Artemis - Charlotte Charonne - E-Book

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Charlotte Charonne

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Beschreibung

Ein Mädchen wird brutal vergewaltigt. Noch während die toughe Rubina Hiller und der charmante Simon Peick in dem Fall ermitteln, werden ihre Verdächtigen kurz hintereinander Opfer von Verstümmelungen. Ein Vergeltungsschlag? Oder stammt der Täter aus dem Drogenmilieu? Als ein weiterer Mann verstümmelt aufgefunden wird, suchen die beiden Kommissare Hilfe bei einer engagierten Journalistin. Doch dann eskaliert die Lage völlig und plötzlich schwebt jeder in Lebensgefahr, auch die Kommissare selbst.

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Charlotte Charonne
Artemis
Der zweite Fall für Ruby und Spike
Thriller

Inhaltsverzeichnis

Artemis

Widmung

Personenregister

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Teil 2

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Teil 3

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Teil 4

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Für Madita
Im Andenken an
den Brandanschlag von Solingen am 29. Mai 1993
und die Kölner Silvesternacht 2015
Der Schwache kann nicht verzeihen.
Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.
(Mahatma Gandhi)

Artemis

ist eine der zwölf großen olympischen Gottheiten
in der griechischen Mythologie.
Sie ist die Hüterin der Frauen und Kinder,
die Göttin der Jagd,
des Waldes, der Geburt und
des Mondes.
Ihre Attribute sind
silberne Pfeile und ein silberner Bogen,
der auch die Mondsichel
symbolisiert.

Personenregister

Paulas Familie und Freunde:
Paula Sommerfeld, Schülerin
Sophia Sommerfeld, ihre Schwester
Benjamin (Ben) Sommerfeld, ihr Bruder
Frank Sommerfeld, ihr Vater
Renate Sommerfeld, ihre Mutter
Johanna Neumann, ihre Freundin
Tobias Ritter, Benjamins Freund
Emma Schütz, Sophias Freundin
Rachids Clique:
Rachid Medjani, Algerier
Issam Mathouli, Tunesier
Mujahid Hadji, Marokkaner
Hakem Kharja, Marokkaner
Askari Kharja, Marokkaner
Marias Familie:
Maria, 42 Jahre
Lenchen, 4 Jahre
Hektor, 7 Jahre
Maggie, 16 Jahre
Emi, 26 Jahre
Rubys Familie und Freunde:
Nele, ihre Tochter
Hildegard, ihre Mutter
Karl der Große, Hildegards Freund
Anna Wagner, Rubys Freundin
Leonie, Annas Tochter und Neles Freundin
Spikes Familie und Freunde:
Louiza, seine Freundin
Giuseppe, Louizas Cousin
Sebastian, sein Bruder
Julius, 4 Jahre, sein Neffe
Jonathan, 6 Jahre, sein Neffe
Jakob, 8 Jahre, sein Neffe
Die wichtigsten Mitarbeiter des K12:
Rubina Hiller (Ruby), Kriminalhauptkommissarin
Simon Peick (Spike), Kriminaloberkommissar
Franziska Neumann, Staatsanwältin
Tom Fröhlich, Kriminaltechnik
Jan Grünberg, Kriminaltechnik
Krause, Erkennungsdienst
Mona Ziegler, Verwaltungsfachangestellte
Tanja Winter, Polizeipsychologin
Daliyah Bayazidi, Journalistin
Das Krankenhaus-Team:
Dr. Petra Rosenberg, Oberärztin
Schwester Lea, Krankenschwester
Schwester Dorothea, Krankenschwester
Schwester Cordula, Krankenschwester
Hartmanns Familie und Freunde:
Helmut Hartmann, Bauunternehmer
Patrick Hartmann, sein Sohn
Konstantin Schmidt, Patricks Freund
Günther Kohlheim, sein Angestellter
Michael Meyerhofer, sein Angestellter
Stefan Webermann, Freund von Meyerhofer
Klaus Hammerschmidt, sein Angestellter
Thomas Fischer, sein Nachbar
Dr. Gerhard Rechner, sein Anwalt
Zeugen:
Peter Möllenberg, Polizeihauptmeister
Anika Schröder, Vergewaltigungsopfer
Corinna Koch, Vergewaltigungsopfer
Gabriele Koch, Corinnas Mutter
Margarethe Schneider, Rentnerin
Natalia Kowalczyk, Reinigungskraft
Weitere Personen:
Aqilah Benatia, Student
King, Dealer
und andere

Teil 1

Kapitel 1

28. April, 22:15 Uhr
Die Nacht senkte sich mit rabenschwarzen Flügeln herab. Ein goldener Pfeil schnellte durch das Gefieder und beleuchtete die Szenerie wie Scheinwerfer eine Bühne. Der Donnergott Thor freute sich auf das bevorstehende Schauspiel und brach in schallendes Gelächter aus.
Paula zuckte zusammen und packte die Griffe ihres Fahrradlenkers fester. Kurz hörte sie auf zu treten und ließ das Gefährt rollen. Die Räder rotierten langsamer, als versuchte die Göttin Fortuna, das Glücksrad anzuhalten, um es dann in die andere Richtung zu drehen und den Lauf des Schicksals zu wenden. Aber das konnte Paula nicht sehen.
Sie schaute sich um. Vor ihr lag der vertraute Park einsam da mit seinen hohen Bäumen und Basketballfeldern, Wasserspielen und Spielplätzen. Sie hatte versprochen, um Viertel vor zehn zu Hause zu sein, aber sie war bereits eine halbe Stunde zu spät, und ihre Mutter hatte den ersten Satz von Beethovens Klaviersonate Nr. 14 bestimmt schon von einem sanften Adagio in ein schnelles, unruhiges Allegro agitato verwandelt. Sollte sie kurz anrufen? Doch dazu müsste sie in ihrem Rucksack nach dem Handy kramen. Außerdem würde ihre Mutter das Gespräch mit vielen Tipps und Mahnungen füllen, in der Zeit hätte Paula längst die Haustür erreicht. Obendrein hatte der Akkustand vorhin einen einstelligen Prozentwert angezeigt und war wahrscheinlich längst bei null.
Ein weiterer Blitz züngelte über den Himmel und erhellte das nur wenige Meter entfernte Tor, das den Eingang zum Park markierte. Paula erschien es wie eine spontane Einladung, die Abkürzung durch die Grünanlage zu nehmen. Auf diese Weise wäre sie in wenigen Minuten daheim. Wenn sie auf der beleuchteten Straße um das Gelände herumfuhr, so wie sie es um diese Uhrzeit sonst immer tat, würde sie mindestens zwanzig Minuten länger brauchen.
Die Warnung ihrer Mutter, den Park bei Nacht zu meiden, brodelte in ihren Gedanken auf wie Wasser in einem Wasserkocher. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, zerschnitt der nächste Blitz den Himmel. Die Funkenentladung formte eine Hand, deren sehnige Finger nach ihr zu greifen schienen. Erste schwere Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht.
Sie kippte den Schalter des imaginären Wasserkochers um und ließ den Ratschlag ihrer Mutter verdampfen. Sie hatte eine gute Fahrradbeleuchtung, es war nicht weit und plötzlich konnte sie es gar nicht mehr abwarten, im Trockenen zu sein.
Energisch trat sie in die Pedale, die Katzenaugen in den Speichen bewegten sich schneller und schneller.
Paula hatte ihre Entscheidung getroffen.

