ATMEN - heilt - entspannt - zentriert - Dr. Ralph Skuban - E-Book

ATMEN - heilt - entspannt - zentriert E-Book

Dr. Ralph Skuban

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Beschreibung

Der Atem-Experte Ralph Skuban erklärt in seinem Ratgeber anschaulich und fundiert die gesundheitlichen und spirituellen Aspekte einer förderlichen Atmung mit zahlreichen individualisierbaren Übungen - die Essenz aus allen relevanten Traditionen in einem Band! Auch schon vor Corona gehörten Atemwegserkrankungen zu den häufigsten Todesursachen der Welt. Viele Menschen haben entsprechende Gesundheitsprobleme oder suchen auch aus Gründen der Entstressung oder aus spirituellen Motiven nach einer zu ihnen passenden Atempraxis.  Ralph Skuban bietet mit seinem Praxisbuch eine ganze Palette kombinierbarer Techniken an, die man für sich individuell zusammenstellen kann. Von den Atemübungen der "alten Yogis" bis hin zu moderneren Methoden wie Buteyko findet jede und jeder den Weg zu einer gesunden Atmung, die heilend, entspannend und transformierend wirkt. Alle sind vom Autor über viele Jahre erprobt und verfeinert worden und für alle Praktizierenden verständlich beschrieben und leicht anwendbar.

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Seitenzahl: 411

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Ralph Skuban

ATMENheilt entspannt zentriert

Der Weg zur individuellen Atempraxis

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der Atem-Experte Ralph Skuban erklärt in seinem Ratgeber anschaulich und fundiert die gesundheitlichen und spirituellen Aspekte einer förderlichen Atmung mit zahlreichen individualisierbaren Übungen - die Essenz aus allen relevanten Traditionen in einem Band!

Auch schon vor Corona gehörten Atemwegserkrankungen zu den häufigsten Todesursachen der Welt. Viele Menschen haben entsprechende Gesundheitsprobleme oder suchen auch aus Gründen der Entstressung oder aus spirituellen Motiven nach einer zu ihnen passenden Atempraxis.  Ralph Skuban bietet mit seinem Praxisbuch eine ganze Palette kombinierbarer Techniken an, die man für sich individuell zusammenstellen kann. Von den Atemübungen der "alten Yogis" bis hin zu moderneren Methoden wie Buteyko findet jede und jeder den Weg zu einer gesunden Atmung, die heilend, entspannend und transformierend wirkt. Alle sind vom Autor über viele Jahre erprobt und verfeinert worden und für alle Praktizierenden verständlich beschrieben und leicht anwendbar.

Inhaltsübersicht

Einführendes Zitat

Prolog

Über dieses Buch

Der Atem als Brücke

Leben und Sterben

Schöpfung und Auflösung

Körper und Geist

Atem und Präsenz

Atem und Gesundheit in unserer Zeit

Die Entfernung von der Natürlichkeit

Zwei Dimensionen der Atmung

Überatmung

CO2, das missverstandene Molekül

CO2 und der Atemantrieb

CO2 und das Säure-Basen-Gleichgewicht

CO2 und die Durchblutung

CO2 und Sauerstoff

CO2 und der Mineralstoffhaushalt

Wie der Atem unnatürlich wird

Die Programmierung des Controllers

Wie Sie Ihre CO2-Toleranz messen

Wenn wir nachts um den Atem ringen

Obstruktive Schlafapnoe (OSA)

Schnarchen

Die Nase, das Eintrittstor des Lebens

Das »spirituelle Organ«

Archaische Verbindung: Nase und Gehirn

Verteidigung

Widerstand

Reflexe

Geheimnisvolle Zyklen

Dynamit, Herz und Nase

Das Wundermolekül

Der Humming-Effekt

»NO Superfoods«

Von langen Gesichtern und krummen Zähnen

Krankheit Mundatmung

Pioniere der Atemforschung

Ernährung und physische Degeneration

Was wir sofort tun können

Moderne Zugänge zum Atem für Heilung und Wohlbefinden

In die Tiefe atmen

Das Zentrum

Einatmung, Ausatmung, Fülle und Leere

Spannung im Zwerchfell lösen

Wenn es schwierig ist

Sanft atmen

Die CO2-Toleranz trainieren

Über die Kontrollpause

Die Buteyko-Übungen

Tipps zum systematischen Aufbau Ihrer Buteyko-Praxis

Langsam atmen

Das flexible Herz

Stabilität

Zentrales und peripheres Nervensystem

Sympathikus und Parasympathikus

Die Atem-Herz-Hirn-Verbindung

Was heißt eigentlich »langsam«?

Der Sweet Spot

Intensiv atmen

»Was uns nicht umbringt, macht uns hart«

Der Mann, der aus der Kälte kam

Kontraindikationen für intensives Atmen

Hormetischer Stress

Wirkungen auf CO2, Sauerstoffsättigung und Herz

Klassische Atemmethoden des Ostens

Atempraktiken aus dem Yoga Tibets

Schmerz lösen

Der Atem als Medizin

Geheime Lehren

Atemübungen aus der indischen Yoga-Tradition

Die Wurzeln des Pranayama

Der Yoga von Sonne und Mond

Epilog

Danksagung

Anhang

Übungen und Atemerfahrungen im Überblick

Ihre individuelle Atempraxis – Atemprotokolle

HRV-Equipment zur Ermittlung der Resonanzfrequenz

Glossar

Quellen

»Vergiss das Atmen nicht.

Letztlich ist es das Geheimnis des Lebens.«1

Gregory Maguire, Schriftsteller

Prolog

Manchmal, wenn ich spazieren gehe, berühre ich einen Baum. Ich mag die Vorstellung, dass mich in dieser Berührung etwas von seiner Gelassenheit und Kraft durchströmt. Es erinnert mich an die dichte Vernetzung des Lebens, die im Prozess des Atmens in besonderer Weise zum Ausdruck kommt: Der Stamm des Baumes streckt sich in den Himmel, während seine Äste sich immer mehr verzweigen und eine Vielzahl von Blättern hervorbringen. Durch feinste Spaltöffnungen, sogenannte Stomata, von denen sich bis zu 300 auf jedem Quadratmillimeter eines jeden Blattes finden, nehmen sie Kohlendioxid auf und erzeugen mithilfe von Wasser und Licht die Energie, die der Baum zum Leben braucht. In der etwas sperrigen Sprache der Wissenschaft nennt man diese Lebensenergie Adenosintriphosphat oder einfach ATP. Es ist die universelle »Energiewährung« allen Lebens auf der Erde: Ob Wurm oder Insekt, Kuh oder Katze, Mensch oder Blume, ja sogar Bakterien brauchen ATP, um leben zu können. Quasi als ein Nebenprodukt dieses Energieerzeugungsprozesses des Baumes entsteht Sauerstoff. Diesen gibt der Baum an die Atmosphäre ab.

So atmet also der Baum. Und er hat einen Spiegel im Inneren meines Körpers: meine Atemwege. Die Luft, durch die Atemaktivität des Baumes nun reich an Sauerstoff, strömt durch meine Nase in die Luftröhre ein. Wie ein Stamm, der nach unten wächst, greift sie aus in die Tiefe und bringt dabei kräftige Äste oder Bronchien hervor, die sich in immer filigranere Strukturen aufteilen und nach 24 Verzweigungen (oder Generationen, wie man auch sagt) schließlich in 400 Millionen kleinster Lungenbläschen einmünden: die Alveolen. Sie sind die Blätter des Baumes in meinem Inneren und nehmen auf, was der Baum, den ich so gern berühre, abgibt: Sauerstoff. Ihr Aussehen gleicht Trauben, und um jedes einzelne dieser mikroskopisch kleinen Gebilde spannt sich ein Gewebe aus Tausenden von Blutgefäßen, 400 Milliarden insgesamt. Hier nun ist der Ort, wo der Sauerstoff ins Blut übergeht – er floatet regelrecht von den Alveolen in die roten Blutkörperchen hinein. Vorangetrieben vom Rhythmus des Herzens, bringen sie ihre Sauerstoffpäckchen nun zu jeder einzelnen der hunderttausend Milliarden Zellen unseres Körpers hin. Atemzug für Atemzug …

