt bitte allein. Wir sprechen später.«

Ich schluckte schwer und klappte den Laptop mit einem Nicken zu. Beim Verlassen des Konferenzraums warf ich einen letzten Blick auf die Männer um den Tisch. Wie seid ihr eigentlich hier gelandet?, dachte ich vor mich hin und schloss dann die Tür hinter mir.

Auf dem Weg zurück zu meinem Büro kam mir eine Aussage der Leute aus meinem Team in den Sinn, dass der Erfolg von TechnoGuard nicht wegen des Vorstands entstanden sei, sondern trotz ihm. Und je mehr ich mit diesen Männern zu tun hatte, desto mehr stimmte ich dem zu.

Irgendwie war ich froh, nicht zu diesem Haufen arroganter, egozentrischer Vorstandsidioten zu gehören. Andererseits dachte ich aber auch, dass die Sache vielleicht ganz anders aussähe, säße ich mit am Tisch.

Lisa

Meine Arbeitstage waren heftig, gelinde gesagt. Und mein Privat- und Sozialleben eher unspektakulär. Die meisten meiner Freundinnen und Freunde hatten mich längst abgeschrieben. Ich hatte einsehen müssen, dass es eine Obergrenze dafür gab, Einladungen auszuschlagen, nicht zurückzurufen oder Nachrichten nicht zu beantworten, ab der man keinen Pieps mehr voneinander hörte.

Mit Lisa war das anders, zum Glück. Wir waren seit dem Kindergarten befreundet und sie war für mich wie eine Schwester. Ich konnte auf sie zählen, wann immer ich ein paar Stunden Pause vom restlos vereinnahmenden Firmenwahnsinn brauchte.

Früher hatte Lisa selbst in diesem Karriereeilzug gesessen, bis sie ihn eines Tages für »seelenzerstörend und komplett bedeutungslos« erklärt, ihren Job als Marketingdirektorin einer großen PR-Agentur gekündigt hatte und nach Indien gefahren war, um Yogalehrerin zu werden. Wenn wir auch unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, und obwohl manchmal Monate zwischen unseren Treffen vergingen, kam es uns beim Wiedersehen vor, als wäre keine Zeit vergangen.

Lisa widmete ihr Leben nun der Aufgabe, überarbeiteten Chefs und deren Opfern durch Yogastunden und Meditationsanleitung sowie Ratschlägen zur Selbstfürsorge und Ernährung zu helfen. Sie sprach gern davon, ich sei ihr hoffnungslosester Fall. Weder hatte sie es geschafft, mich in ein Yogastudio zu schleifen, noch mich zum Meditieren zu bewegen oder damit aufzuhören zu essen, was mir unter die Finger kam, wenn ich von hier nach da hetzte.

Das letzte Jahr hindurch, seit meiner Beförderung zur Bereichsleiterin, hatten Lisa und ich für den Abend des ersten Montags im Monat eine feste Verabredung. Nach meiner monatlichen Präsentation vorm Vorstand musste ich auf andere Gedanken kommen und mit Hilfe von ein paar Gläsern Wein die Ereignisse des Tags aus meinem System spülen.

Und das war an diesem Montag nicht anders.

Ausnahmsweise war ich früher im Tony's als Lisa. Tony's ist ein italienischer Schuppen mit der besten Pizza der Gegend und den am großzügigsten eingeschenkten Gläsern Wein. Obendrein lag der Laden nur zwei Blocks von meiner Wohnung entfernt, ein großer Vorteil, da diese Montage oft mit einem oder zwei Gläsern zu viel endeten.

»Du bist eine Einmal-im-Monat-Alkoholikerin«, witzelte Lisa, während sie dabei zusah, wie ich im Takt mit der einsetzenden Wirkung des Alkohols ein ruhigerer, ausgeglichenerer Mensch wurde.

»Vielleicht versuchst du es stattdessen mal mit Yoga«, hatte sie einmal den Vorstoß gewagt, aber die Reaktion in meinem Gesicht ließ sie diese Anregung nie mehr wiederholen. Abgesehen davon waren wir uns völlig einig, wie schön dieses monatliche Ritual war, denn normalerweise schafften wir dazwischen kein weiteres Treffen. Den Rest des Monats arbeitete ich mir den Arsch wund, und Lisa war schwer damit beschäftigt, Leute wie mich dazu zu bewegen, sich mehr zu entspannen und einen gesünderen, ruhigeren Lebensstil zu etablieren.

