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Welche Funktion hat der Tastsinn für die Sinnlichkeit von Film? Filmtheoretische Konzeptualisierungen, die diese Frage zu beantworten versuchen, sind seit mehr als zwei Jahrzehnten maßgeblich von Gegenüberstellungen »optischer« und »haptischer« Bilder bestimmt. Sonja Kirschall nimmt eine kritische Revision dieses Denkens vor, indem sie es einerseits mit seiner eigenen etwa hundertjährigen Konzeptgeschichte, andererseits mit den teletaktilen ästhetischen Praktiken der seit 2010 in den sozialen Medien produktiven ASMR-Community konfrontiert. Aus der Kombination von kritischer Theoriearbeit mit ästhetischer und Erfahrungsanalyse entwickelt sie so eine ordnende Zusammenschau möglicher Modi filmischer Tastsinnlichkeit und eine hapto-taktile Art der Filmanalyse.
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Seitenzahl: 1036
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Sonja Kirschall
Audiovision zwischen Hand und Haut
Zu einer hapto–taktilen Filmtheorie
Die erste Fassung der vorliegenden Publikation ist 2023 von der Fakultät für Philologie an der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen worden. Gutachterinnen: Prof. Dr. Eva Warth, Prof. Dr. Henriette Gunkel, Datum der Disputation: 11.07.2023
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld
© Sonja Kirschall
Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: Sonja Kirschall, Bochum Lektorat: Philipp Blömeke, Bochum Korrektorat: Kerstin Guhlemann, Dortmund Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlarhttps://doi.org/10.14361/9783839471289 Print-ISBN: 978-3-8376-7128-5 PDF-ISBN: 978-3-8394-7128-9 EPUB-ISBN: 978-3-7328-7128-5 Buchreihen-ISSN: 2702-9247 Buchreihen-eISSN: 2703-0466
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Für die, die mich sehen und halten.
Danksagung
1.Annäherung: Augenhände
2.Das Tastsinnliche als Projektionsfläche
2.1Den Tastsinn handhabbar machen – Definitionen
2.2Den Tastsinn deuten – Sinnesgeschichte und Subjektivierung
2.3Das Tastsinnliche (audio-)visuell denken – Konzeptgeschichte
3.(Un-)Greifbarkeiten: Das Haptische und das Optische
3.1Das Haptische und das Optische bei Alois Riegl
3.2Das Haptische und das Optische bei Laura Marks
3.3Der böse Blick, die gute Hand? Blick- und Tastpolitiken
4.Zu einer hapto–taktilen Filmtheorie
4.1Das Haptische und das Taktile
4.2Strategien der Vertastsinnlichung von ASMR-Videos
4.2.1Ummanteln, Eintauchen: Umhüllungen und Submersionen
4.2.2Übergreifen, Annähern: Emersive und allative Taktilisierung
4.2.3Wogen, Schwingen, Pulsieren: Rhythmische Taktilisierung
4.2.4Prasseln, Flimmern, Rauschen: Filmophane Flächen
4.2.5Spiegeln, Simulieren: Taktile Stellvertretung und materielle Mimesis
4.3Potenzialität und Aktualität
4.4Zum Vokabular einer hapto–taktilen Filmtheorie
4.4.1Film als Prozess hapto–taktiler Emergenzen
4.4.2Modi filmischer Tastsinnlichkeit
4.4.3Film als hapto–taktile Gestik und affektive Valenz
4.5LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON in hapto–taktiler Analyse
5.Schlussbetrachtungen: Loslassen
6.Quellenverzeichnis
Literatur
Filme
Serien
Online-Videos
7.Anhang
Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine unwesentlich überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift, die ich im Mai 2023 im Fach Medienwissenschaft an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum eingereicht und im Juli 2023 erfolgreich verteidigt habe.
Ich danke meinen Betreuerinnen Prof. Dr. Eva Warth und Prof. Dr. Henriette Gunkel für das Möglichmachen unmöglicher Termine, für ihre unermüdliche fachliche, aber auch moralische Unterstützung, für zahlreiche Cappuccinos und Denkanstöße bei Lagebesprechungen in Bochumer und Berliner Cafés sowie vor allem für ihre Geduld und Akzeptanz meiner Art zu denken und zu schreiben, für ihr Vertrauen und für die Freiräume, die sie mir bei der Ausarbeitung des Themas gelassen haben.
Für inspirierende Gespräche und wertvolles Feedback danke ich den Mitgliedern des Kolloquiums Medien und Gender der RUB, insbesondere Mary Shnayien, Peter Vignold, Felix Raczkowski, José Herranz Rodríguez, Philipp Hanke, Julia Eckel, Natascha Frankenberg, Christine Piepiorka, Jennifer Eickelmann, Jasmin Degeling, Sarah Horn, Mareike Meis, Kim Carina Hebben, Arne Schröder und Philipp Hohmann. Auch danke ich meinen ehemaligen Kolleg*innen am Institut für Medienwissenschaft der RUB, allen voran Hanna Surma, sowohl für die Herzlichkeit, mit der sie 2009 meinen Arbeitsbeginn begleitet hat, als auch für ihre für mich immer vorbildhafte analytische und sprachliche Präzision, sowie Hilde Hoffmann, für ihr immer offenes Ohr bei fachlichem wie persönlichem Redebedarf.
Sehr profitiert habe ich auch von dem spannenden Austausch mit den Mitgliedern des Dis(s)Connect-Kolloquiums, insbesondere Melanie Konrad, Julia Preisker, Daniel Gönitzer, Oliver Maaßberg, Hanna Huber, Martin Siegler und Laura Katharina Mücke, die mich u. a. darauf hinwies, wie viel von dem, was ich theoretisch zu fassen versuchte, sich an dem wunderbaren Film LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON veranschaulichen lassen würde.
Ebenfalls gilt mein großer Dank der Sozialforschungsstelle Dortmund, deren rücksichtsvolle Arbeitsgestaltung und kollegiales und wertschätzendes Arbeitsklima mir besonders in den Phasen der Verteidigung und Veröffentlichung den Rücken gestärkt haben.
Vor allem aber möchte ich denjenigen Menschen danken, die diese Arbeit auf die grundlegendste und wichtigste Weise ermöglicht haben, indem sie mich ermöglichen. Ihr macht mich zu der, die ich bin und ihr gebt meinen Vorhaben, meinem Denken und Handeln Wert und Sinn. Dieses Buch, das ich ohne euch niemals hätte fertigstellen können, ist euch gewidmet:
Kerstin Guhlemann danke ich für unsere nunmehr 20-jährige Freundschaft, die den mit Abstand bedeutendsten Erfolg meines Studiums in Bochum darstellt. Wie viel ärmer wäre alles ohne deinen Erfindungsreichtum, deine messerscharfen Analysen und deinen überschäumenden Witz. Danke für geteilte Dissphorien und Euphorien, für zahlreiche ekelhaft neoliberale wOrKaTiOnS in Nord-, West- und Ostdeutschland und für die allzeit bereitwillige Miterforschung und Statikprüfung meiner Gedankengebäude und anderer Lost Places, aber auch fürs gemeinsame Prokrastinieren, Übersprungshandeln, Entwerfen diverser steiler Ausstiegsfantasien, Ersporteln und Erspielen von Ausdauer und hoffnungsvollen Sanity Tokens und Innovieren von programmatischen Hilfsmitteln wie dem bahnbrechend süffigen Cocktail DissSolution.
Philipp Blömeke danke ich für unsere bald 15-jährige Freundschaft und ihre so mühelose wie mitreißende Schaffenskraft, die mich immerzu Neues entdecken lässt und Bedeutung verleiht, wo ich sie oft nicht vermutet hätte. Ich danke dir dafür, der Stille ihre tausend Gesichter abzulauschen, Dinge zu verstehen, die niemand sonst versteht, und Worte zu finden, wo es unmöglich scheint. Ich danke dir für deine grenzenlose Feinsinnigkeit, Empathie und Fürsorge. All die Jahre. Ich danke dir für deine Kunst und für ihren stets tastenden und fühlenden Blick gerade auf die kleinsten Dinge in all ihrer Monumentalität, fürs Teilen meiner Liebe zur Nahsicht und fürs Beisteuern von Weitsicht, wo es nötig ist, und nicht zuletzt auch für das gewissenhafte Lektorat dieser Arbeit.
Ann-Kathrin Klestil, dir danke ich für unzählige Spaziergänge und gute Gespräche, für die fast übersinnliche Fähigkeit, dich genau in den Momenten zu melden und zu fragen, wie es mir geht, in denen diese Frage allein schon wieder so vieles besser macht, und für deinen herausragenden Altruismus, der mich schon oft versöhnlicher mit der Welt gestimmt hat.
Mary Shnayien, Peter Vignold, Len Klapdor und Jan Nastke danke ich für das gemeinsame Eruieren diversester Problemlagen und für euer tatkräftiges Krisenmanagement u. a. durch Maßnahmen der Technikedukation und der sozialen Wiedereingliederung auf dem Safe-Space-Sofa, vor allem aber für diese unbezahlbaren Abende voll von brüllendem Gelächter und absoluter Gegenwärtigkeit, an denen, einfach so, alles in Ordnung ist. Len, mit deiner Autismus-Expertise und besonderen Aufmerksamkeit hast du außerdem den Anstoß zu meiner Diagnose gegeben, die mir die Möglichkeit eröffnet hat, endlich so vieles zu verstehen, anders sehen zu lernen und bessere Entscheidungen für mich zu treffen. Danke, fellow ND.
Meinen Eltern Ulrike und Horst Kirschall danke ich dafür, dass sie mir durch ihre harte Arbeit und ihr prospektives Handeln, kurz, durch ihr frühes Erwachsenwerden, den Luxus einer langen Kindheit geschenkt haben. Ihr habt stets alles dafür getan, mir Mittel und Wege zu ermöglichen, frei meine Interessen zu verfolgen und mich auch in all den Unwägbarkeiten eines Lebens im Wissenschaftsprekariat immer unterstützt. Ihr habt meine Krisen und schwierigen Launen ausgehalten und mitgetragen und selbstlos geholfen, wo ihr konntet. Ihr habt euch über jeden meiner Schritte mit mir gefreut und daran geglaubt, dass diese Arbeit fertig werden wird, ohne es zu erwarten. All das ist alles andere als selbstverständlich. Meinem Bruder Thomas Kirschall danke ich vor allem für die Unterstützung durch sein breites Filmwissen. Danke für die vielen hilfreichen Sehempfehlungen und für deine Begeisterungsfähigkeit für ausufernde Diskussionen über dramaturgische und ästhetische Fragen. Und für deine generelle Nonchalance, die, wie ich mir einbilde, an guten Tagen ein bisschen auf mich abfärbt. Ich bin sehr froh, euch zu haben.
