"Antisemit!" - Moshe Zuckermann - E-Book

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Moshe Zuckermann

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Beschreibung

Antisemitismus ist eine der verruchtesten Formen moderner Ideologien. Diese Behauptung bedarf heutzutage keines Nachweises mehr, zu katastrophal waren seine Auswirkungen, als dass sie in Abrede gestellt werden könnte. Die Ächtung von Antisemitismus ist ohne jeden Zweifel eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Problematisch und kontraproduktiv wird es dort, wo ein vermeintlich kritischer Diskurs in herrschaftliches Bekenntnis umschlägt, wo Anti-Antisemitismus politisch missbraucht wird, wo sich eine vermeintlich kritisch auftretende Rezeption als ideologisch entpuppt. Wenn beispielsweise Gegner der israelischen Vertreibungs- und Kriegspolitik wie Ilan Pappe oder Kritiker einer von ihnen identifizierten "Holocaust-Industrie" wie Norman Finkelstein unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Antisemitismus Auftritts- und Diskussionsverbote erhalten, ist das eine demokratiepolitisch gefährliche Entwicklung. Mehr noch: Der Vorwurf des Antisemitismus dient israelischen Lobbies als Instrument, ihre Gegner mundtot zu machen, notwendige Debatten im Keim zu ersticken. Moshe Zuckermann wagt eine Analyse dieser Entwicklung. Für ihn steht fest, dass die Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs als Parole im vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus "in eine fürchterliche Epidemie umgeschlagen ist." Längst schon sei sie zum Totschlag-Ideologem eines durch und durch fremdbestimmten Anspruchs auf politisch-moralische Gutmenschlichkeit geronnen. Ob man diese Epidemie heilen kann, wird sich erst erweisen müssen. Dass man sie erklären muss, scheint dringlicher denn je.

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Seitenzahl: 353

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Moshe Zuckermann "Antisemit!"

© 2010 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Lektorat: Hannes HofbauerGestaltung: Stefan Kraft

ISBN: 978-3-85371-820-9(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-318-1)

Fordern Sie unsere Kataloge an: Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

E-Mail: [email protected]

Inhalt

Der Autor
Vorbemerkung
1. TEIL: ISRAEL
Zionismus und Antisemitismus
Israel und die Shoah
Eine UNO-Rede
Der Außenminister
Instrumentalisierung der Shoah-Erinnerung
Israelische Realitäten
Israels politische Kultur (7. März 2010)
2. Teil: DEUTSCHLAND
Deutsche Lasten
Anmerkungen zum Antisemitismus (Exkurs)
Eine Knesset-Rede – ein offener Brief
Ausufernde Hysterie
Vorauseilende Selbstzensur
Nachträge
Schlusswort
Anmerkungen
Anhang

Der Autor

Moshe Zuckermann, 1949 in Tel Aviv geboren, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Als Sohn polnischer Holocaust-Überlebender entschloss er sich nach zehnjährigem Aufenthalt in Deutschland mit 20 Jahren zur Rückkehr nach Israel. Er gilt als profunder Kritiker israelischer Politik und tritt für eine Zwei-Staaten-Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ein.

Vorbemerkung

Als in den 1880er Jahren der Historiker Theodor Mommsen gebeten wurde, sich zum Antisemitismus zu äußern, auf dass sich sein Wort „hilfreich und reinigend“ auswirke, antwortete er: „Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, dass überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder irgend jemand anders sagen könnte, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. Sie hören nur ihren eigenen Hass und Neid, ihre eigenen niedrigsten Instinkte. Alles andere zählt für sie nicht. Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral. Man kann sie nicht beeinflussen… Es ist eine fürchterliche Epidemie, wie die Cholera – man kann sie weder erklären noch heilen. Man muss geduldig warten, bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat“.1

