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Ruby Braun

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Beschreibung

Geheime Verschwörungen und verfeindete Familien: Willkommen an der Academy of Dream Analysis Nemesis von Winther kommt aus einer Familie voller Traumwandler. Sie soll an der Academy of Dream Analysis im hohen Norden Finnlands zu einer Luziden ausgebildet werden, um durch Träume die Wirklichkeit zu beeinflussen. An der Academy lernt sie Mercy kennen, den Neffen der Direktorin, in dessen Träumen sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Herz verliert. Doch was niemand ahnt: Eigentlich ist sie an der Academy, um den Tod ihres Bruders zu rächen. Sie weiß, die Direktorin ist dafür verantwortlich. Wäre da nicht Mercy, der zu ihrem Gegenspieler wird … Die Dark-Academia-Romantasy-Serie: Buch 1: Vengeance Buch 2: Grace Content Note: Vengeance enthält Elemente, die potenziell triggern können, diese sind vor allem häusliche sowie sexuelle Gewalt (nicht zwischen den Protagonisten) und Tod (nicht die Protagonisten).

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Vengeance

RUBY BRAUN, 1995 in Heilbronn geboren, lebt und schreibt in Köln. An der dortigen Universität studierte sie zunächst Deutsche Sprache und Literatur sowie Medienkulturwissenschaften, dann im Master Theorien und Praktiken professionellen Schreibens. Unter dem Motto »ordinary girl writing extraordinary love stories« gibt sie auf Instagram und TikTok Einblicke in ihr Autorinnenleben.

Geheime Verschwörungen und verfeindete Familien: Willkommen an der Academy of Dream Analysis

Nemesis von Winther kommt aus einer Familie voller Traumwandler. Sie soll an der Academy of Dream Analysis im hohen Norden Finnlands zu einer Luziden ausgebildet werden, um durch Träume die Wirklichkeit zu beeinflussen. An der Academy lernt sie Mercy kennen, den Neffen der Direktorin, in dessen Träumen sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Herz verliert. Doch was niemand ahnt: Eigentlich ist sie an der Academy, um den Tod ihres Bruders zu rächen. Sie weiß, die Direktorin ist dafür verantwortlich. Wäre da nicht Mercy, der zu ihrem Gegenspieler wird …

Die Dark-Academia-Romantasy-Serie:Buch 1: VengeanceBuch 2: Grace

Ruby Braun

Vengeance

Academy of Dream Analysis

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH Berlin

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München; Joanna Jankowska / Trevillion ImagesAutorinnenfoto: © John RupprechtE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-95818-804-4

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1

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6

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Dank

Leseprobe: One Second to Love

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Für Marco.Ich schenke dir diese Geschichte, wie ich dir mein Herz geschenkt habe. Danke, dass du es so sanft, sicher und strahlend liebst.

Motto

Wer träumt, sündigt.Wer nicht träumt, stirbt.

Prolog

Nemesis

»Warum träumen wir?« Auf der Leinwand hinter Jupiter Sterling erscheint das Abbild eines Hirnscans. Mit dem Laserpointer deutet sie auf die farbig hervorgehobenen Areale. »Mittlerweile wissen wir, dass unser Gehirn im Traum ebenso aktiv ist wie im Wachzustand. Es werden nur andere Bereiche stimuliert. Der frontale Kortex, das Logikzentrum, ist wenig aktiv, wohingegen vor allem der Bereich am Werk ist, in dem wir Emotionen verarbeiten und Erinnerungen speichern.« Der rote Cursor bewegt sich über den Hirnscan. »Wenn wir träumen, verlieren wir das Zeitgefühl. Unser logisches, rationales Denken ist ausgesetzt, dafür ist unsere Kreativität geradezu entfesselt.«

Aus dem Abbild des Gehirns sprießen Blumen, zarte Gänseblümchen und hellrosa Tulpen überwuchern den Scan, winden sich um die Hirnareale.

»Aber warum genau träumen wir?« Jupiter Sterlings Stimme schwingt durch den Saal. Sie ähnelt keinem lieblichen Singsang, keinem schüchternen Säuseln, aber auch keinem unsicheren Donnern. Ihre Stimme schwingt. Wie ein stolzer Adler erhebt sie sich und füllt jeden Winkel des klassizistischen Baus – von den Säulen bis unter die Kuppel.

Nach wenigen Minuten des Zuhörens bestätigt sich meine Annahme über sie: Selbst eine Frage klingt bei dieser Frau wie eine Aussage. Und selbst ich verspüre in ihrer Gegenwart den widerwilligen Wunsch, genau so sein zu wollen wie sie.

»Sind unsere Träume Spiegel unserer tiefsten Sehnsüchte und Begierden? Bricht sich das triebhafte Es Bahn, um ganz im freudschen Vokabular zu sprechen? Oder ist der Grund unserer Träume weniger sensationell? Verarbeiten wir schlicht Erlebnisse und Erfahrungen des Tages? Räumt unser Gehirn nachts für uns auf? Sind Träume nur Abfallprodukte des Schlafs?« Die Hände fragend erhoben, tritt sie vom Rednerpult zurück und kommt auf das Publikum zu. Ihr maßgeschneiderter Hosenanzug wirkt im Kerzenschein des Sigismund Schlomo Theatre bronzefarben. »Diese und zahlreiche weitere Fragen werden Sie sich, liebe Studierende, in den kommenden Semestern stellen und mal mehr, mal weniger befriedigende Antworten finden. Für uns ist es tatsächlich zweitrangig, warum wir träumen, viel wichtiger jedoch, dass wir es tun.«

Sie breitet die Arme aus und möchte ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen, doch ich spanne die Schulterblätter an und drücke sie fest in die Rückenlehne meines Stuhls.

»Wir … das sind ab heute auch Sie, meine verehrten Damen und Herren. Ich heiße Sie im Namen der Leitung und des gesamten Kollegiums herzlich an der Academy of Dream Analysis willkommen.«

Applaus flutet den Saal. Während ich nur die Handflächen aneinanderlege, kann ich die Vorfreude der anderen auf der Zunge schmecken. Um einen Studienplatz an der ADA zu bekommen, muss man mehr leisten, als nur aus einer traumgeborenen Familie zu stammen. Alle Anwesenden haben ihr Leben lang darauf hingearbeitet, haben sich für Bestnoten aufgerieben, für außerschulisches Engagement aufgelöst, haben sich auf Teufel komm raus zu interessanten Persönlichkeiten hingezüchtet – wie auch immer ein von Unsicherheit und Achselhaarwachstum geplagter Teenager eine interessante Persönlichkeit sein kann. Alles, um hier studieren zu dürfen, um einen Zulassungsbescheid in einem königsblauen Samtumschlag zu erhalten, alles, um an der Akademie der Träume angenommen zu werden.

Jupiter Sterlings Blick geht durch die Menge, und obwohl sie unsere Gesichter nur streift, muss sich jeder und jede Einzelne von ihr gesehen fühlen. Sie lächelt. Mit Augen und Zähnen, und ihr Charisma tropft wie dickflüssiger Honig von der Bühne.

Der Hirnscan hinter ihr ist mittlerweile von einer leuchtenden Blumenwiese bewachsen.

»Ich bin Jupiter Sterling, die Direktorin der ADA«, sagt sie künstlich bescheiden, wohl wissend, dass das gesamte Publikum genaue Kenntnis darüber hat, wer sie ist. »Und ich freue mich außerordentlich über Ihre Ausbildung zu Luziden auf höchstem Niveau. Die Akademie ist Teil des Weltgeschehens und ist es gleichermaßen nicht. Wir tragen zur internationalen Forschung bei, überschreiten gleichzeitig aber physikalische Gesetze.«

Ich lege leicht den Kopf in den Nacken und blicke zur imposanten Decke des Theaters. Mein Vater, ein leidenschaftlicher Architekturliebhaber, hat mir unzählige Male von diesem Kuppelbau erzählt. Die Innenkuppel ruht auf zwanzig kreisförmig angeordneten korinthischen Säulen. Zwanzig!

Jede Säule, das erkenne ich jetzt, ist zudem kunstvoll verziert, ebenso wie die mit Stuck geschmückten Rundfenster, durch die die hellviolette Dämmerung fällt. Auch von dem Fresko in der Kuppelmitte hat Papa gesprochen. Es zeigt das Gemälde Der Nachtmahr von Johann Heinrich Füssli. Abgebildet ist eine schlafende Frau in einem durchlässigen weißen Schlafkleid, auf deren Oberkörper ein dämonischer Inkubus sitzt und mich entgeistert anstarrt, als hätte ich ihn gerade dabei gestört, sich an der Wehrlosen zu vergehen. So oft habe ich diesen Ort durch die Augen meines Vaters gesehen, dass ich jetzt, bei meinem ersten tatsächlichen Besuch, nicht weiß, welche Empfindung mir und welche ihm gehört.

»An dieser Akademie tun wir vor allem eines: Wir träumen«, fährt Jupiter Sterling in salbungsvollem Ton fort. »Wir träumen nicht im metaphorisch kitschigen Sinn, sondern tatsächlich. Wir träumen, um die reale Welt zu beeinflussen. Doch vergessen Sie während ihres Studiums niemals – ich wiederhole: niemals! –, dass wir träumen, um die Welt zu verbessern.«

Ich löse den Blick von Füsslis Albtraum. Wir träumen, um die Welt zu verbessern. Am liebsten würde ich zynisch auflachen, doch mein Gesicht bleibt ausdruckslos.