Hermine Kirschall danke ich für ihr untrügliches Gespür, mich auch dann richtig zu verstehen, wenn ich nicht die richtigen Worte hatte. Danke für die Heimat in den Weinbergen und für den Reichtum schöner Erinnerungen, den du mir vermacht hast. Ich wünschte, du wärst noch hier und könntest Deinem Baum weiter beim Wachsen zusehen.
Besonderer Dank gilt zuletzt Ursel und Hans Mischke, die mir in einer weichenstellenden Zeit und darüber hinaus ein zusätzliches und sehr bereicherndes Zuhause geboten haben. Ihr wart mir von klein auf Anlaufstelle und Nährboden für meine Liebe zum Lesen, Beobachten, Fragen, Grübeln, Sortieren und Basteln mit Materiellem wie Immateriellem.
Auf jedem Finger hatte ich ein kleines Auge, das mit blinzelndem Entzücken all diese glitzernde Weiße und das eigentliche Schweben registrierte.
– Peter Egermann in AUS DEM LEBEN DER MARIONETTEN
Ingmar Bergmans Filmdrama AUS DEM LEBEN DER MARIONETTEN (D 1980) dreht sich um die Hassliebe des Protagonisten Peter Egermann (Robert Atzorn) zu seiner Frau Katarina (Christine Buchegger), die bereits zu Beginn des Films im stellvertretenden Mord an der Prostituierten Katharina »Ka« Krafft (Rita Russek) kulminiert. Die Vorgeschichte der Tat wird im Folgenden über Rückblenden und Vernehmungsprotokolle aufgerollt. In der zweiten Hälfte des Films wird ein Brief erwähnt, in dem Egermann seinem Freund und Psychiater Mogens Jensen (Martin Benrath) von einem Traum berichtet (TC 01:00:06-01:06:13). Die filmischen Mittel versetzen uns in das Traumszenario hinein: Zu dem Geräusch eines lauter werdenden Kurzzeitweckers sehen wir eine Aufblende aus Weiß auf eine Bettszene in der Halbtotalen1 aus der Vogelperspektive. Peters Stimme erzählt im Voice-Over: »Ich träumte, dass ich schlief. Ich träumte, dass ich träumte.« Auf dem Bett liegen Katarina und Peter; die Hände der beiden befinden sich in der Mitte des Bettes in kleinem Abstand voneinander. Die Fast-Verbindung der Fingerspitzen, zwischen Zeigegeste und heraufbeschworener Berührung angesiedelt, zu deren Wirkung Doris Kolesch auf die Evokation eines »Fluidums«2 hinweist, wird durch einen Zoom-in auf diesen Bereich des Bettes betont; wie eine Vollendung der vorbereiteten Verbindung wird das Bild unscharf und die Formen verschwimmen ineinander. Währenddessen spricht Peter weiter: »Alles war sehr sinnlich. Ich meine in einer weiteren Hinsicht, nicht nur erotisch.« Es folgt eine Abblende zu Weiß; zeitgleich ertönt der laute, schrille und unangenehme Ton eines gestrichenen Instruments (vermutlich gestrichenes Glas, eventuell auch ein Waterphone), der das Ticken des Weckers beendet. Die Atmosphäre der gesamten Szene ist bestimmt durch das Zusammenspiel des leisen Rauschens der Tonspur mit der sichtbaren Körnung des 35mm-Films, den monochromen Schattierungen des Schwarz/Weiß-Bildes und dem wiederholten Abdriften in die Unschärfe; die Kombination der Eindrücke erzeugt eine fühlbare Weichheit, die umso mehr durch die sinnliche Spannungssteigerung hervorzutreten scheint, die das hypnotische und alarmierende Ticken des Weckers generiert, sowie durch den Kontrast zur schneidenden Schärfe des plötzlichen Instrumententons, auf den Stille folgt.
Nach einer Aufblende aus Weiß sehen wir eine Seitenansicht von Katarinas Kopf in der Nahaufnahme; dieser dreht sich in Zeitlupe in Richtung Kamera. »Aber irgendwie gab es einen deutlichen Zusammenhang zwischen meinem Unterleib und einem intensiven und guten Duft«, fährt Peters Stimme fort. Es folgt eine Überblendung zu einer Wiederholung der Szene; Katarinas Kopf dreht sich erneut zum*zur Betrachter*in. Die offenbar handgehaltene Kamera reagiert auf diese Bewegung jeweils mit minimalen Anpassungsbewegungen und Nachjustierungen des Zooms. Derweil spricht Peter weiter: »der Feuchtigkeit einer Frau, Schweiß, Speichel« – die folgende Abblende zu Weiß wird erneut durch den stechenden Klang des Instruments durchschnitten, diesmal einen Halbton tiefer – »dem frischen Geruch dicken Haars«. Nach einer Aufblende aus Weiß sehen wir jetzt Peters Kopf hinter Katarinas; er beginnt, sein Gesicht nah an ihrem nackten Körper entlang langsam nach unten zu bewegen, während seine Stimme erzählt: »Ich bewegte mich mit geschlossenen Augen über eine glitzernde, weitläufige Fläche und alles war sehr still. Meine Befriedigung war absolut«. Die mal langsame, mal schnellere Kamerabewegung evoziert dabei den Eindruck eines unsteten Tastens; das Wort »glitzernde« wird untermalt von dem erneuten Erklingen des Instrumententons, der diesmal deutlich höher und leiser ausfällt und als akustische Markierung eines visuellen ›Glitzerns‹ spontan Sinn zu ergeben scheint. Nach einer Überblendung, die mit einem weiteren, diesmal etwas tieferen Ton des Instruments zusammenfällt, sehen wir Peters Kopf erneut oben neben Katarinas und die Abwärtsbewegung seines Kopfes wiederholt sich. Er spricht weiter:
Und ich hatte ein komisches Bedürfnis, eine lustige Geschichte zu erzählen. Aber ich konnte nicht sprechen. Was mich aber nicht im Mindesten quälte; im Gegenteil fühlte ich, dass das Schweben mit meiner Stummheit eng zusammenhing –
Es folgt die Überblendung zu einer Großaufnahme von Peters Händen; »und dass mein Gehirn intensiv« – mit dem Wort »intensiv« setzt ein höherer, quälender Ton ein – »auf meine Hände, oder vielmehr auf meine Fingerspitzen konzentriert war.« Peters rechte Hand bewegt sich auf die linke zu. »Auf jedem Finger hatte ich ein kleines Auge, das mit blinzelndem Entzücken« – Wir sehen eine Überblendung zu einer noch näheren Einstellung, die nur noch Peters rechte Hand zeigt, welche sich bedächtig erst Richtung Kamera bewegt, dann aber nach unten greift und Katarinas Gesicht berührt – »all diese glitzernde Weiße und das eigentliche Schweben registrierte.« Peters Fingerspitzen gleiten leicht zitternd an Katarinas Gesicht herunter zu ihrem Hals. »So war es gut. So konnte es bleiben.« Seine Hand erreicht Katarinas Hand, die auf ihrer Brust liegt, stößt diese leicht an und berührt dann ihre Brustwarze. Es folgt eine Abblende zu Weiß,dann eine Aufblende auf Peters Gesicht in ganz großer Einstellung, der in die Kamera spricht:
Ich dachte … Oder richtiger, ich dachte überhaupt nicht; es floss mir wie ein vielfarbiges Band durch die Lippen: Wenn du mein Tod bist, dann sei willkommen, mein Tod. Bist du das Leben, dann sei willkommen, mein Leben.
Nach einem erneuten schneidenden Ton und einer Überblendung über Weiß sehen wir Peter und Katarina in der Totalen aus der Vogelperspektive in derselben Haltung wie anfangs im Bett, aber diesmal nackt und auf dem Boden liegend. Peters Stimme ist nun wieder Voice-Over:
Ich befinde mich also in einem geschlossenen Raum ohne Fenster oder Türen, aber auch ohne Dach oder Wände, möglicherweise auch eingeschlossen in einer Kugel oder einer Ellipse; ich weiß nicht so genau; ich bin nie auf den Gedanken gekommen, die Umrisse dieses Raums zu untersuchen. Ich träumte, dass ich aus tiefem Schlummer erwachte. Ich lag auf dem Fußboden, der weich war wie ein dicker Teppich. Ich fühlte mich behaglich, warm und zufrieden.
Neben den gezeigten Berührungen nackter Haut und den sprachlichen Referenzierungen taktiler Qualitäten und Empfindungen enthält die beschriebene Szene eine Fülle an auf ganz unterschiedlichen Ebenen angeordneten und interagierenden Mitteln der Adressierung tastsinnlicher Erfahrung: Die Überbelichtung und Ab- und Aufblenden zu bzw. aus Weiß evozieren das wärmende Licht einer Sonne, aber auch eines Filmprojektors, der die Häutchen der Filmbilder durchstrahlt. Das angesprochene Glitzern stellt eine intermittierende Reizung dar, deren leichtes visuelles Prasseln sich für uns in der tanzenden Körnung des Films, aber auch im White Noise der Tonspur auszudrücken scheint. Auf den notwendig intermittierenden Charakter von Berührungsempfinden wird auch durch die Wiederholungen angespielt, die die Szene auf der Soundebene durch den wiederkehrenden Ton des Instruments und durch Peters metrische Betonung, auf der Bildebene durch die schleifenhaft wiederholten Bewegungen der Körper bestimmen.