Max Horkheimer, der diese Einschätzung Mommsens in seinem kurzen Artikel „Über das Vorurteil“ (1961) zitierte, kommentierte deren letzten Satz mit den Worten: „Es hat sich nicht aufgezehrt, sondern die furchtbare Wirkung geübt“, um dann nachzusetzen: „Der Glaube, es sei nun verbraucht, ist zukunftsfroh. Anstatt dass die Bedingungen für den autoritären Charakter geschwunden sind, haben sie sich überall vermehrt. Der vielbesprochene Rückgang der Familie, die Not in überbesetzten Schulen sind nicht geeignet, autonomes Denken, Phantasie, die Lust an geistiger Tätigkeit zu entwickeln, die nicht zweckgebunden ist. Das Wachstum der Bevölkerung, die Technik selber zwingen die Menschen, innerhalb und außerhalb der Arbeitsstätte, in der Fabrik und im Verkehr, auf Zeichen zu achten, in gewisser Weise selbst zum Apparat zu werden, der auf Signale reagiert. Wer immer auf Zeichen blickt, dem wird am Ende alles zum Zeichen, die Sprache und das Denken selbst. Er wird dazu getrieben, alles zum Ding zu machen. Das ist der inneren Freiheit nicht günstig. Trotz der Steigerung der Herrschaft über die Natur, der vermehrten Kenntnis und des Scharfsinns, der sich nichts vormachen lässt und doch alles mitmacht, hat sich die Fähigkeit zur eigenen Erfahrung und zum Glück nicht ausgebreitet. Der Glaube, dass der Lebensstandard und die Vollbeschäftigung auf die Dauer alles kompensieren werden, kann trügen“.2

Trotz der von Mommsen verwendeten epidemologischen Metapher und des bei Horkheimer kurz anklingenden weltgeschichtlichen Katastrophenzusammenhangs, zeichnet sich der Kommentar des Frankfurter Denkers durch das Paradigma einer sozial verstandenen Einbettung des Antisemitismus aus: Er bezeichnet für ihn nichts Metaphysisches, nichts, was nicht – bei aller Resistenz gegenüber „Vernunft, Recht und Moral“ – auf (gescheiterte) gesellschaftliche Sozialisationsmechanismen und neuralgische Sozialstrukturen zurückführbar wäre. Eine Dialektik der Aufklärung im Sinne einer ins Gegenteilige umgeschlagenen historischen Glücksverheißung gilt ihm nicht als Kapitulation vor der siegreich gewordenen Irrationalität, sondern treibt ihn zu einer umso dringlicheren Insistenz auf die Erkenntnis dessen, was bei der Bekämpfung des antisemitischen Vorurteils „trügen“ könnte. Es mag nicht überflüssig sein, dies im hier erörterten Zusammenhang hervorzuheben, denn bei allem Abscheu vor dem manifesten Antisemitismus unserer Tage, gilt es auch dem verdinglichenden Charakter der (wie immer ehrlich) entrüsteten Reaktion auf ihn zu begegnen. Denn nicht nur der Antisemitismus selbst ist eine der verruchtesten Formen der Ideologie, auch seine sich kritisch gerierende Rezeption kann sich als wesentlich ideologisch entpuppen.

Kann sich entpuppen? Man darf inzwischen diese vorsichtige Formulierung getrost hinter sich lassen. Längst schon ist die lustvoll heteronome Verwendung von „Antisemitismus“ als Parole im vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus in „eine fürchterliche Epidemie, wie die Cholera“ umgeschlagen. Längst schon ist sie zum Totschlag-Ideologem eines durch und durch fremdbestimmten Anspruchs auf politisch-moralische Gutmenschlichkeit geronnen. Ob man diese Epidemie heilen kann, wird sich erst erweisen müssen. Dass man sie erklären muss, scheint mittlerweile dringlicher denn je. Das Angebot, geduldig zu warten, „bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat“, kann keine Geltung mehr beanspruchen. Zu viel steht auf dem Spiel. Zu desaströs sind die Auswirkungen dieser Epidemie auf vernunftgesteuerte emanzipative Bestrebungen der Gegenwart. Zu offensichtlich kommen gerade die zu Schaden, welche die Träger der anti-antisemitischen Farce meinen, „beschützen“ zu sollen – freilich nicht zuletzt durch das Selbstverschulden jener, die sich im Wohlgefühl einer Solidarität suhlen, die keine ist, ihrem Wesen nach auch keine sein kann.