Als Lisa auftauchte, hatte ich schon eine Handvoll schwarzer Oliven gegessen und mein erstes Glas Rotwein, einen süffigen Valpolicella, zur Hälfte geleert. Sie blieb kurz am Tresen stehen, um Antonio, den Inhaber, zu begrüßen und sich ebenfalls einen Wein zu bestellen. Wie immer registrierte ich erleichtert, dass Lisa noch Alkohol trank. Ich hatte Alpträume, dass sie plötzlich darauf bestehen könnte, uns in der Saftbar ein paar Straßen weiter zu treffen.

Lisa kam auf mich zu und ich bemerkte, wie ihr Antonio hinterherguckte. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah, aber wem nicht? Die Männer sabberten förmlich los, wenn sie nur ihr strahlendweißes Lächeln blitzen oder diesen absurd durchtrainierten Yogakörper zur Geltung kommen ließ.

Lisa war kein großer Fan von Smalltalk. Kaum hatte sie mich umarmt und sich gesetzt, steckte sie sich eine Olive in den Mund und fragte: »Wie war die Behandlung?«

Sie sprach von dem Termin, den ich bei ihrem schwedischen Freund Gustav gehabt hatte, dem angeblich besten holistischen Körpertherapeuten von ganz New York.

Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was das bedeutete, aber ich hatte einer Behandlung bei ihm zugestimmt, weil Lisa meinte, er könne mir möglicherweise mit den Nacken- und Rückenschmerzen helfen, die mich seit sieben Jahren nervten.

»Ehrlich gesagt, es war eine Vollkatastrophe«, sagte ich mit einem Augenrollen.

Lisa sah mich überrascht an.

»Warum?«

»Na ja, erstens hat er mich nicht einmal untersucht. Er hat mich nur auf eine Liege legen und atmen lassen. Ich habe exakt das getan, was er gesagt hat, aber er hat ständig wiederholt, ich soll tiefer in den Bauch atmen.«

Lisa schien jedes Wort aufzusaugen, also redete ich weiter.

»Am Ende hat er mich mit einem sogenannten ›Flachatmungs-Syndrom‹ diagnostiziert und gemeint, meine Schmerzen im Rücken und Nacken kämen höchstwahrscheinlich davon, dass meine Blutkörperchen und Muskeln nicht genug von Sauerstoff durchflutet werden.«

Lisa nickte begeistert. »Höchst interessant!«, sagte sie. »Und was war sein Vorschlag?«

Offenbar nahm sie diese Diagnose ernster als ich.

»Na ja, das ist ja die Katastrophe«, erklärte ich.

Lisa schien verwirrt. »Was meinst du?«

»Als ich ihn gefragt habe, ob er mir ein Rezept für Sauerstoffpillen ausstellen kann, hat er einfach losgelacht. Er hat wohl geglaubt, das wäre ein Witz.«

Lisa seufzte und lächelte resigniert. »Du bist echt unglaublich, Maya Williams.«

Ich schüttelte den Kopf und sprach weiter. »Und dann hat er mir etwas auf einen Zettel gekritzelt.«

Ich öffnete mein Portemonnaie und zeigte Lisa den Zettel.

»Eine Viertelstunde pro Tag NICHTS tun. Dreimal täglich fünf tiefe Atemzüge. Spazieren gehen. Spaß haben. Zur Ruhe kommen.«

Lisa lächelte beim Lesen. Mir war unbegreiflich, warum sie nicht loslachte.

»Ganz ehrlich, Maya. Das ist das beste Rezept, das du kriegen konntest. Genau das brauchst du!«

Sie beugte sich vor und nahm meine Hand, wie oft, wenn sie mir ins Gewissen reden wollte.

»Schau dich mal an: Du bist immer beschäftigt, arbeitest ununterbrochen, bist immer irgendwas am Machen, checkst deine Mails, telefonierst, entspannst nie, schläfst fast nicht. Maya, du brauchst eine Pause! Du musst dich erholen, wirklich runterkommen. Dich vielleicht mal flachlegen lassen.«

»Sich flachlegen lassen« war Lisas Lösung für die meisten Probleme des Lebens.

»Ich habe keine Zeit, nichts zu tun«, erwiderte ich. »Und um ganz ehrlich zu sein, Lisa, Sex ist so ungefähr das Letzte, woran ich gerade denke.«

Ich stand auf, um mir am Tresen noch ein Glas Wein zu holen, aber Lisa hielt meine Hand weiter fest. Ich hatte keine Wahl, als mich wieder zu setzen.