Ganz verschiedene technisch-ästhetische Mittel wie (Un-)Schärfe, Einstellungsgröße, Belichtung, Mise-en-scène, Kamerabewegung, Monolog, Ton, Körnung und Monochromie erzeugen hier einen Komplex der Sinnesvermischung, in dem die »Welten« der Sinnesbereiche leichter ineinander übersetzbar und durch einander ausdrückbar wirken (PhW 260ff.).3 Damit ist ein synästhetisches4 Potenzial von Film angesprochen, das in der Filmtheorie besonders in den letzten drei Jahrzehnten zu einem wachsenden Interessenfeld geworden ist, innerhalb dessen das Phänomen untersucht wird, dass Film über audiovisuelle Mittel auch Empfindungen in anderen Sinnesmodalitäten erzeugen kann. Die hier beschriebene Szene ruft ganz verschiedene Themen und Differenzierungen auf, die in diesem Feld eine Rolle spielen, etwa das Verhältnis von Denken, Sprechen und Fühlen, Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit, Sinnlichkeit und Erotik, Bild und Ton, Verbindung und Trennung, Sensibilität und Schmerz, Subjekt und Umraum, Innen und Außen, Umriss und Auflösung, Direktheit und Medialisierung. Von besonderem Interesse ist hier für mich allerdings zunächst Peters Rede von den augenbesetzten Fingerkuppen, denn diese metaphorisiert nicht nur eine mögliche Verschränkung gerade des Seh- und Tastsinns, sondern evoziert darüber hinaus eine ganz bestimmte Frage, die sich aus der Platzierung der Augen auf den Fingerspitzen ergibt und die eine – vielleicht sogar die wichtigste – Grundstruktur des filmtheoretischen Diskurses um filmische Tastsinnlichkeit anspricht.
Noch deutlicher drängt sich diese Frage in einer Sequenz des Films EL LABERINTO DEL FAUNO (PANS LABYRINTH, ES/MX 2006, Guillermo del Toro) auf, in der ebenfalls eine der menschlichen Physis widersprechende Integration des Sehorgans Auge und des Tastorgans Hand thematisiert und hier nicht nur sprachlich referenziert, sondern für die Zuschauer*innen auch visuell erfahrbar wird: In der zweiten von Pan (Doug Jones) gestellten Prüfung trifft die Protagonistin Ofelia (Ivana Baquero) auf den Pale Man, ein kinderfressendes Monster5, das seine Augen in den Handinnenflächen trägt. Nachdem der Pale Man die vor ihm auf dem Tisch liegenden Augäpfel blind ertastet, ergriffen und sich selbst in die Handflächen eingesetzt hat, was zusätzliche Aufmerksamkeit auf ihre merkwürdige Verortung zieht, verfolgt er Ofelia durch die Gänge und Gewölbe seiner Behausung (TC 01:00:44-01:01:55). Dabei hält er seine Hände zunächst mit den Handinnenflächen nach außen vor die Stirn gepresst, wie um sein Gesicht zu vervollständigen. Die Finger erinnern dort platziert an Wimpern und verstärken den Eindruck der Verschmelzung von Auge und Hand zu einem neuen Organ, das einerseits – überzeichnet und mutiert – Cronenberg’schen body horror auslöst (vgl. Papenburg 2011b), andererseits aber auch im Freud’schen Sinne »unheimlich« (Freud 1919) wirkt, da die Zusammenführung so zumindest teilweise vertraut erscheint; das Aufklappen der Hände mit den nach oben gerichteten Fingern erzeugt einen monströsen ›Augenaufschlag‹.
Nachdem der Pale Man mit schwerfälligen Schritten den Speisesaal verlassen hat und Ofelia in einen langen Kreuzgang gefolgt ist, hält er kurz inne und schleudert dann seinen rechten Arm nach vorn – eine Geste, die auf eigentümliche Weise zwei historische Beschreibungen der Eigenschaften visueller Wahrnehmung in eine konkrete Körperlichkeit übersetzt: Einerseits verweist sie auf das Sehen als Akt, der uns laut Herder »große Strecken weit aus uns hinaus[wirft]« (Ders. 1891[1772], 64) sowie laut Merleau-Ponty ein »Habhaftwerden auf Entfernung« (Ders. 1984[1960], 19; vgl. auch PhW 304f.) impliziert. Andererseits ruft die nach außen gedrehte, fast exakt vertikal gehaltene Handfläche den Eindruck einer Abwehrhaltung6 hervor, was an die Auffassung denken lässt, der Sehsinn als Fernsinn halte sich die Dinge vom Leib und die Welt auf Distanz,7 und erinnert so auch daran, wie fragil und kostbar diese Macht ist – hängt sie doch an einem Organ, das verletzlich und von Berührung immer potenziell bedroht ist, worauf etwa die umgangssprachliche Mahnung anspielt, etwas wie seinen Augapfel hüten zu müssen.8 Die Verfolgung fortsetzend rudert der Pale Man dann, offenbar nur mühsam das Gleichgewicht haltend, mit den Armen durch die Luft und tastet wiederholt ins Leere; er versucht gleichzeitig, seine Augen auf sein Ziel hin auszurichten, sich selbst im Raum zu orientieren, in der Bewegung zu stabilisieren und sein Opfer mit den Händen zu ergreifen.
Die Frage, die dieser vor allem mit sich selbst kämpfende Körper dem*der Betrachter*in noch viel zwingender aufdrängt als Peters Traumbeschreibung in AUS DEM LEBEN DER MARIONETTEN, ist diejenige nach den Möglichkeiten, Implikationen und Grenzen eines sehenden Greifens oder eines greifenden Sehens:9 Ab wann verunmöglicht es sich selbst? Je näher die Hände des Pale Man Ofelia kommen, je greifbarer ihr Körper für ihn wird, desto näher kommt ihr Körper auch seinen Augen, desto mehr muss sein Sehen also darin versagen, ihren Körper im Raum zu lokalisieren10 bzw. überhaupt noch etwas zu erkennen. Pale Mans monströser Körper und die sichtlich schwierige, doppelte Aufgabe des Greifens und des Sehens, die dieser seinen Händen aufzwingt, kann als visuelle Ausbuchstabierung eines Grundproblems verstanden werden, das sich – mal mehr, mal weniger stark reflektiert – durch den gesamten Diskurs um die Bedeutung des Tastsinns für die Filmwahrnehmung zieht: Ist ein greifendes, berührendes, tastendes Sehen notwendigerweise ein erschwertes, gestörtes, gehindertes Sehen? Muss der Blick vor dem zu nahe kommenden Objekt kapitulieren, bevor man davon sprechen kann, es mit »haptischen Bildern« oder einer »haptischen Visualität« (Marks 2000) zu tun zu haben? Sind haptische Bilder, mit anderen Worten, notwendig unlesbar, ihre Bildobjekte11 unidentifizierbar?
Damit sind wir bereits mitten im filmtheoretischen Ansatz Laura U. Marks’, für den ebenjene Überlegung zentral ist. Marks’ Dissertation The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses (2000) hat zu einer bemerkenswerten Popularisierung der Begriffe des haptic image und der haptic visuality in der Filmwissenschaft geführt.12 Saige Walton schreibt:
In recent years, topics relating to touch and the senses, to the body, affect, and the emotions have received a considerable amount of attention across the humanities. More specifically, the work of film and new media theorist Laura U. Marks has broken new conceptual ground in prompting scholars to consider how the proximate senses (touch, taste, smell) shape the aesthetics of inter-cultural cinema, art, and experimental film and media (Dies. 2016, 6).
Marks selbst bezeichnet ihr Konzept der haptic visuality als »[s]till my best known work«.13 Zweierlei fällt dabei auf:
Erstens scheint Marks’ Konzept des haptischen Bildes überwiegend unkritisch übernommen und angewendet zu werden. Versuche, den Begriff breiter zu nutzen, indem bei den Analysen etwa die bei Marks aus dem Haptischen ausgeklammerte Raumtiefe integriert wird (vgl. Pigott 2015[2013]; Walton 2016), das Konzept auf 3D-Film übertragen wird (vgl. Ross 2012) oder entgegen Marks’ Verständnis auch repräsentierende, verstehbare, narrativ einsetzbare Bilder als potenziell haptisch verstanden werden (vgl. Papenburg 2011a; Waddell 2012; Pisters 2014; Tarnay 2015; Trotter 2008; Walton 2016)14 gibt es zwar; eine grundlegende Kritik des Konzepts, seiner Basisannahmen und seiner Herleitung steht aber weiterhin aus. In den sich auf Marks beziehenden Arbeiten wird das Konzept des haptischen Bildes, sofern es überhaupt kritisiert15 und nicht nur auf bestimmte Filme angewendet wird, eher ›aufgestockt‹ als dahingehend geprüft, inwiefern sich Ansatzpunkte einer Überarbeitung bereits ganz grundlegend aus einer Prüfung der Entwicklung des Konzepts aus Riegls Schriften heraus ergeben können.
Zweitens erscheint erklärungsbedürftig, warum die Zusammenführung des Begriffs des Haptischen mit filmtheoretischen Überlegungen erst seit The Skin of the Film eine derartige Sichtbarkeit und Anwendungsbreite erfahren hat, zumal diese Verbindung sowie die Einführung des Begriffes des haptic(al) cinema schon früher durch Antonia Lant und Noël Burch geleistet worden sind.16 Marks’ Theorie scheint also einen bestimmten Nerv getroffen, ein bestimmtes Desiderat erfüllt zu haben; ihr Entwurf des haptischen Bildes löst offenbar etwas ein, das mit den früheren filmtheoretischen Formulierungen der Denkfigur des Haptischen noch nicht erfasst werden konnte. Die Beobachtung dieser Virulenz des Begriffs des haptischen Bildes in der Filmtheorie seit Marks, der eine sehr breite Anwendung in filmanalytischen Arbeiten unterschiedlichster Ausrichtungen erfährt, stellt dabei eine der Faszinationsquellen dar, aus denen sich die Motivation für die vorliegende Untersuchung speist. Die andere besteht in meiner Beobachtung der berührungslos teletaktilen ästhetischen Praktiken der sogenannten ASMR-Community17, deren audiovisuelle Produktionen nun seit mehreren Jahren immer sichtbarer die Populärkultur, die Werbung und in Ansätzen bereits auch die Filmproduktion beeinflussen, die aber mit der Theorie haptischer Visualität analytisch nicht einholbar sind und gerade deshalb wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung des Theoretisierens filmischer Tastsinnlichkeit liefern können. Der vorliegenden Arbeit voran steht deshalb eine Vorstellung der ASMR-Community, ihrer Videopraktiken und ihrer beginnenden Überschneidungen mit den Bereichen der Filmwissenschaft und Filmproduktion.