Das reale Problem des (modernen) Antisemitismus ist, wie von Horkheimer dargelegt, sozialen, mithin politischen Ursprungs. Die ernste Auseinandersetzung mit ihm muss, wenn sie nicht zur parolenhaften Phrasendrescherei verkommen möchte, in diesen Bereichen des Realen ansetzen. Dies wird heutzutage aber kaum noch geleistet, was seinen Grund darin haben mag, dass die in Auschwitz kulminierende „furchtbare Wirkung“, welche der Antisemitismus gezeitigt hat, die Antisemitismus-Rezeption nahezu vollständig in die Sphäre moralischer Entrüstung katapultierte. Zu fragen bleibt indes, wie sich das genuine Entsetzen zum Fetisch verfestigen konnte und sich die hohe Moral zur hohlen Worthülse verdinglichte. Wie ist zu erklären, dass das Grauen vor den monströsen Folgen des Antisemitismus im 20. Jahrhundert und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zum Golem heranwuchs, der – unfähig zur realen Wahrnehmung – Schatten von Bergen für Berge ausgibt, die Bekämpfung des wirklichen Antisemitismus mithin dahingehend verrät, dass er durch sein wahlloses Wüten vom eigentlichen, historisch real gewachsenen Problem dieser zum Paradigma der Menschenverachtung gewachsenen Zivilisationserscheinung ablenkt.

Man hat es vordergründig mit einem Nomenklaturproblem zu tun. Im Jahre 1947 schrieb noch Adorno: „Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch musste ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als dass ihre Namen erinnert werden können, noch den Fluch des Nicht gedacht soll ihrer werden antun. So hat man im Englischen den Begriff “genocide” geprägt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der Vereinten Nationen Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des „genocide“ fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des „genocide“ aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genozidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt.“3

Man mag Adorno vorwerfen, „weltfremd“ zu sein. Wozu die Kritik dessen, was doch als selbstverständlich gelten darf? Ist es nicht „natürlich“, dass man begrifflich zu fassen trachtet, was sich im Bereich menschlicher Wahrnehmung manifestiert? Adorno ist sich dessen wohl bewusst – registriert er doch selbst, wie wichtig es ist, einen Ausdruck fürs Präzedenzlose zu finden. Seine Kritik versteht sich aber auch gar nicht als billige Polemik gegen die (letztlich unumgängliche) Einordnung der Dinge. Ihm ist es um den Preis zu tun, mit dem das Bedürfnis, das Unfassbare zu benennen, erkauft wurde, um die Feststellung, dass mit seiner schieren Benennung das Unsagbare kommensurabel, Unbegreifliches fassbar werden musste – dass die Kategorisierung des Unsäglichen also seine zivilisatorische Manifestation mutatis mutandis hinnehmbar werden ließ. Entsprechend nahm sich für Adorno die mit dem kommunikativen Akt geförderte verbale Veralltäglichung des Monströsen, seine bürokratische Versprachlichung, als unverzeihlich aus. Denn was als unfassbar zu überdauern, sich im Entsetzen zu erhalten hätte, schlug sich im routinierten, tendenziell austauschbaren Sprachgebrauch in die Banalisierung des Grauens und die Trivialisierung des rezeptiven Umgangs mit ihm um.

Adornos Unbehagen an der sich etablierenden Kommunikationspraxis meinte indes nicht nur die Aporie des Hangs zur Artikulation dessen, was sich der Bebilderung und Benennung, mithin der Repräsentation entzieht, sondern – im Hinblick auf die sozialpsychologische Unbedachtheit gängiger Alltagsinteraktion – nicht zuletzt auch die zu wahrende Sparsamkeit in der Namens- und Begriffsverwendung. Der Begriff muss, wenn er denn seinen Namen verdient, inhaltlich mit dem von ihm Benannten überein stimmen, seine Akkuratesse soll gewissermaßen seine Verwendung dahingehend kompensieren, dass er für das vorbehalten bleibt, was als das von ihm Bezeichnete der Fall ist. Der Begriff dessen, was unsagbar zu bleiben hätte, darf also nicht zum Allerweltsbegriff verkommen, eine Banalität des Bösen darf sich nicht dadurch reproduzieren, dass die Strukturbanalität der historischen Monstrosität sich in einer unbekümmerten Praxis nachmaliger verbaler Repräsentationen der Katastrophe wiederholt. Es geht dabei nicht um Tabuisierung von Heiligem, wie ein falsch verstandenes (religiöses) Bild- und Namensverbot suggerieren könnte, sondern um die Wahrung der Würde der historischen Opfer im Stande ihres Opferseins, nicht zuletzt durch deren Inschutznahme vor heteronomer Vereinnahmung, nicht minder aber auch um die moralische Integrität nachmaliger Rezipienten, um das allzu leichtzüngig beschworene Gedenken, um den zur schändlichen Koketterie verkommenen Umgang mit der Vergangenheit.