»Ich weiß, aber das ist schon seit sieben Jahren das Letzte, woran du denkst.« Sie beugte sich über den Tisch, um auch noch meine zweite Hand zu nehmen. Diesmal würde sie mich offenbar nicht davonkommen lassen.

»Er war ein Arsch, Maya. Er hat dich ausgenutzt. Er hat dich fast vergewaltigt. Aber die wenigsten Männer sind wie er. Und du musst aufhören zu denken, sie wären es.« Lisas Augen füllten sich mit Tränen und sie presste die Zähne aufeinander. Die Geschichte hatte riesige Narben in mir hinterlassen, obwohl ich alles dafür getan hatte, darüber hinwegzukommen. Aber es überraschte mich immer wieder, wie traurig und wütend Lisa machte, was mir passiert war, selbst nach all den Jahren.

»Ich verstehe bis heute nicht, wie du dieses Arschloch hast davonkommen lassen. Mann, er war dein Chef! Er hätte bestraft werden müssen. Stattdessen hast du deinen Job verloren.«

Ich tätschelte behutsam ihre Hand. »Ist schon okay, Lisa. Ich bin darüber hinweg. Und das solltest du auch sein.«

»Aber das ist es ja«, widersprach Lisa und schaute mich mit tränenverschleiertem Blick an. »Das bist du nicht.«

Der Nachrichtenton meines Telefons rettete mich.

»Moment«, sagte ich und ignorierte Lisas Augenrollen.

Es war eine SMS von meinem Chef.

»Komm morgen früh um 7 in mein Büro. Alistair.«

Ein Schlag in die Magengrube.

»Was ist, Maya?«, fragte Lisa besorgt. »Du bist ganz blass.«

Ich holte tief Luft und hörte meine Stimme von irgendwo anders, weit, weit weg.

»Tut mir leid, Lisa, aber ich muss jetzt gehen. Ich glaube, ich werde morgen gefeuert.«

Alistair Parker

Am nächsten Tag betrat ich um zehn vor sieben das Bürogebäude und fuhr mit dem Lift direkt in den Siebenunddreißigsten. Agnes war bereits an ihrem Schreibtisch, und um sie herum tummelten sich ein paar andere Assistentinnen. Sie schien überrascht, mich zu sehen.

»Ich habe um sieben einen Termin bei Mr Parker«, sagte ich und warf einen Blick zu der geschlossenen Bürotür. Das Lämpchen leuchtete rot.

Agnes blickte kurz auf ihr iPad, dann wieder zu mir und schüttelte mit einem leicht herablassenden Lächeln den Kopf.

»Tut mir leid, Sie stehen heute nicht in Mr Parkers Kalender. Möchten Sie einen Termin für einen anderen Tag?« Ihr Lächeln war eiskalt.

Keine Ahnung, was mit mir los war, aber ich faltete sie ordentlich zusammen. »Ist mir völlig egal, ob mein Name in deinem dämlichen Kalender steht oder nicht. Mr Parker hat mir gestern Abend eine SMS geschickt. Wir haben um sieben einen Termin, also kannst du jetzt, wenn es dir nichts ausmacht, bitte von deinem hohen Ross runtersteigen und ihm sagen, dass ich da bin?«

Mein Ausbruch überraschte mich ebenso sehr wie Agnes.

Ich dachte gerade darüber nach, ob ich mich entschuldigen sollte, da öffnete Alistair die Tür und winkte mich zu sich herein. Als ich an Agnes vorbeimarschierte, hob sie nicht einmal den Blick.

In Alistairs Büro stellte ich mich vor den Schreibtisch und wartete wie eine Verbrecherin im Gerichtssaal auf das Urteil.

Alistair setzte sich in den braunen Ledersessel hinter seinem großen Mahagonitisch und machte eine Handbewegung in Richtung des kleineren Lederstuhls auf der anderen Seite.

»Setz dich, Maya«, sagte er, und ich setzte mich vorsichtig auf die äußerste Stuhlkante. Ich blickte ihn direkt an und war überrascht. Der allzeit gut angezogene, gepflegte Alistair Parker sah aus wie ausgekotzt, als hätte er mehrere Tage weder geduscht noch geschlafen.