Bevor ich aber den Aufbau der vorliegenden Arbeit darlege, skizziere ich zu ihrer Situierung im Folgenden die theorie- und kulturgeschichtliche Situation, in der das Haptische als filmtheoretisches Denkmodell vor allem der angloamerikanischen und deutschen Filmwissenschaft überhaupt interessant zu werden beginnt. Daran anschließend werde ich über eine Problematisierung der Ungeschichtlichkeit des Tastsinns als kunst- und medientheoretisches Denkmodell zur Darlegung der Struktur der Arbeit fortschreiten und zuletzt meine Methodik näher erläutern.
Für das filmwissenschaftliche Interesse an einer Theorie haptischer Filmwahrnehmung stellt diskursgeschichtlich insbesondere das Milieu der »somatischen« Filmtheorien18, wie sie sich vor allem ab den 1990er Jahren entwickeln, einen fruchtbaren Nährboden dar. Diese wiederum entstehen einerseits maßgeblich aus einer Rezeption der europäischen Phänomenologie in den USA, speziell der Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys, vor allem durch Vivian Sobchack (1992). Andererseits geschieht dies vor dem breiteren Hintergrund eines generell erstarkenden Interesses für den menschlichen Körper, seine Materialität und sein Erleben von Umgebungsqualitäten (etwa der modernen Stadt und ihrer medialen Angebote) in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren, was als somatic turn, corporeal turn oder body turn bezeichnet worden ist.19 Daneben rücken der Tastsinn als ein Teilbereich dieses Erlebens sowie die Haut als (und am) Interface auch im Kontext der Verbreitung neuer Medientechnologien ins Zentrum der Betrachtungen – insbesondere durch die spätestens mit Tablets und Smartphones ubiquitär gewordenen Touchscreens. Diese stellen zwar einerseits eine vermeintlich unmittelbarere Verbindung zwischen Fingerspitze und virtuellen Objekten auf dem Screen her, die etwa mit Wischgesten nun ›direkter‹ manipuliert werden können; zugleich müssen sie den Tastsinn aber gerade durch die Glattheit und haptische Undifferenziertheit der Displays enttäuschen und bringen ihn so ex negativo wieder in den Fokus. Gleichzeitig – sowie als Reaktion darauf – proliferiert die Forschung zu und die Industrie um haptic technologies20, also Medientechnologien, die mithilfe von Vibrations-, Wärme- oder Bewegungsaktuatoren versuchen, virtuelle Objekte oder Erfahrungen so mit haptischem Feedback zu koppeln, dass sich ein physiologisch für die Rezipient*innen möglichst realistischer Interaktionseindruck ergibt.21 Zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Arbeit ist der Tastsinn außerdem aufgrund der Coronavirus-Pandemie vor allem im Kontext von Diskursen um Hygiene- und Abstandsregeln zur Ansteckungsprävention, um die Virtualisierung der Arbeit und um den Erhalt psychischer Gesundheit stark in den Fokus gerückt.
Dass sich dieses seit drei Jahrzehnten stetig wachsende, crossdisziplinäre Interesse am Tastsinn in der Filmtheorie niederschlägt, ist auch von einem filmtechnischen Standpunkt aus nicht erstaunlich. Denn in der Geschichte des Kinos waren und sind einerseits immer wieder – und verstärkt seit den 1960er Jahren in Reaktion auf die Konkurrenz des Fernsehens – Bemühungen um eine stärkere ganzkörperliche Einbeziehung der Zuschauer*innen unter Reizung auch der Nahsinne zu beobachten.22 Andererseits fällt auf, dass diese oft nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen oder das Ergebnis nicht mehr als Film aufgefasst wird. Die Frage danach, was mit dem Tastsinn (und den anderen Nahsinnen) im Kino geschieht, ist also nicht zuletzt eine medienontologische Frage danach, was einen Film eigentlich zu einem Film macht. Stützt die Tatsache, dass eine zusätzliche Adressierung der Nahsinne wie dem Geruchssinn bei Smell-O-Vision oder dem Tastsinn bei Percepto! die Immersion meist eher stört als verstärkt,23 nicht die Annahme, dass Filmerfahrung vor allem als psychisches Phänomen verstanden werden muss, bei dem der Körper möglichst vergessen werden sollte und bei dem ein Offenbar-Werden der eigenen Körperoberfläche24 die körperlich passivierten Zuschauer*innen aus dem traumähnlichen Zustand25 der Versunkenheit herausreißt? Gerade die Frage nach dem Tastsinn, der über das Medium der Haut die Grenze zwischen Individuum und Welt konstituiert und damit – wird er gereizt – die Zuschauer*innen doch eigentlich eher auf ihre aktuelle Verortung im Zuschauerraum und eben nicht im diegetischen Raum hinweisen müsste, liefert nun aber in den somatischen Filmtheorien die entscheidenden Argumente gegen ein Verständnis von Film als rein kognitivem Phänomen.26
Lässt sich kinohistorisch also ein Begehren nach einer technisch erreichten, multimodalen Filmerfahrung konstatieren, und lassen sich Versuche eines technischen Um- oder Ausbaus des Dispositivs Kino zum Zwecke der Herstellung einer solchen beobachten, bildet sich daneben filmtheoretisch ein Begehren nach einer Plausibilisierung und Reifizierung von Film als eigentlich immer schon multisensorisch aus. Hinweise auf dieses Verständnis von Film finden sich schon in frühen Arbeiten, etwa bei Siegfried Kracauer, der in neueren somatischen Filmtheorien und einschlägigen filmtheoriegeschichtlichen Übersichtsarbeiten immer wieder als wichtiger Vordenker dieses Themenkomplexes mit der Annahme zitiert wird, »that, unlike the other types of pictures, film images affect primarily the spectator’s senses, engaging him physiologically before he is in a position to respond intellectually« (Ders. 1960, 158).27 Spätestens mit den somatischen Theorien aber gewinnt die Frage nach der Multimodalität von Film eine besondere Dringlichkeit.28 Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich somatische Filmtheorien, wie Thomas Morsch in Medienästhetik des Films (2011) ausführlich darlegt, auch als Reaktion auf und Kritik an semiotisch-linguistischen, psychoanalytischen und neoformalistisch-kognitivistischen Filmtheorien verstehen, die sich auf Prozesse des Verstehens und Auslesens von Zeichen konzentrieren und dem Körper(-erleben) der Zuschauer*innen im Kino deshalb wenig Bedeutung beimessen. In Korrektur dieses Versäumnisses behandeln viele der sich ab den 1990er Jahren entwickelnden somatischen Filmtheorien das Körperliche als Gegenentwurf zum Kognitiven und versuchen insgesamt, sich von einer Sichtweise zu lösen, die ein Verstehen und eine Interpretation des Gesehenen als zentral für die Filmwirkung insgesamt setzt und damit meist mit einem Bias zugunsten eindeutig repräsentierender, klar lesbarer Filmbilder einhergeht; stattdessen werden nun bevorzugt experimentelle, nicht oder nicht sofort identifizierbare Bilder und ihre körperliche Wirkmacht beschrieben. Auf die Frage, welchen Stellenwert erstere, oft als klassisch-narrativ bezeichnete, ›leicht verständliche Filmbilder‹ nun aber noch in einer somatischen Perspektive haben können, lassen die Ansätze der in dieser Arbeit zu referierenden Filmwissenschaftler*innen (vgl. insbes. Kap. 2.3) zunächst durchaus unterschiedliche Antworten zu. Bei Marks führt die Beantwortung dieser Frage jedoch zu einem logischen Bruch innerhalb ihrer eigentlich filmphänomenologisch29 informierten Theorie. Hierdurch werden, so meine These, Potenziale der Beschreibbarkeit bestimmter somatischer Filmwirkungen, die von vorhergehenden Theoretiker*innen des Tastsinnlichen eröffnet worden sind, wieder verschüttet.
Das Konzept des Tastsinnlichen in der Kunst-, Medien- und Filmtheorie weist die Besonderheit auf, dass es zwar einerseits auf dem Tastsinn und den spezifischen Weisen der Welterfahrung aufbaut, die dieser dem Subjekt erlaubt, in diesen Texten andererseits der Tastsinn selbst, seine Dimensionen und seine subjekteffektiven Implikationen meist nicht mehr einer eigenen sinnesgeschichtlichen Problematisierung unterzogen werden, die die tatsächliche Fluidität und Historizität der Verständnisbemühungen um den Tastsinn und der Verhandlungen um dessen Definition mitbedenken würde. Eine sinnesgeschichtliche Perspektive auf den Tastsinn kann jedoch zeigen, dass dieser im Vergleich zu anderen (postulierten, diskursiv als eigenständig erzeugten) Sinnesmodalitäten eine Sonderstellung einnimmt, die nicht nur ahistorisch auf einer besonderen Komplexität der als am Tasten beteiligt angenommenen Rezeptoren und wahrnehmungsbiologisch-psychophysischen Vorgänge basiert. Vielmehr wird diese Position in den und durch die historischen Diskursivierungen produziert, die beständig gegen die Vagheit ihres Gegenstandes ankämpfen, die es einzuhegen gilt, die aber gleichzeitig den Tastsinn als dunklen Sinn, stummen Sinn, unkodierbaren Sinn, unrepräsentierbaren Sinn oder »Möglichkeitssinn« (Largier 2008, 45)30 auszeichnet – als eine Leerstelle, die fast beliebig, so scheint es, mit Konnotationen, Befürchtungen oder Utopien besetzt werden kann, die unterschiedlich (z. B. sexistisch oder rassistisch) motiviert sein und/oder produktiv werden können. Mit anderen Worten, die Unterdeterminiertheit des Tastsinns produziert beständig Überdeterminationen. Die Diskursivierungen sowohl des Tastsinns als Dimension menschlicher Weltwahrnehmung als auch des Haptischen oder, breiter gefasst, des Tastsinnlichen als medientheoretischer Figur sollen damit immer auch bestimmte Explikationsbegehren erfüllen – eine Tatsache, die ich mit der Rede vom Tastsinnlichen als Projektionsfläche umschreibe.