Genau dessen machen sich aber Gruppen, Parteien und Kollektive im gegenwärtigen Gedenk- und Erinnerungsdiskurs – Betroffene und empathische bystanders, brave Gutmenschen und enthusiasmierte Solidarisierer – schuldig. Behutsam Anzugehendes ist zum Objekt raffender Rezeptionsbegierde entartet, was Adorno noch zu benennen zögerte, zum inflationierten Schlagwort polemischer Schlammschlachten degeneriert. Noch nie sind „Shoah“, „Antisemitismus“, „Juden“ und „Judenhasser“ so vollmundig zelebriert und mit Genuss öffentlich gefaucht worden. Noch nie ist der konstruierte Zusammenhang von Zionismus, Israel, Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt so weidlich instrumentalisiert, perfide ausgekostet und schändlich missbraucht worden wie im gerade abgelaufenen ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Nie noch ist die von Benjamin beschworene „schwache messianische Kraft“ so verunstaltet, ja in ihr Gegenteiliges verkehrt worden.

Das Phänomen ist in vielen Ländern auszumachen, tritt aber – aus nachvollziehbaren Gründen – besonders stark in Israel, Deutschland, Österreich und (etwas gewandelt) den USA hervor. Der vorliegende Band wird sich primär mit Israel und Deutschland befassen, wiewohl Bezüge zu den USA und die Wechselwirkung der Diskurse im deutschsprachigen Raum und Israel miterörtert werden sollen. Die Vorzeichen besagter Diskurse sind in beiden Ländern unterschiedlich gestellt. Das versteht sich von selbst. Dass aber dies Unterschiedliche mittlerweile selbst zum Fetisch, das Manichäische zu einer von Wahrnehmungsentstellungen nur so durchsetzten Ideologie geronnen ist, „Täter“ und „Opfer“ mithin kruder heteronomer Verdinglichung (auf beiden Seiten) ausgesetzt sind, soll hier nicht minder mitbedacht werden.

1. TEIL: ISRAEL

Zionismus und Antisemitismus

Der Zionismus wurde aus dem Antisemitismus geboren. Zwar wehren sich zionistisch gesinnte Israelis zuweilen gegen diese historische Einsicht, weil sie zu sehr auf einer negativen Bestimmung dessen basiere, was sie für eine aus sich selbst gewachsene Bestrebung des jüdischen Volkes nach kultureller Erneuerung und politischer wie gesellschaftlicher Souveränität erachten; die Erhabenheit der Selbstkonstituierung als Nation solle sich tunlichst keiner Fremdbestimmung verdanken. Und doch darf ihre Sicht des Zionismus als beschränkt angesehen werden. Denn nicht nur muss bezweifelt werden, ob es je eine Nationalstaatsbildung gegeben hat, die sich der Reibung daran, wovon sie sich zu emanzipieren trachtete, entziehen konnte; nicht nur ist darüber hinaus historisch nachweisbar, dass und wie sich das Bewusstsein der Notwendigkeit einer nationalen Heimstätte für Juden sowohl an europäischen Vorbildern infolge der Französischen Revolution orientierte als auch eben an der Heraufkunft des modernen Antisemitismus schärfte, sondern der in unzähligen Schriften zur umfassenden Ideologie geronnene Diskurs über die Begründung der geschichtlichen Notwendigkeit des Zionismus ist ohne sein zentrales Postulat der Diaspora-Negation schlechterdings nicht nachvollziehbar, wobei das zu negierende diasporische Dasein gerade von jenen als ein degeneriert-unwürdiges apostrophiert wurde, die sich der traditionellen, orthodox-religiösen jüdischen Lebenswelt entwunden hatten, um an die säkularisierte bürgerliche Gesellschaft einen Anspruch zu stellen, den diese ihnen gleichwohl weitgehend verweigerte – den der bürgerlichen Gleichstellung. Diese Gleichstellung wurde ihnen jedoch nicht mehr aus religiösen, sich aus überkommenem Judenhass speisenden Gründen verweigert, sondern eben im Zuge des sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einiger Rasanz ausbreitenden, im Wesen religionsfernen Antisemitismus. Insofern das sogenannte „jüdische Problem“ als ein modernes gelöst werden sollte, standen den europäischen Juden die tendenzielle Selbstauflösung in der Assimilation, der universal-emanzipative Sozialismus oder eben der aufkeimende politische Zionismus zu Gebote. Und dieser verstand sich nun einmal selbst primär als Reaktion auf die sozialen Auswüchse des modernen Antisemitismus.