Über dieses Buch

In diesem Buch möchte ich Sie auf eine Atemreise mitnehmen, eine Reise, die Ihnen die lebendige Vielschichtigkeit dieses wundersamen Prozesses, den wir »Atmung« nennen, vor Augen führt und auf vielerlei Weise persönlich erfahrbar macht. Der Atem ist ein Phänomen, das die meisten von uns schlicht für gegeben halten, ohne zu wissen oder zu bemerken, wie sensibel er auf alles reagiert, was im Leben geschieht. Und es ist alles andere als selbstverständlich, dass immer schon alles gut damit läuft. Tatsächlich trifft das Gegenteil zu. Vielen, um nicht zu sagen den meisten, ist der Atem zu einer Herausforderung geworden, eine Folge der Art und Weise, wie wir leben, geprägt von negativem Stress, ungesunden Verhaltensweisen und falschen Annahmen über das Atmen selbst. Doch wir können lernen, mit dem Atem auf vielfältige Weise zu arbeiten, und seine Kraft bewusst nutzen, um uns ausgeglichen, entspannt und leistungsfähig zu fühlen, mehr noch: Bewusstes Atmen kann uns von zahlreichen chronischen Belastungen befreien und gesünder machen. Atmen heilt. Dabei will Ihnen dieses Buch ein Begleiter sein.

In Teil I, Der Atem als Brücke, lernen Sie spielerisch-beobachtende Zugänge zum Atem kennen, eingebettet in ebenso praktische wie philosophische Betrachtungen. Der Atem ist innigst verbunden mit der Tatsache, dass wir leben. Und wie kein anderer körperlicher Vorgang ist er eine Brücke, die in unser Inneres führt, ein Tor ins Unbewusste. Aus diesem Grund vor allem haben sich viele alte Kulturen intensiv mit dem Atmen auseinandergesetzt.

Teil II, Atem und Gesundheit in unserer Zeit, widmet sich wissenschaftlich fundiert den facettenreichen Themen rund um die Frage, wie der Atem sich konkret vollzieht. Sie werden erfahren, was eine natürliche Atmung ausmacht und wie vielgestaltig die Probleme sein können, wenn der Atem seine Natürlichkeit verliert. Wir thematisieren die Ursachen und Folgen einer ungesunden Atmung und sprechen über die vitale Bedeutung des Kohlendioxids im Atemprozess, des missverstandenen Moleküls, wie ich es gern nenne. Natürlich müssen wir ausführlich auch über die Nase reden, das Eintrittstor des Lebens – ein faszinierendes und in unserer Zeit vollkommen unterschätztes Organ, das immer mehr Menschen immer weniger benutzen mit drastischen Folgen für ihre Gesundheit. Darüber hinaus finden Sie neben praktischen Atemerfahrungen eine Reihe wichtiger Hinweise für Ihre Atemgesundheit, die Sie ohne Zeit- und Kostenaufwand gleich umsetzen können. Das Atemwissen aus diesem Teil des Buches ist das Fundament für Ihre eigene konkrete Atemarbeit, die dann im Zentrum der weiteren Kapitel stehen wird.

Teil III, Moderne Zugänge zum Atem für Heilung und Wohlbefinden, stellt Ihnen praktische Wege zum Aufbau einer individuellen Atempraxis vor, die auf den Erkenntnissen von Teil II beruhen. Im Zentrum stehen vier Themenbereiche, die das Atmen aus jeweils unterschiedlicher Perspektive beleuchten:

Das Kapitel In die Tiefe atmen ist ganz dem Zwerchfell gewidmet. Nicht nur, weil es buchstäblich die Mitte unseres Körpers bildet, sondern vor allem deshalb, weil es von so zentraler Bedeutung für den Atemprozess ist, nenne ich es unser Zentrum. Leider haben immer mehr Menschen Probleme damit, ihr Zwerchfell richtig zu nutzen und aus dem Zentrum heraus zu atmen. Ich stelle Ihnen in diesem Kapitel einfache Übungen vor, die Ihr Zwerchfell stärken und dabei helfen, es zu entspannen, damit Sie einen wohltuenden und nährenden Atemprozess erleben können.

Im Kapitel Sanft atmen geht es um die Buteyko-Methode, ein mächtiges Werkzeug zur Wiederherstellung einer gesunden Atmung im Alltag, basierend auf den biochemischen Gesetzmäßigkeiten der Atmung. In den vielen Jahren meines Übens und Forschens rund ums Atmen habe ich nichts kennengelernt, das so schnell in so heilsame Erfahrungen führen kann wie diese Methode. Zahlreiche chronische Erkrankungen können damit positiv beeinflusst und belastende Symptome reduziert oder sogar vollständig überwunden werden.

Das Kapitel Langsam atmen beschäftigt sich mit der Beziehung von Atem und autonomem Nervensystem. Sie werden erfahren, dass eine gezielt eingesetzte Atemrhythmik ein Werkzeug ist, mit dem Sie Einfluss auf Ihre Befindlichkeit nehmen können. Das Wissen um die biochemischen Zusammenhänge beim Atmen wird Sie davor schützen, beim langsamen Atmen Fehler zu machen, und Ihnen helfen, sein ganzes Potenzial auszuschöpfen.

Intensiv atmen, das abschließende Kapitel dieses Teils, thematisiert die bewusste Hyperventilation – Atemprozesse, die nicht jederzeit für jeden geeignet sind, doch manchen tiefe Erfahrungen schenken können. Lesen Sie, bevor Sie diese Techniken versuchen, unbedingt die vorausgehenden Kapitel. Bewusste Hyperventilation ist technisch gesehen eine einfache Angelegenheit, hat aber starke Wirkungen und zudem wichtige Kontraindikationen. Wer sich für Atemabenteuer interessiert, sollte nicht nur gesund sein, sondern sich zuvor auch solide Grundlagen angeeignet haben, um beurteilen zu können, ob sie der richtige Weg sind.

In Teil IV, Klassische Atemmethoden des Ostens, stelle ich Ihnen altbewährte Atemideen aus Tibet und Indien vor. Fußend auf spirituellen, psychologischen und philosophischen Annahmen über das Wesen des Menschen, fließt in praktischer Hinsicht vieles von dem zusammen, was wir in den vorausgehenden Kapiteln thematisiert haben. Wenn Sie diese Methoden für sich erforschen wollen, werden Sie auf den Spuren der »alten Yogis« wandeln, die im bewussten Atmen nicht nur ein Werkzeug sahen, das ihnen Entspannung, Leistungsfähigkeit und Heilung schenken konnte. Vielmehr verstanden sie ihre Atempraxis als Teil eines Lebenswegs, der sie in die Tiefe ihres Geistes und schließlich zur glückseligen Natur ihres wirklichen Wesens führen sollte.

Schließlich finden Sie einen Anhang zum Buch, in dem ich Ihnen neben Anmerkungen und zahlreichen Quellen aus Wissenschaft und Literatur Atemprotokolle vorschlage: Anregungen, wie Sie sich aus dem breiten Panorama von Atempraktiken dieses Buches Ihre individuelle Atempraxis zusammenstellen können.

Es ist sinnvoll, das Buch von Anfang bis Ende durchzulesen. Hier baut ein Stein auf dem anderen auf, das gilt für die Theorie ebenso wie für die Praxis. Gehen Sie es langsam an, und lassen Sie sich viel Zeit mit dem Üben. Es ist weder notwendig noch hilfreich oder auch nur möglich, alle Atempraktiken in kürzester Zeit zu erlernen, um sie dann »kreuz und quer« zu üben. Ich selbst habe viele Jahre mit diesen Methoden gearbeitet und experimentiert, das Erfahren hört nie auf. Vor allem: Gehen Sie spielerisch und freudvoll in den bewussten Kontakt mit Ihrem Atem. Zwingen Sie ihm nichts auf, im Zweifelsfalle ist er immer mächtiger als Sie! Am Ende kommt es auch gar nicht darauf an, dass Sie viele oder »schwierige« Atemübungen machen, sondern allein darauf, dass Sie das, was Sie als wohltuend und hilfreich erleben, in Ihren Alltag integrieren. Das ist auch möglich, wenn Sie nur einer einzigen, einfachen Praxis folgen.

Lassen Sie uns dem Atem doch gleich etwas nachspüren mit einer Atembeobachtung, die ich die drei Stationen des Atems nenne.