Einer Begriffsgeschichte des Tastsinnlichen als medientheoretischer Figur sollte deshalb eine sinnesgeschichtlich informierte Problematisierung des Tastsinns als deren Möglichkeitsbedingung voranstehen, die ich in Kapitel 2.2 vornehme. Einem Teilbereich dieser Diskursgeschichte des Tastsinns, nämlich dem, der in der Sinnesphysiologie und -psychologie verortet ist, widme ich dabei besondere Aufmerksamkeit und bearbeite ihn vorab: In Kapitel 2.1 referiere ich zunächst einige Gebrauchsweisen tastsinnlicher Vokabeln in aktuellen filmtheoretischen Texten, um daran anschließend die Uneinheitlichkeit der auf den Tastsinn bezogenen Begriffe in die Sinnesphysiologie und -psychologie zurückzuverfolgen und abschließend die Nutzung einer bestimmten zeitgenössischen Definition des Tastsinns vorzuschlagen, die durch den Haptikforscher Martin Grunwald vertreten wird und die sich für das, was ich im Verlauf der Untersuchung anhand einer revisionistischen Arbeit an bestehenden medien- und speziell filmtheoretischen Fassungen des Tastsinnlichen zu zeigen hoffe, besonders eignet. Grunwalds Ansatz macht dabei die Differenzierung in aktives haptisches Tasthandeln und passives taktiles Spüren stark und stellt damit eine Perspektive dar, aus der heraus die historischen Verhandlungen des Tastsinns vor allem hinsichtlich ihrer Hierarchisierungs- und Subjektivierungseffekte, die das Thema des Kapitels 2.2 bilden, besonders gut beleuchtet werden können.
Um zu verstehen, warum und wie genau das Tastsinnliche als eine produktive Denkfigur der Filmtheorie ab The Skin of the Film eine neue Richtung einschlagen kann, vollziehe ich in Kapitel 2.3 eine zunächst bis Marks reichende (notwendigerweise ausgewählte) Konzeptgeschichte des Tastsinnlichen in der Medien- und Filmtheorie nach, was zugleich eine erste Übersicht über das Forschungsfeld vermittelt. Es gilt hier, zuerst diejenigen kunst- und medientheoretischen Arbeiten zu referieren, die über den Zusammenhang von visueller und tastsinnlicher Wahrnehmung und dessen Bedeutung für das Erleben (audio-)visueller ästhetischer Objekte nachdenken und damit den Tastsinn als Bezugspunkt für die Filmtheorie zuallererst ermöglichen. Daran anschließend sind ebenjene filmtheoretischen Positionen nachzuzeichnen, die das Tastsinnliche (meist in den Begriffen des Taktilen oder des Haptischen eingeführt) argumentativ in Anschlag bringen, unter der Fragestellung, wie genau und mit welchem Ziel sie dies tun und welche spezifische Ausgestaltung ein Denken des Tastsinnlichen in seiner Beziehung zum und seiner Bedeutung für den Film dabei erhält. Zentral interessieren mich dabei die sich verändernden Denkweisen und Konzeptualisierungen der Verstrickung von visuellem und tastsinnlichem Welt-, Medien- und vor allem Filmerleben, und ich versuche, die Popularität des Marks’schen Ansatzes vor allem inhaltlich-argumentativ, von den Theorien her und aus ihren Relationen zueinander zu verstehen.
Um nun nachvollziehbar zu machen, welche Bedeutungsdimensionen und Beschreibungspotenziale des Tastsinnlichen als Denkfigur durch The Skin of the Film verschoben und teilweise verschüttet werden, nimmt Kapitel 3 eine grundlegende Problematisierung der Theorie der haptischen Visualität und des haptischen Bildes nach Marks vor (Kapitel 3.2), aufbauend auf einer Erläuterung der begrifflichen Herleitung aus den Arbeiten Alois Riegls (Kapitel 3.1). Ich werde zeigen, dass es bei Marks gleichzeitig zu einer Verengung, aber in anderer Hinsicht auch zu einer Erweiterung der Kategorie des Haptischen nach Riegl kommt, wodurch das haptische Bild insgesamt zu einem Konzept wird, das auf unterschiedlichste Bildästhetiken anwendbar erscheint. Diese operative Breite erreicht Marks allerdings unter Inkaufnahme einer intrinsischen konzeptionellen Ambivalenz, an der sich zeigen lässt, dass nicht nur dem Tastsinn selbst bestimmte Verheißungen inhärent zu sein scheinen, sondern dass auch die Theorie des haptischen Bildes zunächst mehr Beschreibungs- und Erklärungspotenzial verspricht, als sie tatsächlich einlösen kann. Aus dieser Problemlage31 und dem so entstehenden Desiderat ergibt sich auch ein Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, die sich zum Ziel setzt, die Konzeption haptischer Visualität und haptischer Bildlichkeit auf ihre bislang noch ungenutzten – bzw. in der Art, wie sie begrifflich verfasst und begründet ist, noch nicht nutzbaren – Potenziale hin auszuloten. Hierzu werden die Ergebnisse einer grundlegenden Revision des Konzepts des haptischen Bildes und seiner Herleitung einerseits mit anders gelagerten Theorien zur tastsinnlichen und multisensorischen Wirkmächtigkeit von Film, andererseits mit von User*innen tatsächlich als teletaktil beschriebenen ästhetischen Strategien von ASMR-Videos gegengelesen. Ziel ist die Entwicklung eines Vokabulars, mit dem tastsinnlich wirksame filmästhetische Elemente und Operationen in einer Weise benenn- und beschreibbar werden, die differenziert, welche Facetten des Tastsinns sie jeweils speziell adressieren und involvieren,32 in welche Wechselverhältnisse untereinander sie eintreten können und welche Bedeutung dies für die Konstruktion von Körpern, Objekten und Subjekten hat.33
Meine These ist, dass der Begriff des haptic image nach Marks als Sammelbegriff für filmästhetische Phänomenkomplexe benutzt wird, die mithilfe einer ›prismatischen‹, die Multidimensionalität des Tastsinns zunächst auffächernden Hinwendung in den meisten Fällen weiter ausdifferenziert werden können und Elemente erkennbar werden lassen, die je eigener Termini bedürfen. Bevor diese unterschiedlichen Facetten im Verlauf der Argumentation durch je eigene Begriffe differenziert werden, benutze ich bei Aussagen über diesen Phänomenkomplex als Ganzes den Begriff der filmischen Tastsinnlichkeit. Tastsinnlichkeit bezieht sich dabei im weitesten Sinne auf die Gesamtheit der möglichen tastsinnlichen Affizierungen34 durch Gegenstände der Wahrnehmung, auf die damit einhergehenden Anmutungen und Erlebnisqualitäten sowie auf die ästhetische Verfasstheit der Gegenstände, die den Eindruck der Adressierung des Tastsinns hervorrufen. Der Begriff der filmischen Tastsinnlichkeit erstreckt sich entsprechend ebenfalls sowohl über die Seite der technisch-ästhetischen Verfasstheit von Film als auch über die Seite des Rezeptionserlebnisses. Das filmisch Tastsinnliche ist mit anderen Worten ein ästhetisch-aisthetisches Konzept; filmische Tastsinnlichkeit ist weder nur in der ästhetischen Verfasstheit des Mediums noch nur in meiner konkreten Rezeption zu verorten, sondern verbindet beide Pole als ein Möglichkeitsfeld, auf dem sich tastsinnlich anmutende ästhetische Elemente und tastsinnliches Erleben in Feedbackschleifen gegenseitig bedingen und hervorbringen. Über eine solche rekursive Hervorbringung von Wahrnehmung in Verschränkung mit Phänomenen der Welt, die uns dazu anregen, eine bestimmte »Leibeseinstellung« (PhW 248) anzunehmen und dem sich entwickelnden Eindruck eine »Quasi-Gegenwart« (ebd.) zuzuschreiben, die dessen Entfaltung ermöglicht, schreibt Merleau-Ponty unter dem Stichwort der »Koexistenz oder Kommunion« (PhW 251) von Empfindung:
Empfindender und empfundenes Sinnliches sind nicht zwei äußerlich einander gegenüber stehende Terme, und die Empfindung nicht die Invasion des Sinnlichen in den Empfindenden. Die Farbe lehnt sich an meinen Blick, die Form des Gegenstandes an die Bewegung meiner Hand, oder vielmehr mein Blick paart sich mit der Farbe, meine Hand mit dem Harten und Weichen (ebd.).
Letztlich handelt es sich bei einem solchen Verständnis filmischer Tastsinnlichkeit um die leibliche Synchronisation mit einer als möglich wahrgenommenen sinnlichen Erfahrung. Die bislang bestehenden einschlägigen filmtheoretischen Ansätze verwenden ihre Begriffe zur Referenzierung des Tastsinnlichen zumeist ebenfalls in sehr umfassendem Sinn und verbleiben dann auch auf dieser Ebene; »taktil« oder »haptisch« als Adjektive kennzeichnen dort eine Bezogenheit auf den Tastsinn grosso modo, der die intramodalen Facettierungen des Tastsinnlichen ausblendet.35 Dies liegt nicht zuletzt an der geistigen Geburtshilfe, die die somatischen Filmtheorien der 1990er Jahre für eine filmtheoretische Thematisierung des Tastsinns leisteten, welche wie oben bereits angerissen insgesamt als Gegenthese zu semiotisch, psychoanalytisch und kognitivistisch ausgerichteten Filmtheorien angelegt waren. Diese Herkunft befördert die Tendenz, praktisch die Haut an die Stelle des Körpers zu setzen und ihr dessen Versprechen des A-Semantischen zu übertragen, das nun von dort aus gegen eine vermeintliche Geistes- und Bedeutungszentriertheit des Auges ins Feld geführt werden kann. Mit anderen Worten, die intermodale Beziehung zwischen dem Tastsinn und dem Sehsinn bzw. dem Haptischen und dem Optischen ist in den meisten der bisherigen filmtheoretischen Verhandlungen von zentraler Bedeutung, was den Blick auf eine differenzierte Untersuchung des Tastsinns in sich allerdings verstellt. In Marks’ Konzeption der haptischen Visualität ist diese Tendenz besonders ausgeprägt, da es auch ihr um eine politische Kritik am Sehen und insbesondere an majoritären ästhetischen Strategien der Sichtbarmachung geht, die sie in klassisch repräsentierenden, in ihrer Bezeichnungspraxis »optischen« Filmbildern gegeben sieht. Da dies allerdings bereits eine spezifische Sicht auf das Sehen ist, die ›klassische‹ Filmbilder vereindeutigt und dabei ihre eigene Geschichtlichkeit und diskursive Produziertheit ausklammert, nimmt Kapitel 3.3 eine Problematisierung dieser Zuschreibung vermeintlich fixer Rezeptionseffekte an »optische Bilder« vor. Die Gegenüberstellung von Sehen und Tasten basiert auf schematisierenden Vereindeutigungen beider Modi der Welterfahrung, die beide von einer Reflexion ihrer Konstruiertheit profitieren, um daran anschließend differenziertere Beschreibungen sinnlichen Filmerlebens zu ermöglichen. Diese dekonstruktive Reproblematisierung nehme ich also zunächst von der Seite des Tastsinns, dann von der Seite des Sehsinns ausgehend vor.