Diese Grundrelation zwischen Zionismus und Antisemitismus sollte indes zwei verschiedene, dialektisch freilich miteinander verschwisterte Wirkungen zeitigen. Zum einen verfestigte sich die Auffassung des Zionismus als „Antwort“ auf den Antisemitismus zum regelrechten Axiom zionistischer Ideologie. Nach der Shoah und der durch sie beschleunigten Gründung des Staates Israel avancierte dieses Axiom nachgerade zur zionistischen Staatsdoktrin. Noch im Jahr 2005 machte sich eine deutliche Spannung bemerkbar, als Yad-Vashem-Direktor Avner Shalev sich anlässlich der Neueröffnung des umgestalteten Museums zu behaupten anmaßte, der Zionismus sei nur eine der möglichen „Antworten“ auf die Shoah; der Besucher im Museum möge durchaus den Eindruck gewinnen können, eine jüdische Existenz in New York z.B. sei nicht minder legitim – dies aber in ausgesprochenem Gegensatz zur zuvor erfolgten Anweisung des israelischen Außenministeriums, die Zeremonien der Neueröffnung hätten vor allem die Botschaft zu übermitteln, dass Israel die einzige „Antwort“ auf eine Erscheinung wie die Shoah sei. Der brave Museumsdirektor vollführte kurz darauf den von ihm erwarteten Gesinnungsrückzieher.

Zum anderen erwuchs aber aus ebendiesem Axiom ein (vermeintliches) Paradoxon: Der Anspruch des Zionismus, den Antisemitismus (qua „Antwort“ auf diesen) zu überwinden, ließ die „Erhaltung“ des Antisemitismus in der Welt notwendig werden, solange das Projekt des Zionismus nicht zum historischen Abschluss gebracht worden ist – was zentralen Postulaten des Zionismus zufolge so lange der Fall sein muss, wie ein Großteil der Juden in der Welt, sei‘s aus lebensgeschichtlichem Zwang, sei‘s aus freier Wahl, nicht im für sie gegründeten zionistischen Staat leben. Die Forderung, Juden aus aller Herren Ländern mögen sich in Israel versammeln, verstand sich dabei nie als ein beliebiges Nice-to-have, sondern stets als raison d‘être des Judenstaates, der das Ziel jüdischer Massenimmigration ins Land entsprechend von Anbeginn zur vordringlichen Staatspolitik erhob. „Heimstätte“ stellte sich für Israels Zionismus daher nie als Möglichkeit dar, die man nach Belieben wahrnimmt oder nicht, sondern immer schon als ein praktisches Ziel, das man unter Verwendung großer materieller, diplomatischer, erzieherischer und ideologischer Ressourcen zu verfolgen hatte (und letztlich noch immer hat).