Kapitel 2

28. April, 22:15 Uhr
Die Männer schwiegen. Ihre Hosen und Jacken pressten sich Ton in Ton an die Dunkelheit, sie waren so gut wie unsichtbar. Hin und wieder beleuchtete ein Blitz die Szenerie. Drei Kerle fläzten sich auf einer Parkbank. Zwei Typen standen davor. Die Langeweile hatte sich auf ihre Gesichtszüge gelegt wie ein Spinnennetz um die Blätter im Geäst.
Rachid schaute zum wiederholten Male auf sein Handy. Die Zeit verging heute Abend unerträglich langsam. Außer etwas Ecstasy hatten sie während der vergangenen Stunden nichts verkauft. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ den Rest aus der letzten Bierdose in seine Kehle rinnen. Mit dem Ärmel der Lederjacke wischte er Tropfen vom Kinn und pfefferte die Dose wie einen Schlagball in die Finsternis. Sie landete geräuschlos im Gras.
Er ließ die Fingerknöchel knacken und spürte, wie die Lust, alles kurz und klein zu schlagen, in ihm brodelte. Seine Finger ballten sich zu Fäusten. Mit der Schnelligkeit eines Schattenboxers schlug er in die Dunkelheit, um seine überschüssige Energie loszuwerden.
Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel und platschten auf den Boden.
»Können wir den Bruch nicht schon jetzt machen oder nach Hause gehen?«, schlug Askari auf Französisch vor. »Es fängt an zu regnen.« Er umgriff die Hand der Fatima, die an einem Lederband an seinem Hals baumelte, als könnte sie ihn vor dem näher kommenden Gewitter und der schlechten Laune seiner Begleiter schützen.
Rachid wirbelte herum. Am liebsten hätte er dem Fragesteller eine Faust ins Gesicht gestoßen. Aber er zügelte sein Verlangen und rotzte vor ihm auf den Boden. Askari war ein Schwächling. Sein Bruder Hakem war ein ganz anderes Kaliber. Die beiden Brüder und Hakems Freund Mujahid hatte er im Flüchtlingsheim rekrutiert. Auf Hakem und Mujahid wollte er auf keinen Fall verzichten – oder gegen sie kämpfen müssen, falls sie zu einer anderen Gang überliefen. Doch dadurch hatte er auch Askari am Bein.
»Nach Mitternacht. Wenn alle pennen«, erklärte Hakem seinem Bruder Askari. »Das Gewitter soll noch länger dauern und kommt uns zugute. Wenn sich die Terrassentür nicht aushebeln lässt, können wir beim Donnern unbemerkt ein Fenster einschlagen. Bis zur Villa ist es genauso weit wie zurück zum Wohnheim. Wenn’s stärker regnet, können wir uns auf dem Weg zum Luxustempel irgendwo unterstellen.«
»Da sind Leute im Haus?« In Askaris Stimme schwang Unbehagen.
»Klappe!«, schnauzte Rachid. »Wir bekommen Besuch!« Er deutete mit seiner Mano Cornuta auf das winzige Licht, das sich in der Ferne abzeichnete. Mittel- und Ringfinger an seiner Hand fehlten, und das Handzeichen war zu seinem Markenzeichen geworden.
Wer wohl auf dem Fahrrad saß? Vielleicht ein Typ, der wusste, dass sie hier Drogen vertickten. Oder ein Rentner, den sie um ein paar Scheine erleichtern konnten. Eventuell auch ein Penner, der sein Hab und Gut auf dem Rad transportierte, inklusive Flaschen billigen Fusels, die sie ihm abjagen konnten. Zumindest würde der Besuch ihnen ein wenig Kurzweil verschaffen und die Wartezeit bis zum Einbruch verkürzen.
Ein Blitz malte eine Zickzackspur auf den Himmel und erhellte den Weg. Kurz darauf brüllte der Donner wild und wütend wie ein Löwe, der sein Revier verteidigt.
Das Fahrrad kam näher.
Rachid knirschte mit den Zähnen. Er verengte die Augen und stierte in die Düsternis. Die sich nähernde Gestalt würde ihnen weder zu Geld noch zu Alkohol verhelfen. So viel war klar. Er verzog das Gesicht zu einer diabolischen Fratze.
»Masken auf!«, befahl er und baute sich breitbeinig auf dem Kiesweg auf.
Er zupfte die schwarze Latexmaske, die für die nächtlichen Hauseinbrüche gedacht war, aus der Jackentasche und verwandelte sich im Handumdrehen in Batman. Angriffslustig blickte er durch die ausgesparten Löcher.
Er fletschte die Zähne zu einem gefährlichen Grinsen. Wir werden also doch noch Spaß bekommen. Und was für einen!

Kapitel 3

28. April, 22:18 Uhr
Dunkelheit überwucherte den Park wie Efeu ein altes Gemäuer und bildete eine dichte Decke für Bäume, Büsche und Beete. Der Wind zerzauste die Baumkronen und entriss ihnen rauschende Schluchzer.
Paula konnte kaum etwas erkennen. Sie konzentrierte sich auf den Lichtkegel ihrer Fahrradlampe, um nicht von einem abgebrochenen Ast, einem spitzen Stein oder einem am Tage verloren gegangenen Spielzeug überrascht zu werden.
Der Kies unter den Reifen knirschte.
Mit jedem Meter, der sie in das noch düster werdende Innere des Parks führte, wuchs ihre Beklemmung. Obwohl die Frühlingsluft lauwarm war, strömte eine Kältewelle durch ihren Körper und umhüllte ihn mit einer unangenehmen Gänsehaut.
Ein Schrei durchschnitt die Finsternis und fuhr ihr durch Mark und Bein. Die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken vibrierten alarmiert.
Zwei Katzen schossen aus einem Gebüsch hervor und kreuzten ihren Lichtkegel.
Sie bremste hart und wäre fast gestürzt, während die Tiere mit der Schwärze verschmolzen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an den Horrorfilm Friedhof der Kuscheltiere. Sie hatte den Film vor knapp zwei Jahren mit ihrer Freundin gesehen und daraufhin nächtelang nur schwer einschlafen können. Ihr Herz trommelte in ihrer Brust. Ihre Fantasie begann, ihr Streiche zu spielen. Duckte sich dort nicht jemand ins Gras? War es Gage? Der niedliche Junge aus dem Horrorfilm, der sich als mordendes Monster entpuppte?
»Reiß dich zusammen«, schimpfte sie mit sich selbst zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sie schnaubte, wütend über ihre kindische Reaktion auf zwei rollige Katzen, und beschleunigte ihr Tempo, soweit es der unebene Weg zuließ.
Sie passierte eine Wiese, auf der Magnolienbäume standen. Der Fahrtwind mischte sich mit dem cremig süßen Geruch der weißen Blüten, die dicht an dicht auf dem Geäst hockten. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Der Duft besänftigte ihre stärker werdende Furcht.
Plötzlich zeichnete sich ein schwarzer Schatten auf dem Weg ab.
Ein weiteres Fantasiegebilde?, meldete sich ihre innere Stimme. Nein!, schrie alles in ihr. Nein! Der Mann istecht!
Das Grauen packte sie, während sie an den Handbremsen zog und auf die Batman-Maske starrte. Ihr Mund verzerrte sich zu einem Schrei. Er wuchs in ihrer Kehle, löste sich jedoch nicht.
Ihre Panik schien ihn zu freuen. Zwar bewegte er sich nicht, aber er bleckte die Zähne zu einem teuflischen Grinsen.
Für einen Moment hielt Paula die Luft an und fühlte eine bleierne Lähmung. Dann schaltete ihr Körper automatisch auf Fluchtmodus. Ein Adrenalinstoß durchflutete ihren Organismus, ihr Herz raste, ihr Atem überschlug sich. In einer fließenden Bewegung sprang sie vom Sattel, wuchtete das Fahrrad herum, fand die Pedale und nahm im Stehen Fahrt auf.
Bloß weghier!
Ein brutaler Ruck durchfuhr ihren Körper, als das Rad am Gepäckträger festgehalten wurde.
Paula schnappte überrascht nach Luft. Sie verlor das Gleichgewicht und schwankte. Nach links. Nach rechts. Wieder nach links. Eine Panikwelle ergriff sie und raubte ihr den Atem. Es flimmerte vor ihren Augen.
Dann wurde das Fahrrad am Gepäckträger wie eine Flagge gehisst.
Paula stürzte kopfüber über den Lenker. Reflexartig warf sie die Arme nach vorn, um den Sturz mit den Händen abzufangen. Trotzdem knallte sie hart mit dem Kinn auf den Boden.
Jähe Schmerzen überschwemmten ihren Körper. Ein Stechen im Unterkiefer, ein Ziehen in den Handgelenken, ein Brennen in den Handflächen, ein Klopfen in den Knien. Noch bevor sie die Verletzungen spezifizieren konnte, wurde ihr Kopf an ihrem honigblonden Pferdeschwanz in den Nacken gerissen. Der Schrei in Paulas Kehle explodierte, gezündet von Angst und Schmerz.
»Halt die Klappe und knie dich hin, Schlampe!«, herrschte eine Stimme sie an.
Die Worte prasselten auf sie nieder wie ein eisiger Platzregen und durchnässten sie bis ins Knochenmark. Paula wurde schwindelig. Ihr Magen rebellierte. Sein Inhalt versuchte, sich nach oben zu drängen.
Die Hand klammerte sich in ihr Haar und zerrte ihren Kopf weiter nach hinten. Um dem Schmerz zu entgehen, folgte Paula der Bewegungsrichtung und kniete schließlich auf den Steinen.
»Hilfe!«, schrie sie, sobald der Zug am Kopf etwas nachließ.
Eine Hand schlug ihr ins Gesicht.
Ihre Lippe platzte auf. Ihr Ruf verstummte. Sie schmeckte Blut.
Jetzt stand Batman vor ihr, doch die Hand drangsalierte immer noch ihr Haar. Wie kann das sein?Es sind zwei, schlussfolgerte sie panisch. Es sind zwei. Du musst hier weg. Du musst dich wehren, warnte ihr Verstand. »Ich habe Geld dabei. Hier«, stammelte sie und steckte die Hand in die Jackentasche. Ihre Finger umschlossen das Pfefferspray. Sie riss es aus der Tasche.
Noch bevor sie den Nebel versprühen konnte, umkrallten Finger ihr Handgelenk und drehten den Arm brutal auf den Rücken.
»Das wirst du büßen«, zischte es hinter ihr. »Haltet sie fest.«
Vor ihr bauten sich zwei weitere Männer auf. Ebenfalls mit Batman-Masken.
Das waren mindestens vier, realisierte Paula. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie hyperventilierte, atmete schneller und schneller.
Ihre Oberarme wurden von zwei der Angreifer gequetscht, als wären sie in einem Schraubstock gespannt. Brutal wurde sie auf die Füße gezerrt. Warmer Urin durchtränkte ihre Jeans. »Hilfe!«, schrie sie aus Leibeskräften.
Ein Batman holte kraftvoll aus und feuerte ihr die flache Hand gegen das Ohr.
Ihr Kopf flog zur Seite. Flackernde Lichtblitze sausten an ihr vorbei. Danach sah sie die Angreifer doppelt. Es wurden immer mehr.
Es war eine wilde Meute.
Eine Meute von Masken.