»Obwohl Sie sich vermutlich Ihr Leben lang auf dieses Studium vorbereitet haben, wird Ihr Leben nie wieder so sein, wie es gestern noch war. Dieses Studium wird Sie verändern. Wer weiß, vielleicht glauben Sie am Ende sogar an Magie?« Die Direktorin lächelt abermals ihr Honiglächeln, und es beginnt zu schneien.

Die Erstsemester um mich herum strecken und recken ihre Köpfe, staunendes »Ah« und »Oh« erklingt. Die Flocken tanzen von der Theaterdecke herab, wiegen sich im Kerzenschein, fallen auf den marmorierten Boden, auf die Bühne, ins Publikum. Eine unwirkliche Stille legt sich über den Saal, der Schneefall ist ein Spektakel, doch eines von zauberhafter Ruhe, beinahe einschläfernd. Eine Schneeflocke schmilzt auf meiner Wange.

Ich hebe den Unterarm und beobachte die Eiskristalle auf meinem Handrücken, wie von ihren Pfützen das orangewarme Licht zurückgeworfen wird.

In diesem Moment kann ich die Hoffnungen und Sehnsüchte der anderen spüren. Wie Nebel breiten sich ihre Träume im Theatersaal aus, wabern vorsichtig, aber bestimmt zwischen den Stuhlreihen umher. Mit Gesichtern voller Erwartungen, Pläne und Ziele blicken sie zur Decke, aus der das Gestöber hervorbricht, zum Fresko, das in dieser Szenerie weniger unheilvoll erscheint.

Mit der Chance, an der ADA zu studieren, geht eine äußerst vielversprechende Karriereoption einher. Zahlreiche Alumni sind zu einflussreichen Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft geworden, haben Nobelpreise und olympische Medaillen gewonnen, sind zu international renommierten Künstlern und Künstlerinnen aufgestiegen. Doch der seit Akademiegründung im Jahr 1899 größte Erfolg ereignete sich vor wenigen Jahren, als unter Jupiter Sterlings Leitung Luzide auf höchstem Niveau die Weltpolitik beeinflussten, indem sie eine Wahl manipulierten. Wer bei diesem Coup beteiligt war, hat es geschafft. Neben dem Geld genießen die Mitwirkenden seither Ruhm und Ehre, sie wurden nach der Wahlbeeinflussung schlagartig zu Menschen mit einem Ruf, sind keine Individuen mehr, sondern prestigeträchtige Namen. Ich kann spüren, dass meine Kommilitonen nichts sehnlicher wollen, als genau das zu erreichen. Denn wird man so nicht unsterblich?

Als der Schneefall verebbt, sind die Häupter meiner Mitstudierenden weiß bestäubt, ihre Gesichter immer noch staunend und erwartungsvoll.

Hier, in den Tiefen des finnischen Lapplands, umgeben von flüsternden Kiefernwäldern und singenden Seen, liegt die Akademie der Träume. Hier, so sagt man, kommen wir Träumenden her. Hier, so sagt man, brichst du deinen immerwährenden Winter, begegnest deinen Albträumen, besiegst sie oder wirst besiegt. Hier, so sagt man, kannst du unsterblich werden.

Hier, so sage ich, werde ich Rache nehmen.

1

Nemesis33 Stunden zuvor

»Das Deckenfresko im Theater zeigt Füsslis Der Nachtmahr.«

Obwohl ich Papa mehrmals gesagt habe, dass ich meine Tasche selbst tragen kann, umklammert er sie eisern bis zur Sicherheitskontrolle.

»Es ist beeindruckend, wie plastisch die Abbildung wirkt. Der gesamte Theaterbau ist höchst faszinierend. Die Innenkuppel beispielsweise ruht auf zwanzig korinthischen …«

»Das reicht jetzt, Edouard«, unterbricht meine Mutter. »Ihr Flug geht gleich.«

Papa lächelt mich entschuldigend an, dann öffnet er die Arme. »Die Architektur der Akademie wird dich begeistern.« Er drückt mich fest an sich. »Wahrlich eine Meisterleistung.«

»Nemesis strebt keinen Studienabschluss in Architektur an«, sagt Mama, als ich mich von Papa löse und er endlich von meinem Handgepäck ablässt. »Ihr Fokus liegt auf Neiro, habe ich recht?«

»Natürlich.« Als ich meine Mutter umarme, sticht mir ihr starker Geruch nach Vanille in die Nase.

»Sehr gut.« Sie tritt einen Schritt zurück und mustert meine Erscheinung, streckt die Hand aus und streicht mir das Haar glatt. »Sei stark, meine Kleine. Sei stark.«

»Das werde ich«, versichere ich ihr, kann jedoch den Blickkontakt nicht länger aufrechterhalten und sehe zu meinem Vater, in dessen Augen Tränen glänzen.

»Nicht doch.« Ich fasse nach seiner Hand und drücke sie.

Als Mama Papas Reaktion bemerkt, schnalzt sie missbilligend mit der Zunge. Dabei sollte gerade sie Verständnis haben, ist sie doch diejenige in unserer Familie, die nah am Wasser gebaut ist. »Mach es deiner Tochter doch nicht noch schwerer.«

»Ich …«, setzt Papa an, doch meine Mutter fährt ihm über den Mund.

»Du hattest neunzehn Jahre Zeit, um dich auf diesen Abschied vorzubereiten. Seit sie auf der Welt ist, steht fest, dass sie dieses Studium beginnen wird.«

Ich schultere meine Tasche. Bevor der Streit meiner Eltern eskalieren kann, hebe ich die Hand. »Wenn ich den Flug nicht verpassen will, muss ich jetzt los. Sobald ich angekommen bin, rufe ich an.« Mit Blick auf meinen Vater füge ich hinzu: »Und spätestens zu den Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende sehen wir uns wieder.«

»Richtig.« Mama nickt mehrmals. »Es gibt keinen Grund für Tränen, schließlich haben wir uns in weniger als einem Monat wieder.«

Mit dem Handrücken wischt sich Papa über die Augen, doch auch er nickt.

Nachdem ich die Sicherheitskontrolle passiert habe, drehe ich mich noch einmal zu ihnen um. In ihrem schwarzen Mantel und den kniehohen Stiefeln, mit den exakt frisierten Locken, der Brille und dem karminrot gefärbten Mund steht meine Mutter aufrecht da und sieht mir nach. Ihre Lippen formen Worte, die ich so oft gehört habe, dass mein Verstand trotz Distanz ruft: Sei stark. Mein Vater neben ihr trägt einen ebenso teuren Kaschmirmantel, doch sein hellbraunes Haar ist derart zerzaust, dass er nicht zu Mamas akkurater Erscheinung passt. Mehrere Zentimeter liegen zwischen ihnen, sodass sie sich nicht anfassen, sich nicht gegenseitig stützen. Ich erkenne sie als meine Eltern, doch nicht als Liebespaar.

Als ich zum Gate gehe, spüre ich deutlich, dass zwischen den Tränen meines Vaters und der Abgeklärtheit meiner Mutter nicht viel Raum für meine eigenen Gefühle ist. Erst als ich das Boarding hinter mir und auf meinem Fenstersitz Platz genommen habe, schließe ich für einen Moment die Augen und lasse die Nervosität zu, die mein Herz flattern und meine Handflächen feucht werden lässt.

Natürlich hat es mich auch vor der Academy of Dream Analysis gegeben. Obwohl ich tagsüber viel Zeit mit den Vorbereitungen für das Studium verbracht und nachts gelernt habe, luzide zu träumen, hat es Momente einer gewöhnlichen Kindheit und Jugend gegeben. Vornehmlich in den Sommern, in denen mein Bruder Neiro uns in München besucht hat, aber auch außerhalb davon habe ich erst Kindergeburtstage und später Partys besucht, bin shoppen und ins Kino gegangen. Ich habe jemanden geküsst und mit jemandem geschlafen, und mit ein bisschen Anstrengung könnten all diese Jemande ihre Namen zurückbekommen. Doch die Namen, Gesichter und Erinnerungen würden nichts daran ändern, dass ich zeit meines Lebens nur oberflächliche Beziehungen geführt habe. Bekanntschaften statt Freundschaften. Flirts statt tiefer Gefühle. Für manche mag das einsam klingen, für mich war es in Anbetracht meiner Zukunft selbstverständlich.

Ich bin auf ein privates Gymnasium gegangen und habe Abitur gemacht, doch sobald meine Mitschüler von ihren Plänen nach dem Schulabschluss gesprochen haben, bin ich schweigsam geworden. Seit der Gründung sorgen europäische Behörden mit strengsten Vorschriften und höchster Genauigkeit für die Geheimhaltung der ADA. Was hätte ich also sagen sollen? Viel Erfolg beim Business-Studium in London, ich werde meinen Abschluss mit Bestnoten dazu nutzen, um im finnischen Lappland an einer Akademie zu studieren, die mich darin ausbildet, mithilfe meiner Träume die reale Welt zu beeinflussen. Und übrigens: Mein mitternachtsblaues Haar ist nicht gefärbt, ich habe es von meiner Mutter – so ist das wohl, wenn man aus einer Familie Traumgeborener stammt.