»Da hast du gestern in ein Wespennest gestochen, Maya.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Dieser Bug darf nicht an die Öffentlichkeit dringen«, sprach er nach einer kurzen Pause weiter. »Schon der geringste Zweifel an der Sicherheit unserer Produkte kann alles zerstören, was wir die letzten zwanzig Jahre aufgebaut haben.«

War das sein Warmlaufen, um mich zu feuern?

Seine Worte hingen eine Weile in der Luft, dann sprach er weiter. »Morgen Nachmittag gibt es eine wichtige Investorenkonferenz, auf deren Rednerliste ich stehe. Wir sind dort jedes Jahr und kämpfen mit zehn anderen Technologieunternehmen um Investorengelder, indem wir die Finanzanalysten mordsmäßig beeindrucken und dafür sorgen, dass das Vertrauen in unser Unternehmen wächst.«

Ich schwieg weiter und wartete auf die Erklärung, warum er mir das erzählte.

»Bevor diese Sache nicht vom Tisch ist, kann ich hier nicht weg. Aber wenn wir nicht auf der Konferenz erscheinen, geht womöglich das Brodeln in der Gerüchteküche los.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen sah mir Alistair direkt in die Augen.

»Ich habe dich mit Kunden und auf der Bühne gesehen, Maya. Du bist sachkundig, verlässlich und gnadenlos. Ich möchte, dass du mich morgen bei der Investorenkonferenz vertrittst.«

Ich starrte ihn einfach nur an. Wahrscheinlich hätte ich wohl erleichtert sein sollen – zumindest wurde ich nicht gefeuert. Aber das? Den CEO von TechnoGuard bei einer Investorenkonferenz vertreten?

»Ich möchte, dass du auf die Bühne gehst und den Analysten und Investoren erzählst, dass alles in bester Ordnung ist, dass unsere IT-Sicherheitslösungen einhundert Prozent sicher sind und dass ihr Geld bei uns in sicheren Händen ist.«

»Du willst also, dass ich lüge?« Die Worte purzelten aus meinem Mund und klangen kritischer als gewollt. Alistairs Blick wurde eiskalt.

»Ich möchte, dass du deinen Job machst, dass du machst, was für die Firma am besten ist. Wenn das beinhaltet, zu lügen, dann ja, dann möchte ich, dass du lügst. Und falls du meinst, das hier wäre eine Anfrage, dann irrst du dich. Das ist ein Befehl.«

Die letzten vier Worte machten mir ein mulmiges Gefühl, aber ich war klug genug, das nicht zu zeigen.

»Übrigens«, sprach er weiter, »die Konferenz ist auf der hawaiianischen Insel Kaua'i, du solltest also sofort nach Hause und packen. Agnes bucht dich auf einen Nachmittagsflug und ich schicke dir meine PowerPoint. Du hast auf dem Flug genug Zeit, dich vorzubereiten.«

Und damit wandte sich Alistair wieder seinem Bildschirm zu und zeigte mit einem Handwedeln an, dass ich gehen konnte.

Als ich schon fast an der Tür war, rief er mir hinterher. »Und noch eins, Maya. Wenn du das mit Bravour durchziehst, wartet hier bei deiner Rückkehr ein Vorstandstitel und ein Eckbüro. Mike hat für beides keine Verwendung mehr.«

Okay, vielleicht mochte ich es nicht, dass man mir Befehle gab, aber die Belohnung, die diesem Befehl folgte, mochte ich definitiv. Ich beschloss, das mulmige Gefühl wegzuschieben und mir einzureden, am Ende wäre es die Sache wert.

Endlich würde ich mein Karriereziel erreichen: Vorstandstitel, Eckbüro, Machtposition.

Aber ich war nicht naiv. Fünfzehn Jahre in dieser Branche hatten mich eines gelehrt: Nichts ist umsonst. Man zahlt immer einen Preis für das, was man möchte.

Flut an Erinnerungen

Als das Flugzeug mit einem Heulen abhob und die Gebäude am Boden immer kleiner wurden, dachte ich an den langen Flug, der vor mir lag. Erst nach Honolulu und von dort noch mal vierzig Minuten nach Kaua'i.

Ich war noch nie auf Hawaii und hatte auch nie den Wunsch gehabt, dorthin zu reisen. Der Gedanke an Hawaiihemden, Blumenketten, Rumcocktails und Massentourismus war unerträglich und ich beschloss, mich von diesem ganzen Quatsch möglichst weit fernzuhalten. Ich würde nur meinen Job machen und dann schnellstens nach New York zurückfliegen.