Kapitel 4

28. April, 22:28 Uhr
Goldene Fäden fielen aus dem Himmel, zappelten vor dem Fenster und erhellten den Raum.
Renate Sommerfeld unterbrach ihr Klavierspiel und betrachtete das Lichtspiel. Dann schaute sie zum wiederholten Male auf die alte Standuhr. Wo blieb Paula nur? Sie merkte, wie die Unruhe von ihren Fingerspitzen aufwärts zu ihren Schlüsselbeinknochen wanderte. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Mechanisch kratzte sie über die Haut, die vom Ausschnitt der Bluse freigegeben wurde. Sofort bildeten sich zarte, rote Striemen.
Sie seufzte leise. Plötzlich empfand sie die anheimelnde Wohnzimmeratmosphäre als geisterhaft. Die Kerzen auf dem Klavier warfen zuckende Schatten an die Wand, obwohl sie keinen Luftzug verspürte. Das gleichmäßige Geräusch der geerbten Wanduhr machte ihr das Verstreichen der Zeit Tick für Tack bewusst.
Renate sprang von dem Lederschemel auf und pustete die Kerzen aus.
Die Uhr tickte stoisch.
»Paula ist immer noch nicht da.« Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren brüchig.
»Wie spät ist es denn?« Paulas Vater löste seine Aufmerksamkeit von dem Sportmagazin.
»Schon fast halb elf.« Sie massierte ihre Hände.
»Was hattest du denn mit ihr vereinbart?«
»21:45 Uhr. Wegen des angekündigten Gewitters.«
»Sie kommt bestimmt gleich.« Franks Interesse schweifte zurück zu dem Magazin.
»Aber es ist schon viel später. Und ich kann sie nicht erreichen!«
Er seufzte. »Wahrscheinlich sitzt sie auf dem Fahrrad und hört das Handy nicht. Sie wird jeden Moment hier sein.«
»Sie ist aber immer pünktlich. Und wenn sie sich verspätet, ruft sie vorher an.« Renate verschränkte die Finger ineinander und drückte die Fingerkuppen auf die Handrücken.
»Die Mädchen haben sicherlich über das Lernen die Zeit vergessen. Das kann doch mal passieren«, murmelte er über die Seiten gebeugt.
»Wahrscheinlich hast du recht«, hörte sie sich halbherzig sagen. »Vielleicht konnte sie uns aus irgendeinem Grund nicht erreichen und hat Benjamin angerufen.« Noch während sie sprach, eilte sie aus dem Wohnzimmer und die Treppe zum ersten Stock empor.
Auf dem Weg nach oben überflog ihr Blick automatisch die Bildergalerie, die vom Leben der Familienmitglieder erzählte. Im unteren Bereich zeigten die Fotos den jungen Frank mit Medaillen geschmückt auf zahlreichen Siegertreppchen und eine lächelnde Pianistin mit Bouquets im Arm auf namhaften Bühnen. Urlaubsbilder des frisch verliebten Paares schlossen sich an und gipfelten in einem Hochzeitsfoto. Den Großteil der Wand pflasterten Rahmen, die Momente aus Sophias, Benjamins und Paulas Leben lebendig hielten und eine lachende Familie bei Festen, im Schnee und in den Bergen zeigten.
Sie klopfte an Benjamins Zimmertür. Ohne auf das Herein zu warten, öffnete sie diese. Paulas Bruder und sein Freund Tobias hockten auf Bean Bags und hantierten mit der PlayStation-Konsole. Zwischen ihnen auf dem Boden lag ein leerer Pizzakarton. Der Duft von Salami und Oregano schwebte in der Luft.
»Hat Paula sich bei dir gemeldet?«
»Nö«, meinte Benjamin, ohne sich vom Bildschirm abzuwenden.
»Hast du mal auf dein Handy gesehen?« Sie knetete ihre Finger.
»Nee.«
»Dann tu es bitte sofort.« Ihre Stimme kletterte in einen höheren Oktavbereich.
»Mann, Mama! Jetzt habe ich den Ball verloren.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Sitzsack.
»Danke, Frau Sommerfeld«, scherzte sein Freund Tobias. »Wo brennt’s denn?«
»Paula ist noch nicht zu Hause.«
»Dann ruf sie doch an«, schimpfte Benjamin.
»Das habe ich schon. Sie antwortet nicht.« Die Worte klangen weinerlich.
»Sie ist bestimmt unterwegs.« Er angelte nach seinem Handy, das auf dem Boden lag. »Da ist nix!«
»Danke.« Renate zog die Tür hinter sich ins Schloss und strich sich fahrig durch das kinnlange Haar. Vielleicht sollte ich sie noch mal anrufen, grübelte sie auf dem Weg nach unten.
Sie prüfte die Uhrzeit auf dem Handydisplay. Mittlerweile war es fast Viertel vor elf. Sie wählte Paulas Handynummer. Das Freizeichen ertönte.
Paula meldete sich nicht.
Sie wiederholte die Prozedur. Dann eilte sie in den Flur und probierte per Haustelefon, eine Verbindung zum Mobilgerät ihrer Tochter herzustellen.
Paula nahm den Anruf nicht entgegen.
Unbehagen breitete sich in ihr aus. Es kribbelte in den Armen und kitzelte an der Kehle. Sie räusperte sich. Das Kitzeln blieb.
»Meinst du, ich kann um diese Uhrzeit noch bei Neumanns anrufen?« Ihr wurde heiß. Sie nestelte an den Knöpfen des Baumwollcardigans.
»Wie bitte?« Frank lugte über den Rand des Magazins.
Sie wiederholte die Frage.
»Wieso?« Er sah von seinen Sportartikeln auf. »Äh, natürlich«, fügte er hinzu, als er ihr besorgtes Gesicht sah. »Wie spät ist es denn?«
»Viertel vor elf.« Sie bediente die Telefon-App auf ihrem Handy, fand den Namen und tippte auf das Hörersymbol. Ihre Brust hob und senkte sich, während sie das Gerät ans Ohr presste.
»Neumann«, meldete sich die Staatsanwältin nach dem dritten Klingeln.
»Guten Abend, Franziska, entschuldige die späte Störung. Ist Paula noch bei euch?« Sie ging im Zimmer hin und her, um das Kribbeln in den Beinen loszuwerden. Es ließ sich jedoch nicht überlisten.
»Paula ist schon länger fort«, antwortete Franziska.
»Wie lange?«
»Seit ungefähr einer Stunde. Die Mädchen haben zusammen für die Bio-Klausur gelernt und sich ein wenig verspätet. Wegen des aufziehenden Gewitters habe ich Paula angeboten, sie mit dem Auto nach Hause zu fahren. Sie hat aber abgelehnt, weil sie morgen früh mit dem Fahrrad zur Schule fahren will.«
»Wo kann sie denn nur sein?« Renate war den Tränen nah.
Frank bat sie per Handzeichen, die Lautsprecher-Funktion zu betätigen.
Sie stellte das Gespräch auf laut.
»Warte mal kurz. Ich frage Johanna. Vielleicht weiß sie etwas.«
Sie hörten, wie das Telefon abgelegt wurde. Trotz des Lautsprechers presste Renate das Handy mit beiden Händen an die Ohrmuschel.
»Renate?«
»Ja?« Ihre Stimme zitterte.
»Johanna sagt, sie wollte direkt nach Hause fahren.«
»Was kann ich denn jetzt machen?« Ihre Worte kraxelten in einen höheren Bereich der Klaviatur. »Die Polizei anrufen?«
»Dazu ist es noch zu früh. Vielleicht hat Paulas Rad einen Platten oder die Kette ist abgesprungen oder sie ist gestürzt.« Franziska hustete.
Renate schniefte.
»Johanna weiß nicht, welchen Weg Paula nehmen wollte. Was hältst du von folgender Idee? Ich fahre über die Richard-Wagner-Straße zu euch, und dein Mann nimmt die Strecke über die Goethe-Straße zu uns. Dann werden wir sie schnell finden.«
»Ich werde Frank begleiten!«
»Du bleibst am besten zu Hause und rufst uns an, falls sie zwischenzeitlich eintrifft.«
»Okay«, hauchte Renate. Sie wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augenwinkeln. »Vielen Dank.«
»Das ist doch selbstverständlich. Ich fahre sofort los. Bis gleich.« Sie legte auf.
»Kein Grund zur Unruhe«, versuchte ihr Mann sie zu besänftigen. »Franziska hat bestimmt recht.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und eilte zur Haustür.
Benjamin und Tobias kamen die Treppe herunter.
»Tschüss, Frau Sommerfeld.« Tobias nickte ihr zu. »Ist Paula immer noch nicht da?«, setzte er hinzu, als er ihren Ausdruck sah.
Sie schüttelte den Kopf. »Frank und Johannas Mutter suchen sie jetzt. Sie fahren die Strecke mit den Autos ab.«
»Und falls sie durch den Park gefahren ist?«, warf Benjamin ein.
»Durch den Park? Der ist dunkel. Nein, da fährt sie nie lang.« Sie schüttelte entschieden den Kopf.
Benjamin linste zu Tobias. »Was hältst du davon, die Strecke gemeinsam mit dem Fahrrad abzufahren? Nur sicherheitshalber«, schlug er seinem Freund vor. »Ist ja kein großer Umweg für dich.«
»Kein Problem.« Tobias nickte.
»Das kommt gar nicht infrage«, beschwerte sich Renate halbherzig. »Das ist viel zu gefährlich.«
»Bis gleich.« Benjamin ignorierte ihren Einwand und stürmte an ihr vorbei aus dem Haus.
Renate schloss die Tür hinter ihnen und kratzte sich gedankenverloren am Dekolleté. Wo Paula nur steckt?, fragte sie sich immer wieder. Schließlich kauerte sie sich auf die unterste Treppenstufe, krallte die Finger um die Oberarme und starrte auf die Haustür.