Die drei Stationen des Atems

Sitzen Sie bequem. Es ist gut, wenn Sie darauf achten, dass der Oberkörper natürlich aufrecht ist, dann können die Lunge und das Zwerchfell sich frei bewegen.

Jetzt, noch während Sie dies lesen, bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit zur Nase. Nehmen Sie wahr, wie der Atem hineinfließt. Und wieder hinaus. Nur das, nichts sonst. Der Atemstrom in der Nase. Bleiben Sie etwas dabei.

Verlagern Sie Ihre Aufmerksamkeit zum Brustraum. Nehmen Sie dort den Atem wahr. Vielleicht mögen Sie Ihre Hand auf die Brust legen, das unterstützt die Wahrnehmung. Der Atem im Brustraum: eine sanfte Weitung mit der Einatmung. Ein sanftes Zurückschwingen mit der Ausatmung. Ein paar Atemzüge. Verstärken Sie die Atmung nicht willentlich. Nur zusehen. Der Atem im Brustraum.

Bringen Sie Ihre Wahrnehmung jetzt zum Bauch. Legen Sie Ihre zweite Hand auf den Bauchnabel: eine sanfte Weitung der Bauchdecke mit der Einatmung, ein sanftes Zurückschwingen mit der Ausatmung. Der Atem im Bauchraum. Ein paar Atemzüge.

Bleiben Sie noch etwas dabei. Vielleicht möchten Sie auch die Augen schließen …

 

Unser Inneres offenbart unbegreifliche Größenordnungen auf allerkleinstem Raum: Obschon die hunderttausend Milliarden Zellen, die unseren Körper bilden, unfassbar klein sind, würden sie doch, könnte man sie einzeln nebeneinander aufreihen, die ungeheure Strecke von zweieinhalb Millionen Kilometern überspannen, was mehr als 62 Erdumrundungen oder dem Sechsfachen der Entfernung zwischen Erde und Mond entspricht. Und in jeder Zelle dieses unbegreiflich komplexen Kooperationsverbundes, den wir Körper nennen, entsteht aus dem Sauerstoff, den wir einatmen, und der Nahrung, die wir aufnehmen, Lebensenergie: dasselbe ATP, das auch der Baum erzeugt, den ich auf meinen Spaziergängen so gern berühre. Dabei entsteht Kohlendioxid (CO2). Dieses atmen wir aus. (Allerdings niemals zur Gänze: Damit der Atemprozess sich vollziehen kann, müssen wir stets einen Teil davon zurückbehalten, sonst würden wir aufhören zu atmen und ersticken. Auf dieses Thema kommen wir im zweiten Teil des Buches ausführlich zu sprechen, da es uns einen der wichtigsten Schlüssel für die gesunde Atemarbeit an die Hand gibt.) Das CO2 jedenfalls, das ich ausatme, atmet der Baum ein.

Der Baum und ich – da ist die Idee der Verbundenheit also nicht bloß eine Metapher, sondern konkrete Lebenswirklichkeit: Seine äußere Form spiegelt sich in meinen inneren Strukturen. Was ich ausatme, nimmt er auf. Und was er abgibt, brauche ich zum Leben. Nur zusammen sind wir möglich im Geben und Nehmen. Wie eine Brücke verbindet der Atem alles Lebendige auf der Welt. Dieser Idee, dass der Atem eine Brücke ist, wollen wir im ersten Teil des Buches noch etwas weiter nachgehen …

Teil I

Der Atem als Brücke

»Die besten Dinge im Leben, sagt man, sind kostenlos. Das Atmen ist das schönste Geschenk des ganzen Universums.«2

David Kearney, Arzt und Buchautor

Leben und Sterben

Solange der Atem uns keine Probleme bereitet, ist uns dieses meist nicht bewusst: Wir verdanken ihm unser Leben. Was könnte es geben, auf das wir mehr angewiesen wären als auf das Atmen? Wir hören es sicher nicht gern, doch die meisten von uns werden einmal an gesundheitlichen Problemen rund ums Atmen sterben. Denn unter den zehn häufigsten Ursachen, die uns aus dem Leben scheiden lassen, finden sich allein sieben, die mit der Durchblutung und Sauerstoffsituation zu tun haben. In dieses Bild passt, dass »die größte Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg«, wie man den Coronavirus genannt hat, ausgerechnet eine Atemwegskrise ist.

Bezeichnend ist, dass im Umgang mit dieser zwar sehr viel über unterschiedlichste Maßnahmen zum Schutz unserer Atemwege, nie aber vom Atmen selbst gesprochen wird, obgleich doch dieser biologische Vorgang und die Frage, wie er sich konkret bei uns vollzieht, größtes Gewicht haben, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht – auch und gerade im Blick auf Infektionserkrankungen. Hat man Sie zum Beispiel über die Bedeutung der Nasenatmung und die massive Schädlichkeit der weitverbreiteten Mundatmung aufgeklärt? Ich wäre überrascht, wenn dem so wäre. Der Chefarzt einer neurologischen Klinik, der ein Atemtraining bei mir machte, brachte es so auf den Punkt: »Mit dem Atmen sieht es ganz schlecht bei uns aus!« Das mangelnde Bewusstsein um den Atem als Lebensprozess finden wir also auch in Zeiten einer globalen Atemkrise.

Ungeachtet dieser Herausforderungen unserer Zeit sind Atem, Leben und Tod innigst verbundene Phänomene: Ich wurde vor 56 Jahren geboren und habe in dieser Zeit etwa 500 Millionen Atemzüge gemacht. Sollten mir weitere 25 Jahre und ein natürlicher Tod vergönnt sein, verbleiben wohl noch knapp 200 Millionen Atemzüge, bis ich schließlich mit einer letzten Ausatmung sterben werde – ein Prozess, von dem ich mir wünsche, dass er nicht zu sehr ein Kampf ums Atmen sein wird, wie man das in den letzten Tagen und Stunden des Lebens doch immer wieder sehen kann. Mit diesem Wunsch bin ich nicht allein: Die zwei größten Ängste, die Menschen umtreiben, wenn es ums Sterben geht, sind die vor Schmerz und dem Ersticken.

Wie dem auch sei, geht alles gut und kommt nichts Unerwartetes dazwischen, atme ich also noch 200 Millionen Mal ein und aus. Das hört sich nach viel an. Dennoch weiß ich, dass mich jeder Atemzug dem letzten, den ich einmal tun werde, um genau einen Atemzug näher bringt. Eine Einladung, wie ich finde, jeden Atemzug möglichst bewusst und langsam auszuführen, damit das Leben gut gelebt wird – und das nicht kürzer, als es sein soll.

In den Körper atmen

Sitzen Sie bequem.

Jetzt, während Sie dies lesen, bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit zum rechten Fuß. Stellen Sie sich vor, Sie könnten durch Ihren Fuß ein- und ausatmen. Sie atmen durch Ihren rechten Fuß, so als wäre er ein Lungenflügel.

Ein Bild kann das Spüren unterstützen: Stellen Sie sich ein pulsierendes Licht in Ihrem Fuß vor, das mit Ihrer Ein- und Ausatmung ein- und ausblendet und Ihren Fuß von innen her belebt.

Spüren Sie genau hin: Beginnt da etwas zu fließen oder vielleicht zu kribbeln? Strömt Wärme in den Fuß? Nehmen Sie ein Pulsen wahr? Wenn Sie länger dabeibleiben, kann es sogar sein, dass Sie Schmerz wahrnehmen: Die Verbindung von Atem und Aufmerksamkeit kann gebundene Spannung ans Licht bringen und auch lösen, wenn Sie sich nicht dagegen wehren, sie wahrzunehmen.

Fühlen Sie die Lebendigkeit in Ihrem Fuß. Ihre Wahrnehmung und der Atem bringen dieses Leben hinein.

Zum Schluss lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf beide Füße. Nehmen Sie den Unterschied zwischen links und rechts wahr.

Sie können diese Atemerfahrung mit jedem Teil Ihres Körpers versuchen. Besonders in schwierigen Momenten kann es eine Hilfe sein, wenigstens noch mit einem Teil der eigenen Aufmerksamkeit beim eigenen Körper und Atem zu sein. So verlieren wir uns weniger im Außen und sind buchstäblich mehr bei uns.