Daran anschließend plädiere ich in Kapitel 4, das insgesamt den Übergang von einer kritisch-diskursgeschichtlichen zu einer kreativ-filmtheoretischen Arbeit leistet, zunächst für eine Aufgabe des Schemas ›Optik-versus-Haptik‹ zugunsten eines Schemas des Hapto–Taktilen (4.1). Erste Impulse für eine filmanalytische Fruchtbarmachung der Unterscheidung passiver Taktilität und aktiver Haptik hat Olga Moskatova in einem Artikel (2019) aufgezeigt, den ich dort referiere und weiterführe. Die Wichtigkeit der filmanalytischen Beachtung passiv-taktilen Fühlens und die Wechselwirkungen, in denen Operationen einer haptischen Greifbarmachung mit Operationen einer taktilen Fühlbarmachung stehen können, arbeite ich daran anschließend an den aktuellen ästhetischen Praktiken der ASMR-Community heraus, die neue Erlebbarkeiten audiovisueller Tastsinnlichkeit erzeugen und popularisierenund die ich in verschiedene Strategien der Vertastsinnlichung ordne (Kapitel 4.2). Die Beschreibung dieser Strategien und der resultierenden Ästhetiken dient dazu, die aus der konzeptuellen Diskursgeschichte in Kapitel 2.3 und der Revision von Riegl und Marks in Kapitel 3 gewonnenen Denkbarkeiten und Begrifflichkeiten filmischer Tastsinnlichkeit gegenzuprüfen und zu erweitern. Kapitel 4.3 bezieht die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse noch einmal auf Marks’ Ansatz zurück und nutzt sie, um eine Ambivalenz in Marks’ Beschreibungen haptischer Visualität über den Einbezug der zeitlichen Struktur des Rezeptionserlebnisses aufzulösen, um auch daraus genauere Begriffe zu gewinnen.
Auf Basis dieser Vorarbeiten leistet dann Kapitel 4.4 unter Wiederstarkmachung des phänomenologischen Begriffs der Intentionalität sowie der Sensibilität für Figur/Grund-Oszillationen und für Fragen von Fokus und Latenz die Formulierung eines filmtheoretischen Modells von Film als einem beständigen Prozess hapto–taktiler Emergenzen (Kapitel 4.4.1). Darunter verstehe ich die filmische Produktion von Körpern, die innerhalb eines ästhetisch-aisthetischen Feedbackgeschehens in eher objektivierender Weise als haptisch tastbar oder taktil fühlbar bzw. in eher subjektivierender Weise als haptisch tastend oder taktil fühlend produziert werden und die die möglichen Modi filmischer Tastsinnlichkeit bestimmen. Diese ordne ich über die Unterscheidung von drei Ebenen des Gesamtphänomens Film und vier möglichen verkörperten Bezügen auf filmische Körper in einer Tabelle (s. Anhang), deren Beschreibung und Veranschaulichung den Inhalt des Kapitels 4.4.2 bilden. Auf die Übersicht möglicher Modi filmischer Tastsinnlichkeit und ihre Beschreibung folgt eine Betrachtung ihres Erzeugungsprozesses als immer auch gestisches Geschehen, das mit Thomas Fuchs und Daniel Stern entlang der Konzepte der affektiven Valenz, der Stimmung und des Vitalitätsaffekts als Gefüge emotional bedeutungsgenerierender Berührungsstile fassbar wird (Kapitel 4.4.3). Das Ende des Hauptteils dieser Arbeit bildet eine hapto–taktile Filmanalyse der Filmbiografie LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON (SCHMETTERLING UND TAUCHERGLOCKE, FR/USA 2007, Julian Schnabel), in der ich die vorgeschlagenen Begriffe zur Beschreibung der verschiedenen Modi filmischer Tastsinnlichkeit, soweit sie durch den Film produziert werden, nutze, um den analytischen Mehrwert einer solcherart hapto–taktilen Analyse gegenüber rein nach dem Begriff des haptischen Bildes verfahrenden Analysen zu verdeutlichen (Kapitel 4.5). Die Schlussbetrachtungen (Kapitel 5) werden ein kurzes Resümee ziehen und über weitere Forschungsdesiderate nachdenken.
Mein methodisches Vorgehen in dieser Arbeit umfasst Theoriearbeit im Sinne einer Zusammenschau bestehender kunst-, medien- und filmtheoretischer Ansätze und eines Gegenlesens der Theorie haptischer Visualität mit diesen, eigene filmtheoretische Begriffsentwicklung, filmanalytische Beobachtungen und phänomenologische Beschreibungen des Filmerlebens. Letztere stützen sich im Wesentlichen auf mein eigenes Erleben sowie auf Erfahrungsberichte, die ich Social-Media-Plattformen und online akquirierten Umfrageergebnissen entnehme.36 Ich folge dabei der filmphänomenologischen Haltung, dass die Darstellung des eigenen Rezeptionserlebens ein fruchtbarer Teil wissenschaftlichen Arbeitens ist.37 Während es Sobchack dabei darum geht, entgegen der Dennett’schen Rede von der »lone wolf-autophenomenology« (Dennett 2003, 23) zu betonen, dass zumindest Teile des ganz persönlichen Erlebens von Film immer auch eine intersubjektive Gültigkeit für menschliches Filmerleben insgesamt beanspruchen können,38 begreife ich diesen Zugang vor allem als Praxis der medialen (verschriftlichenden) Expression subjektiver Erfahrung(en) zur Herstellung intersubjektiver Kommunizier- und Vergleichbarkeit. Diese geschieht im Wissen darum, dass mein Filmerleben immer situiert und meine Perspektive notwendigerweise partial (vgl. Haraway 1995[1988]) ist, sich aus meiner spezifischen kulturellen, sozialen, historischen, vergeschlechtlichten, politischen und individuell verkörperten Situierung ergibt und immer in einer momentanen Rezeptionssituation stattfindet. Letztere wird u. a. von dem genutzten technischen Arrangement, der Umgebungsatmosphäre sowie von meinen Seh- und Hörgewohnheiten und -motivationen beeinflusst. Filmerleben ist also variabel und ändert sich auch tatsächlich, insbesondere auch durch theoretische Reflexionen.
Speziell audiovisuell erzeugte Tastsinnlichkeit stellt dabei ein Untersuchungsfeld dar, das diese Variabilität des Erlebens besonders anschaulich zeigen kann, und zwar nicht nur entlang der Theoriegeschichte, wo im diachronen Vergleich für vergleichbare Filmbilder völlig unterschiedliche Rezeptionswirkungen durch unterschiedliche Theorieschulen postuliert wurden und werden, sondern auch anhand eines Blicks auf aktuelle Produktions- und Nutzungsstrategien teletaktiler Videos und Filme. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass das Wahrnehmen und Erleben von, Erinnern an und Nachdenken über audiovisuelle(n) Reize(n) von ebenso unzähligen Faktoren abhängig ist wie die Individualität von Subjekten selbst; neben Einflussgrößen wie race, class, gender, dis/ability und Neurodivergenz (und den durch diese geprägten Biografien) können sich etwa auch vorübergehende affektive oder emotionale Zustände auf die konkreten Aktualisierungen des Welterlebens und -verarbeitens auswirken.
Zur Verortetheit meiner eigenen Wahrnehmung ist anzumerken, dass ich eine weiße39, in bürgerlichen Verhältnissen im Ruhrgebiet aufgewachsene, cis-weibliche, lebenslang halbseitig taube Autistin bin, die sowohl generelle Geräuschempfindlichkeit, Misophonien40 wie auch ASMR erlebt. Mein Erleben meiner eigenen Wahrnehmung resoniert in großen Teilen mit dem, was in wahrnehmungspsychologischer und erziehungswissenschaftlicher Fachliteratur zum autistischen Formenkreis hinsichtlich des local bias oft beschrieben wird (vgl. Müller 2009; Happé/Frith 2006; Robertson/Baron-Cohen 2017), insofern als ich Anschauungen eher als Konfrontation mit einem Gemisch aus einer Vielzahl von Reizen erlebe und spontan eher einzelne, lokale Details bemerke als die Gesamtgestalt der Szene. Die mich affizierenden Details müssen dabei nicht notwendigerweise irgendeine Relevanz für instrumentelles, inhaltlich-semantisches und/oder soziales Verstehen der Situation haben; vielmehr wird meine Aufmerksamkeit spontan eher von materiellen Eigenschaften wie Texturen und Farben geleitet. Dies ist als Wahrnehmungsneigung, nicht -notwendigkeit zu verstehen, die konzentrationsabhängig steuerbar ist. Von gesehenen Filmen erinnere ich Farben, Farbtemperaturen und Raumeindrücke meist genauer als die Story betreffende Informationen; Umgebungsqualitäten und Materialitäten affizieren mich oft stärker als Gesichter und ihr Ausdruck. Zu dieser Neigung (und vermutlich teilweise mit ihr zusammenhängend) kommt eine Schwierigkeit beim Filtern von semantisch relevanten Eindrücken, insofern als ich bei einer Vielzahl von sensorischen Reizen, etwa auf einer Veranstaltung mit Hintergrundmusik und Gesprächen mehrerer Personen, größere Anstrengung aufbringen muss, um einzelne sinnvolle Gestalten wie etwa die Sätze einer einzelnen Person herauszufiltern, was auch als selektives Hören oder Cocktailparty-Effekt bezeichnet wird. Probleme des Filterns sensorischer Reize betreffen viele Autist*innen; in meinem Fall trägt hierzu auch meine halbseitige Taubheit bei, die mir räumliches Hören durch den Wegfall interauraler Laufzeitdifferenzen erschwert. Meine eingeschränkte akustische Raumwahrnehmung funktioniert vor allem über monaurale Intensitätsunterscheidungen auf Basis von Pegeldifferenzen und konzentriert mich deswegen auch stark auf Nähe-Distanz-Schwankungen tönender Objekte und Körper. Wann immer ich in dieser Arbeit also über Raumklang schreibe, steht dahinter ein in dieser Art sensorisch eingeschränkter Zugang, den ich dadurch ausgleiche, mit nicht-behinderten Kolleg*innen und Bekannten über ihre Wahrnehmung des jeweiligen Medienproduktes, über das ich schreibe, ausführlich zu sprechen.41 Ich begreife meine Arbeitsweise als eine vergleichende Lektüre filmtheoretischer Reflexionen von letztlich immer individuellem, wenn auch überformtem Filmerleben42 sowie als eine Positionierung meines eigenen Erlebens zu diesen und als eine Suche nach filmanalytischen Begriffen, die jene Anteile meines individuellen Erlebens – aber auch desjenigen ASMR-sensitiver Personen, die sich über ihr Erleben online umfassend und detailliert austauschen – bezeichnen können, die von den bestehenden Begriffen noch nicht abgebildet werden. Ziel ist es, das bestehende Archiv beschriebener Filmwirkungen und Wirkmöglichkeiten zu ergänzen und zum Möglichwerden neuer Sichtweisen auf Filmerleben beizutragen, die wie alle filmtheoretischen und filmanalytischen Arbeiten die Erlebbarkeit, Beschreibbarkeit und Denkbarkeit von Film erweitern.