Ich ziehe die Unterlippe zwischen die Zähne und beiße drauf. Meine Hände sind schweißnass, sodass ich sie am Stoff meiner Hose abreiben muss.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Der Lautsprecher knackt, dann erklingt eine weibliche Stimme: »Sehr geehrte Damen und Herren, wir begrüßen Sie an Bord von Finnair auf unserem Flug von München nach Helsinki. Bitte nehmen Sie Ihren Sitzplatz ein.«

Von Helsinki fliege ich weiter in Richtung Norden, immer dem Polarkreis entgegen. Obwohl ich Ausschau nach Menschen halte, die so wirken, als hätten sie dasselbe Ziel wie ich, bin ich in der nordfinnischen Stadt Rovaniemi die Einzige, die von einem Fahrer abgeholt wird. Er hält zwar kein Schild in der Hand, auf dem Academy of Dream Analysis steht, steuert jedoch so zielgerichtet auf mich zu, als wüsste er genau, dass es sich bei mir um eine Erstsemester-Studentin der sagenumwobenen ADA handelt. So bleibt mir in Rovaniemi keine Zeit, die Hauptstadt Lapplands und den angeblichen Heimatort des Weihnachtsmannes zu erkunden, denn nach einer höflichen, doch distanzierten Begrüßung auf Englisch führt mich der Chauffeur umgehend zu seinem Wagen und setzt die Fahrt fort.

Da meine Anreise in die wenigen Stunden Tageslicht fällt, die Nordfinnland Ende November noch erübrigen kann, sehe ich die weiten Schneeflächen am Fenster vorbeiziehen. So weit und weiß, dass sich mein Blick darin verliert. Leiser Jazz tönt durch den Innenraum des Autos, und ich bin froh, dass der Fahrer kein Interesse an Konversation zeigt. Ein Schild markiert den Punkt, an dem wir den Polarkreis überschreiten, und mein Herz stolpert. Die Nervosität hat sich in den letzten Stunden zu einer Aufregung gesteigert, die mir Übelkeit bereitet. Mit jedem weiteren Kilometer gen Norden komme ich der ADA näher. Und mit jedem Kilometer presse ich die feuchten Handflächen fester gegen meinen Bauch, um diese magenumdrehende Anspannung niederzuringen.

Als wir eine zweispurige Straße befahren, die von beiden Seiten umgeben ist von tiefblauem Wasser, setze ich mich auf und rücke nah ans Fenster.

»Das ist der See der Sehnsucht«, informiert mich der Fahrer, verfällt aber wieder in Schweigen.

Von meinem Vater weiß ich, dass dieser See von Süden kommend die einzige Zufahrt zur Akademie ist. Ich atme tief durch die Nase ein und durch den Mund aus, um mein verrücktspielendes Herz zu beruhigen. Den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, spüre ich wohltuende Kälte an meiner Schläfe.

Die Seeoberfläche wirkt wie ein glatt gezogenes graublaues Tischtuch. Keine Wellen, keine Schlieren, keine Regung, und dennoch beschleicht mich das Gefühl, als würde das Wasser meinen Namen singen. Oder sind wir bereits auf dem Gelände der Akademie? Dort, wo meinem Bruder nach all den Jahren endlich Gerechtigkeit widerfahren soll?

Ich schließe die Augen, den Kopf immer noch gegen die kühle Scheibe gelehnt, die Hände nach wie vor auf meinen rumorenden Bauch gepresst.

Ich komme, Neiro. Ich komme.

»Nemesis von Winther …« Der muskulöse Sekretär blättert mit vorgeschobener Unterlippe durch seine Unterlagen, bis seine Finger stoppen. »Ah! Da haben wir Sie.« Er zieht ein Papier hervor und reicht es mir. »Zimmer neun im Erdgeschoss der Studierendenunterkünfte.«

Ich nehme das Blatt entgegen und erkenne einen Lageplan der Akademie, auf dem ein rotes Kreuz mein Zimmer markiert.

»Die von Winther?«, fragt eine Kollegin, die schräg hinter dem Mann am Kopierer steht, und mustert mich über den Rand ihrer runden Brillengläser hinweg. Ihr Tonfall ist neugierig, doch auf der Schwelle zu abschätzig, weshalb ich beschließe, sie zu ignorieren.

»Vielen Dank«, sage ich zu dem trainierten Muskelberg vor mir. »Brauche ich …?«

»Die von Winther?« Die Brillenträgerin tritt vom Kopierer an die Empfangstheke aus moosgrünem Granit, und ihr Starren wird immer unverschämter.

Es hat mich zwar überrascht, aber auch erleichtert, dass sowohl der Fahrer als auch der Sekretär nicht deutlicher auf meinen Nachnamen reagiert haben. Schließlich nimmt meine Familie aufgrund ihrer schlafwandlerischen Veranlagung seit jeher eine exponierte Stellung unter den Traumgeborenen ein. Dass mein Bruder nicht nur aus dieser Blutlinie stammte, sondern tatsächlich schlafwandelnde Fähigkeiten besessen hat, machte ihn zum letzten lebenden Schlafwandler unserer Zeit.

Ohne auf seine Kollegin einzugehen, lächelt mich der Mann an, wobei sich entzückende Grübchen auf seinen Wangen bilden. Auch ich schenke ihr keine Beachtung, obwohl ihr Starren unangenehm auf mir brennt. Aber was soll ich sagen? Ja, Nemesis von Winther. Ja, genau aus der von Ihnen angenommenen Familie. Ja, Schwester desSchlafwandlers von Winther. Nein, selbst keine Schlafwandlerin.

»Neun ist meine Glückszahl«, sagt der Grübchenträger. »Viel Erfolg beim Studienstart.«

Erneut bedanke ich mich bei ihm, klemme mir den Lageplan unter den Arm und bugsiere meinen gigantischen Koffer aus dem Sekretariat. Noch ehe die Tür hinter mir zugefallen ist, wiederholt die Frau ein drittes Mal: »Die von Winther, ja? Die Schwester des toten Schlafwandlers? Ich sag es nicht gern, aber dass der nicht mehr lebt, ist besser so.«

Ich wünschte, ich hätte ihre letzten Worte nicht gehört: Dass der nicht mehr lebt, ist besser so. Fuck. Will sie auf meine Vergeltungsliste? In dem Versuch, meinen Zornimpuls zu unterdrücken, trete ich gegen die quer stehenden Rollen des Koffers und zerre ihn grob über den Gang.

Laut Lageplan liegt das Sekretariat neben der Direktion, dem Speisesaal sowie dem Sportzentrum im Westflügel der ADA. Die studentischen Schlafräume befinden sich immer noch auf dem Gelände, doch außerhalb des Hauptgebäudes in einem separaten Haus. Während ich den Koffer über die gepflasterten, mit Reif bedeckten Wege ziehe, möchte ich die Gelegenheit eigentlich dazu nutzen, mich umzusehen, schließlich kenne ich die Akademie bislang nur aus den Erzählungen meines Vaters. Doch ich kann die Wutflammen, die die Bemerkung der Sekretärin in mir ausgelöst hat, nur schwer ersticken.

Erst als ich das mehrstöckige Barockgebäude erreiche, in dem die Studierenden wohnen, ist mein Zorn verraucht. Dabei ist es so wichtig, dass ich mich im Griff habe. Denn die grausige Sekretärin, die es besser so findet, dass mein Bruder nicht mehr lebt, ist vermutlich nur der Anfang. Wer weiß, was in nächster Zeit noch auf mich zukommt? Wenn ich meinen Plan nicht selbst vereiteln möchte, muss ich meine Wut im Zaum halten und mich nicht von ihr beherrschen lassen.

Ich ziehe die massive Eichentür auf. Der Geruch von Holzpolitur kommt mir entgegen. Ein ausladender Kronleuchter erhellt den Gang, von dem die Zimmer abgehen. Den Blick auf die stuckverzierte Decke gerichtet, schiebe ich meinen Koffer voran, bleibe jedoch stehen, als eine der Zimmertüren aufgeht und eine Frau in meinem Alter auf den Flur tritt.

»Nein, Elio, ich kann …« Sie erblickt mich, stockt, dann: »Hallo.«

Ich grüße zurück, und obwohl ich sie nicht unverhohlen anstarren will, kann ich den Blick nicht lösen. Ihr Haar ist lang und fliederfarben, im Gegensatz zu mir trägt sie bereits die Akademieuniform, im Fall der Frauen eine weiße Bluse mit Spitzenbesatz und Kragen, dazu einen schwarzen Faltenrock, dicke Strumpfhosen und Loafer aus Leder. Doch ihr Make-up ist so auffallend, dass die Uniform an ihr nicht bieder wirkt, sondern wie die zurückhaltende Kulisse für ihr unglaubliches Gesicht. Ihre Augen glitzern purpurfarben, feine Linien ranken sich ihre Schläfen hinab, ein kleiner Stein schmückt ihre Nase, und die Lippen sind in einem tiefen Brombeerton gefärbt. Am Blusenkragen trägt sie eine große sternförmige Brosche, die, wenn ich mich nicht täusche, das Abzeichen der Familie Barbosa ist.

Sie sieht von dem Koffer zu mir. »Erstsemester?«

Ich nicke. »Und du?«

»Gestern angereist.« Sie kommt auf mich zu und streckt mir ihre Hand entgegen. »Esra Barbosa. Freut mich sehr.«

Offensichtlich habe ich ihre Brosche der korrekten Familie zugeordnet. Ich ergreife ihre Hand und schüttle sie. »Nemesis von Winther, freut mich ebenfalls.«

Ihre dünn gezupften Brauen springen in die Höhe, und ich kann in ihrem überraschten Ausdruck erkennen, dass auch sie mich meiner Familie zuordnet. Innerlich wappne ich mich für eine ähnlich verletzende Aussage wie die der Sekretärin, doch Esra schaut mich nur an, die Brauen weiterhin erhoben, und hält meine Hand fest.