In weniger als vier Tagen wäre die ganze Sache gegessen, ich wieder in der Stadt und schwer mit der Einrichtung meines neuen Büros im Siebenunddreißigsten beschäftigt. Maya Williams, Vertriebsvorständin. Hörte sich gut an.

Sobald der Flugkapitän die Anschnallzeichen abgeschaltet hatte, holte ich aus der Tasche am Boden meinen Laptop. Ich war neugierig auf die Präsentation, die mir Alistair vor ein paar Stunden geschickt hatte.

Die ersten Folien zeigten Kundenbeispiele und Marktanteile und präsentierten ein paar unserer neuen Produkte. Alles schien in bester Ordnung. Ich klickte mich durch die Präsentation und fühlte mich zunehmend wohler mit dem Ganzen, bis ich plötzlich eine Abbildung wiedererkannte. Sie zeigte einen der Graphen, die ich am vorigen Tag dem Vorstand präsentiert hatte, aber irgendetwas war anders. Die Zahlen waren geändert worden. Die Verkäufe waren um zwanzig Prozent gestiegen, die Prognosen fürs nächste Quartal um fünfundzwanzig Prozent höher und da stand etwas von ein paar Vertragsabschlüssen, an denen wir meines Wissens noch arbeiteten und die höchstwahrscheinlich nie zustande kommen würden.

Mein Herz schlug schneller. Das war nicht gut.

Auf der nächsten Folie der Präsentation durfte ich sehen, dass die IT-Sicherheitsprodukte von TechnoGuard einhundert Prozent zuverlässig und wir noch nie mit irgendwelchen Sicherheitslücken konfrontiert waren. Ich klappte den Laptop mit einem leisen Knall zu.

Zu wissen, dass andere Leute logen und unethisch handelten, war die eine Sache, aber etwas ganz anderes, dazu beauftragt zu werden, dasselbe zu tun. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Ich brauchte etwas zu trinken.

Die Flugbegleiterin kam mit dem Getränkewagen, ich bat um zwei Gläser Weißwein und hatte das erste runtergestürzt, noch bevor sie das zweite eingeschenkt hatte.

»Sie haben wohl Angst vorm Fliegen?« Sie sah mich voller Mitgefühl an.

»Ja.« Ich nickte und nahm, froh um diese Entschuldigung, einen Schluck aus dem zweiten Glas.

Eine mollige Hand tätschelte mein Knie. »Keine Sorge, wir passen gut auf dich auf.« Von rechts zwinkerte Frau Hawaiihemd der Flugbegleiterin zu.

Oje, oje, oje. Wenn ich das überlebte, verdiente ich mehr als einen neuen Titel und ein Eckbüro.

»Ich bin übrigens Betsy«, redete Frau Hawaiihemd weiter.

Ich nickte mit einem mühsam abgerungenen Lächeln.

Sie deutete auf ihren schlafenden Ehemann. »Und das da ist Engelbert, mein Mann. Er schläft ständig.« Sie grinste. »Aber ist er dabei nicht sehr niedlich?« Sie knuffte mir freundschaftlich gegen die Schulter.

»Selig wie ein kleines Kind«, stimmte ich zu und war dem Wein für seinen beruhigenden Effekt dankbar.

Ich lehnte mich im Sitz zurück und dachte an die verfluchte Präsentation. Das war nicht okay. Genaugenommen war es Betrug. Aber hatte ich denn eine Wahl? Alistair war unmissverständlich gewesen. Das war ein Befehl.

Ich atmete tief ein. Du kriegst das hin, Maya. Du machst nur deinen Job. Das ist nur Business. Und manchmal heiligt der Zweck die Mittel. Alle erfolgreichen Geschäftsleute wissen das.

Diese kleine Motivationsrede an mich selbst – und das zweite Glas Wein – beruhigten meine Nerven.

Um auf andere Gedanken zu kommen, zappte ich mich durch die Filme des Unterhaltungskanals des Flugzeugs. Als Erstes erschien The Wizard of Lies – Das Lügengenie über den Megabetrüger Bernie Madoff. Nope. Dann gab es The Wolf of Wall Street mit Leonardo DiCaprio. Ein zweifaches Nope. Dann Der Teufel trägt Prada mit Meryl Streep … au weia, wollte mir da jemand etwas sagen?