Kapitel 5

28. April, 23:10 Uhr
»Shit, ist das dunkel«, beschwerte sich Benjamin.
Über ihm umarmten sich die Baumkronen. In weiter Ferne stand der Mond unter einer dichten Wolkendecke und dachte im Traum nicht daran, das Blätterwerk zu durchdringen. Es war fast so finster wie in dem alten Wäscheschrank seiner Großmutter, in dem er sich als Kind beim Versteckspiel gern verkrochen hatte.
»Meinst du, Paula könnte tatsächlich hier lang gefahren sein?« Tobias verengte die Augen und spähte in die Dunkelheit.
»Normalerweise fährt sie außen rum, aber wer weiß.«
»Hm«, grunzte Tobias. »Stopp!«, forderte er jählings und sprang vom Rad. »Guck mal dort drüben. Unter dem Baum. Ist da nicht was?«
Benjamin schaute in die Richtung, in die sein Freund deutete. Ungefähr zwanzig Meter abseits des Weges stand eine wuchtige Kastanie auf einer Wiese. Ihre Blätter verschmolzen mit dem Nachthimmel. Darunter war irgendwas. Er spürte, wie sich seine Atmung vor Aufregung beschleunigte. »Paula?«, rief er. »Paula?« Seine Stimme überschlug sich.
Sie lauschten.
Keine Antwort, außer dem Prasseln der Regentropfen, die auf Blätter und Boden schlugen. Selbst die Bewegung unter dem Baum war nicht mehr erkennbar.
Hab ich mich getäuscht? Benjamin wischte sich mit dem Jackenärmel über das nasse Gesicht.
Ein gespenstischer Ruf durchschnitt die Finsternis.
»Was war das?« Tobias riss die Augen auf. »Dachte, wir wären im Park und nicht in einem Spukschloss.«
»Muss eins der Käuzchen sein, die sich hier angesiedelt haben.« Benjamin ließ sich nicht von dem Geräusch ablenken, sondern observierte den Schatten unter dem Baum.
Da! Er rührte sich wieder.
Benjamin holte tief Luft: »Paula?«
Keine Antwort.
Der Umriss unter dem Baum schien kleiner zu werden.
Benjamin klappte den Fahrradständer herunter und rannte auf die Kastanie zu.
Sein Freund klebte an seinen Fersen.
Benjamin stolperte über einen Maulwurfhügel und fuchtelte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. »Verdammt!«, schnaubte er und schaute enttäuscht auf seinen Fund.
Ein Obdachloser kauerte sich schutzsuchend zusammen. Gesicht und Kleidung waren so dreckig, dass sie sich kaum von der Dunkelheit abhoben. Obwohl der Wind auffrischte, schaffte er es nicht, das Aroma von Alkohol und schmutzigen Klamotten wegzublasen.
Benjamin rümpfte die Nase. Dann schluckte er seine Enttäuschung herunter und mahnte sich zur Höflichkeit. Immerhin konnte der Mann seine Schwester eventuell gesehen haben.
Der Stadtstreicher hob den Arm über den Kopf.
Benjamins Abneigung wandelte sich in Mitgefühl, als er die schützende Geste registrierte. Wahrscheinlich hatte er die Befürchtung, von seinem Nachtlager vertrieben oder, noch schlimmer, beraubt zu werden, oder eine Tracht Prügel zu kassieren. »Haben Sie ein Mädchen auf einem Fahrrad gesehen?«
Der Mann gaffte ungläubig von ihm zu Tobias. Dann fummelte er am Mantelfutter herum, befreite eine Flasche aus ihrem Versteck, gönnte sich einen kräftigen Schluck und streckte sie den Jungs entgegen.
»Nein, danke.« Benjamin bemühte sich, die Ruhe zu bewahren und nicht laut zu werden. »Haben Sie hier ein Mädchen gesehen?«, wiederholte er langsam und deutlich.
»Ich habe gar nichts gesehen«, lallte der Stadtstreicher. »So dunkel.« Er grinste.
»Gehört? Haben Sie irgendetwas gehört?« Tobias’ Frage flog durch den Regen.
Benjamin registrierte die Unruhe und Ungeduld, die sich wieder in seinem Körper ausbreiteten. Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Komm, Tobias. Lass uns weitersuchen. Das bringt doch nichts.« Er wandte dem Betrunkenen den Rücken zu.
»Ja, gehört …«, tönte es langgezogen. »Ich habe ganz viel gehört. Eine schreckliche Na …«
»Und was genau?« Tobias trat einen Schritt auf ihn zu.
Der Mann zuckte zusammen. »Ist ja schon gut. Ich sag’s euch ja. Zuerst den Donner …«
»Mach’s nicht so spannend.« Tobias verringerte den Abstand abermals.
»Einen Schrei. Einen fürchterlichen Schrei. Aber ich konnte nicht helfen. Kann noch nicht mal mir selber helfen.« Er genehmigte sich einen Schluck.
»Aus welcher Richtung?«, ereiferte sich Benjamin. Die aufkeimende Panik sendete einen Adrenalinschub durch seinen Körper und ließ sein Herz schneller schlagen.
Der Obdachlose deutete zielsicher zu dem Parkbereich, in dem die Magnolienbäume mit ihrer Pracht prahlten.
»Kann das überhaupt sein?«, murmelte Tobias.
»Danke.« Benjamin drehte sich abrupt um und hastete zurück zu ihren Fahrrädern. »Rein theoretisch schon«, rief er seinem Freund, der neben ihm lief, zu. »Der Weg ist etwas holpriger, aber Paula liebt die Magnolien. Ich hoffe, er hat sich nur was eingebildet.«
»Bestimmt«, pflichtete Tobias ihm bei. »Der war sternhagelvoll. Wahrscheinlich hat dein Vater Paula schon aufgegabelt.«
»Dann hätte meine Mutter uns zurückgepfiffen!« Benjamin schlug die von dem Vagabunden vorgegebene Richtung ein.
»Ich denke, wir sollten diesen Weg bis zum Ausgang fahren, und dann die andere mögliche Strecke zu den Magnolien absuchen, damit das Ganze System hat«, schlug Tobias vor.
»Okay!« Benjamin schwang sich auf den Sattel. »Wir sind sowieso gleich da.«
»Paula!«, riefen die Jungen abwechselnd.
Keine Antwort.
»Paula!«