Was man sich dabei über Jahrzehnte (mit wenigen Ausnahmen) kaum je vor Augen zu führen gestattete, war der einer von solchem Geist beseelten Antisemitismus-Bekämpfung inhärente Widerspruch. Denn nicht um die konsequente Eliminierung des Antisemitismus in der Welt ging es den Sachwaltern des Zionismus, sondern um die zionistische „Antwort“ auf diesen bzw. die vom Zionismus angebotene Lösung des „jüdischen Problems“, welches – willkommener Weise – auf den in der Welt grassierenden Antisemitismus zurückgeführt werden konnte. Nicht nur hatten also Existenz und Entfaltung des Zionismus für ihn selbst Vorrang vor dem Kampf gegen den das Judentum bedrohenden Antisemitismus, sondern der reale Fortbestand des Antisemitismus in der als solcher apostrophierten Diaspora war sein Interesse. Der Zionismus initiierte zwar nicht den Antisemitismus, gab sich auch stets betroffen, wenn dessen Auswirkungen konkret zutage traten, aber nicht von ungefähr zeichneten sich die Reaktionen vieler Israelis auf antisemitische Erscheinungen im Ausland, nicht selten auch Kommentare der israelischen Medienwelt, durch eine zumeist offen artikulierte Schadenfreude aus: Recht geschieht es ihnen! Wenn diese Juden das Leben in Israel verschmähen und ein diasporisches Dasein bewusst vorziehen, mögen sie sich nicht wundern und darüber beklagen, dass sie antisemitischen Ausfällen ausgesetzt sind.

Das will wohlverstanden sein: Die Logik, wonach die Verschlechterung der Zustände, die den Antrieb zu ihrer Überwindung speisen, das Anliegen derer begünstigt, die sich um die Abschaffung der Zustände bemühen, ist nicht exklusiv dem Zionismus zuzuschreiben. Die dialektische Doktrin des Je-schlechter-desto-besser entstammt bekanntlich einem anderen historischen Zusammenhang, darf aber im übrigen als Erbteil nahezu aller Befreiungsbewegungen der Moderne angesehen werden. Was sie gleichwohl im Zionismus spezifisch auszeichnet, ist die binäre Rigorosität, mit der diese Doktrin hochgehalten wurde, um sich in eine stramme staatsoffizielle Politik mit entsprechendem ideologischen Anspruch zu übersetzen. Die radikale Verächtlichmachung des Diasporischen, die sich im hebräischen Substantiv gola und dem von diesem abgeleiteten Adjektiv galuti verdichtet findet, zeitigte nicht nur eine selbstherrliche Verdinglichung alles Israelischen, sondern auch die ideologische Perpetuierung einer Mischung aus Abscheu vorm Diasporischen und dem Schrecken vor einer absehbaren „nächsten Shoah“. Besonders in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung wuchs die Israel-Diaspora-Dichotomie zur Zentralachse einer stets herbeibemühten zionistischer Selbstvergewisserung heran. Noch 1976 durfte der damalige israelische Premierminister, Yitzhak Rabin, jüdische Abwanderer aus Israel in einem Interview als „schwächliche Abfallprodukte“ der israelischen Gesellschaft bezeichnen und sich dabei der Zustimmung eines Großteils der jüdisch-israelischen Bevölkerung gewiss sein. Das Ressentiment gegenüber den „verräterischen“ Emigranten wusste sich dabei der nicht minder konsensuellen Verachtung für ihre „Erbärmlichkeit“, sich freiwillig einem „degenerierten Dasein“ aussetzen zu wollen, verschwistert.

Von Bedeutung ist aber im hier erörterten Zusammenhang vor allem die ideologische Verzahnung von Diaspora (bzw. gola, Exil) und Antisemitismus: Wenn Zionismus im Kern die Überwindung der Diaspora zum Inhalt hatte, musste diese negativ konnotiert werden, und zwar so, dass der Gegensatz von Jüdischsein und nichtjüdischer Umwelt zum Paradigma existentieller Bedrohung für Juden heranwuchs. Wo das Diasporische sich nicht als primär antisemitisch auswies (etwa in den USA), behalf man sich mit der „Assimilation“ als propagandistischer Notwaffe, wobei orthodoxe Religiöse und säkulare Zionisten einander diesbezüglich in nichts nachstanden: So wie die pseudo-theologische Erläuterung geliefert werden konnte, die Shoah habe sich ereignet, weil das jüdische Volk vor der totalen Assimilation gestanden habe (also als Gottes Bestrafung und „Reinigung“ des auserwählten Volkes), reden Religiöse in Israel oft auch von der „Shoah der Assimilation“ (schoat ha‘hitbolelut) in unseren Tagen (also der kulturellen Selbstauf­lösung des jüdischen Volkes) und können sich dabei dem säkularen Zionismus, welcher das Menetekel der Assimilation im Interesse seiner politischen Zielsetzungen stets einzusetzen wusste, durchaus verbunden fühlen. Unschlagbare Waffe dieses Diskurses war und blieb gleichwohl der Antisemitismus. Denn nicht nur hat er der schleichenden Assimilation das akut Sensationelle voraus, er darf darüber hinaus auch, wann immer nötig, als ein historisch gefestigter „Beweis“ für die Vergeblichkeit aller Assimilation und die Verlogenheit aller universeller Emanzipationsbestrebungen herangezogen werden. Nichts lässt sich in den polemischen Schlachten der zionistischen Ideologie effektvoller instrumentalisieren, nichts geriet ihr zur besseren strategischen Waffe, als der Antisemitismus. Darin weiß sich der Zionismus gewiss – kann er doch stets mit einem unschlagbaren Beleg aufwarten: der Shoah.