Ich wechselte zum Klassikerkanal und da erschien das Titelbild des Musicalfilms South Pacific von 1958 auf dem Schirm. Schlagartig strömten Erinnerungen auf mich ein und ich schloss die Augen.

Es waren die frühen Achtziger, und ich war wieder in dem alten Kino in Brooklyn, in dem Mom und ich mehrmals pro Monat Hollywoodklassiker geguckt hatten. Zu Beginn dieser Tradition war ich ungefähr sechs und als sie abbrach zehneinhalb. Wir hatten Dad nie von unseren Kinoausflügen erzählt. Mom hatte immer gesagt, das sei unser kleines Geheimnis. Wir hatten ihm auch nichts von Giorgio erzählt, dem alten Italiener, dem das Kino gehörte und der uns die Türen des Saals öffnete, egal wann Mom und ich Lust auf einen Film hatten.

Von außen war das Kino nichts Besonderes. Ein kleines Haus, eingeklemmt zwischen zwei höheren Gebäuden, an der Fassade hingen ein verwittertes Kinoschild und ein paar Filmplakate, die vermutlich noch aus der Eröffnungszeit stammten.

Aber sobald man hineinging, war es, als beträte man eine magische Welt: Reihen aus großen, gemütlichen Stühlen in rotem Samt und dazwischen kleine Tische mit winzigen, altmodischen Lampen und in der Ecke des Foyers thronte eine riesige Popcornmaschine. Bei unseren Kinobesuchen durfte ich so viel Popcorn essen, wie ich schaffte, und diese Gelegenheit ließ ich mir nie entgehen.

Giorgio war ein großer, grauhaariger Mann mit melancholischen, braunen Augen, die beim Anblick von Mom aufleuchteten.

Meine Mutter war schön wie ein klassischer Hollywood-Star. Im Gegensatz zu den meisten Frauen der Achtziger, die sich begeistert in Schulterpolster und Neonleggins schmissen, trug Mom Kleider aus den Fünfzigern, roten Lippenstift und manchmal ein Seidentüchlein um den Kopf, unterm Kinn geknotet wie Audrey Hepburn. Giorgio fand, sie sei mit ihren blonden Locken und den mandelförmigen, braunen Augen eine Mischung aus Doris Day und Pocahontas. Darüber hatte Mom laut gelacht und sich für das Kompliment bedankt.

»Und was wünschen meine zwei Lieblingsfilmstars heute zu sehen?«, hatte Giorgio immer mit seinem starken italienischen Akzent gefragt, sobald wir einen Fuß durch die Türen seines Kinos setzten.

»South Pacific!«, riefen wir meist vergnügt. Das war unser allerliebster Lieblingsfilm. Wir konnten alle Songs auswendig und sangen sie mit, und wenn der Film zu Ende war, stimmten wir einander von ganzem Herzen zu, das sei der wunderbarste Film, der je gemacht worden war.

South Pacific vom Duo Rodgers und Hammerstein ist ein romantisches, lustiges Musical, das zwei leidenschaftliche Liebesgeschichten erzählt und sich zugleich ernsthaft mit Thematiken wie Rassismus und Vorurteilen auseinandersetzt.

Am meisten erinnerte ich mich heute noch an den Song über Bali Ha'i. Und wie sich jedes Mal, wenn ich den Film gesehen hatte und dieser Song aus den Lautsprechern geschallt war, mein Herz nach diesem sagenumwobenen Ort gesehnt hatte.

Bali Ha'i will call you,

Any night, any day,

In your heart, you'll hear it call you:

»Come away, come away.«

Mom und ich spazierten Hand in Hand von Giorgios Kino nach Hause und redeten oft darüber, wie gern wir eines Tages nach Bali Ha'i reisen würden. Ich hatte diese Nachmittage geliebt und unsere Träume.

Mom und ich waren die besten Freundinnen. Dad arbeitete ständig und aß oft auswärts, weswegen wir die meiste Zeit nur zu zweit waren. Und weil sie Kochen hasste, aßen wir einfach, worauf wir Lust hatten und wann wir Lust hatten.

Unser Haus war ein buntes Chaos, was Dad schon mal nervte, aber dann lachte Mom nur und meinte, sie habe Wichtigeres zu tun, als aufzuräumen und zu kochen, und das stimmte auch.

Meine Mutter war eine talentierte Künstlerin und bekannt für fröhliche, bunte Bilder, die sie in einer Galerie in Lower Manhattan für riesige Summen verkaufte.