Die erste Ein- und die letzte Ausatmung sowie alle Atemzüge dazwischen: Sie verbinden, wie der Faden einer Perlenkette, alle Momente meines Lebens. Man kann also sagen, dass diese Atemzüge mein Leben sind. So wie die Ihren das Ihrige.

Und danach? Wohin werde ich gehen, wenn ich mein Leben einmal ausgehaucht haben werde, jenes Leben, das mir nach der Bibel Gott selbst in die Nase eingeblasen hat?3 Wie wir diese Frage für uns selbst beantworten möchten, darf zum Glück Teil unserer inneren Freiheit bleiben. Doch zu einem kleinen Gedankenexperiment dazu möchte ich Sie einladen.

Nehmen wir einmal an, wir hatten, bevor wir in dieses Leben hineingeboren wurden, keinerlei Existenz als bewusste Wesen. Und nehmen wir weiter an, dass mit dem Ende dieses Lebens (dem Ende unseres Atmens) alles vorbei ist: kein Leben nach dem Tod, kein Bewusstsein, das den Körper überdauert, kurz, mein Leben sei einfach die Zeitstrecke zwischen offiziellem Geburtstag und dem Datum, das einst auf meinem Grabstein notiert sein wird. In diesem Fall käme der Atem aus dem Nichts und ginge wieder dorthin. Ein Mysterium ganz eigener Art, schwieriger zu greifen für mich als die Vorstellung, dass ich, in welcher Form auch immer, nach meinem physischen Tod weiterexistieren könnte. Dennoch: Sollte dem so sein, würde mein Leben mit dem Atem beginnen und enden. Das ließe ihm zweifellos überragende Bedeutung zukommen, ist doch jeder gemachte Atemzug einmalig und unwiederbringlich verloren. Wie viel Sinn es aus diesem Blickwinkel doch ergibt, den Atem bewusst, wohltuend und nährend zu erfahren: als eine Brücke, die meine Bewusstheit mit meiner körperlichen Lebendigkeit verbindet.

Wir könnten uns in diesem Gedankenexperiment aber auch vorstellen, dass der Atem lediglich der äußere Ausdruck eines tieferen Seins – unseres eigentlichen Wesens – ist. Dann käme ihm spirituelle Bedeutung zu, verbunden mit der Idee, dass dieses unsterblich ist und die Geburt in diese Welt nur das vorübergehende Anlegen eines Mantels, den wir Körper nennen. Ein Mantel, der atmen muss, um physisch zu überleben. Irgendwann, wenn er einmal abgetragen ist, wie es in der Bhagavad Gita heißt, dem heiligen Buch Indiens, dürfen wir zum letzten Mal ausatmen und den Mantel dann ablegen. In dieser Betrachtung verbindet der Atem die unterschiedlichen Dimensionen der Existenz, wenn Sie so wollen: das Diesseits mit dem Jenseits. So wird er zu einer Art Regenbogenbrücke, die uns buchstäblich »Zug um Zug« näher nach Hause bringt …

In die Ausatmung entspannen

Setzen Sie sich bequem hin, der Oberkörper natürlich aufrecht.

Jetzt, noch während Sie dies lesen, nehmen Sie Ihren Atem wahr. Machen Sie sich keine Gedanken darüber, wie er sich Ihnen in diesem Moment zeigt. Nehmen Sie einfach nur die Einatmung und die Ausatmung wahr.

Versuchen Sie, sich in jede Ausatmung hinein zu entspannen, sich sanft fallen zu lassen. Die Einatmung kommt von selbst, ohne Ihr Zutun. Dann lassen Sie los in die Ausatmung.

Verbinden Sie mit jeder Ausatmung die Vorstellung eines Heimkommens. Nach der Ausatmung dann eine kurze Pause, ein Moment der Rast. Bis die nächste Einatmung kommt. Jedes Einatmen eine Reise. Jedes Ausatmen eine Heimkehr.

Bleiben Sie etwas dabei. Vielleicht möchten Sie jetzt die Augen schließen …

Schöpfung und Auflösung

Die klassische Philosophie Indiens sieht nicht nur unser individuelles Leben, sondern die ganze Schöpfung als Atemprozess. Wer da atmet, ist kein Geringerer als Gott selbst. Und er hat einen wahrhaft langen Atem. Geburt und Tod des Weltalls, ein vollständiger kosmischer Zyklus, entsprechen einem einzigen Atemzug Brahmans, »des Größten«: In diesem Bild wird die Einatmung zu einem Akt der Schöpfung. Die Weitung nach der Einatmung ist das Werden des Kosmos, die Ausatmung steht für dessen Vergehen. Danach Stille. Der Ruhemoment vor der nächsten Einatmung. Dann folgt der nächste kosmische Zyklus.

Als grundlegendste unter den Wissenschaften arbeitet die Physik mit ähnlichen und im Grunde ebenso mystisch anmutenden Ideen: Den unbegreiflichen Zustand eines Seins noch vor Raum und Zeit taufte man Singularität. Dann, vor fast vierzehn Milliarden Jahren (keiner weiß, wodurch, oder gar, warum), folgte der »Big Bang«, der sogenannte Urknall. Seine Energie sowie weitere noch nicht verstandene (und deshalb auch »dunkel« genannte) Kräfte lassen bis heute die Galaxien auseinanderdriften: Das Weltall dehnt sich mit Lichtgeschwindigkeit, möglicherweise sogar noch schneller, aus.4

Über diese unfassbaren Zusammenhänge spreche ich immer wieder gern mit einem guten Freund. Er ist Professor für Physik und lehrt an der Münchener Universität: Wie soll man sich vorstellen, dass der ganze Kosmos vor dem Urknall auf einen infinitesimal kleinen Punkt mit unendlich großer Masse verdichtet gewesen sein soll? Unendlich klein und unendlich schwer? Man mag das wissenschaftlich diskutieren, manches vielleicht sogar mathematisch darstellen können, doch unser Denken vermag das nicht zu greifen.

Wie dem auch sei: Die seither anhaltende Expansionsbewegung stellt zugleich die Evolution des Kosmos dar wie auch des Planeten, auf dem wir leben und dessen Luft wir atmen. Irgendwann vielleicht wird das Universum wieder in sich zusammenfallen. Oder es wird von einem großen, kosmischen Feuer verschlungen, wie die indische Philosophie es lehrt. Vielleicht aber hält das Weltall am Ende einfach nur den Atem an … und erkaltet.

So unbegreiflich das alles bleiben muss – es findet einen konkreten Niederschlag in uns selbst, in unserer Lebendigkeit, in jedem Atemzug: Ruhepunkt, Einatmung, Weitung. Schließlich die Ausatmung, die zum Ruhepunkt zurückkehrt. Vor Anker gehen. Nach Hause kommen. Der Atemprozess ist ein kosmischer Zyklus im Kleinen.

*

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die uns wohltun können, die uns Erleichterung und Lösung schenken. Auch beim Atmen kann das so sein. Ein einziger, bewusster Atemzug, ein Nachbilden sozusagen des Kreislaufs von Schöpfung und Auflösung, kann zurückgehaltene Spannung lösen und befreiend wirken. Versuchen Sie es:

Ein lösender Atemzug

Sitzen Sie bequem, und kommen Sie einen Moment zur Ruhe.

Nehmen Sie einen befriedigenden Atemzug. Langsam und bewusst. Gehen Sie frei in die Atemfülle, gerade so weit, wie es sich gut anfühlt, und halten Sie den Atem an. Solange Sie sich wohlfühlen.

Dann atmen Sie aus. Lassen Sie den Atem dabei nicht unkontrolliert »herausplumpsen«, sondern erlauben Sie, dass die Ausatmung langsam und fließend geschieht. Es kann helfen, dabei durch den gespitzten Mund auszuatmen, so können Sie die Ausatmung dosiert abbremsen. Man nennt das Lippenbremse. Entspannen Sie sich in die Ausatmung hinein.

Nach der Ausatmung spüren Sie hin: Warten Sie auf den Moment, in dem die Einatmung von selbst wiederkommen möchte. Dem geben Sie nach und lassen den Atem einströmen.

