Angst zeigt Gesicht - Dorthe Ahlers - E-Book

Angst zeigt Gesicht E-Book

Dorthe Ahlers

4,4

Beschreibung

Anna lebt mit ihren Eltern und ihren beiden älteren Brüdern in Schweden. Als der Vater ein Jobangebot in Deutschland bekommt, beginnt eine jahrelange Odyssee. Von Großeltern und Freunden getrennt, müssen Anna und ihre Brüder ihr Leben in Armut und asozialen Verhältnissen verbringen. Die Alkoholexzesse der Eltern enden stets in unsagbarer häuslicher Gewalt, die der Entwicklung der Kinder so schadet, dass Anna eines Tages Opfer ihres eigenen Bruders wird …

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Dorthe Ahlers

ANGST

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2012 Verlag Kern

ISBN 978-3-939-478-829

ISBN E-Book: 9783944224022

© Inhaltliche Rechte beim Autor

Autorin: Dorthe Ahlers

Herstellung: www.verlag-kern.de

Lektorat: Manfred Enderle

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012

Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Angst zeigt Gesicht

Vorwort

Ich erzähle Euch eine Geschichte, eine wahre, aber grausame Geschichte. Warum ich sie erzähle? Es tut der Seele gut, all den Ballast, der darauf liegt, loszuwerden. Es ist nicht nur meine Geschichte, sondern unsere. Die Geschichte meines Bruders und meine eigene. Mein Bruder Sven hat seine Geschichte und ich, Annalena, habe meine Geschichte und zusammen haben wir dann unsere Geschichte. Wo soll ich anfangen zu erzählen? Am besten ganz von Anfang an, aber wo ist der Anfang, wo ist das Ende? Es ist schwer, aber wir zusammen werden es schaffen.

Mein Bruder Sven ist 48 Jahre alt, ich, Annalena, bin 44 Jahre alt. Die vier Jahre, die Sven älter ist, sind heute nicht mehr spürbar, aber als wir Teenager waren, da waren die vier Jahre eine Menge mehr. Es kam mir aber auch immer zugute. Dazu später mehr. Unsere Geschichte beginnt in dem Alter, als unser Gehirn so weit entwickelt war, dass es denken konnte. Das heißt, als es anfing, sich die Dinge zu merken - nicht gleich zu verstehen, aber zu merken. Manchmal haben wir uns gewünscht, dass man das Gehirn ausschalten kann wie eine Lampe, denn dann wäre vieles leichter für uns gewesen. Heute sind wir froh, es geschafft zu haben, denn wir haben gelernt, damit zu leben und damit umzugehen. Jedoch haben wir dafür Hilfe in Anspruch genommen, professionelle Hilfe. Wir haben zusammen mit einer Therapeutin gelernt, wie man trotz der schlimmen Dinge das Leben wieder leben kann und wie man sogar wieder Freude und Glück empfinden und wieder lachen kann. Es war und ist ein harter, steiniger Weg, aber zusammen sind wir stark und wir werden es schaffen. Dann ist da noch eine weitere Geschichte, denn wir haben noch einen älteren Bruder, Christopher. Er ist 12 Jahre älter als ich und acht Jahre älter als Sven. Ja, auch Christopher hat eine grausame Geschichte zu erzählen und wir über ihn. Vielleicht ist es im Augenblick etwas verwirrend, aber das klärt sich im Laufe der Geschichte auf.

Meine Erinnerung fängt schon sehr früh an, manchmal glaube ich, dass ich einfach viel zu früh alles mitbekam. Es geht um meine, um unsere Eltern. Sie haben unser Leben vorgelebt, das zum großen Teil beschissen war. Wir lebten damit, in dem Glauben, dass es normal sei und dass es anderswo genauso gelebt wurde. Dies war aber ein Irrtum, was wir mit den Jahren und dem Älterwerden begriffen. Das war auch eine sehr, sehr schmerzliche Erfahrung.

Ich erinnere mich, meine Eltern hatten Besuch und es kam wieder Alkohol auf den Tisch. Mein Magen legte sich dabei immer quer, denn ich wusste, am Ende der Feier ging die Party richtig los. Meine Eltern konnten nämlich mit dem Alkohol überhaupt nicht umgehen, im Gegenteil. Meine Mutter, eine Dänin und mein Vater, ein Deutscher, passten überhaupt nicht zusammen, das meinten viele und wir bekamen es zu spüren.

Unsere Mutter war von zuhause aus sehr frei und mein Vater sehr streng katholisch erzogen. Da knallte es schon von vornherein. Aber wie gesagt, ohne Alkohol funktionierte es.

Bis zu meinem siebten Lebensjahr hatte ich mein Bett im elterlichen Schlafzimmer. Nur die Jungen teilten sich allein ein Zimmer. Für mich war es normal, bis ich das erste Mal verstand, was ich nicht verstand – das Verhältnis meiner Eltern. Sie hatten, wie gesagt, getrunken und das nicht zu wenig. Ich wurde wach, wie schon so oft, aber ich wusste nicht, warum ich wieder mitten in der Nacht wach wurde. Doch es fällt mir ein, mir war speiübel und ich musste einfach nur kotzen.