Kein Sterbenslaut.
Nur der Kies knirschte unter ihren Reifen.
Sie erreichten das eiserne Tor am Osteingang. Benjamin fischte das Handy aus der Hosentasche in der Hoffnung, einen Anruf seiner Mutter nicht gehört zu haben. Fehlanzeige. Er checkte die Uhrzeit. Sie suchten seine Schwester seit fast einer halben Stunde. Mit dem Auto konnte man die Strecke zwischen den beiden Häusern um diese Zeit in weniger als zehn Minuten zurücklegen. Falls Paula auf der Straße eine Panne gehabt haben sollte, hätten sein Vater oder Frau Neumann sie längst finden und ihn anrufen müssen.
Er spürte, wie er stetig nervöser wurde und am liebsten kopflos in alle Richtungen gleichzeitig gefahren wäre. Gut, dass Tobias ihn begleitete und einen kühlen Kopf behielt.
»Los!« Sein Kumpel klopfte ihm auf die Schulter. »Hier lang geht’s doch zu den Magnolien, oder?«
Statt eine Antwort zu geben, schlug Benjamin die Route ein. Sie bemühten sich, abseits der Lichtkegel irgendetwas zu erkennen. Schließlich passierten sie die Magnolienbäume. Sie hielten kurz an und versuchten, in der Dunkelheit irgendeinen Hinweis auf Paula zu entdecken.
»So ein Mist, Mann!«, fluchte Benjamin. »Meine Mutter hat immer noch nicht angerufen. Das passt nicht zu Paula.«
»Vielleicht hatte sie einen Unfall, liegt im Krankenhaus und deine Mutter hat vor Aufregung vergessen, dich anzurufen. Komm weiter!«
Schweigend folgten sie dem Weg.
»Siehst du was?«, fragte Benjamin, um sich von den düsteren Gedanken abzulenken, die ihn beschlichen. Was, wenn Paula einen Unfall gehabt hatte und lebensgefährlich verletzt war, sodass seine Mutter ihn vergessen hatte? Oder wenn Paula auf dem Weg entführt worden war? Oder …
»Da!«, rief Tobias. »Da liegt etwas! Auf dem Weg! Ein Fahrrad!«
Eine Panikwelle erfasste Benjamin und schüttete das Stresshormon aus. Seine Sinne schärften sich. Die Steine unter den Reifen knirschten lauter, die Blätter raschelten im Wind. Die Feuchtigkeit grub sich in jede Pore seines Körpers. Der Geruch von Gras und Erde bohrte sich in seine Nase. Er beschleunigte sein Tempo für die letzten Meter ebenfalls, nur um anschließend eine Vollbremsung hinzulegen. Der Hinterreifen schleuderte über den Schotter zur Seite.
»Scheiße!« Benjamin sprang von seinem Rad und ließ es achtlos fallen.
Sie starrten auf das Fahrrad, das mitten auf dem Weg lag.
»Das ist Paulas!« Er deutete auf die Blumengirlande am Lenker. Seine Hand zitterte. Er rannte um das Rad und stierte in die Dunkelheit. »Paula!«, rief er ununterbrochen aus Leibeskräften, bis sein Freund ihn an den Schultern packte.
»Wenn du die ganz Zeit schreist, können wir nicht hören, wenn sie antwortet«, appellierte er an Benjamins Vernunft. »Lass uns überlegen.« Er atmete tief durch. »Wenn sie hier jemanden getroffen hätte, hätte sie das Fahrrad nicht mitten auf den Weg gepfeffert, sondern abgestellt.« Er schloss den Mund. Anscheinend wollte er den nächsten Gedanken nicht mit ihm teilen. »Ruf deinen Vater an. Er soll sofort herkommen.«
Benjamin zerrte an dem Handy in seiner Hosentasche. Es rutschte aus seinen Fingern und landete auf dem Kies. »Mann!«, schimpfte er. Trotz des Falls öffnete das Gerät bereitwillig seine Anwenderoberfläche.
Tobias flitzte zu der nahegelegenen Parkbank. Paulas Rucksack lag im Gras. Das Bio-Buch, Notizhefte und Stifte waren über die Erde verteilt und vom Regen aufgeweicht.
»Shit«, fluchte Tobias. »Shit!« Er spurtete zurück zu seinem Fahrrad, demontierte die LED-Leuchte und drehte sich langsam im Kreis. Abrupt hielt er inne.
»Mein Vater kommt sofort«, keuchte Benjamin. »Siehst du was?«
»Bin mir nicht sicher«, nuschelte Tobias.
Er eilte auf den umgestürzten Baum zu, der auf der angrenzenden Wiese lag. Am Tage wurde er oft von Kindern zum Balancieren genutzt.
Benjamin stürzte an seinem Freund vorbei und stolperte über einen Ast. Er wedelte mit den Armen und fand sein Gleichgewicht wieder. Trotzdem schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Schritt für Schritt gewann er Gewissheit. Über dem Stamm hing etwas.
»Paula?« Er rannte auf den Kletterbaum zu.
Tobias fiel in den Laufschritt ein. Schulter an Schulter erreichten sie den Baum.
Paula hing rücklings über dem dicken Stamm. Ihr Gesicht war zur Unkenntlichkeit verquollen. Blut klebte in ihren Haaren, das wie Kerzenwachs zu Boden floss. Jeans und Unterhose fehlten. Ihre zerfetzte Bluse entblößte ihren Oberkörper.
Der Regen prasselte auf sie nieder.
»Nein!« Benjamins Schmerzschrei schnitt rasierklingenscharf durch die Nacht. Sein Magen rebellierte. Seine Knie schlotterten. Er biss auf seine geballte Faust und taumelte.
Tobias’ Hand flog an dessen Kehle. Nach mehreren Atemzügen löste sie sich. Er trat einen Schritt näher an Paula heran und tastete nach ihrer Halsschlagader. Dann berührte er die Schulter seines Freundes.
Benjamin spürte den leichten Druck der Finger. Wie aus weiter Ferne drangen die Worte seines Kameraden in sein Bewusstsein.
»Paula lebt. Deck sie mit unseren Jacken zu und stütze ihren Kopf«, kommandierte er. »Mach schon, Ben.« Er schlüpfte aus seinem Kleidungsstück, tastete nach dem Handy in seiner Hosentasche und wählte die Notrufnummer.

Kapitel 6

Donnerstagmorgen
»Wenn Sie unbedingt wollen, dass wir ermitteln, dann spucken Sie erst mal die Pointe aus.« Ruby lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie halten doch mit etwas hinter dem Berg.«
Ihr Kollege Spike, der neben ihr saß, schien weniger Vorbehalte zu haben. Allerdings hatte er nie Bedenken, wenn ihm eine hübsche Frau über den Weg lief, und Franziska Neumann war nicht nur hübsch, sondern schön. Mit den hellblonden Haaren, die einen eleganten Chignon im Nacken formten, den klassischen Gesichtszügen, dunkel gefärbten Brauen und dem perfekten Make-up war es leichter, sie sich auf einer Leinwand vorzustellen als in einem Gerichtssaal.
Die Staatsanwältin erhob sich und öffnete das Fenster. Ihre Figur wurde von einem schwarzen Bleistiftrock und einer weißen Seidenbluse umschmeichelt.
Sie passt in ihr Büro wie die Faust aufs Auge, dachte Ruby. Auch hier fand sich diese Farbkombination in Schreibtisch, Stühlen, Regalen, Ordnern und in schwarz auf weiß gedruckten Paragrafen wieder. Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu der Wand, die schwarze Wechselrahmen mit Schwarz-Weiß-Fotografien einer perfekten Familie zierten. Zwei glückliche Teenager strahlten um die Wette, teilweise eingerahmt von der Staatsanwältin, ihrem Mann und den Großeltern. Eine Idylle, die Ruby durch den frühen Tod ihres Vaters und den ständigen Krach mit ihrer Mutter nie erlebt hatte und als Alleinerziehende auch ihrer Tochter nie würde bieten können.
Spike hatte die Beine ausgestreckt, wippte auf dem Schwingstuhl und betrachtete die Fotografien ebenfalls mit gekräuselten Lippen.
Ruby merkte, wie sich ihre Muskeln verhärteten. »Sie haben uns noch nicht alles gesagt.« Sie fuhr mit der Hand unter die braunen Haare. Wenn sie den schulterlangen Bob hochsteckte, zeigte sich im Nacken eine helle Hautpartie. Als Teenager hatte an dieser Stelle eine Sonne geschienen. Das Tattoo war jedoch vor ihrem Eintritt in den öffentlichen Dienst mit einem Laser entfernt worden.
»Das ist korrekt.« Franziska Neumann nickte und platzierte sich wieder hinter den Schreibtisch.
Rubys Augenbrauen zogen sich zusammen.
Spike blickte von den Fotos zu der Staatsanwältin. Neugier erschien auf seinen ebenmäßigen Zügen.
Angespannte Stille stand im Raum. Kurz wurde sie von einem zwitschernden Vogel, der es sich auf dem Fliederbaum vor dem Fenster bequem gemacht hatte, unterbrochen.
»Der Generalstaatsanwalt«, fuhr Franziska endlich fort, »wünscht, dass die Ermittlungsarbeiten im Fall Paula fern der Öffentlichkeit erfolgen. Die Vergewaltigungen in unserer Region haben sich in letzter Zeit gehäuft, eine unnötige Beunruhigung der Bevölkerung soll vermieden werden.«
»Wie bitte?« Ruby schnaubte.
»Genau«, entgegnete ihre Gesprächspartnerin.
Spike richtete sich im Stuhl auf und strich mit den Fingern durch seine dunkelblonde Haarpracht. Ein paar Strähnen, die hell wie Weizengarben leuchteten, ließen sich nicht besänftigen und stellten sich alarmiert auf. Sein Blick huschte zu Ruby. Die andere Hand, die bisher auf seinem durchtrainierten Oberschenkel gelegen hatte, gab ihr ein Zeichen, ruhig zu bleiben.
Vor vier Jahren war aus Rubina Hiller und Simon Peick das Team Ruby und Spike geworden. Ihre Kollegen verglichen sie schmunzelnd mit dem Gangsterduo Bonnie und Clyde, da sie beide äußerst effizient arbeiteten, wenn auch beizeiten am Rande der Legalität, und sich perfekt ergänzten. Ruby besaß Talent und Tatendrang. Spike verschwendete zwar einen Großteil seiner Energie darauf, Herzen zu brechen, was ihm aufgrund seines Aussehens und Charmes mit Leichtigkeit gelang, unter seinen perfekten Gesichtszügen und knallblauen Augen verbargen sich aber Gaben, die ihnen schon oft bei der Aufklärung eines Falls geholfen hatten – unter anderem der Instinkt einer Raubkatze.
»Da sind Sie bei uns an der falschen Adresse«, zischte Ruby durch die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. »Mein Ziel ist es, Täter zu fassen und nicht irgendwelche politischen und bürokratischen Spielchen zu spielen.«
»Sehen Sie«, Neumann zog die Schultern zurück, »und genau deshalb bin ich bei Ihnen an der richtigen Adresse.« Sie schaute zu Spike. »An der besten.«
Sein rechter Mundwinkel schlüpfte nach oben und zauberte ein schräges Grinsen hervor. »Ich fasse es nicht.« Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Da habe ich Sie wohl falsch eingeschätzt. Sie kennen das Mädchen.«
»Ich weiß nicht, wie Sie mich eingeschätzt haben, aber ich will, dass dieser Fall gelöst wird.« Franziskas Kinn hob sich.
»Sie sind also persönlich involviert.« Spike lächelte verständnisvoll. »Und Ihre Kollegen von der Staatsanwaltschaft haben davon keinen blassen Schimmer.«
Franziskas Miene war undurchdringlich wie ein tiefer Bergsee.
»Wir würden es eh herausfinden«, half er ihr auf die Sprünge.
Die Staatsanwältin betrachtete eins der Bilder an der Wand.
»Wissen Sie was?« Ruby erhob sich. »Wir verschwenden mit diesem Katz-und-Maus-Spiel nur unsere Zeit. Schieben Sie den Fall doch zu Fürstenberg und Schmalenbach.« Sie schüttelte einen Marienkäfer von ihrem T-Shirt in ihre Hand und trat ans Fenster. Dort prahlte der Fliederbaum mit seiner dunkelvioletten Farbe und verströmte seinen Duft. Auf einem Ast erspähte sie ein Rotkehlchen. Es hatte seinen Gesang beendet und gönnte sich ein Sonnenbad. Ruby pustete sacht. Der Käfer breitete die Flügel aus und flog in die Freiheit. »Komm, Spike!«
Neumanns Nasenflügel bebten. »Wollen Sie nicht, dass die Männer, die Paula dies angetan haben, eine gerechte Strafe bekommen?« Bevor Ruby sich über die rhetorische Frage ereifern konnte, fuhr sie fort: »Ja, ich bin persönlich betroffen, und nein, das ist niemandem bekannt.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Die Ärzte vermuten eine mehrfache Vergewaltigung. Bei Paula wurden zwei verschiedene Fremd-DNAs sichergestellt.« Sie fasste sich wieder und sagte lauter: »Ich brauche das beste Team!«
»Sie lehnen sich ganz schön weit aus dem Fenster.« Spike grinste. »Der Oberstaatsanwalt wird von unseren Ermittlungen Wind bekommen.«
»Das ist mir egal.« Die Staatsanwältin legte eine kurze Pause ein. »Sofern der Wind hinter Ihren Erkenntnissen weht.«
Überrascht von der plötzlichen Aufrichtigkeit ihrer Gesprächspartnerin nahm Ruby wieder Platz. »Also dann, Karten auf den Tisch – aber alle!«

Kapitel 7

Donnerstagmittag
Die Aromalampe auf dem Wohnzimmertisch spendete ein behagliches Licht und erfüllte den Raum mit dem Duft von Zitronengrasöl.
Maria nahm den Wohlgeruch, dem eine Stimmungsaufheiterung nachgesagt wurde, nicht wahr. Paulas Vergewaltigung hatte nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie in Aufruhr versetzt. Jeder der Anwesenden, was glücklicherweise nur die Spitze des Familieneisbergs war, gab seine Meinung zum Besten. Nur das vierjährige Lenchen zwängte ihren Rücken stumm in die Sofaecke. Ihre rosigen Lippen bebten und Tränen liefen leise über das kreidebleiche Gesichtchen.
Der drei Jahre ältere Hektor hatte vor ihr mit seinem Holzschwert Stellung bezogen, um sie vor Drachen und anderen Gefahren zu beschützen, und flüsterte ihr Geheimbotschaften ins Ohr, um sie zu beruhigen.
Maggie, ein dünner Teenager, der Ähnliches wie Paula erlebt hatte, schrie nach Hilfe und Gerechtigkeit.
Marias Lieblingsschwester kauerte mit angezogenen Knien auf dem Sofa und presste ihre Hände auf die Ohren. Die innere Anspannung drohte, sie zu zerreißen. An ihrem schmerzverzerrten Gesicht erkannte Maria, dass in ihrem Kopf tausend Nadeln stachen. Sie selbst kannte dieses Gefühl nur zu gut. Wenn der Raum dann anfing, sich zu drehen, war es endgültig Zeit, sich zurückzuziehen.
»Geht schlafen«, entschied Maria. »Ich werde mich um alles kümmern.« Es war ihre Aufgabe, alle Entscheidungen, die die Familie betrafen, zu fällen. Sie konnte das weitere Vorgehen mit ihrer akribischen Planungsliebe und Entscheidungskraft handhaben. Es war Zeit, ihr das Feld zu überlassen.
***
Maria saß am Küchentisch und hatte die Ellenbogen aufgestützt. Die Fingerspitzen ihrer Hände berührten sich und formten einen kleinen Tempel. Die Entscheidung, was mit den Männern geschehen sollte, war ihr leichtgefallen. Es musste verhindert werden, dass sie ihre Tat wiederholten. Sie stellten eine Gefahr dar – nicht nur für die Frauen ihrer Familie, sondern für alle. Emi würde die Kerle außer Gefecht setzen.
Die Frage, auf wen sie Emi zuerst ansetzen sollte, gestaltete sich hingegen schwieriger. Sie stierte auf die Namen auf dem Papier:
Rachid
Hakem
Askari
Mujahid
Issam
Dies waren die Männer, die Paula vergewaltigt und fast getötet hatten. Das stand außer Frage. Doch wem sollte Emi ihre Aufmerksamkeit zuerst widmen? Rachid, dem Anführer der Gang? Er hatte die Strafe unter Garantie am meisten verdient, würde es Emi aber nicht einfach machen. Also doch besser demjenigen, mit dem sie das leichteste Spiel hätte? Das war wahrscheinlich Askari. Aber nach dem ersten Eingriff würden die anderen vorsichtiger werden. Somit würde es von Mal zu Mal schwieriger, die Stärkeren in eine Falle zu locken. Es war wirklich vertrackt. Schließlich entschied sie sich für einen altbekannten Abzählreim.
Ene, mene, muh …
Sie lächelte, während der Stift in ihrer Hand die Namen rhythmisch abzählte. Sie versah Hakem mit einem geraden Strich.
Ene, mene, muh …
Der Stift hüpfte über die Namen und strich den nächsten mit einer korrekten Linie durch.
Ene, mene, muh …
Die Mine begleitete die Silben und verabschiedete den nächsten Übeltäter mit einem waagerechten Zug.
Ene, mene, muh …
Mit fester Entschlossenheit strich sie die nächsten Buchstaben durch und belächelte das Ergebnis. »Mujahid!« Sie schürzte die Lippen. »Und falls du nicht auf den Trick hereinfällst, dann eben einer der anderen.«
Ihre Züge entspannten sich, während sie sich vorstellte, wie er in die perfekt arrangierte Falle tappen würde. Für den heutigen Abend hatte sie ein Zimmer in einem Stunden­hotel gemietet, es im Voraus bezahlt und bereits für das Abenteuer präpariert. Den Rest würde sie Emi überlassen. Sie war ebenso wild, unzähmbar und grausam wie Artemis – die Göttin der Jagd, die Hüterin der Kinder und Frauen. Deshalb nannten die Familienmitglieder sie seit Jahren Artemis beziehungsweise nutzten den Kosenamen Emi. Es war Emis Aufgabe, die Frauen und Kinder ihrer Familie zu beschützen. Zudem hatte Emi es sich auf die Fahne geschrieben, auch andere Frauen zu schützen. Sie würde die Männer, die Paula gequält hatten, jagen und unschädlich machen. So könnten die Kerle weder über ein Mitglied ihrer Familie noch über eine andere Frau herfallen.
Emi würde den Auftrag ohne jegliches Mitgefühl ausführen, da sie, Emi, zu dieser Empfindung nicht fähig war. Sie war unfähig, Gefühle wie Liebe, Freude, Glück, Zufriedenheit und all die anderen wundervollen Gefühle zu spüren.
Emi kannte nur ein Gefühl.
Ein mächtiges Gefühl.
Wut.
***
Emi stand vor dem offenen Kleiderschrank, in dem vielfältige Schätze übersichtlich auf Regalen ruhten und an Stangen baumelten. Ihr Blick schweifte über verschiedene Perücken, die auf Styroporköpfen thronten.
Maria hatte die Accessoires in einem Kaufrausch zusammengetragen, ihr genau aufgeschrieben, wie sie sich für die erste Jagd zurechtmachen sollte und ein hellblondes Haarteil ausgewählt, das an Paulas Haar erinnerte.
Paulas Haarfarbe trifft keine Schuld, dachte Emi. Das Mädchen war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Das wusste sie nur zu gut. Es war die Gelegenheit, die sie zur leichten Beute gemacht hatte. Die Gelegenheit für die Männer, ihrer Aggression freien Lauf lassen zu können. Die Gelegenheit, sich durch die Erniedrigung eines Mädchens allmächtig zu fühlen und ihr eigenes mickriges Selbstbild auszublenden.
»Und nun habe ich die Gelegenheit«, murmelte sie und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Heute durfte sie ihrer Wut freien Lauf lassen und die unermessliche Erleichterung durch ausgeübte Gewalt erleben.
Sie war mit ihrer Erscheinung zufrieden. Die blonden Haare passten hervorragend zu ihrer hellen Haut. Jetzt fehlte nur noch die Krönung. Ein Make-up, das sie als Opfer und somit als leichte Beute erkennen ließ.
Vor dem Badezimmerspiegel klebte sie die künstlichen Wimpern auf und übermalte ihre vollen Lippen mit einem blutroten Lippenstift. Nun kam das i-Tüpfelchen: ein Veilchen. Sie hatte verschiedene Tutorials auf YouTube angesehen und das Schminken ausprobiert. Nach etwas Übung schien es gar nicht mehr so schwer. Treffsicher wählte ihr Pinsel die richtigen Theaterfarben und trug sie Schicht für Schicht auf, bis ein violetter Bluterguss erstrahlte.
»Hervorragend«, lobte sie sich und überflog nochmals Marias Checkliste. »Oh, fast vergessen!« Sie öffnete eine Aufbewahrungsdose. Vorsichtig setzte sie blaue Kontaktlinsen ein und eilte zurück ins Schlafzimmer. Aus dem obersten Fach im Kleiderschrank zog sie eine Kiste, die Outfits für ihren Zweck bereithielt. Sie entnahm schwarze Reizwäsche, halterlose Netzstrümpfe und ein schwarzes, langärmeliges Minikleid. So würden sich eventuelle Zeugen, die sie mit Mujahid beobachteten, später an eine Prostituierte erinnern.
Sie komplettierte ihr Outfit mit einem Nietengürtel und überprüfte anhand der To-do-Liste abermals den Inhalt ihrer Handtasche. Ein illegaler Elektroschocker von einem polnischen Grenzmarkt, Flunitrazepam, das in Krankenhäusern als Injektion zur Beruhigung und Vorbereitung vor chirurgischen Eingriffen sowie als Date-Rape-Droge eingesetzt wurde, und vor allem das Skalpell-Set. All das befand sich ebenfalls in dem vorbereiteten Liebesnest. Sie würde diese Gelegenheit ganz sicher nicht verstreichen lassen.