Wenn Sie das Bedürfnis verspüren, wiederholen Sie den lösenden Atemzug noch ein- oder zweimal. Und wichtig: Genießen Sie besonders den Moment danach!

Sollten Sie bei dieser Übung ein leichtes Gefühl der Benommenheit haben oder ist es Ihnen nicht möglich, einen befriedigenden Atemzug zu tun, führen Sie die Übung zu einem späteren Zeitpunkt wieder aus, wenn Sie sich vertraut gemacht haben mit dem Thema des natürlichen Atmens sowie mit den Ursachen und Folgen einer unnatürlichen Atmung. Alle Informationen dazu finden Sie in Teil II des Buches: Atem und Gesundheit in unserer Zeit.

Der Atem, so meine ich, ist eine Einladung an uns, das Universum, dessen Teil wir sind, als ein zusammenhängendes Ganzes zu sehen, in dem das Große sich im Kleinen wiederfindet. »Wie oben, so unten« heißt ein sogenanntes hermetisches Prinzip der Analogie: Die Verhältnisse im Makrokosmos, also dem Universum, entsprechen denen im Mikrokosmos, also dem Individuum – und umgekehrt. Kein Wunder, dass die Menschen den Atem überall auf der Welt als etwas Heiliges begriffen. Und sie entwickelten Praktiken, ihn bewusst zu erleben und seine Kraft zu nutzen: für die Gesundheit. Für Ruhe und innere Heilung. Für ihr seelisches Wachstum oder tiefe innere Erfahrungen. Inspiration ist, konkret und körperlich, einfach »nur« die Einatmung (lat. inspirare [einhauchen, einblasen]). Doch ebenso ist sie die Verbindung zu etwas Größerem, zu etwas, das uns inspiriert, uns Leben schenkt und zu kreativen Mitschöpfern der Welt macht. Für die »alten Yogis« war die Arbeit mit dem Atem nichts weniger als eine Verbindung mit dem Absoluten: eine Brücke ins Licht.

Körper und Geist

Ein paar bewusste Atemzüge genügen, um zu erkennen, welche Macht der Atem hat, schlicht aufgrund seiner Wirkung auf die biochemischen Verhältnisse in unserem Körper.

Bleiben Sie bei der folgenden Atempraxis bitte achtsam. Sie sollten bequem sitzen oder, besser noch, liegen. Auf keinen Fall dürfen Sie dabei Auto fahren oder andere sicherheitssensible Dinge tun. Wenn Sie unter Asthma oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, zu Panikattacken neigen oder schwanger sind, machen Sie das Experiment besser nicht. Wenn Sie aber gesund sind und das Atemexperiment durchführen möchten, probieren Sie Folgendes:

Die Macht des Atems

Liegen oder sitzen Sie bequem, und kommen Sie einen Moment zur Ruhe.

Machen Sie 10 große Atemzüge. Sie atmen durch die Nase ein, die Ausatmung darf durch den Mund geschehen. Achten Sie darauf, dass zwischen den Atemzügen keine Atempausen entstehen, Sie atmen also »verbunden« oder »zirkulär«, wie man sagt.

Nach der letzten Einatmung lassen Sie Ihren Atem passiv herausfließen. Verbleiben Sie so lange in der Stille nach der Ausatmung, bis Ihr natürlicher Atemimpuls wieder einsetzt. (Das kann eine ganze Weile dauern!)

Dann spüren Sie nach. Welche Empfindungen haben Sie?

Wenn Sie möchten, schließen Sie eine zweite und dritte Runde an.

Bleiben Sie nach der Übung noch kurz liegen, bevor Sie wieder Ihren Tagesaktivitäten nachgehen.

Manche lieben das: die Trance, das Kribbeln im Körper. Anderen wird unwohl. Einige bekommen Angst, erleiden einen Asthmaanfall oder erfahren sogar eine Panikattacke. Wieder andere erleben eine Art rauschhaften Glücks, machen vielleicht Lichterfahrungen und sehnen sich immer wieder nach dieser »inneren Droge«. Rein physiologisch betrachtet, handelt es sich dabei um eine akute Hyperventilation. Das bringt die Biochemie des Körpers in Sekunden aus dem Gleichgewicht und reduziert die Hirndurchblutung binnen kürzester Zeit um bis zu 60 Prozent.

In bestimmten Atempraktiken, wie zum Beispiel beim holotropen Atmen nach Stanislav Grof oder dem ganz ähnlichen Rebirthing nach Leonard Orr ist die Hyperventilation das zentrale Element der Praxis. Manche hoffen, auf diesem Wege eine psychische Reinigung zu bewirken, belastende Energien zu lösen oder seelische Durchbruchserfahrungen zu machen, wie zum Beispiel das Wiedererleben des eigenen Geburtstraumas, was immer wieder als zutiefst heilend beschrieben wird: Hier wird der Atem zu einer Erfahrung, die das Unbewusste bewusst macht, damit Heilung geschehen kann.5 Für manche ist das bewusste Hyperventilieren einfach ein unterhaltsamer Trip.

Wenn wir so intensiv atmen, macht der Atem nach der letzten Ausatmung jedenfalls erst einmal Pause. Je nachdem, wie stark wir hyperventilieren, 2 oder 3 Minuten lang. Oder sogar noch länger. Man will gar nicht mehr atmen. Ruhepunkt. Irgendwann natürlich kommt er zurück, der natürliche Atemimpuls.

Ein paar Atemzüge, und doch ist die Wirkung auf Körper, Emotionen und Geist so stark. Intensives Atmen führt zu einem plötzlichen Absacken der CO2-Konzentration im Blut, einer Hypokapnie, wie man sagt. Das bringt den Körper in Aufruhr, weil sich dadurch binnen Sekunden das Säure-Basen-Gleichgewicht in unnatürliche Bereiche verschiebt. Die Blutgefäße verengen sich, und die Sauerstoffversorgung der Hirnrinde wird massiv reduziert. Das schränkt das Denken ein. Weil es sich um einen biologischen Ausnahmezustand handelt, wird zugleich das limbische System – ein evolutionär älteres und tiefer gelegenes Hirnareal, der Sitz unserer Emotionen und Erinnerungen – umso stärker aktiv.6

Lassen wir an dieser Stelle noch die Frage außen vor, ob das gesund ist oder nicht. Was das Experiment uns aber zeigt, ist die schiere Macht des Atems: Macht über unser Befinden und Erleben. Wir müssen nur etwas an ihm »drehen«, schon verändert sich unser subjektiver Zustand.

Wir können so atmen, dass es uns aktiviert, beruhigt oder müde macht. Dass es uns rauschhafte Glücksgefühle schenkt. Wir können uns in Angst oder sogar Panik hineinatmen. Asthmatiker können sich in einen Anfall atmen oder sich, mit der richtigen Technik, daraus befreien. Dabei ist der Atem keine Einbahnstraße, vielmehr reagiert er selbst höchst sensibel auf alles, was wir erleben: Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Erfahrung, jeder innere Zustand hat seinen Spiegel im Atem. Über ihn kehrt sich gewissermaßen unser Inneres nach außen. Und umgekehrt können wir unser Inneres durch bewusste Arbeit mit ihm beeinflussen, und zwar für:

mehr Ruhe und Gelassenheit,

größere Resilienz (psychische Widerstandskraft) in schwierigen Zeiten,

körperliche Gesundheit und Leistungskraft,

Konzentration und mentale Stärke,

Entspannung und Regeneration,

emotionale Erlebnisse und euphorische »Trips«,

Katharsis (psychische Reinigung) und seelische Durchbruchserfahrungen,

Meditation und spirituelle Ziele.

 

Das macht den Atem zu einem wirksamen Instrument für unterschiedlichste Ziele, auch für das, was man Biohacking nennt, also die zielgerichtete Beeinflussung und Optimierung unserer körperlichen und psychologischen Prozesse. Der Atem, das muss dazugesagt werden, lässt sich aber nicht beliebig benutzen oder gar unterwerfen, denn im Zweifel hat er immer mehr Macht über uns als wir über ihn. (Manchmal »werden wir mehr geatmet«, als dass wir selbst atmen.) Zudem reagieren Menschen auf bewusste Atemprozesse individuell: Die physiologischen Veränderungen mögen zwar bei allen dieselben sein, doch wie wir sie erleben, lässt sich nicht trennen von unserer persönlichen Geschichte. Der Atem ist zutiefst auch ein psychologisches Phänomen.