»Sorg immer dafür, dass du dein eigenes Geld verdienst, Maya«, gab sie mir häufig für die Zukunft mit auf den Weg. Mir war klar, wie wichtig dieser Rat war, denn ihre Augen bekamen dabei immer einen besonderen Ausdruck und ihre Stimme einen bestimmten Klang. »Du darfst mit einem Mann – oder wenn du lieber willst, einer Frau – nur zusammen sein, weil du es möchtest, nicht weil du es musst.« Wenn sie beim Sprechen so ihr ganzes Herz in jedes Wort legte, nickte ich zustimmend und ernsthaft.

Die meisten Mütter der Kinder in meiner Klasse waren Haufrauen, die oft gemeinsam im Park Kaffee tranken oder vor der Schule plauderten. Mit meiner Mutter habe ich sie nie sprechen gesehen.

»Deine Mom ist komisch!«, schrie mich ein Junge aus meiner Klasse einmal an, als ich ihm die Schaukel nicht überließ. »Sie sieht komisch aus und benimmt sich komisch. Keiner mag sie und dich auch nicht«, brüllte er, bis eine Lehrerin kam und ihm sagte, er solle aufhören.

Danach lud ich keine Klassenkameraden mehr nach Hause ein. Nicht weil ich mich schämte, sondern weil ich fand, sie hätten es nicht verdient, Zeit mit meiner wunderbaren Mutter zu verbringen. Ich wusste, dass sie anders war als die anderen Mütter. Und ich wollte kein bisschen daran ändern.

Mit am tollsten war es, dabei zuzusehen, wie Mom leere Leinwände in Farbexplosionen verwandelte. Beim Malen blitzten ihre Augen und sie schien irgendwo zu verschwinden, als würde sie zu einem Ort reisen, der nur ihr zugänglich war. Sie konnte stundenlang malen und dann gab es nur sie und ihre Bilder.

Oft machte ich meine Hausaufgaben in ihrem Atelier am Boden, manchmal auch eigene Zeichnungen, erkannte aber früh, dass ich nicht das künstlerische Talent meiner Mutter hatte. Einmal zog sie mich damit auf, dass ich womöglich die Fähigkeiten meines Vaters geerbt hätte und später eine tüchtige Anwältin werden würde. Ich konnte mich noch heute an den Schrecken erinnern, den mir dieser Gedanke eingejagt hatte. Ich hatte keine Lust, wie Dad zu werden. Ich wollte wie sie sein: künstlerisch, fröhlich und frei. Dad war immer schrecklich ernst. Die ganze Zeit am Arbeiten und vom Spaßhaben hatte er offensichtlich keine Ahnung.

Mom erzählte mir jeden Abend vor dem Einschlafen Gutenachtgeschichten. Sie erfand Erzählungen von Königen und Königinnen, Drachen und schönen Feen, Helden und Heldinnen, Reisen um die Welt und durch die Zeit, vom Leben unterm Meer und zwischen den Sternen. Ihre Fantasie war genauso bunt, verspielt und lebendig wie ihre Bilder, und ich freute mich jeden Abend auf diese Geschichten.

Meine Lieblingsgeschichte war jedoch nicht erfunden. Sie handelte von einem jungen, hübschen, blonden Seemann aus einem weit, weit entfernten Land, der sich bei einem Landgang in New York in eine indigene Schönheit verliebte und nach nur zwei Tagen um ihre Hand anhielt. Die Schönheit, die man weithin für ihre Fähigkeit, mit Hilfe der Sterne zu navigieren, kannte, hatte auf ihren blonden Prinzen gewartet.

»Unser Schicksal stand in den Sternen«, verriet sie ihm. Die beiden heirateten und zwei Jahre später wurde ein kleines Mädchen geboren, das sie Stella nannten.

Stella wurde auf dem Meer groß, auf Booten und Schiffen, sie besuchte mit ihren abenteuerlustigen Eltern jeden noch so kleinen Winkel der Welt. An dem Tag, da ihre eigene Reise beginnen sollte, nämlich als achtzehnjährige Studentin am Kunstinstitut in San Francisco, ging sie in der Hafenstadt allein an Land.

»Die Sterne werden über dich wachen«, waren die letzten Worte ihrer Mutter, bevor sie und ihr blonder Prinz Hand in Hand wegsegelten, dem Sonnenuntergang entgegen.