Ihr direkt in die Augen schauen zu können, ist faszinierend, denn ihre Iriden sind silbrig gesprenkelt.

Doch als sie nach mehreren Sekunden immer noch meine Hand umschlossen hält, räuspere ich mich und entziehe ihr meine Finger.

»Entschuldige bitte«, sagt sie und möchte sich anscheinend ebenso wenig wie ich an Familienhintergründen und Stammbäumen festbeißen, weshalb sie sich schwungvoll umdreht und den Gang hinunter zeigt. »Ich weiß nicht, welche Zimmernummer du hast, aber alle Räume der Erstsemester liegen auf diesem Flur.«

»Danke«, erwidere ich, obwohl ich sicher bin, meine Räumlichkeiten auch ohne ihr Zutun zu finden, schließlich stehen wir bereits vor Zimmer Nummer fünf.

»Also dann«, sagt Esra, als ich an ihr vorbeigehe. »Auf ein traumhaftes erstes Semester.«

»Auf ein traumhaftes erstes Semester«, gebe ich zurück, nehme jedoch im Kopf eine kleine Korrektur vor: traumhaft für die einen, albtraumhaft für die anderen.

2

Mercy

Als das Schneegestöber im Sigismund Schlomo Theatre losbricht, sehe ich nicht wie alle anderen hinauf zum Deckenfresko, sondern geradewegs in das Gesicht der Frau, die mir das Herz brechen wird. Zwei Stuhlreihen vor mir dreht sie ihren Kopf zur Seite, hebt den Unterarm, und während sie die schmelzenden Flocken auf ihrem Handrücken beobachtet, betrachte ich ihr Profil. Ihre ausgeprägte Nase zeigt einen minimalen Haken, die Rinne über ihrem Mund ist so tief, dass der Schwung zur Oberlippe meisterhaft gelingt, ihr Haar ist hüftlang, glänzend und in der Realität nicht schwarz, sondern blauschwarz.

Ich fühle mich nicht wie vom Blitz getroffen, spüre weder Überraschung noch Schock. Es ist vielmehr so, als würden die Zahnräder eines Uhrwerks ineinandergreifen und meinen Verstand zum Ticken bringen. Es ist eine Erkenntnis, ein Verstehen, ein wacher Moment.

Bereits beim Betreten des Theatersaals habe ich mich nach einem Gesicht umgesehen, das mir absurd vertraut vorkommt, und ich kann nicht leugnen, dass ich einen Hauch masochistischer Enttäuschung gespürt habe, als ich in den Reihen der Studierenden niemanden erkennen konnte. An einem anderen Ort als der Academy of Dream Analysis wäre sie mir vielleicht bereits aufgrund ihrer Haarfarbe aufgefallen, doch da viele Traumgeborene einen Hang zu extravagantem Auftreten haben, hat ihr mitternachtsblaues Haar meine Aufmerksamkeit nicht erregt. Doch mit jeder Sekunde, in der ich ihr Profil eingehender studiere, verwandelt sich der Hauch von Enttäuschung mehr in einen Hauch von Erwartung.

Denn dort, rechts außen, ein bisschen wie in Eis gegossen, sitzt sie – die Frau meiner Träume.

So sehen wir uns also wieder. Wobei ich besser sagen sollte, so sehe ich sie wieder, denn sie hat mich höchstwahrscheinlich noch nie vor Augen gehabt. Ich allerdings kenne sie bereits aus meinen Träumen. Doch mehr noch als ihr Profil, mehr als ihr langes Haar verrät ihre Traurigkeit sie. Diese ausgehungerte Traurigkeit, die von ihr ausgeht, während sie ihren Arm sinken lässt und immer noch nicht zur Decke emporschaut, sondern ihren Blick nach vorn auf meine Tante richtet.

Es ist der erste offizielle Studientag, und meine Kommilitonin offenbart sich als die Frau, die mich in meinen Wahrträumen heimgesucht hat.

Als die Frau, die mir das Herz gebrochen hat.

Interessant.

Als der Schneefall endet, tritt Jupiter nah an den Bühnenrand. Ihr Blick geht über mich hinweg, als wäre ich ein Studienanfänger unter vielen. Sie tut das für mich, damit ich mich gewöhnlich und durchschnittlich fühlen kann, doch im Moment bin ich nur herausgefordert von einer Frau, die zwei Stuhlreihen vor mir sitzt und mich noch keines Blickes gewürdigt hat.

»Bitte vergessen Sie beim Ausgang nicht Ihre Stundenpläne, und nehmen Sie sich gern einen Lageplan der Akademie mit, falls Sie noch keinen haben«, sagt meine Tante abschließend. »Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Start.«

Erneut ertönt Applaus, dann erhebe ich mich von meinem Stuhl und schiebe mich hinter Elio aus der Reihe.

»Einen Lageplan gefällig?«, fragt mein bester Freund, als wir an der Tür stehen.

»Wenn er mir einen Weg aus der Hölle aufzeigt, gern.«

Grinsend greift Elio nach zwei Stundenplänen und drückt mir ein bedrucktes Papier in die Hand. »Den hast du längst gefunden, vertrau mir.«

Während wir uns von dem Strom Studierender aus dem Theater spülen lassen, recke ich den Kopf und sehe mich nach ihr um. Es ist Esra, Elios Zwillingsschwester, die in ihrem sonnengelben Kunstfellmantel neben ihr geht und sie in ein Gespräch verwickelt hat.

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, murmelt Elio mit Blick auf den Stundenplan, »als unsere Woche mit Einführung in Psychoanalyse bei Professor Sharma zu beginnen.«

»Wieso? Sharma und dein Vater sind doch gute Freunde, oder?«

»Das schon, aber willst du deine Woche wirklich damit starten, dein Es zu ergründen? Während Studierende anderswo auf der Welt ihren Montagnachmittag damit verbringen, über Rechtstexten oder philosophischen Abhandlungen zu brüten, werden wir uns mit unserem Todestrieb und unserer Libido auseinandersetzen.«

Auf dem Weg vom Theater in Richtung Ostflügel des Hauptgebäudes, in dem sich die Unterrichtsräume und Vorlesungssäle befinden, kommen wir am Flugplatz der Seeadler vorbei. Gellende Rufe dringen zu uns, sodass sich mehrere Studierende neugierig umdrehen und Ausschau nach den majestätischen Vögeln halten. Meine Kommilitonen sind im Laufe ihres Lebens vermutlich gelegentlich an der ADA gewesen, das Gelände in Gänze ist aber Neuland für sie. Ich hingegen bin mit der Akademie so vertraut, dass ich die Rufe der Seeadler nicht mehr bewusst wahrnehme. Da erst meine Mutter die Leitung der Akademie innehatte und nun meine Tante die Direktorin ist, bin ich hier aufgewachsen und kenne jeden Winkel, jedes Versteck, fast jedes Geheimnis.

Die Sonne steht bereits tief, sodass sich die Dämmerung wie ein tiefblauer Schleier über den Himmel legt. Es fällt feiner Schnee, die Flocken sind so zart, dass sie sich bei der erstbesten Berührung auflösen. Elios schwarze Locs glänzen vor Feuchtigkeit.

»Bitte sag nicht Libido. Das klingt nach Paartherapie, in der die eingeschlafene Libido beklagt wird.«

»Ist dir Sexualtrieb lieber?«, fragt Elio, während wir den Flugplatz hinter uns lassen. »Oder Begehren? Mein heimlicher Favorit: Wollust.«

Grinsend deute ich auf den Ostflügel, der sich zu unserer Linken erstreckt. »Noch ein wenig Geduld und du kannst deine Wollust in Sharmas Kurs bis aufs Letzte ergründen.«

Gusseiserne Laternen säumen den Weg durch den Innenhof, ihr Licht schimmert hellorange in der hereinbrechenden Nacht. Esra und die Unbekannte erreichen vor uns den Eingang zum Ostflügel und treten durch die gerundete Tür. Ich lasse Elio zwei, drei Schritte Vorsprung, um noch einmal in den Himmel zu sehen. Meine Augen suchen die untergehende Sonne, die nur noch schwach gelb über den Horizont lugt.

Ich kenne das Gelände der ADA wie meine Westentasche. Ich bin hier Kind und Jugendlicher gewesen, habe mich verloren und nicht wiedergefunden. Mein Lachen hallte durch die Flure, als meine Mutter Alba mit mir Fangen gespielt hat, mein Weinen hallte durch dieselben Gänge, als beide meiner Mütter nicht mehr da waren. Ich bin Kind, Jugendlicher, Sohn, Neffe und Teufelsjunge gewesen, nur Student, das bin ich an der Academy of Dream Analysis mit dem heutigen Tag zum ersten Mal.

Elio bemerkt mein Verharren und dreht sich zu mir um. »Hey«, sagt er sanft. »Ich bin bei dir, okay?«

Meine Augen verengen sich, als ich die Sonne einen weiteren Moment fokussiere, dann atme ich stoßweise aus, reiße mich vom endenden Tag los und begrüße wie so oft die Nacht. Hinter Elio betrete ich als Letzter unseres Jahrgangs den Ostflügel.

»Hallo zusammen, setzen Sie sich bitte, setzen Sie sich.« Professor Sharma wirbelt in den Raum, wirft seine Unterlagen auf den Schreibtisch und sich hinterher auf den Stuhl.