Wie sehr Körper, Atem und Geist eine Einheit bilden, können Sie mit der folgenden einfachen Übung erleben. Sie ist wohltuend und zentrierend. Und zugleich erhellend im Blick auf das Zusammenwirken von Wahrnehmung und Atmung.

Die Atemräume wahrnehmen

Sitzen Sie bequem, und kommen Sie 1 Minute zur Ruhe.

Jetzt, während Sie dies lesen, legen Sie Ihre flache Hand auf die Brust, knapp unter das Schlüsselbein, und bringen Ihre Aufmerksamkeit zum Atem. Nehmen Sie bei der Einatmung eine Weitung des Brustraums wahr und ein Zurückschwingen mit der Ausatmung? Bleiben Sie ein paar Atemzüge in dieser Beobachtung des oberen Atemraums. Nur zuschauen.

Bringen Sie Ihre Hand nun auf den Bauchnabel. Auch hier: Spüren Sie das Heben der Bauchdecke mit der Einatmung, das Senken mit der Ausatmung. Bleiben Sie ein paar Atemzüge so. Die Wahrnehmung des unteren Atemraums.

Zum Schluss legen Sie beide Hände auf Ihre seitlichen unteren Rippenbögen, gern mit sanftem Druck, das macht das Spüren einfacher. Die Körpermitte weitet sich mit der Einatmung in der Horizontalen, die Rippenbögen bewegen sich fühlbar zur Seite. Mit der Ausatmung schwingen sie zurück. Ein paar Atemzüge. Der mittlere Atemraum.

 

Diese Atembeobachtungspraxis macht uns mit einem Phänomen vertraut, das schon in uralten Texten des Yoga beschrieben wurde, nämlich der Eigenart des Atems, unserer Aufmerksamkeit zu folgen: Prana, wie man den Atem im Yoga nennt (und zugleich die Lebensenergie, die ihm innewohnt), folgt Chitta, unserer Aufmerksamkeit oder Bewusstheit. Das gilt freilich auch umgekehrt: Geht unser Atem unruhig und erratisch, spiegelt das unser Geist. Wir können uns dann nicht entspannen oder konzentrieren. Der Yoga, wie er in alten Zeiten gelebt wurde, suchte immer den inneren Frieden. Und weil der Geist so eng mit dem Atem verbunden ist, kann man ihn auch als eine Brücke zur inneren Stille nutzen. Wird der Atem ruhiger, so werden wir es auch.

Atem und Präsenz

Unseren Atem können wir nur jetzt und hier spüren, in genau diesem Moment und in diesem Körper. Atmen ist immer jetzt, und kein anderer kann es für uns tun. Der letzte Atemzug ist vergangen, bloß noch Erinnerung, der kommende nur eine Möglichkeit, nicht aber schon die Wirklichkeit. Und ehrlich gesagt: Ob nach der Ausatmung, die wir gerade tun, eine weitere Einatmung folgen wird, können wir nie mit absoluter Gewissheit sagen. Das Leben kann, unerwartet, innerhalb von Sekunden zu Ende gehen. Manchmal hört man Menschen sagen – insbesondere wenn sie schon älter sind –, dass sie jeden Tag als ein Geschenk des Lebens begreifen. »Wer weiß, wie oft ich morgens noch aufwachen darf.« So ist auch jede Einatmung ein neues Geschenk und alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wirklich lebendig sind wir nur im jeweils gegenwärtigen Atemzug und in keinem anderen Augenblick. Und innerlich frei sind wir nur, wenn wir diesen Atemzug erleben können, ohne im Widerstand zu sein. Ohne zu greifen, also etwas mental festzuhalten. Ohne zu urteilen.

Zulassen, loslassen und wahrnehmen

Sitzen Sie bequem.

Jetzt, noch während Sie diese Zeilen lesen, nehmen Sie Ihren Atem wahr.

In welchen Bereich des Körpers zieht es Sie, wenn Sie diese Anleitung lesen? Die Bewegung der Bauchdecke? Das Heben und Senken der Brust? Der Luftstrom in der Nase? Ein anderer Teil des Körpers?

Nehmen Sie Ihren Atem wahr. Kommentieren Sie nicht. Nur spüren.

Vielleicht geht der Atem sanft und gleichmäßig oder hart und erratisch. Vielleicht geht die Ausatmung nahtlos in die Einatmung über, oder es ist eine Pause zwischen beiden. Ihre Atemzüge mögen kurz oder lang sein, leise oder hörbar, sich gut anfühlen oder nicht.

Sie erlauben, dass der Atem so ist, wie er ist. Zulassen.

Halten Sie nicht fest an der Vorstellung, Ihr Atem sollte anders sein, als er ist. Loslassen.

Vor allen Dingen: Kritisieren Sie Ihren Atem nicht. Erleben Sie ihn nur. Wahrnehmen.

 

Immer wieder hört man Menschen sagen: »Ich weiß nicht, wie man meditiert.« Sollte das auch Ihre Frage sein, ist Folgendes eine einfache Antwort: »Nicht im Widerstand sein, nicht greifen, nicht urteilen.« Aber bewusst sein. »So du ergreifst oder zurückweist, bist du nicht frei«, schrieb Zen-Meister Sosan im Shinjinmei, dem ältesten überlieferten Text der Zen-Tradition.7 In der Atemarbeit werden diese Ideen zu körperlich erfahrbaren Prinzipien: Meditation ist hier schlicht ein Da-Sein mit dem, was ist, das Gegenteil dessen also, was die meisten von uns die meiste Zeit über tun. Genau darin liegt auch die heilsame Kraft der Meditation. Bewusste Atemarbeit ist eine einfache Möglichkeit, über unsere »Selbstvergessenheit« im Alltag hinauszugehen und Momente zu schaffen, in denen wir gegenwärtig und wach sind. Der Atem kann dorthin eine Brücke bauen – eine Brücke zur Präsenz.

*

Im nächsten Teil des Buches geht es um den spannenden Zusammenhang von Atem und Gesundheit aus wissenschaftlicher Sicht. Die Informationen und Übungen sollen Ihnen als ein Fundament für Ihre persönliche Atempraxis dienen und, wichtiger noch, als Grundlage für ein gesundes Leben im Alltag.

Teil II

Atem und Gesundheit in unserer Zeit

»Die Beladenen und Bekümmerten atmen zu viel.«8

Charles F. Stroebel, Mediziner

Die Entfernung von der Natürlichkeit

Schlafen, Essen, Bewegen und Atmen: Diese grundlegendsten Aspekte unseres natürlichen Wesens sind für viele zur Herausforderung geworden. Ein vernünftiges Maß an regelmäßiger Bewegung und Ernährung ist im wohlhabenden Teil der Welt heute eher die Ausnahme als die Norm. Die meisten pflegen eine überwiegend sitzende Lebensweise und sind übergewichtig.9 Während der eine Teil der Welt krank wird vom vielen Essen und Lebensmittel in unvorstellbar großen Mengen wegwirft, haben zwei Milliarden so wenig, dass sie krank sind oder sogar an Unterernährung zu sterben drohen.10

Unsere Erde und alles Leben auf ihr zeigt die Spuren anhaltender Übernutzung, Ausbeutung und Verschmutzung. Dass ein globales Massensterben im Gange ist, bezweifelt kein vernünftiger Mensch.11 Das Klima wandelt sich auf bedrohliche Weise, und jede Minute wird auf der Erde fruchtbarer Wald in der Größenordnung von 35 Fußballfeldern vernichtet.12 Drei Viertel aller Tiere werden bald schon vom Angesicht der Erde verschwunden sein, und unsere Enkelkinder werden sie wohl nur noch in Bilderbüchern und TV-Dokumentationen bestaunen können.13 Immer mehr Menschen, bald schon 70 Prozent der Weltbevölkerung, leben in Städten.14 Deren Landschaft ist geprägt von Beton, Stahl und Lärm in einem Klima von stickiger Luft, Stress und Konsum. Und oft auch von der existenziellen Sorge, im Konkurrenzdruck nicht bestehen zu können. Es nimmt nicht wunder, dass psychische Probleme wie Angststörungen und Depressionen rasant zunehmen.15 Was die Depressionen anbelangt, so steht Deutschland innerhalb der EU übrigens auf dem unrühmlichen Siegertreppchen, übertroffen nur von Luxemburg.16