Ich sprang aus dem Bett, ich war etwa vier Jahre alt und übergab mich, nee, ich kotzte mir die Seele aus dem Leib. Und warum? War‘s ein Virus? Nein, dieser Virus war kein normaler Virus, sondern der Virus Angst, Schmerz, Blut und Geschrei. Ja, meine Eltern hatten sich wieder ganz ordentlich geprügelt, beziehungsweise mein Vater hatte meine Mutter in Grund und Boden geprügelt. Ich schrie vor Angst, denn meine Mutter flog an mir vorbei, schreiend vor Schmerz und das Blut spritzte aus dem Mund und aus der Nase. Mein Vater hatte früher geboxt und wusste daher sehr wohl, wo er hinschlagen musste und wie hart.

Sie lag schreiend und weinend vor Angst zusammengekrümmt in der Ecke. Ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen, nur noch, wie so oft, eine blutige, matschige Masse. Die Augen waren total verquollen und sie stöhnte vor Schmerz. Die Besucher halfen nicht, nein, sie flüchteten vor dem, was sie sahen.

Ich war entsetzt, bettelte und flehte, sie mögen meiner Mama helfen. Aber vergebens. Mein Vater kam und schlug weiter auf sie ein und ich höre heute noch ihr Geschrei und das Krachen ihres Nasenbeines. Es war so grausam. Inzwischen waren Sven und Christopher auch da, weinten, schrien und brüllten meinen Vater an, er solle endlich aufhören, Mama zu schlagen. Christopher sprang unseren Vater von hinten an und boxte ihm in den Rücken.

Nach einiger Zeit hörte mein Vater endlich auf und ließ von ihr ab. Sie sah furchtbar aus und weinte vor Schmerz, denn er hatte sie, als sie am Boden lag, auch noch getreten. Ihr Körper war übersät mit Schürfwunden, blauen Flecken und das Gesicht war völlig entstellt. Worum es dieses Mal ging, was wieder vorgefallen war, wusste niemand von uns.

Wir halfen meiner Mutter auf und setzten sie in einen Sessel. Christopher war sofort mit einer Schüssel lauwarmen Wassers und einem Lappen da, um vorsichtig das Blut, das jetzt klebte, abzuwaschen. Mama stöhnte vor Schmerzen und wir weinten.

Mein Vater hatte sich in der Zwischenzeit ins Bett gelegt und schlief. Wir waren entsetzt, aber auch froh, denn jetzt ließ er Mama erst mal wieder in Ruhe. Als wir unsere Mutter einigermaßen versorgt hatten, legten wir sie auf das Sofa, damit sie wenigstens ihre Ruhe hatte, denn wirklich schlafen konnte sie nicht. Christopher legte sich auf eine Luftmatratze neben dem Sofa, damit sie nicht alleine war. Ich ging zu Sven und schlief bei ihm, sofern man von Schlaf sprechen konnte. Irgendwann kamen wir zur Ruhe und der Schlaf übermannte uns.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich Sven und sofort fiel mir alles wieder ein. Ich weckte Sven und wir gingen sofort zu unserer Mutter ins Wohnzimmer. Mama und Christopher waren schon wach und sprachen leise. Als wir reinkamen und unsere Mutter sahen, mit dem total verquollenen und völlig blutunterlaufenen Gesicht, fingen wir sofort zu weinen an.

Sie sagte: „Weint nicht, es sieht schlimmer aus, als es ist.“ Aber das glaubten wir nicht, denn man sah ihr an, dass jede Bewegung sie schmerzte. Dann fragte sie: „Schläft euer Vater noch?“ Wir sagten nur: „Das wissen wir nicht, keiner traut sich allein ins Schlafzimmer hinein.“ Dann gingen wir alle zusammen hin, um nachzusehen. Als wir die Tür öffneten, sahen wir, dass mein Vater gerade aufgestanden war. Er sah uns mit großen und entsetzten Augen an. „Oh mein Gott“, sagte er, „was ist passiert, war ich das etwa?“

Als wir alle weinten und ihm gemeinsam sagten, dass er ein großes Schwein sei, fing auch er zu weinen an. Meine Mutter sagte nur: „Ja, Rudi, wieder einmal.“ Sie schickte uns raus und sagte, sie wolle mit unserem Vater alleine sprechen. Nach etwa zehn Minuten kamen sie beide zu uns ins Wohnzimmer, setzten sich und erzählten uns wieder einmal, dass so etwas nie wieder passieren würde, es wäre wirklich das letzte Mal gewesen und wir sollten keine Angst mehr haben.

Wir wollten es so gerne glauben, doch zu oft und immer wieder war es eine Farce, eine Lüge, das wussten wir, wir spürten es förmlich körperlich. Aber eines wussten wir sicher, für circa 2-3 Monate war Ruhe, wenn wir Glück hatten. Vier Wochen waren auf jeden Fall sicher, denn so lange dauerte es etwa, bis unsere Mutter sich wieder draußen sehen lassen konnte.

Nun kam wieder unser Einsatz, der daraus bestand, den Leuten draußen die tollsten Geschichten zu erzählen. Man muss sich wundern, was einem da alles so einfällt. Unsere Geschichten waren zum Teil haarsträubend, aber wir dachten, immer glaubwürdig. Als wir alt genug waren, wurden wir eines Besseren belehrt.