Während ich mich neben Elio in der letzten Reihe niederlasse, beobachte ich aus dem Augenwinkel, wie die Unbekannte aus meinen Träumen zwischen Esra und einer brünetten Kommilitonin Platz nimmt. Es ist eine Frage der Zeit, bis wir miteinander interagieren müssen, schließlich ist unser Jahrgang mit dreißig Studierenden nicht gerade groß. Vermutlich ist es meiner selbstzerstörerischen Tendenz geschuldet, aber ich genieße meinen Wissensvorsprung, genieße, dass sie sich noch nicht einmal nach mir umgedreht hat, während ich ihre Präsenz im Raum überdeutlich wahrnehme.

»Setzen, setzen«, weist Sharma die wenigen Studierenden an, die noch nicht Platz genommen haben, doch ehe sie dies tun können, fährt er bereits fort: »Auch in meinem Namen ein herzliches Willkommen an der Akademie. Nach der zunächst verwirrenden Einführung …« Sein Blick fliegt durch die Reihen, bis er für wenige Sekunden an mir hängen bleibt. »Entschuldigen Sie, Mister Sterling, Ihre Tante ist rhetorisch kompetent, doch manchmal neigt sie zu irrelevanten Ausschweifungen … Nun, jedenfalls haben Sie sicherlich Fragen, obwohl diese sich in der Einführung hätten klären sollen, schließlich ist dies der Sinn einer solchen Veranstaltung. Hübscher Schnee hin oder her.« Sharma durchwühlt seine Unterlagen, dann rafft er die losen Blätter wieder zusammen und klopft den Stapel auf der Tischkante zurecht. »Fragen?«

Schweigen.

Der Professor atmet hörbar aus, ein gequältes Seufzen. »Sind Sie schüchtern? Eingeschüchtert?«

Ich hebe die Hand.

»Mister Sterling, bitte.«

»Wenn ich mir anmaßen darf, für den Kurs zu sprechen, dann sind wir nicht schüchtern, sondern wissen schlicht nicht, worauf Sie hinauswollen, Sir«, sage ich weniger der Antwort wegen, sondern mehr, um eine Reaktion in der ersten Reihe zu provozieren.

Doch sie dreht sich nicht nach meiner Stimme um, sondern verharrt reglos auf ihrem Platz und schaut zum Pult.

»Richtig.« Sharma nickt mehrmals. »Richtig.« Er springt von seinem Stuhl auf und geht vor dem Smartboard hin und her. »Sie haben sich für ein Studium an der Academy of Dream Analysis entschieden. Mit welchem Ziel? Niemand? Mister Sterling?«

Der Professor lässt den anderen nicht einmal die Möglichkeit, sich zu melden. Zwischen Niemand? und Mister Sterling? liegt weniger als eine Sekunde.

»Hier werden Luzide auf höchstem Niveau ausgebildet«, antworte ich. »Luzide Träume sind auch als Klarträume bekannt, in denen sich die Träumenden ihres Traumzustands bewusst sind und ihre Träume aktiv lenken können. Doch die ADA bildet nur diejenigen aus traumgeborenen Familien aus, die das Potenzial zeigen, ihre luziden Träume so zu perfektionieren, dass sie die reale Welt damit beeinflussen können.«

Der Dozent nickt abermals, doch dabei macht er eine Handbewegung, als wäre ihm meine Antwort zu langatmig gewesen. »Am Ende Ihres Studiums bestimmen Sie nicht nur Ihre Träume, sondern nehmen auch Einfluss auf die Realität. Muss ich ausführen, mit wie viel Macht und Verantwortung dieses Können einhergeht? Muss ich nicht. Schließlich spreche ich zu klugen Menschen, richtig?«

Professor Sharma scheint ein Mann zu sein, dem sein eigener Kopf immer einen Schritt voraus ist. Er eilt zurück zu seinem Schreibtisch. »Sehen Sie«, weist er uns an, nimmt auf dem Stuhl Platz und legt seine Stirn auf die Tischplatte, »sehen Sie genau hin.«

Gespannt richte ich mich auf, um besser zum Pult schauen zu können, doch in den ersten Sekunden passiert nichts, außer dass wir einwandfreie Sicht auf die Halbglatze des Dozentens haben. Sein Oberkörper hebt und senkt sich gleichmäßig, sein Atem ist nicht mehr zu hören, und gerade als ich mich frage, ob dieser gerundete Rücken eine gesunde Sitzposition ist, erhebt sich rechts vom Pult ein Stift. Wie von Geisterhand schwebt er in der Luft und malt einen roten Kreis auf das Smartboard.

Mein Blick schnellt zu Sharma, doch dieser sitzt nach wie vor reglos am Tisch.

Der Stift sinkt zurück in die Ablage. Mit dem Ellbogen stoße ich Elio an, doch der flüstert nur »Paranormale Aktivitäten« und starrt ebenso fasziniert nach vorn.

Plötzlich hebt der Professor den Kopf. Die Tischkante hat eine rote Strieme auf seiner Stirn hinterlassen. »Jetzt sind Sie aber eingeschüchtert, habe ich recht?« Er wischt sich eilig mit dem Hemdsärmel über den Mundwinkel, um den Sabber aufzufangen. »Brauchen Sie nicht zu sein, wirklich nicht, das war nur eine kleine Demonstration, um nicht zu sagen, winzig … nicht der Rede wert. Wer kann mir erklären, was soeben geschehen ist? Niemand? Mister …«

Elio neben mir meldet sich, und ihm wird umgehend das Wort erteilt.

»Sie haben gerade die reale Welt beeinflusst. Sie …«

»Richtig«, unterbricht Sharma und deutet mit beiden Händen auf den roten Kreis am Smartboard. »Ich bin soeben eingeschlafen, habe geträumt, habe dabei gemerkt, dass ich träume, und beschlossen, meinen Traum zu lenken. Ich habe mir diesen Kursraum vorgestellt, so detailliert wie möglich, diese Hightech-Tafel, diesen Stift …« Er hebt besagtes Schreibgerät in die Höhe. »Als ich mir absolut sicher gewesen bin, in genau diesem Raum vor diesem Board mit diesem Stift zu stehen, habe ich den Nexus betreten. Den Nexus! Da wird das luzide Träumen erst wirklich interessant, denn über den Nexus verlassen Sie Ihre Träume und betreten die Realität. Sind Sie wieder eingeschüchtert? Nicht doch! Den Nexus lernen Sie erst in höheren Semestern kennen, jedenfalls habe ich meinen Nexus durchschritten, während ich dort geschlafen habe.« Mit dem Stift deutet er auf den Stuhl am Schreibtisch. »Und ich habe gleichzeitig – also zur exakt selben Zeit – hier«, ruckartig dreht er sich Richtung Smartboard und zeigt hin, »gestanden und habe diesen roten Kreis gezeichnet. Ist das nicht …?« Er möchte sich die Haare raufen, bekommt jedoch mehr Glatze als Haar zu fassen. »Ist das nicht … absolut bahnbrechend? Natürlich ist es das. Das ist luzides Träumen auf höchstem Niveau. Das ist der Grund, weshalb Sie hier sind. Fragen?«

Schweigen.

Professor Sharma wirft den Stift zurück in die Ablage. »Wie Sie gesehen haben – oder vielleicht sollte ich sagen, wie Sie nicht gesehen haben –, war ich unsichtbar. Wenn man als luzider Träumer die reale Welt betritt und Einfluss auf sie nimmt, ist man für das menschliche wache Auge nicht fassbar. Meine Handlung hingegen ist sehr wohl sichtbar, schließlich haben Sie hautnah miterlebt, wie der rote Kreis auf dem weißen Hintergrund erschienen ist. Es gibt vieles zu beachten, schließlich ist das luzide Träumen auf höchstem Niveau eine Wissenschaft für sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch zu gegebener Zeit mehr dazu, ich möchte Sie an Ihrem ersten Tag nicht verwirren, haben Sie bereits Ihren Stundenplan erhalten? Haben Sie?«

Mehrere Köpfe nicken und müssen furchtbar rauchen. Einerseits aufgrund der hektischen Sätze, die aus Sharma heraussprudeln, andererseits jedoch, weil meine Mitstudierenden zum ersten Mal in ihrem Leben die Praktik des luziden Träumens erlebt haben. Ich hingegen senke den Blick und begutachte meine vernarbten Handflächen, konzentriere mich auf die unnatürlich verfärbte Haut und die pastellrosa Verwachsungen. So oft habe ich meine Tante über den Nexus ausgefragt, wollte haargenau wissen, wie es sich anfühlt, wie es schmeckt und riecht, den eigenen Traum zu verlassen und in die Realität einzudringen … Ich habe mich so lange nach jedem, jedem Detail erkundigt, dass sie mir eine Tonaufnahme ihrer Schilderungen gemacht und mit den Worten Wenn ich mich noch einmal wiederholen muss, fault meine Zunge ab übergeben hat. Mein verrottetes Herz weiß, wohin mich dieses Vorhaben geführt hat.

»Wie Sie dem Plan entnehmen können«, fährt der Professor fort, »treffen wir uns jeden Montagnachmittag für zwei Stunden.« Er eilt zu seinem Laptop und schließt ihn ans Smartboard an. Während seine Dateien laden, tippt er mit der Schuhspitze rhythmisch auf den Boden. »Endlich! Ein Bild!« Der Pointer kreist auf der Präsentation. »Psychoanalyse. Einführung in die Psychoanalyse. Damit werden wir uns dieses Semester befassen. Irgendwelche spontanen Eingebungen zum Begriff? Niemand? Vielleicht …?«

Die braunhaarige Studentin aus der ersten Reihe hebt die Hand, und ihr Arm ist noch nicht einmal komplett durchgestreckt, da erteilt ihr Sharma bereits das Wort.