Israel und die Shoah

„Die israelische Regierung ruft in diesen Tagen Shoah-Überlebende auf, die ‚Zentrale für Rechte der Überlebenden‘ zu kontaktieren, um ihre Rechte wahrzunehmen. Ich hörte diese Woche folgende Schlussworte des dazu [im Radio] gesendeten Clips: ‚Historische und soziale Gerechtigkeit wird verwirklicht‘. Was für ein Zynismus! Jahrzehntelang haben sich Israels Regierungen der Erfüllung von Rechtsansprüchen der Shoah-Überlebenden entwunden. In den letzten Jahren, nachdem die meisten von ihnen gestorben sind, hat man die Zentrale errichtet“.4

Diese schlichten Zeilen eines Leserbriefs an die israelische Tageszeitung „Haaretz“ kodieren Wesentliches von dem, was es an der Grundbeziehung von „Israel und der Shoah“ zu erörtern gilt. Nicht nur die Entrüstung des Lesers über das seit Bestehen des Staates vorherrschende Verhalten israelischer Regierungsinstanzen den Shoah-Überlebenden gegenüber fällt dabei auf, sondern nicht minder die von heraus hörbarer Ohnmacht durchdrungene Empörung über den selbstgefälligen Anspruch, bei der verspäteten Korrektur noch „historische und soziale Gerechtigkeit“ walten zu lassen. Dass dieser Anspruch in einem kulturindustriell vergnüglichen PR-Slogan verpackt wird, zeugt von der Seriosität der Initiatoren des Aufrufs – ihr Zynismus hält ihrem Narzissmus die Waage. Dass die Verspätung des nunmehr Initiierten sich womöglich wirtschaftlichem Kalkül verdankt, ist zwar nicht nachweisbar, aber in Israel auch kein allzu fremder Gedanke. War doch die politische Auseinandersetzung Israels mit „der Shoah“ von Anbeginn auf heteronome Interessen gestellt, allen voran Interessen aus dem Bereich des ökonomischen Tauschwerts. Ganz abgesehen davon, was jene, die den Slogan des Clips formuliert haben, sich gedacht haben, als sie sich anmaßten, von „historischer“ (und dazu, auf gleicher Ebene gesetzt, „sozialer“) Gerechtigkeit zu reden, sie enthüllten dabei, wohl gegen ihren eigenen Willen, eine Dimension des realen (historischen) Verhältnisses des Staates Israel zu den in ihm lebenden Shoah-Überlebenden, nicht zuletzt auch des – freilich kokett aufbereiteten – Schuldgefühls ihnen gegenüber. Nicht von ungefähr erklärte die Richterin Dalia Dorner, Vorsitzende des Anfang 2008 eingesetzten parlamentarischen Ausschusses zur Untersuchung der Hilfeleistungen für Shoah-Überlebende, im Juni 2008, israelische Regierungen hätten die Überlebenden über Generationen hinweg vernachlässigt, sie mithin um ihnen zustehende Geldsummen geprellt, und die vom Ausschuss angesichts der eklatanten Missstände ausgesprochenen Empfehlungen hätten zur Nachholung von Unterlassenem „nur wenig an der Schande“ zu decken vermocht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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