Ebenfalls folge ich Sobchack darin, dass zur filmphänomenologischen Beschreibung von Film und Filmwirkungen die technisch-ästhetische Untersuchung vor allem als ästhetische Untersuchung des gegenwärtigen, sicht- und erlebbaren Phänomens veranschlagt werden muss (vgl. AE 169ff.). Für eine hinreichende43 Untersuchung ist nach Sobchack die Frage, wie ein Film aussieht und klingt, wichtiger als die, wie er gemacht ist44 – auch wenn das technische Wissen etwa um die Beschaffenheit des Filmmaterials, die genutzten Kameras und Objektive, die Lage des Filmsets, die Physik der Requisiten oder die Herstellung bestimmter Effekte in der Postproduktion die Erwartungshaltung gegenüber dem Phänomen Film und das konkrete Erleben desselben natürlich beeinflussen und verändern kann.45 Sobchacks Hinweis gewinnt sicherlich neue Stichhaltigkeit eingedenk der heutigen technischen Möglichkeiten digitaler Filmkameras und digitaler Postproduktion, die vormals genuin analogfilmische Qualia wie das sichtbare Filmkorn oder die Spuren von Filmalterung täuschend echt nachstellen können.46 Allerdings führt die Verbreitung mobiler Technologien und die Verfügbarkeit und Rezipierbarkeit von Filmen auf Smartphones, Tablets und Laptops zu einer Multiplizierung der möglichen Rezeptionsräume, -situationen, -atmosphären und -praktiken. Speziell die Nutzung von Kopfhörern stellt hier eine wichtige Einflussgröße auf die Tastsinnlichkeit audiovisueller Medienprodukte dar. Für beide Punkte, also für das Nachdenken über die Variabilität der Erlebbarkeit audiovisueller Tastsinnlichkeit aufgrund von Thematisierung und Theoretisierung sowie für die Reflexion der Rolle von sich ändernden Produktions- und Abspieltechnologien, Formaten und Rezeptionsumgebungen, stellt die ASMR-Community einen besonders interessanten Bezugspunkt und Untersuchungsgegenstand dar.
Parallel zum zunehmenden Interesse am Tastsinn in der Filmtheorie ist in der Medienpraxis vor allem privater Akteur*innen seit gut einem Jahrzehnt das Anwachsen einer Online-Community zu beobachten, für deren Mitglieder die berührungslose Erzeugung taktiler Sensationen durch rein audiovisuelle Reize vollkommen selbstverständlich ist und die zu diesem Zweck spezielle ›Trigger-Videos‹ produzieren und teilen: Die Mitglieder der »ASMR-Community« fühlen sich aufgrund ihrer Fähigkeit verbunden, auf bestimmte akustische, visuelle und audiovisuelle Reize mit einer körperlichen Empfindung zu reagieren, die sie als »ASMR«, ausgeschrieben »Autonomous Sensory Meridian Response«, bezeichnen. Dieser Begriff, Anfang 2010 von der US-Amerikanerin Jennifer Allen erfunden und über die Einrichtung einer gleichnamigen Facebook-Gruppe popularisiert, ging dabei aus einer Reihe von online bereits kursierenden Bezeichnungen für diese Empfindung hervor, etwa »Weird Head Sensation (WHS)«, »Attention Induced Head Orgasm (AIHO)«, »Attention Induced Euphoria (AIE), »Attention-Induced Observant Euphoria (AIOEU)«, »The Unnamed Feeling (UNF)«, »braingasm« oder »eargasm«.
All diese Begriffe umkreisen dabei eine taktile Sensation, die sich bei dafür empfänglichen Personen als Reaktion auf bestimmte äußere Reize47 einstellen kann und die sich vor allem als Kribbeln der Haut äußert, manchmal verbunden mit einem angenehmen Druck- und Wärmegefühl, welches meist am Ober- oder Hinterkopf beginnt und sich dann über den gesamten Rücken und die Arme, manchmal auch über den ganzen Körper ausbreiten kann. Diese taktile Sensation, von experiencern48 als »Tingles« bezeichnet, kann eine extrem tiefe Entspannung bis hin zu einem tranceähnlichen Zustand auslösen und ist oft von Glücksgefühlen begleitet, die durch die gleichzeitige Entspannung als eine Art euphorisches Wohlbehagen erscheinen, welches etwa als »lovely, mellow druggy high« (Shropshall 2012, o. S.) oder als »blissed-out meditative state« (Cheadle 2012, o. S.) beschrieben wird.
Nachdem bereits ab Ende der 1990er Jahre auf Question&Answer-Websites vereinzelt Chats über »head tingles« aufgetaucht waren, stieg die Zahl der Personen, die diese Empfindung online diskutierten, insbesondere ab 2007 exponentiell an, nachdem im amerikanischen Gesundheitsforum Steady Health dazu ein Thread eröffnet wurde. Es entwickelte sich im Folgenden, gestützt durch Social-Media-Angebote wie etwa die Gruppenfunktionen von Yahoo, Facebook und Reddit, durch Blogs, Wikis und vor allem Media-Sharing-Plattformen – speziell YouTube –, eine Community, die zunächst »unintentional ASMR-videos« in YouTube-Playlists sammelte. Dabei handelte es sich um Videos wie etwa Ausschnitte aus Fernsehserien oder Home-Shopping-Sendungen, die sich aufgrund bestimmter akustischer oder visueller Elemente, die sie enthielten, zufällig dazu eigneten, ASMR auszulösen. Hierbei traf die sich entwickelnde ASMR-Community Ende 2010 auf eine bereits bestehende »Whisper-Community«, die ebenfalls auf YouTube aktiv war. Deren Mitglieder produzierten selbst Flüster-Videos mit dem Ziel, bei ihren Abonnent*innen ebenjene »Tingles« auszulösen. Seit Anfang 2011 begannen auch Mitglieder der ASMR-Community, selbst ASMR-Videos zu produzieren, wobei verschiedene Vorgehensweisen differenzierbar sind, die den Videos jeweils eher faktualen oder eher fiktionalen Charakter verleihen und deren Bezeichnungen innerhalb des Diskurses der Community schnell die Funktion von Genrebezeichnungen annahmen.
Eine gängige Strategie ist etwa, dass Szenarien aus »unintentional ASMR-videos« von den Videomacher*innen (in der Community als ASMRtists bezeichnet) nachgespielt werden. Diese werden dann dezidiert mit ASMR-Triggern angereichert. So entstehen etwa »ASMR-Tutorials«, in denen absichtlich leise gesprochen, mit Papier geraschelt oder Gegenstände mit den Fingernägeln beklopft werden. Eine andere Strategie besteht darin, Videos zu produzieren, in denen ohne narrative Rahmung einfach verschiedene Gegenstände vorgeführt werden, an und mit denen Geräusche produziert werden; diese werden üblicherweise »Sounds-Videos« genannt. Auch für visuelle Trigger gibt es solche ›reinen‹ Trigger-Videos, in denen zum Beispiel rhythmische Handbewegungen vorgeführt werden oder mit einer mobilen Lichtquelle wiederholt in die Kamera geleuchtet wird; meist werden diese zusätzlich mit »ASMR sounds« unterlegt. Außerdem werden Situationen aus dem Alltag, in denen ASMR auftreten kann, etwa ärztliche Untersuchungen oder Schönheitsbehandlungen, als Rollenspiele nachgestellt. In den resultierenden »ASMR Role Play Videos« behandelt der*die ASMRtist*in in der Rolle etwa als Masseur*in oder Friseur*in den*die Zuschauer*in als vermeintlich vor Ort anwesende*n Patient*in oder Kund*in; diese*r wird durch die Kamera vertreten, an der Untersuchungs-, Behandlungs- oder Verschönerungsmaßnahmen durchgeführt werden.
Werden ASMR-Videos in Medienberichten thematisiert, was zunächst hauptsächlich im englischsprachigen Raum geschah,49 nach ersten Radioberichten vor allem auf DRadio ab etwa Mitte 2013 aber auch zunehmend auf den deutschsprachigen Raum übergriff,50 sind es besonders diese Rollenspiele und ihre Ausstellung eines hohen Grades an vermeintlicher Intimität zwischen Videomacher*in und Zuschauer*in, die als ›generische‹ ASMR-Videos in den Blick genommen und kommentiert werden, da hier ein »blurring [of] traditional notions of intimacy«51 vermutet wird (Blaine 2014), das von ›ASMR-unerfahrenen‹ Rezipient*innen nicht selten als (sexuell) aufdringlich oder sozial verstörend interpretiert wird. Das Bemühen um eine Suggestion von Nähe, Intimität, Kopräsenz von Zuschauer*in und ASMRtist*in und Berührung des*der Zuschauer*in durch diese*n, das den Eindruck einer solchen Grenzverwischung befördert, findet dabei seinen technisch-ästhetischen Ausdruck im Einsatz bestimmter audiovisueller Mittel, die in ASMR-Videos umfassend in den Dienst teletaktilen Handelns gestellt werden: »Every aspect of ASMR shooting and framing is designed to increase the sense of intimate contact with the performer« (Jaramillo 2018, o. S.).