»Sigmund Freud«, sagt sie, doch ich bekomme weder ihre weiteren Ausführungen noch die übereilte Zustimmung des Dozenten mit, denn mein Blick richtet sich auf ihre Sitznachbarin. Sie hat der Brünetten ihr Gesicht zugewandt und hört aufmerksam zu, während ich erneut ihr Profil fokussiere. Aristokratische Nase, tiefe Rinne über der Oberlippe, scharf hervortretende Wangenknochen, dazu dieses unglaubliche Haar. Es ist faszinierend, wie die Schemen meines Traums in der Realität Konturen bekommen. Allein vom Ansehen kann ich nicht sagen, dass ich ausgerechnet von ihr geträumt habe, dafür waren meine Wahrträume zu verschwommen, doch ich schaue sie an und weiß einfach, dass sie es ist. Ich fühle es so gewiss, dass ich jede Wette eingehen würde.

Ich lehne mich zurück und verschränke die Hände in meinem Schoß. Der Schatten eines Lächelns zuckt über meine Lippen. Es wird wahrlich interessant werden zu beobachten, ob sie töricht genug ist, es mit meinem verkommenen Herzen aufzunehmen.

3

Nemesis

»Wie fandest du Professor Sharma?« Esra senkt ihre Stimme. »Es war irgendwie anstrengend, ihm zu folgen. Versteh mich nicht falsch, nicht er ist anstrengend, nur seine Art zu unterrichten.«

»Keine Sorge«, gebe ich zurück. »Selbst wenn du ihn anstrengend finden würdest, verpetze ich dich sicher nicht bei ihm.«

Nach Psychoanalyse geht ein Teil des Kurses in den Speisesaal. Da mich Esra bereits auf dem Weg vom Theater zum Unterrichtsraum gefragt hat, ob ich mitkommen möchte, und ich bis jetzt keine Gelegenheit gefunden habe, den Speisesaal zu besuchen, schließe ich mich der Gruppe an. Gestern habe ich nur das in Plastik verpackte Sandwich aus dem Flugzeug gegessen.

»Ich glaube …« Eine Studentin namens Stella dreht den Lageplan und verrenkt gleichzeitig ihren Kopf. »Wir sind hier.« Sie deutet mit dem Finger auf den Ostflügel. »Und wir müssen … äh … hierhin, in den Westflügel, also auf die gegenüberliegende Seite. Am besten gehen wir wieder durch den Innenhof.«

Mein Vater hat mich selbstverständlich nicht nur über die Architektur des Theaters unterrichtet, sondern auch über die monumentale Bauweise der Akademie an sich. Ein klassizistischer Bau, wie er schöner nicht sein kann, höre ich ihn in meinem Kopf, als ich hinter Esra und Stella den Innenhof betrete. Meine Ankunft war so sehr von meiner Wut auf die Sekretärin dominiert, dass ich meine neue Umgebung nicht auf mich wirken lassen konnte, doch das ist heute anders.

Vom Hauptgebäude mit seiner säulengestützten Front, den aufwendig gearbeiteten Reliefs und dem beeindruckenden Giebeldreieck geht sowohl der Ost- als auch der Westflügel ab. Dahinter liegen die Bibliothek und das Theater mit dem vergoldeten Kuppelbau. Alles erstrahlt in poliertem Marmor, die gesamte Akademie wirkt wie ein Schloss aus spiegelglatter Eleganz und gnadenloser Härte. Der Innenhof ist von Straßenlaternen gesäumt, die die schneebedeckten Wege beleuchten. Ich bilde mir ein, den Flügelschlag der Seeadler zu hören, und blicke in Richtung Norden. Mein Vater hat recht. Das Gelände ist so konzipiert, dass das Theater den absoluten Fluchtpunkt darstellt. Glasklare Linien, symmetrische Formen – ein ebenso imposanter wie rational kühler Bau.

»Beeindruckend, nicht wahr?« Esra bemerkt meinen staunenden Blick und dreht sich um die eigene Achse. »Obwohl ich bereits oft an der ADA gewesen bin, ist es dennoch jedes Mal so, als würde ich … träumen.« Ihr Lachen tanzt über den Schnee und verliert sich in der Dunkelheit. Sie reibt die Hände aneinander. »Was ist mit dir? Warst du bereits hier? Viele Erstsemester kennen die Akademie schon vor Studienbeginn.«

»Ja«, lüge ich. »Ein paar Mal, aber das ist ewig her.« In Wahrheit habe ich mich mit den Schilderungen meines Vaters begnügt. Ich weiß, dass meine Eltern mich unter anderen Umständen bei ihren seltenen Akademiebesuchen mitgenommen hätten, doch ich bin eine zu große Schande, um präsentiert zu werden.

Während wir in unseren langen Mänteln den Innenhof durchqueren, hakt Esra glücklicherweise nicht weiter nach, sondern wendet sich Stella zu, deren Haare ebenso erdbeerrot sind wie ihre Wollmütze. Ich verdränge das Gefühl, das sich in mir ausbreiten möchte. Was es für mich bedeutet, endlich hier zu sein. Was es bedeutet, tatsächlich die Wege zu beschreiten, die mir mein Vater seit Jahren so präzise beschrieben und dennoch vorenthalten hat. An dem Ort zu sein, an dem sich meine Eltern nicht lieben, aber kennengelernt haben. Und an dem … mein Bruder gestorben ist.

»Laut Plan befindet sich im Westflügel nicht nur der Speisesaal, sondern auch das Sportzentrum und die Direktion«, informiert Stella, als wäre sie eine Reiseführerin in Ausbildung.

»Man findet sich vermutlich schneller an der Akademie zurecht, als sich an das finnische Wetter zu gewöhnen«, raunt ein blonder Hüne hinter Esra und mir. »Diese widerliche Nässe macht mich jetzt schon fertig.« Er zieht sich die Mütze vom Kopf und schüttelt den schmelzenden Schnee ab.

Im Speisesaal angekommen, reihen wir uns in die Schlange ein. Hinter mir steht Esra, die sich aus ihrem badeentengelben Mantel schält, dahinter die braunhaarige Studentin, neben der ich im Psychoanalyse-Kurs gesessen habe.

Missmutig verzieht sie ihren herzförmigen Mund. »Ich verstehe schon, dass wir vor dem Schlafen nicht zu schwer essen sollen, aber was ist das?« Sie deutet auf die Salatbar. »Hasenfutter?«

»Du kannst dir auch eine Suppe oder ein Sandwich holen«, erwidert Esra.

Als ich die Brünette vor Professor Sharmas Eintreten vorsichtig angelächelt habe, ihre Mimik aber mit jeder Sekunde Blickkontakt härter wurde, habe ich den Kontaktversuch eilig unterbrochen.

Sie schiebt die Unterlippe noch weiter vor. »Ich hatte ja die Befürchtung, dass es die Finnen kulinarisch nicht so draufhaben, aber wenn das jeden Tag so geht, brauche ich eine Küchenzeile in meinem Zimmer.«

Wir rücken in der Schlange vor und bekommen unsere Suppen mit Brotbeilage gereicht. Der hohe Saal mit bunten Glasfenstern ist um kurz nach sechs mäßig besucht, denn zu Abend gegessen wird erst viel später. Allgemein laufen die Uhren an der ADA anders. Der Unterricht beginnt erst am Nachmittag und reicht bis in den späten Abend, manchmal bis in die Nacht hinein. Um Mitternacht sind die Tische des Speisesaals vermutlich voller besetzt als jetzt.

Esra setzt sich mir gegenüber an einen der massiven Tische aus Kirschholz. Pustend probiert sie einen Löffel Lachssuppe. »Nicht schlecht.«

»Nicht schlecht?« Die Brünette zwei Plätze weiter rümpft die Nase. Ich habe nicht gesehen, dass sie das Essen bereits probiert hat, doch sie sagt: »Das ist keine Suppe, das ist geschmacklose Brühe.«

»Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen, Prinzessin Victoria«, schaltet sich der blonde Riese mit spöttischem Tonfall ein.

Victoria …

Im Kopf gehe ich die Namensliste durch, die ich mir vor Semesterstart mehrmals angesehen habe. Victoria Alliata! Die Zweitgenannte auf der nach Nachnamen alphabetisch sortierten Liste. Ihre Familie gehört einem bis heute blühenden Adelsgeschlecht aus Sizilien an. Hochadel, wie meine oberflächliche Google-Recherche ergeben hat.

Über den Rand meines zum Mund geführten Löffels mustere ich sie. Ihre Haut schimmert im Kerzenschein des Speisesaals golden, weder Augen noch Lippen sind geschminkt, ihr Haar fällt glatt und formlos bis auf die Schultern.

»Was glotzt du so, von Winther?«

Verdammt. Rasch schiebe ich den Löffel Lachssuppe in den Mund und senke den Blick. Von Winther … Ich scheine nicht die Einzige zu sein, die sich auf ihre Mitstudierenden vorbereitet hat.

»Von Winther?« Der Blonde lehnt sich so weit über den Tisch, dass er mich ansehen kann. Dabei fallen Strähnen seines langen Haars in die Suppe. »Wie der Schlafwandler?«

Der Löffel fällt mir aus der Hand und scheppert auf den Tisch, Suppentröpfchen spritzen über das rotbraune Holz. Hitze schießt mir in die Wangen, ich bin peinlich berührt von meinem Missgeschick und spüre gleichzeitig wieder Wut in mir aufsteigen, weil die Bemerkungdes Blonden ähnlich abwertend klingt wie gestern bei der Sekretärin.

»Natürlich wie der Schlafwandler«, mischt sich Victoria ein. »Sieht man mal von den haarsträubenden Gerüchten ab, dass es sich bei der dreijährigen Rana Kaya um eine Schlafwandlerin handeln soll, genießen wir die große Ehre, die Schwester des letzten Schlafwandlers in unserem Jahrgang zu haben.« Mit einer wegwerfenden Geste in meine Richtung unterstreicht sie ihre hämischen, sarkastischen Worte.

Meine Wangen glühen nun noch stärker. Zur Hölle mit der Selbstbeherrschung. Neiro ist an diesem Ort gestorben. Ganz gleich, ob man schlafwandlerische Fähigkeiten als widernatürlich und abscheulich empfindet, werde ich es nicht dulden, dass sein Name in den Dreck gezogen wird.

Ich fixiere Victoria, in deren braunen Augen die pure Provokation thront. Über den Tisch hinweg fasst Esra nach meiner Hand, doch als ich meine zurückziehe, steht sie plötzlich auf.

»Habt … habt ihr das schon gesehen?«, fragt Esra, beugt sich über den Tisch, sodass sie den Blickkontakt zwischen Victoria und mir unterbricht, und deutet auf den Stundenplan. »In drei Wochen wird es einen Ausflug zum Schwanensee geben.« Mit dem Zeigefinger tippt sie auf den entsprechenden Vermerk.

»Und ich habe gehört, dass heute Nacht eine Erstsemesterparty im Gewächshaus stattfindet«, ergänzt Stella.

»Eine Party? Da bin ich dabei!« Eine Kommilitonin mit raspelkurzem Haar und riesigen Kreolen an den Ohren hebt begeistert die Hände in die Luft.

Ruckartig steht Victoria auf. Sie wirft ihr Haar zurück und einen vernichtenden Blick in die Runde, der am längsten auf mir ruht. Mit einem Schnauben greift sie nach ihrem Teller und verlässt unseren Tisch.

Esra sinkt auf ihren Platz zurück und sieht mich mitfühlend an, doch ich weiche ihrem Mitleid aus, greife nach dem Löffel und esse die Suppe auf, obwohl mir der Appetit vergangen ist.

Als wir wenig später zum nächsten Kurs aufbrechen wollen, stehe ich gerade auf und hebe ein Bein über die Sitzbank, als der langhaarige Blonde so stark gegen meine Schulter rempelt, dass ich zurückplumpse und beinah meinen Teller fallen lasse.

»Was soll …?«

Doch er unterbricht mich.

Aus froschgrünen Augen sieht er auf mich herab und zischt: »Schlafwandelnder Freak!«

Da uns bis zum Beginn des nächsten Seminars nur noch wenige Minuten bleiben, hetzen wir zurück zum Ostflügel, wobei ich tunlichst darauf achte, genug Abstand zu dem Blonden zu halten. Jahrelang habe ich an der Kontrolle meiner Emotionen gearbeitet, habe versucht, mich weder von Trauer noch von Wut bestimmen zu lassen, doch kaum bin ich hier, werde ich an meine Grenzen gebracht.

Als der Hüne in einen anderen Raum eilt als ich, flacht mein Zorn endlich ab. Unser ohnehin überschaubarer Jahrgang von dreißig internationalen Studierenden wird für die Kurse noch mal halbiert, was mich die Hoffnung hegen lässt, nicht nur ihn, sondern auch Victoria für die nächsten neunzig Minuten los zu sein.

»Guten Abend.«

Am Pult sitzt ein Mann, vermutlich der Dozent. Obwohl er unsere eintretende Gruppe anlächelt, irritiert mich seine Erscheinung. Er trägt ein langes Gewand, das im Sitzen den Fußboden berührt, doch seine aus den Ärmeln ragenden Hände sind komplett tätowiert, ebenso wie sein Hals. Selbst sein Gesicht und der kahle Kopf sind von schwarzer Tinte überzogen.

Es fehlt nur noch die Sense und ich sehe mich einer klischeehaften Version des Todes gegenüber.

»Das ist Professor O«, flüstert Esra, als sie sich in der hinteren Reihe neben mich setzt. »Eine der exzentrischsten Persönlichkeiten der Akademie.«

»Daran besteht kein Zweifel«, erwidere ich und werfe erneut einen Blick auf den Mann mit unübersehbarem Hang zum Morbiden.

Als Victoria bis zum Kursbeginn nicht auftaucht, möchte ich schon erleichtert seufzen, da stolpert jemand anderes gehetzt in den Raum.

»Entschuldigen Sie die Verspätung.«

»Sie haben noch vierzehn Sekunden, Mister Sterling. Zwölf, elf, zehn …«

Mister Sterling eilt zu einem Sitzplatz. Wie bei Victoria habe ich natürlich auch ihn und seine Familie durchleuchtet. Besonders durchleuchtet. Denn er, Mercury Sterling, ist schließlich der Neffe der Akademiedirektorin.

»Und Sie«, sagt der Professor zu der Studentin, die in den Raum stürzt, »sind zu spät. Das ist die erste und letzte Verwarnung.«

Es ist Victoria. Mit hochrotem Kopf und Entschuldigungen stammelnd nimmt sie in der ersten Reihe neben Mercury Platz. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich gesehen hat, und rücke noch ein bisschen näher an die Wand.

»Jedes Semester bietet die Akademie ein anderes musisches Fach an. Literatur, Musik, Bildende Kunst, Tanz«, beginnt der Dozent. »Wenn Sie mich fragen, ist ein Kurs viel zu wenig, wissen wir doch, wie existenziell Kreativität für unsere Träume ist. Doch der Lehrplan ist herausfordernd genug.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung, sodass sein Ärmel nach unten rutscht und einen ebenso tätowierten Unterarm preisgibt. Als er sich von seinem Stuhl erhebt, schwingt und klirrt sein langes Gewand. »Ich bin Professor O, und in diesem Semester beschäftigen wir uns mit der Kunstepoche der Schwarzen Romantik.AlsUnterströmung der Romantik bildete sie sich in Europa gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus. Typische Motive waren das Unheimliche, Grauenvolle, Dämonische. Es ging um Gewalt und den Tod. Die Abgründe der menschlichen Psyche bis hin zum Wahnsinn wurden thematisiert. Aber auch Sex und Erotik spielten eine Rolle, der Exzess, die ungezügelte Begierde und die Lust.« Auf der Leinwand hinter O erscheint ein Gemälde. »Miss von Winther, beschreiben Sie mir doch bitte, was Sie sehen.«

Die Aufforderung überrascht mich nicht so sehr wie die Tatsache, dass O meinen Namen kennt. Ich räuspere mich. »Zu sehen ist eine nackte Frau, die einem Skelett gegenübersteht. Die Frau entspricht dem damaligen Schönheitsideal – kleine Brüste, dafür breitere Hüften, sehr helle Haut, die Haare elegant hochgesteckt. Sie scheint sich nicht vor dem Skelett zu fürchten … vielmehr blickt sie leicht sehnsüchtig zu ihm auf, fast so, als herrschte eine sexuelle Spannung zwischen ihnen.«

Professor O nickt zustimmend. »Auf dem Gemälde des belgischen Künstlers Antoine Wiertz finden sich Hauptmotive der Schwarzen Romantik: Tod und Sex.« Er zeigt weitere Beispiele der Kunstepoche, unter anderem Der Nachtmahr von Füssli, das als Fresko die Decke des Theaters schmückt.

Victorias Hand schnellt in die Höhe, und der Dozent erteilt ihr das Wort.

»Mit Verlaub«, sagt sie mit einer Stimme, die ganz ihr selbst gehört, kein nervöses Räuspern, kein schüchternes Nuscheln. »Aber sollten wir nicht darüber sprechen, dass jedes einzelne von Ihnen aufgerufene Kunstwerk Frauen zutiefst sexualisiert? Entweder scheinen die Körper halb tot und missbraucht, unterwürfig anbetend oder Frauen werden als Hexen dämonisiert wie bei Francisco de Goya.«

»Ein sehr guter Einwand, Miss Alliata«, lobt der Professor. Offenbar hat er sich akribisch vorbereitet und alle unsere Namen gelernt. »Vor allem, da wir es mit in der Regel männlichen Künstlern zu tun haben, die Frauen abbilden. Vielleicht sollte ich nicht Frauen, sondern Weiblichkeitsvorstellungen sagen. Wir werden im Laufe des Semesters auch darüber diskutieren. Ziel ist es einerseits, dass Sie ein umfassendes Verständnis der Schwarzen Romantik erlangen.« O beendet seine Präsentation und nimmt am Pult Platz. »Andererseits strebe ich am Ende des Semesters eine eigene Ausstellung an. Sie sollen, ausgehend von den Merkmalen der Epoche, Ihr eigenes Werk erschaffen. Ich will das Unheimliche, Grauenvolle, Gruselige sehen. Ihre eigenen Abgründe, Sehnsüchte und Begierden. Natürlich könnte ich Ihnen anbieten zu abstrahieren, Ihnen sagen, dass Sie nicht Ihr Intimstes offenlegen müssen, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Ich will Sie durchaus an Ihre Grenzen bringen, schließlich ist die künstlerische Auseinandersetzung therapeutischer Natur.«

In dem Moment, in dem O den Laptop zuklappt, sieht Mercury Sterling über die Schulter, und sein Blick geht suchend durch den Raum. Als er mich sieht und erkennt, dass ich ihn ebenso anstarre, wird seine erwartungsvolle Miene statisch.