Acht von zehn Berufstätigen sagen, dass sie keinen erholsamen Schlaf mehr finden können.17 Erwachsene in unserem Land anzutreffen, die sich morgens völlig ausgeruht fühlen, ist also die Ausnahme. Das gilt für Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern, für Autofahrer, Piloten und Busfahrer, für Richter, Polizisten und Politiker, für die vielen Menschen also, auf deren besonnenes und achtsames (ganz wörtlich: ausgeschlafenes) Handeln wir angewiesen sind. Möchten Sie von einem Piloten, der an chronischem Schlafentzug leidet, an Ihr Urlaubsziel gebracht werden? Sie dürfen davon ausgehen, dass dies regelmäßig der Fall ist, und zwar in einem alarmierenden Ausmaß, wie die US-amerikanische National Sleep Foundation berichtet.18 In den USA müssen zudem jedes Jahr bis zu 200000 Menschen allein deshalb sterben, weil erschöpfte und ausgebrannte Ärzte Fehler machen.19 Und ein Viertel aller Verkehrsunfälle auf der Welt werden schlicht durch Übermüdung verursacht.20 Es macht keinen Unterschied, ob wir uns Deutschland, die USA oder die Schweiz ansehen: Die grundsätzlichen Probleme sind überall dieselben.21

Diese Entfernung des Menschen von seiner Natürlichkeit spiegelt sich in seiner Atmung. Schlaf, Ernährung, Arbeit, Beziehungen, Gedanken, Gefühle und die vielfältigen Einflüsse aus unserer Umgebung: Das ganze Leben wird im Atem gebündelt wie das Licht in einem Brennglas. Und so nährt uns das Atmen nicht mehr, wie es sein sollte, es ist uns vielmehr selbst zum Problem geworden. Der natürliche, gesunde oder funktionale Atem wird zunehmend unnatürlich, ungesund, dysfunktional.

Mund und Nase

Funktional und dysfunktional: Was genau bedeutet das eigentlich, wenn wir vom Atmen sprechen? Machen wir dazu ein kleines Experiment:

Legen Sie eine Hand auf die Brust, die andere auf den Bauch, und nehmen Sie einen Moment lang Ihren Atem wahr.

Machen Sie jetzt einen großen Atemzug durch den Mund, und beobachten Sie dabei, wohin der Atem geht. Welcher Bereich des Oberkörpers ist es, der sich vorrangig bewegt? Es ist vor allem der Brustraum, der sich weitet, richtig?

Nun machen Sie einen entspannten Atemzug durch die Nase (der Mund bleibt geschlossen) und beobachten wieder, in welchem Bereich des Oberkörpers die Weitung geschieht. Der Brustraum wird sich nur wenig (besser noch: gar nicht) bewegen. Dafür weiten sich der Bauch nach vorn und die unteren Rippen etwas zur Seite. Das sind wesentliche Elemente einer natürlichen und gesunden Atmung im Alltag.

Dieses einfache Experiment macht einen wichtigen Zusammenhang klar: Die Nasenatmung korreliert mit der Zwerchfellatmung. Das zeigt sich an der im Atemexperiment beschriebenen sanften Weitung der Bauchdecke und der unteren Rippenbögen. Dies ist funktional in den meisten Lebenssituationen, mit anderen Worten: Idealerweise atmen wir so viel wie möglich auf diese Weise. Das Atmen durch den Mund dagegen triggert die Brustatmung. Sie braucht viel mehr Energie, weil weitere Atemmuskeln aktiviert werden müssen. Und sie löst eine Stressantwort aus, da Atmung und Nervensystem eng miteinander verbunden sind, wie wir noch sehen werden. Deshalb ist dieses Atemverhalten nur im Ausnahmefall sinnvoll, nämlich bei starker körperlicher Belastung. Im Alltag dagegen ist sie unnatürlich und ungesund oder eben dysfunktional.

Leider ist diese Art des Atmens weit verbreitet, besonders unter Kindern. Bei ihnen ist die Mundatmung heute mehr Regel als Ausnahme.22 Ein erschreckender Umstand, wenn man sich die Schädlichkeit dieses Atemverhaltens vor Augen hält. Die »versteckte Epidemie« der Mundatmung, wie es Sandra Kahn und Paul Ehrlich von der Stanford University in ihrem Buch Jaws nennen, schädigt nicht nur die Mundhygiene und Zahngesundheit, sondern verhindert auch ein gesundes Gesichts- und Kieferwachstum.23 Zudem zerrüttet es die Biochemie des Körpers mit gravierenden kurz- und langfristigen Folgen auf körperlicher und geistiger Ebene.24 Hierauf werden wir noch ausführlich zu sprechen kommen.

*

Mit Mund- und Brustatmung haben wir nun schon die zwei auffälligsten Kennzeichen einer dysfunktionalen Atmung benannt. Doch es gibt weitere Merkmale:

Bei vielen Menschen ist die Atmung beschleunigt, sie machen achtzehn, zwanzig oder noch mehr Atemzüge pro Minute. Das ist weit jenseits dessen, was mit acht bis zwölf, vielleicht maximal vierzehn Atemzügen noch eine physiologisch vernünftige Respirationsrate wäre.

Ein weiteres Merkmal ist der unregelmäßige Atem. Immer wieder kommt es zu unnatürlichen Atempausen, ein Massenphänomen, das sich bei der Bildschirmarbeit beobachten lässt – die sogenannte Bildschirm-Apnoe. (Linda Stone, eine frühere Managerin bei Apple, nannte es E-Mail-Apnoe.) 80 Prozent der Menschen, die an Computern arbeiten, sind davon betroffen, also Milliarden weltweit.25 Ein Begriff wie »E-Mail-Apnoe« mag uns schmunzeln lassen, doch die Folgen einer zerrütteten Atmung sind ernst. Sie macht uns auf Dauer schlicht krank.

Während eine natürliche Atmung sich in den meisten Lebenssituationen geräuschlos vollzieht, sind wahrnehmbare Atemgeräusche dysfunktional und weisen auf einen angestrengten und zu großvolumigen Atem hin. Je lauter also jemand atmet, desto mehr atmet er auch. Und ein Zuviel ist hier definitiv ungesund, wie wir sehen werden, wenn wir gleich über die Bedeutung des CO2 im Atemprozess sprechen.

Schließlich ist auch dies noch wichtig: Atmen wir gesund, folgt auf jede Einatmung eine passive, entspannte Ausatmung, oft mit einer kurzen, natürlichen Atempause danach. Viele Menschen indes halten chronische Spannung in der Atemmuskulatur, vor allem im Zwerchfell, und können nicht mehr weich in die Ausatmung loslassen, sodass dieser wichtigste Atemmuskel seiner Aufgabe nicht mehr optimal nachkommen kann.

 

Die Tabelle zeigt die wichtigsten Kennzeichen von gesunder und dysfunktionaler Atmung in der Übersicht. Wie sieht Ihre Atmung aus?

Kennzeichen gesunder und dysfunktionaler Atmung

Gesund, natürlich, funktional

Ungesund, unnatürlich, dysfunktional

Nasenatmung rund um die Uhr

Häufiges Atmen durch den Mund

Sanfte Zwerchfellatmung

Brustatmung, angestrengte Atmung

Tendenziell langsam

Beschleunigt

Rhythmisch-fließend

Erratisch, unnatürliche Atempausen

Geräuschlos

Hörbare Atemgeräusche

Entspannte, loslassende Ausatmung

Kein vollständiges Loslassen in die Ausatmung, anhaltende Spannung im Zwerchfell

Zwei Dimensionen der Atmung

Die Merkmale der Atmung, die wir gerade unterschieden haben, verweisen letztlich auf zwei fundamentale Aspekte:

Da ist einmal die äußere Dimension der Atmung. Sie dreht sich um die Frage, wie wir atmen, um die Atemmechanik also: Durch den Mund oder durch die Nase? Entspannt mit dem Zwerchfell oder angestrengt in die Brust? Zu dieser äußeren Dimension gehört auch die Rhythmik: Atmen wir schnell oder langsam, gleichmäßig oder nicht? Machen wir Pausen nach der Ein- oder Ausatmung, oder geht eines ins andere über? Und in welchem zeitlichen Verhältnis stehen Einatmung, Ausatmung und Atempausen?