Für das hier verfolgte Projekt der theoretischen Auslotung filmischer Tastsinnlichkeit sind das Auftauchen des Diskurses um ASMR und das Entstehen sowie die spezifische Gestaltung dieser Trigger-Videos hochinteressant, da sich hier eine durch rein audiovisuelle Medien teletaktil herbeigeführte Hautsensation an Menschengruppen von beachtlichen Größenordnungen erforschen lässt – allein der ASMR-Subreddit hat zusammen mit den verwandten Subreddits52 mehrere hunderttausend Abonnent*innen; die populärsten ASMRtists haben teilweise Millionen Follower.53 Zusätzlich wird die Wirksamkeit von Triggern und somit die gewünschte technisch-ästhetische Ausgestaltung der Videos in der Community beständig thematisiert. Die Problematisierung54 von ASMR ist als medialer Effekt der genutzten Kommunikationsräume zu verstehen, die es ermöglichen, sich über große Distanzen und verschiedene (Sinnes-)Kulturräume hinweg, instantan, aber auch speicherbar, verschlagwortbar und durchsuchbar sowie wenn gewünscht anonym über persönliche und vormals oft als völlig idiosynkratisch angesehene körperliche Sensationen auszutauschen55 und dabei eben auch Medienprodukte zu teilen, ihr taktiles Affizierungspotenzial zu vergleichen und zu diskutieren. Dabei stellen diese Kommunikationsräume nicht nur die Substrate des Diskurses, sondern auch dessen Archive dar, die Einblick in die Arten und Weisen gewähren, wie genau Rezipient*innen von audiovisuellen Medienprodukten taktil affiziert werden können.
Dass sich diese nicht nur auf Videos beschränken, sondern auch für Filme postuliert werden können, zeigt sich daran, dass bereits von einem frühen Stadium der Thematisierung von ASMR an immer wieder auch bestimmte Spielfilme, sowohl aus dem Independent- und Arthousebereich als auch aus dem Mainstream-Kino, als »ASMR movies« bezeichnet und taktil wirkende Filmszenen als »unintentional ASMR scenes« referenziert wurden, etwa eine Szene aus SEVEN YEARS IN TIBET (SIEBEN JAHREIN TIBET, USA 1997, Jean-Jacques Annaud), in der der Protagonist Heinrich Harrer (Brad Pitt) für die Maßanfertigung eines Anzugs vermessen wird (ab TC 01:01:40). LE FABULEAUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN (DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE, FR/D 2001, Jean-Pierre Jeunet) wird insgesamt als »ASMR showcase« (Wilson 2013, o. S.) beschrieben, da der Film für die (vor allem taktil-akustischen) »petits plaisirs« (ebd.) seiner Figuren Raum lässt, die etwa genießerisch die Hand tief in einen Getreidesack stecken oder verzückt mit Luftpolsterfolie knistern, ebenso wie HISO HISO BOSHI (THE WHISPERING STAR, JP 2015, Sion Sono) aufgrund seiner »ASMR-inducing delights that a lone android (but probably us too, more than we’d like to admit) would logically love – the subtle sounds of drips, clicks, steps, sweeps, brewing tea, and shuffling packages«.56 DISCREET (USA 2017, Travis Mathews) referenziert ASMR nicht nur inhaltlich in Form seines Protagonisten, der eine Vorliebe für ASMR-Videos hat, sondern ist durch lange Einstellungen ohne Musik, die sich auf die Präsenz der Umgebungsgeräusche zu konzentrieren scheinen, auch ästhetisch »hypnotic and insinuating as an ASMR video« (Skelton 2017, o. S.). Peter Stricklands absurder Horrorthriller IN FABRIC (DAS BLUTROTE KLEID, GB 2018) ist ausdrücklich von ASMR-Videos inspiriert (vgl. Pahle 2019, o. S.); sein Kurzfilm COLD MERIDIAN (HU/GB 2020) verwebt den ruhigen Rausch der »ASMR Hairwashing Videos« seiner Protagonistin mit dem bedrohlich-ekstatischen Rausch einer Tanzperformance. Die Liste erscheint endlos – Mitglieder der ASMR-Community erstellen immer wieder Zusammenschnitte ASMR-induzierender Sequenzen aus Kino- oder Kurzfilmen und teilen diese auf YouTube.57
Es geht hier nicht nur darum, ASMR als lange unbekannten, weil unbenannten Rezeptionseffekt filmtheoretisch zu thematisieren.58 Zentral ist ebenfalls die Tatsache, dass der Diskurs um ASMR und die entstehenden Medienproduktions- und Mediennutzungspraktiken der Community-Mitglieder davon zeugen, dass sich die Wahrnehmung von Filmen und das Nachdenken über sie vor dem Hintergrund einer Nutzung von ASMR-induzierenden Medien als Selbsttechnologie tatsächlich ändert. Darüber hinaus ist durch die Untersuchung der Nutzungspraktiken in der Community und ihrer Diskursivierung feststellbar, dass sich nicht nur der Bezug der ASMR-experiencer zu realweltlichen sowie mediatisierten Umgebungen ändert,59 sondern dass auch die Empfänglichkeit für Reize und die Wirksamkeit der Videos bestimmten Gewöhnungs- und Lernprozessen und damit Veränderungen unterliegen: So können einige Trigger bei exzessivem Konsum der entsprechenden Videos vorübergehend ihre Wirksamkeit verlieren. Ebenso gibt es aber Berichte darüber, dass erlernt werde, bestimmte akustische und visuelle Reize als taktil zu empfinden – etwa, wenn Rezipient*innen zunächst die Irritation überwinden müssen, die die suggerierte Nähe von ASMR-Role-Play-Videos vielleicht anfangs verursacht.60 Eine Gewöhnung an die Tatsache, dass diese Nähe als Genrekonvention dieses spezifischen ASMR-Videotypus innerhalb der Community als normal angesehen wird, kann dann ein Einlassen auf die Videos und ein Möglichwerden der taktilen Affizierung bedingen. Es handelt sich hier also generell um die Ausbildung und beständige Transformation einer spezifischen medial gestützten teletaktilen Sinneskultur.
Die bislang veröffentlichten Untersuchungen (vgl. Fußnote 58) äußern lediglich Vermutungen über die Ursachen einer Sensibilität für ASMR – etwa eine stärkere Ausschüttung des ›Bindungshormons‹ Oxytocin oder eine Verbindung zu bestehenden Synästhesien. Die tatsächliche gesamtgesellschaftliche Verbreitung ist dabei weiterhin unklar.61 Insgesamt legen aber die Tatsache, dass bestimmte Filme als ASMR-wirksam beschrieben werden, sowie zahlreiche Berichte von Rezipient*innen, die zwar kein tatsächliches Hautgefühl spüren, aber nach eigenen Angaben nachvollziehbar finden, warum diese Videos taktil wirken, die These nahe, dass sich im Erleben von ASMR eine Form des taktilen Affizierungspotenzials des Audiovisuellen realisiert, die damit auch für Film gegeben ist. Film und Video werden mit anderen Worten immer ganzkörperlich wahrgenommen, wobei offenbar bestimmte ästhetische Strategien und Elemente jeweils eine besondere Wirkmächtigkeit hinsichtlich der Affizierung spezifischer Facetten des Tastsinnlichen haben. Die online berichteten Rezeptionserlebnisse bei ASMR-Videos reichen vom vagen Eindruck einer Ansprache der Haut bis hin zu einer tatsächlichen taktilen Sensation. Das tastsinnliche Affizierungspotenzial audiovisueller Medien ist also von der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Wirkung her zu denken: So kann ein Film oder ein Video auch taktil wirken, im Sinne von anmuten, ohne buchstäblich taktil zu wirken, also ohne tatsächlich eine Hautsensation hervorzurufen. Diese Ambivalenz durchzieht auch die kunst-, medien- und filmtheoretischen Arbeiten, die das Tastsinnliche umkreisen und die sich dabei oft nicht ganz sicher zu sein scheinen, ob es eher auf der Seite eines metaphorisch operierenden Denkmodells zu verorten ist oder eine tatsächliche filmische Wirkmächtigkeit mit konkreten tastsinnlichen Rezeptionseffekten beschreibt – und wenn Letzteres, wie nah sich eine Berührung durch Film an der Erlebnisqualität echter zwischenkörperlicher Berührung bewegt.62
Die Beobachtungen, die an der ASMR-Community angestellt werden können, verweisen darauf, dass mit der Diskursivierung des Phänomens ASMR etwas reifiziert wird, dessen Bestimmung dennoch immer nur vorläufig ist, da es einen Erlebniskomplex umkreist, der von psychophysischen, diskursiven und dispositiven Elementen zugleich produziert wird, die beständig transformierend aufeinander einwirken. Beobachtbar sind Bemühungen der Community-Bildung auf Basis einer Definition von ASMR, die immer auch eine Abgrenzungsfunktion zu anderen Communities hat und die abhängig von den technischen Bedingungen und Affordanzen der genutzten Diskussionsplattformen stattfindet, welche strukturieren, was ausgesagt, aber auch was gezeigt und geteilt werden kann. Es entsteht ein heterogenes Wirkgeflecht, bei dessen Material-, Bedeutungs- und Erlebnisproduktion beständig Feedbackprozesse beteiligt sind:63 Der Versuch der gezielten Produktion des als ASMR benannten Gefühls durch ASMR-Videos führt zu Genrebildungsprozessen, die sodann gewisse Erwartungshaltungen produzieren, welche die Rezeption mitbestimmen und in der Nutzung auch Gewöhnungseffekte erzeugen, die wiederum die Erfindung neuer Triggervideos vorantreiben, welche ihrerseits über Differenzbildung das Erleben bestehender Videos ändern.