Sehr gut. So kann er sich mein Gesicht schon einmal einprägen, schließlich wird er es ohnehin nicht mehr vergessen können, wenn ich mit seiner Familie fertig bin.

Unnachgiebig bohren sich unsere Blicke ineinander, bis ich herausfordernd die Augenbrauen hebe und er … lächelt. Minimal, doch seine Mundwinkel zucken in die Höhe.

»Bringen Sie nichts weniger als Ihre Albträume zu Papier«, schließt der Professor, und obwohl Mercurys Mundwinkel weiterhin angehoben sind, wird sein Blick abgründig.

So abgründig, als wäre nicht er mein, sondern ich sein persönlicher Albtraum.

4

Nemesis

Als ich nach dem Seminar bei O die Zimmertür hinter mir schließe und gegen das Holz sinke, bin ich dankbar für einen Moment des Durchatmens. Doch die Luft ist meiner Lunge noch nicht einmal ganz entwichen, als mein Handy zu klingeln beginnt. Eilig haste ich in Richtung Nachttisch und bekomme das Telefon zu fassen.

Ein Videocall meiner Mutter. Ich hebe ab und puste mir dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Wolltest du nicht anrufen, sobald du angekommen bist?«

Ich setze mich auf die Bettkante. »Entschuldige bitte. Nach der langen Anreise war ich gestern so erschöpft und heute …«

»Schon okay«, sagt Mama. »Hauptsache, du bist sicher angekommen.« Im Hintergrund erkenne ich das deckenhohe Bücherregal, das in unserem Münchner Wohnzimmer steht. Meine Mutter sitzt auf der Couch, ihre Erscheinung wird von den gedimmten Wandleuchten golden in Szene gesetzt.

»Das bin ich.« Ich bemühe mich um ein Lächeln.

»Schön. Zeig mir dein Zimmer.« Mama richtet sich auf, ich wechsle die Kameraperspektive und gehe mit ihr durch den Raum. Durch mein Zimmer mit der Nummer neun. Da wir nachts schlicht unsere Ruhe brauchen, um zu träumen, genießen wir bereits zu Beginn des Bachelorstudiums Einzelzimmer.

Es ist rechteckig, hat eine hohe Decke und einen Erker. Das Metallgestell des Himmelbetts läuft oben in geschwungenen Verzierungen zusammen, während sich die seidigen Vorhänge bis auf den Steinboden ergießen. Gegenüber vom Bett befindet sich ein dunkler Tisch, auf dem Stumpenkerzen stehen, Lavendel in einer Vase trocknet und eine Originalausgabe von Freuds Traumdeutung liegt.

»Du hast unser Familienfoto noch gar nicht aufgestellt«, bemerkt meine Mutter mit Blick auf den Schreibtisch.

Ich eile zu meinem Koffer, der halb ausgepackt vor dem Himmelbett liegt. »Einen Moment.« Wühlend arbeite ich mich durch den Inhalt. Drei Paar Handschuhe, einen Kaschmirschal und eine Packung Tampons später halte ich zwei Bilderrahmen in den Händen. Mittig stelle ich die gerahmten Fotos auf den Tisch.

»Das ist ein schöner Platz, sehr präsent«, lobt Mama, während ich auf ihr jüngeres Gesicht auf dem Foto blicke. Mein Vater hat den Arm um sie gelegt, nicht eng und beschützend, sondern vorsichtig und zurückhaltend, während sie meinen Bruder Neiro wiegt und auf das Baby hinabsieht, als wäre es ihr ausgelagertes Herz. Nicht nur ihr Stolz und Glück, nein, ihr ganzes Herz. Die Gewissheit, dass meine Mutter mich noch nie so angesehen hat, lässt meinen Blick zu dem zweiten Bild schnellen. Neiro, gerade volljährig, sitzt auf dem Fahrersitz seines ersten eigenen Autos. Die dreijährige Lucy steht in Ringelsöckchen auf seinem Oberschenkel und zieht sich am Lenkrad empor, sodass sie gerade so durch die Windschutzscheibe linsen kann. Mein Bruder lacht und sieht das kleine Mädchen an, als wäre sie wiederum sein ganzes Herz.

»Der Erker«, schwärmt Mama, und ihre blecherne Stimme holt mich zurück in die Gegenwart. »Die Zimmer sehen noch genauso aus wie bei uns damals. Die Erkerfenster sind exakt so schön wie in meiner Erinnerung.«

»Man kann sie sogar beheizen.« Ich trete zum Erker. Er ist wahrlich wunderschön. Ganz aus Glas gearbeitet, sodass man in den lappländischen Nachthimmel blicken und unter den Polarlichtern schlafen kann.

»Beheizen? Das gab es bei uns nicht.«

Ich zeige ihr die Funktion am Lichtschalter.

»So investiert die Akademieleitung also unser Geld.« Ihr Ton ist derartig missbilligend, dass ich bereue, die beheizbaren Fenster überhaupt erwähnt zu haben.

Ich wechsle zur Frontkamera und lächle wogenglättend. »Es ist … genau so, wie ihr es erzählt habt.«

Mama lächelt verkniffen. »Gewöhn dich ein paar Tage ein, aber dann darfst du keine Zeit mehr verschwenden, Nemesis. Vergiss nicht, dass du endlich nachholen kannst, was du die letzten Jahre verpasst hast.«

»Ich weiß.«

»Gut. Schlaf schön, meine Kleine. Und kämm dein Haar, die Feuchtigkeit sorgt für Frizz.«

»Mache ich. Liebe Grüße an Papa.«

»Richte ich aus«, versichert sie, doch ich weiß, dass sie es nicht tun wird. Im nächsten Moment hat meine Mutter den Anruf beendet.

Seufzend sehe ich zum Himmelbett. Gern würde ich mich rücklings draufwerfen, an die stuckverzierte Decke starren und mich fragen, wie es wäre, die ADA als gewöhnliche Studentin zu besuchen, doch da diese Frage sowieso zu nichts führt, verbiete ich sie mir. Stattdessen nutze ich die verbleibenden Minuten, bis Esra mich zur Erstsemesterparty abholt, um meine Haare in den Griff zu bekommen.

Von den Schlafräumen der Studierenden bis zum Gewächshaus überqueren Esra und ich den gesamten Campus. Unmittelbar vor den studentischen Unterkünften passieren wir eine Sauna und zwei Hot Tubes, die mir bisher nicht aufgefallen sind. Da einer davon in Benutzung ist, steigt der heiße Dampf wie Gespensteratem in die schwarzblaue Dunkelheit empor. Wir kreuzen die breite Zufahrtsstraße, ohne auf dem vereisten Asphalt auszurutschen, und schlagen einen Bogen in nordwestliche Richtung. Die gepflasterten Wege sind von den gleichen verzierten Laternen gesäumt wie der Innenhof. Münzgroße Flocken fallen auf unsere Köpfe nieder, der frisch gefallene Schnee knirscht mit jedem Schritt unter unseren Stiefelsohlen.

Esra hat sich die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und reibt die behandschuhten Hände aneinander. »Riechst du das?« Ihr Atem verflüchtigt sich in der Luft, die stark nach Pferd riecht. »Wir laufen gerade am Rentierstall vorbei.« Sie presst einen Finger gegen die Lippen und murmelt: »Wenn du ganz leise bist, hörst du vielleicht ihr Wiehern oder wie ihre Hufe über den Stallboden scharren.«

Konzentriert blicke ich in Richtung Stall, der sich diffus im Laternenschein abzeichnet, höre jedoch nichts. Dass die ADA Rentiere durchaus als Fortbewegungsmittel nutzt, hat mir mehr oder minder erfolgreichen Reitunterricht eingebracht.

Esra nimmt den Finger von den Lippen und deutet in die Dunkelheit. »Und da hinten befindet sich der Husky-Zwinger. Wie soll man sich da entscheiden, wen man zuerst streichelt?«

Wir setzen unseren Weg fort, laufen auf den Zwinger zu, und ich nehme tatsächlich ein leises Fiepen wahr.

»Nach unserer Anreise am Samstag konnte ich nicht einmal meinen Koffer auspacken, sondern musste sofort zu den Welpen. Ich würde meinen Familiennamen nie zu meinem Vorteil nutzen, außer er verschafft mir Zutritt zu Husky-Babys.« Esra lacht auf, und es klingt, als hätte man gegen ein Glockenspiel geschlagen.

Ich schaue sie von der Seite an. Strasssteine umrunden ihre Augen, und ihre Lippen leuchten in einem zarten Orange.

»Du kennst dich wirklich gut auf dem Akademiegelände aus«, sage ich, doch sie zuckt nur mit den Schultern.

»Eigentlich bin ich sehr vergesslich, aber da unser Vater selbst an der ADA unterrichtet und eng mit der Direktorin befreundet ist, sind mein Bruder Elio und ich so oft hier gewesen, dass selbst ich mir den ein oder anderen Weg merken kann.«

Auch wenn ich mich heute Nacht gern in mein Bett zurückgezogen hätte und in meinem Traum an die portugiesische Westküste gereist wäre, sind Informationen wie diese genau der Grund, weshalb ich die Party besuchen muss. Wenn die Barbosas enge Vertraute von Jupiter Sterling sind, könnte Mister Barbosa in die genauen Todesumstände meines Bruders eingeweiht sein.

Schlagartig höre ich weder die Rentiere noch die Huskys, sondern bilde mir ein, das erste Wort zu vernehmen, das meine Eltern miteinander gewechselt haben, und den letzten Schritt, den mein Bruder gegangen ist.