Kapitel 8

Donnerstagabend
»Hi, ich bin zu Hause«, trällerte Ruby und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Nach einem Tag mit Mord und Vergewaltigung freute sie sich auf den Abend mit Nele, Anna und Leonie.
Seit einem Jahr lebten die vier zusammen in der Wohngemeinschaft. Rubys Tochter Nele und Annas Tochter Leonie waren von klein auf beste Freundinnen. Nachdem Anna von ihrem Mann oft betrogen worden war, hatten sie und ihre Freundin zur Freude der Mädchen beschlossen, zusammenzuziehen. Da Ruby alleinerziehend war und Anna als Richterin amtierte, ließ sich dadurch der Tagesablauf wesentlich leichter organisieren.
Aus der Essküche erklang ein Wirrwarr aus Stimmen, Kichern und Klappern von Besteck. Die zehnjährige Nele kam aus dem Raum geschossen und griff ihre Hand. »Hallo, Mama, ich habe eine Überraschung für dich«, jubilierte sie. »Du musst die Augen zumachen.« Ihre Finger umklammerten Rubys Handgelenk und zogen sie hinter sich her.
Ruby folgte der Anweisung und realisierte die plötzliche Stille. Alle Geräusche waren verstummt, als hätte jemand den Lautstärkeregler eines Fernsehers auf null gedreht und damit dem Actionfilm die Spannung genommen. Der Duft von Zwiebeln, Knoblauch und Koriander intensivierte sich mit jedem Schritt, den sie der Küche näher kamen. Am liebsten hätte sie geschummelt, die Lider ein wenig geöffnet und hindurchgelugt. Sie riss sich jedoch zusammen, um ihrer Tochter den Spaß nicht zu nehmen. Wahrscheinlich hatte sie gemeinsam mit ihrer gleichaltrigen Freundin und Anna das Abendessen zubereitet und den Tisch gedeckt.
»Augen auf!«, kommandierte Nele, nachdem sie Ruby vor dem Tisch positioniert hatte.
Ruby erblickte einen Überfluss an fremdländischen Leckereien. Auf der Mitte des Küchentischs lockte eine Pfanne, die mit einem Fischgericht gefüllt war. Die cremig-rote Farbe ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Daneben hatte eine Schüssel mit Reis Stellung bezogen. Außerdem standen Platten mit Käsebällchen, Salat, Obst und ein Gebilde, das an Pudding erinnerte, auf der glatten Holzoberfläche. Grüne Papierservietten und gelbe Kerzen schufen eine brasilianische Stimmung.
»Wow!« Dieses Festmahl übertraf ihre Erwartungen vollkommen. »Das ist ja der Wahnsinn. Das habt ihr super gemacht.«
»Das war Oma.« Nele grinste von einem Ohr zum anderen.
»Oma?« Ruby runzelte die Stirn. »Sie ist doch am Amazonas!«
Nele und Leonie kicherten. Anna spielte verlegen an dem filigranen Anhänger ihres Goldkettchens.
»Überraschung!«, tönte es hinter Rubys Rücken.
Sie wirbelte herum und schnappte nach Luft.
»Hallo, Rubina Saphira, wie schön, dich zu sehen!«
Bevor Ruby sich sammeln konnte, hatte ihre Mutter sie an ihren Vollbusen gedrückt und ihre Wangen mit Küssen übersät. In Rubys Ohren nistete sich ein Hämmern ein. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie hatte zwar im Laufe des letzten Jahres Nele zuliebe mit ihrer Mutter Kontakt aufgenommen, musste sich aber vor anstehenden Treffen stets seelisch vorbereiten und zur Ruhe mahnen. Immerhin hatten sie jahrzehntelang im Clinch gelegen, weil Ruby ihrer Mutter den Tod ihres Vaters zuschrieb.
»Du sollst mich nicht Rubina Saphira nennen.« Sie entwand sich der Umarmung.
»Aber warum denn nicht?« Hildegards Augen, katzengleich wie die von Tochter und Enkelin, funkelten überrascht, als würde sie diesen Einwand zum ersten Mal hören. »Die Namen haben eine wundervolle Bedeutung.« Sie schwenkte das Wasserglas in ihrer Hand. Die Heilsteine, die sich am Boden tummelten, klirrten. »Kann es sein, dass du etwas überspannt bist?« Sie trank einen Schluck.
»Kommst du bitte mal, Anna?« Ruby wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte ins Badezimmer. Sie fühlte sich nicht nur etwas, sondern absolut überspannt, und das lag einzig und allein an der Gegenwart ihrer Mutter. »Warum hast du mich nicht vorgewarnt?«
»Ich bin auch eben erst nach Hause gekommen.« Annas Rücken ruhte am Türrahmen. »Es ist doch wundervoll, dass sie sich um die Mädchen und das Abendessen gekümmert hat.«
»Das macht sie nur, um ihr Gewissen zu erleichtern.« Ruby wusch sich die Hände und das Gesicht. »Weil sie mich nach dem Tod meines Vaters in ein Internat gesteckt und sich keinen Deut mehr um mich geschert hat.« Sie tupfte die Wassertropfen ab. Das Handtuch war weich und roch nach Lavendel. Die beruhigende Wirkung des ätherischen Öls blieb aber aus. »Und jetzt will sie sich lieb Kind bei Nele machen.«
»Du weißt, dass das so nicht stimmt.« Anna lächelte milde. »Wann wirst du deiner Mutter endlich verzeihen?«
Ruby schnaufte. »Nie! Wenn sie meinen Vater nicht mit ihren Wahrsagereien nervös gemacht hätte, wäre er nicht vom Hochseil gestürzt.«
Anna griff nach dem Lavendelöl für den Duftspender, drehte die Kappe ab und hielt es ihr unter die Nase.
Ruby schob die Flasche mit der Hand weg. »Fang du nicht auch noch mit dem Humbug an. Mir reicht schon, dass die bekannte Wahrsagerin Madame Sibylle hier rumschwirrt.«
»Gut.« Anna stellte das Öl zurück. »Dann mach Nele zuliebe gute Miene zum bösen Spiel.«
Der Rat brachte Ruby zur Räson. Neles Gesicht, das sie voller Freude im Flur angestrahlt hatte, verdrängte ihren Zorn. Sie gab sich einen Ruck und ging zurück in die Küche. Ihrer Tochter zuliebe würde sie diesen Abend irgendwie überstehen.

Kapitel 9

Donnerstagabend
Das Café Marrakesch bot weit mehr als marokkanische Backwaren. Ein Schriftzug auf dem Fenster verwies auf eine Shisha-Bar in der oberen Etage; in dem Schaukasten neben dem Eingang lockte ein Poster mit samstäglichen Bauchtanzveranstaltungen.
Die Tür öffnete sich und drei junge Männer traten auf die Straße.
Emi erkannte sie sofort.
Mujahid griente. Seine Zahnfehlstellung mit den spitzen Eckzähnen verlieh ihm etwas Draculahaftes. An seiner Seite schlenderte Hakem. Seine Fingerknöchel waren mit Tätowierungen überladen wie die Wüste Erg el M’hazil mit Sand. Der Letzte im Bunde musste Askari sein, denn er klebte stets an seinem Bruder Hakem wie Kaugummi unterm Schuh.
Ihre latente Wut rauschte durch ihren Körper und erhöhte die Durchblutung ihrer Arme und Beine. Ihre Hände kribbelten und zitterten. Um das Beben zu verbergen, umklammerte sie das Halteverbotsschild, als wäre es eine Pole-Dance-Stange und sie die nächste Tänzerin, die auf ihren Auftritt wartete. Sie atmete bewusst ein und aus, wobei sie beim Luftholen bis vier und beim Entleeren der Lunge bis sechs zählte. Ihre Atmung wurde ruhiger; ihr Herzschlag fand sein normales Tempo wieder.
»Kein Grund zur Aufregung«, beschwichtigte sie sich. Im Gegenteil. Es lief wie gewünscht. Letzte Woche war Maggie, der dürre Teenie, Paulas Angreifern hierher gefolgt und hatte sie von dem gegenüberliegenden Bistro aus observiert. Auch heute hatten die Kerle wieder Zeit im Marrakesch verbracht.
»Bingo«, jubilierte sie leise, als die Tür sich nicht abermals öffnete, sie also zu dritt blieben. Und Mujahid war sogar unter ihnen. Zweifellos hätte sie sonst mit einem seiner Kumpel vorliebgenommen. Hauptsache, sie konnte einen nach dem anderen außer Gefecht setzen. Trotzdem beruhigte es sie, wenn alles gemäß Marias Plan lief. Es war ein gutes Omen. In Anbetracht dieser erleichternden Situation brauchte sie sich nicht einmal zu einem Lächeln zu zwingen.
»Halloho«, zwitscherte sie, sobald die Truppe sie passierte, und entblößte ihre strahlend weißen Zähne. Sie wären für jede Zahnpasta-Werbung geeignet gewesen, wenn an einem der oberen Schneidezähne nicht eine Ecke gefehlt hätte. »Ich könnte ein bisschen Trost gebrauchen.«
»Verpiss dich«, fuhr Mujahid sie an.
Askari beäugte sie verstohlen.
Hakem