Bei der inneren Dimension der Atmung geht es um die Frage, wie viel wir atmen, um das Atemvolumen also. Dieses wird von der äußeren Seite der Atmung bestimmt: Mundatmung zum Beispiel erhöht das Atemvolumen, da der geöffnete Mund dem Atemstrom einen viel geringeren Widerstand entgegensetzt als die Nase. Mit jedem Atemzug holen wir dann mehr Luft in unsere Lungen, als es bei der Nasenatmung der Fall wäre. Oder: Wenn Sie sich selbst (oder jemand anderen) beim Atmen hören, dürfen Sie davon ausgehen, dass der Flow, wie man sagt, vergrößert ist, also auch das Volumen.

Zwei Dimensionen der Atmung

Die innere Dimension der Atmung ist von entscheidender Bedeutung für die biochemischen Verhältnisse in unserem Körper. Ist das Atemvolumen gewohnheitsmäßig vergrößert – ein Umstand, den wir Überatmung nennen, das häufigste dysfunktionale Atemmuster überhaupt –, kann dies zu zahlreichen gesundheitlichen Problemen führen: zu Asthma und Kurzatmigkeit, Herz-Kreislauf-Problemem, Schnarchen und Schlafapnoe, chronischer Müdigkeit, Verdauungsproblemen, Muskelspannungen, innerer Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsschwäche, Depressionen, Panikattacken, häufigen Erkältungen, sogar zu Impotenz und anderem mehr.26

Das physiologisch sinnvolle Atemvolumen eines Erwachsenen im Ruhezustand beträgt etwa ½ Liter je Atemzug. Bei durchschnittlich zehn Atemzügen in der Minute macht das also ungefähr 5 Liter. Deutlich mehr als das ist zu viel. Und zu viel ist definitiv ungut, denn es bringt den Säure-Basen-Haushalt durcheinander, worauf unser Körper sehr empfindlich reagiert.

Meist werden überatmungsbedingte Symptome nicht als solche erkannt. Wer damit zum Arzt geht, findet deshalb häufig nicht die Hilfe, die er brauchte.27 Stattdessen muss er sogar fürchten, falsch behandelt, als Hypochonder oder im schlimmsten Fall als Simulant etikettiert zu werden.28 Kaum ein anderes Problem, sagt Professor H. E. Walker von der New York University Medical School, wird heute so wenig verstanden und häufig übersehen wie die Überatmung.29

Natürliches Atmen

Halten wir nochmals fest, welche Merkmale eine natürliche Atmung im Alltag kennzeichnen: Eine gesunde (natürliche oder funktionale) Atmung geht durch die Nase und ist getragen vom Zwerchfell. Sie ist leise, langsam und rhythmisch, zudem entspannt in der Ausatmung.

Der erste wichtige Schritt jeder guten Atemarbeit muss das natürliche Atmen zum Ziel haben. In gewisser Weise ist dies die wichtigste Atempraxis überhaupt, und nur auf dieser Grundlage ist es sinnvoll, weiter gehende Atemarbeit zu machen. Eine Übung im natürlichen Atmen:

Sitzen Sie bequem, der Oberkörper ist natürlich aufrecht. Kommen Sie einen Moment zur Ruhe.

Legen Sie eine flache Hand auf die Brust, die andere auf den oberen Bauchraum, sodass sie zwischen Bauchnabel und Brustbeinspitze zu liegen kommt.

Bringen Sie Ihre Wahrnehmung zunächst zur oben liegenden Hand: Ist da Bewegung mit der Einatmung, eine sanfte Weitung? Oder ist die Brust eher still? Nur wahrnehmen. Bleiben Sie ein paar Atemzüge dabei.

Kommen Sie zum unteren Atemraum: Nehmen Sie die Weitung der Bauchdecke mit jeder Einatmung wahr. Vielleicht spüren Sie auch eine leichte Weitung der unteren Rippenbögen zur Seite. Nur wahrnehmen. Ein paar Atemzüge.

Nehmen Sie jetzt beide Atemräume gleichzeitig wahr. Ein paar Atemzüge.

Jetzt der entscheidende Schritt: Atmen Sie so, dass der Brustraum sich nicht bewegt. Die Atemaktivität kommt jetzt ganz aus dem unteren Raum. Die Brust ist still, nur die Bauchdecke hebt und senkt sich sanft.

Versuchen Sie, sich in die Ausatmung hinein zu entspannen, lassen Sie los in die Ausatmung. Wie ein kurzes Ausruhen. Danach folgt ohne Ihr aktives Zutun die nächste Einatmung. Erlauben Sie, dass dies geschieht.

Je mehr Sie sich darauf einlassen können, desto sanfter, ruhiger, weicher und langsamer wird Ihre Atmung werden.

Bleiben Sie ein paar Minuten dabei, und genießen Sie das natürliche Atmen.

Sollten Ihre Hände während der Atempraxis warm werden oder Schluckimpulse kommen, sind das positive Zeichen. Natürliches Atmen aktiviert den Parasympathikus, jenen Teil des Nervensystems, der für Entspannung, Erholung und Heilung zuständig ist.

Wenn es Ihnen gelingt, ganz in die Ausatmung loszulassen, kann es sein, dass Sie das Gefühl haben, weniger zu atmen, als Sie es gewohnt sind. Möglicherweise verspüren Sie etwas »Lufthunger«, wie man sagt. Dieser hat nichts mit einem Sauerstoffmangel zu tun. Vielmehr sorgt das entspannte Atmen dafür, dass Sie weniger CO2 abatmen als sonst, daher dieses Gefühl. Das ist nicht ungesund, im Gegenteil, denn CO2 ist ein unverzichtbares Gas im Atemprozess: Es sorgt für den Atemantrieb, dafür also, dass wir überhaupt atmen. Und es wird benötigt für die Regulierung des Säure-Basen-Haushalts, einen der wichtigsten Parameter für unsere Gesundheit. CO2 weitet die Blutgefäße und steigert die Durchblutung. Zudem erhöht es die Bereitschaft des Blutes, Sauerstoff in die Gewebe zu entlassen, und zwar überall in der genau richtigen Menge.

Auf diese wichtigen Zusammenhänge werden wir im Kapitel CO2, das missverstandene Molekül genauer zu sprechen kommen. Nehmen Sie an dieser Stelle nur so viel mit: Ein sanfter Lufthunger beim bewussten, natürlichen Atmen ist kein Grund zur Sorge, im Gegenteil. Versuchen Sie, sich in dieses Gefühl hinein zu entspannen im Wissen, dass es Ihnen gesundheitliche Vorteile schenken wird. Im Kapitel Sanft atmen erfahren Sie dann, wie Sie systematisch mit dem Atem und der heilsamen Idee des Lufthungers arbeiten können.

Bis dahin: Lassen Sie sich jeden Tag auf das natürliche Atmen ein. Zweimal 10 Minuten sind perfekt. Natürliches Atmen ist nicht nur ein idealer Einstieg ins bewusste Atmen, sondern das A und O der Gesundheit überhaupt. Wenn Sie nur einer einzigen Atempraxis folgen möchten, sollte es definitiv diese sein. Damit kultivieren Sie Atembewusstheit und Atemgesundheit, Fundamente für Ihr Wohlbefinden.

Eine Audio-Anleitung zum natürlichen Atmen können Sie kostenlos von unserer Internetseite laden:

www.skuban-akademie.de/atmen-heilt

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Wenn wir über das Atmen sprechen, müssen wir uns vor Augen halten, dass dieser Vorgang eine organische Ganzheit ist und dabei alles mit allem zusammenhängt. Mechanik und Biochemie sind eng miteinander verwoben. Und alles geschieht gleichzeitig, buchstäblich von Atemzug zu Atemzug. Wenn sich an einer Stelle etwas verändert, hat das Konsequenzen für den Gesamtprozess. Es ist wie bei einem Orchester, das ein Musikstück vorträgt: Kommt ein Musiker aus dem Takt oder ist auch nur ein einziges Instrument verstimmt, raubt das dem Ganzen die Harmonie. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: