Aufrichten! - Rotraud A. Perner - E-Book

Aufrichten! E-Book

Rotraud A. Perner

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Beschreibung

Manchmal fühlen wir uns angegriffen, niedergedrückt, sehen den nächsten Schritt nicht, keinen Ausweg, keine Zukunft … wir fühlen uns einfach klein. Dann wünschen wir uns jemanden oder etwas Großes, das uns beschützt, tröstet, wärmt. Aber genau das sind wir selbst! Denn nur wir selbst wissen, was in uns steckt – und was wir brauchen: Platz zur Entfaltung, Lust zum seelisch- geistigen Wachstum, Mut zur eigenen Größe und die Kraft, ein liebender Mensch zu sein und zu bleiben! Was zu oft vergessen wird: Wachstum braucht Zeit – und die wird heute, wo alles blitzschnell gehen soll, kaum mehr zugestanden. Zeit braucht es auch, um die Widrigkeiten des Lebens zu verarbeiten: üble Nachrede, Mobbing, Untreue, Verluste. Doch die wird heute, wo alles blitzschnell gehen soll, kaum mehr zugestanden – und Zeit braucht es auch, um die Widrigkeiten des Lebens zu verarbeiten. Wieder aufzustehen, wenn einen die Last des Schicksals niedergedrückt hat, erfordert genauso Kraft wie jemand anderem wieder aufzuhelfen – beides formt die Persönlichkeit. Wie man diese Lebens- und Lernaufgaben erkennen und bewältigen kann, zeigt die Autorin anhand zahlreicher Beispiele und Anleitungen.

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Rotraud A. Perner

AUFRICHTEN!

Anleitung zum seelischen Wachstum

Ein Beitrag zu Resilienz und Salutogenese

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-7015-0616-3

Copyright © 2019 by Verlag Kremayr & Scheriau/Orac GmbH & Co. KG; Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer, unter Verwendung eines Fotos von Panos Karas/shutterstock.com

Typografische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus

Inhalt

1.Einige Vorbemerkungen

Weshalb ich dieses Buch unbedingt schreiben wollte

2.Vom Boden empor

Welche biographischen Erfahrungen dazu führen, dass sich Menschen eher klein machen als sich groß aufzurichten

3.Blickrichtungen

Zu den Körperhaltungen, an denen man das Spannungsfeld von Klein zu Groß erkennen kann

4.Aufrichten

Wie man sich aus schwierigen Situationen heraus entwickeln kann

5.Haltungen

Wege zur Selbstaufrichtung – und wie man sie gegen andere verteidigt

6.Bewegung

Atmen hilft Leben zu gestalten – weil Leben immer in Bewegung besteht und Bewegungen sich dehnen lassen

7.Selbstbestimmung

Zum Umgang mit Grenzen

8.Wachsen in Schritten

Vertiefende Erklärungen und Anleitungen

9.Anmerkungen

10.Literatur

1. Einige Vorbemerkungen

Weshalb ich dieses Buch unbedingt schreiben wollte.

—Nein,

Sorg dich nicht um mich.

Du weißt:

Ich liebe das Leben.

Und wein’ ich manchmal noch um dich

Das geht vorüber sicherlich.

Liedtext Vicky Leandros

Als ich im Herbst 2018 an diesem Buch zu arbeiten begann, sollte der Titel ursprünglich „Haltung“ lauten und Hilfestellung bieten, auf welche Weisen man selbstfördernd mit Enttäuschungen umgehen kann.

Dann las ich im Jänner 2019, dass der österreichische Altvizekanzler Reinhold Mitterlehner im April ein Buch mit diesem Titel herausbringen wolle, in dem er mit seiner Nachfolgeregierung „abrechnen“ werde. Wie von mir vermutet, war es dann aber vor allem ein Rechtfertigungsversuch seiner persönlichen Verhaltensmuster in der Bundespolitik, angereichert mit alltäglichen Erzählungen aus seiner Kindheit und Studienzeit, ersten Berufserfahrungen und Zitaten aus Medienberichten.

Ich war enttäuscht, hatte ich doch Tatsachenanalysen und Selbstreflexionen erwartet – jedoch gleichzeitig war ich erleichtert: Mein Konzept erwies sich in keinem Punkt konkurrenziert, obwohl man sagen könnte, der Ausgangspunkt wäre schon der gleiche: unangenehme Erfahrungen salutogen – also Gesundheit fördernd – verarbeiten.

Egal, was man tut: Das Ziel sollte immer mentale Gesundheit sein – die eigene wie auch die anderer –, und dazu zählt vor allem die Wahrhaftigkeit des „Es ist, was es ist“, anstatt andere oder auch sich selbst zu täuschen.

Mentale Gesundheit zu fördern bedeutet für mich1 unter anderem: all die Fallen zu vermeiden, die nur Kleinlichkeit und damit seelisches Kleinbleiben festhalten. Sie bestehen darin,

in Selbstmitleid nach Trost zu heischen,

sich in der Märtyrer- oder Opferrolle gemütlich – Betonung auf Gemüt! – einzurichten, oder aber

sich nach Rache sinnend auf Personen zu fixieren, von denen man Genugtuung begehrt und daher fordert, oder

hinterlistig zu versuchen, deren Ansehen in der Gesellschaft zu zerstören, in der Hoffnung, das eigene zu mehren. Und genau Letzteres kennen wohl alle aus Politik, Arbeitswelt und – Familie.

All das sind Fehl-Haltungen, denn sie „halten“ einen geistigseelisch für längere Zeit in den Augenblicken der Enttäuschung fest – und das oft sogar über Jahre!

Das kann zu einer Art Tunnelblick und permanenter Nabelschau und sogar Zwangsgedanken führen – und all das verhindert die Wahrnehmung neuer Chancen und letztlich Weiterentwicklung. Dazu gibt es leider zahlreiche Negativ-Vorbilder, vor allem auf den allgegengewärtigen Bildschirmen: Sie fordern zu Kampf heraus – und das bedeutet meist Beschädigung oder gar Vernichtung all dessen, was einem im Weg steht. Man braucht nur die Politikberichterstattung und Live-Präsentationen anzusehen! Solche „Inszenierungen“ machen die Akteure nur zur Waffe und verbrauchen Lebensenergie, die man besser dem eigenen seelischen Wachstum widmen sollte.

Was kaum bedacht wird: In all diesen unbewussten „Selbstbehauptungstechniken“ oder bewussten Taktiken und Strategien, um mehr Macht zu gewinnen, gibt man tatsächlich aber Macht ab. Man erwartet ja dabei eine Reaktion von anderen – und gibt diesen damit ungewollt die Macht des Nein-Sagens. Diese „Zukunftssicht“ hat man in der Kindheit „erlernt“: Man hat erlebt, dass und wie Entschuldigungen gefordert und erzwungen werden können. Mit dieser Machtdemonstration – „Wenn du nicht so bist, wie ich dich haben will, gibt es Strafe!“ (die ärgsten Strafen: Ausgrenzung, Schweigen und Liebesentzug) – wurde man auf Gehorsam, sprich Unterwerfung, trainiert. Gleichzeitig wurde man vielfach belehrt, dass man sich „nichts gefallen lassen“ darf – ein klassischer „double bind“2! Dennoch steht man dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – wenn auch als quasi Beschuldigter – und bekommt damit „Aufmerksamkeitsenergie“. In der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse heißt es dazu: „Jede Art von Stroke ist besser als überhaupt kein Stroke.“3 (Ein „stroke“ – zu Deutsch meist positiv mit „Streicheleinheit“ übersetzt – bedeutet im englischen Originaltext wertneutral „Streich“ im Sinne jeder Art von Berührungen, negative mitgemeint, wie im Wort „Backenstreich“ und auch „Schlag“ wie „Schlaganfall“).

Diese zwangspassive „Haltung“ ist zwar verlockend, besonders wenn man sonst nicht gerade viel Beachtung findet, aber Gesundheit und Entwicklung fördernd ist sie nicht.

Deswegen erinnere ich immer wieder daran, dass die Reaktionen anderer außerhalb unserer Macht liegen – die eigenen hingegen sehr wohl, und genau deswegen sollte man immer dort ansetzen: bei sich selbst. Genau um diese Ansätze geht es in diesem Buch.

Wenn man wie ein Regisseur seine Schauspieler und Schauspielerinnen beobachtet, mit welchen Körperhaltungen, Gesten und Gesichtsausdrücken die Menschen bei Enttäuschungen und anderen seelischen Leidenszuständen reagieren, und versucht, diese nachzuahmen, merkt man, dass sich spontan meist Haltungen des Niederbeugens, Krümmens (bei gleichzeitigem Vorschieben des Kopfes oder zumindest Kinns) oder Abstand-Haltens, seitliches Verschieben oder Erstarrungshaltungen einstellen. Sie werden daher quasi automatisch (d. h. wie ein – vom wem wohl? – programmierter Automat) ohne viel darüber nachzudenken eingenommen. Man gestaltet gleichsam körpersprachlich eine Beziehung – je nachdem, was für Motive in einem selbst zum „Ausdruck“ gelangen: ob dieser als distanziert, drohend oder aber unterwürfig und bettelnd erlebt wird, hängt von der Interpretation anderer ab (und entspricht nicht immer den eigenen Absichten).

Dies führt jedoch gleichzeitig in eine Art Abhängigkeit von denjenigen, von denen man etwas will, nämlich „Genugtuung“. Die anderen sollen „genug“ tun, damit man sich wieder OK fühlen kann. Solange man in dieser „Haltung“ verweilt, hält man dann aber quasi seinen eigenen Lebensfluss an wie den Zeitlauf bei einem Videorecorder, und das bedeutet: Man verliert Beweglichkeit und damit wiederum Energie.

Deswegen finde ich das Wort „aufrichten“ letztlich viel besser als das Wort „Haltung“: Haltung ist statisch, rigide, oft stur; aufrichten ist dynamisch, flexibel, lebendig – und genau diese Bewegungen braucht man, wenn man sich aus Enttäuschungen, Fehlschlägen, Demütigungen heraus weiterentwickeln will.

Wie ich wiederholt beobachten konnte, melden sich immer dann, wenn ich an einem bestimmten Thema arbeite – egal ob für einen Text, einen Vortrag oder auch Unterricht an der Universität – Männer oder Frauen bei mir für Coaching oder Therapie, die genau an dieser Thematik leiden. Beim vorliegenden Buch waren es überproportional viele Menschen, die akut mit krassen Diskriminierungen, Verleumdungen, Mobbing, Missbrauch, Untreue und Verlusterlebnissen fertig werden mussten.

Manche fragen dann nach Tipps und Tricks, wie sie „die Anderen“ bzw. „das System“ dazu bringen könnten, sich anders zu verhalten; manche wiederum wollen wissen, wie sie die unangenehmen Gefühle und Zwangsgedanken loswerden könnten. Auch wenn Kollegen, Familienangehörige und Freunde beschwichtigten, dies alles sei ganz normal und müsse eben „ausgehalten“ werden – wie dieses Wort schon besagt, auch eine Form von Haltung! –, spürten die bei mir Ratsuchenden genau, dass es mehr Lösungen geben müsse als nur Kämpfen (inklusive Verteidigung), Flüchten oder Totstellen.

Auch von solchen weiteren Lösungsmöglichkeiten handelt dieses Buch.

Ich habe diese aus Situationen meiner eigenen Biographie erarbeitet – aber natürlich auch in Kombination meiner multidisziplinären Ausbildungen und 50-jährigen Berufspraxis in all meinen erlernten Berufen: als Juristin, Nationalökonomin, Sozialtherapeutin, Erwachsenenpädagogin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin, Medienarbeiterin und Hochschullehrerin, evangelischer Theologin und ehrenamtlicher Pfarrerin, vor allem aber auch als Mandatarin einer politischen Partei4; in jedem dieser Berufsfelder herrschen bestimmte unausgesprochene Spielregeln und Usancen. Gesundheit fördernd sind die wenigsten – und wer sich nicht an die Regeln hält, wird schnell Außenseiter*in. Ich kenne daher all das, was ich beschreiben werde, nicht nur aus „zweiter Hand“ von den Berichten meiner Klient*innen, aus der Live-Beobachtung der jeweiligen Gruppendynamik in vielen Stunden praktizierter Fachbegleitung, Supervision und Coaching, sondern auch aus meiner kritischen Selbstbeobachtung je nach entsprechendem Arbeitsfeld und natürlich auch aus meiner regelmäßigen eigenen Supervision. Deswegen werde ich eigene Erfahrungen auch als solche berichten und sie nicht hinter Camouflagen („Da kannte ich mal jemand …“) verstecken.

Im Endeffekt geht es immer um Energiegewinn – um Dominanz, Hegemonie, Macht – und Energieerhaltung.

Alles strebt nach Energie

So macht der seinerzeit als Wissenschaftstheoretiker unterschätzte, weit vorausblickende Wiener Meeresforscher Hans Hass (1919–2013) deutlich, dass alle Pflanzen, Tiere, Menschen, aber auch alle menschlichen Berufsstrukturen und Erwerbsbetriebe die gleiche zentrale Ausrichtung haben – ihr Ziel ist es, ihr Energiepotenzial zu erhöhen. Dazu müssen sie „mehr nutzbare Energie einnehmen, als ihre Erwerbsanstrengung sie selbst an Energie kostet. Wird ihr Saldo passiv, dann mögen sie sich noch aus Reserven oder durch Abbau der eigenen Struktur existent halten, bleibt es jedoch passiv, dann zerfallen sie, vergehen sie. Das gilt für jeden Wurm ebenso wie für eine Lokomotivfabrik, für jedes Bakterium ebenso wie für einen Geldschrankknacker.“5 (Hervorhebung von mir.)

Aus einem psychotherapeutischen Blickwinkel betrachtet, kann man beobachten: Wenn man sich im Denken an eine belastende Erfahrung fixiert, d. h. stillhält, also nicht um Energiezugewinn bemüht, verliert man Energie – Lebenskraft – und schwächt dadurch die eigene Struktur und letztlich Substanz. Man kümmert dahin. Man braucht Bewegung, um sich aus dem Mangelerlebnis heraus zu entwickeln – und die erste Bewegung dazu sehe ich im Aufrichten. (So betrachtet wäre Beten als Bewegung zu dem hin, was wir Gott nennen, eine Form, neue Energie zu gewinnen!)

Suche nach Energiezuwachs ist deshalb grundsätzlich nichts Schlechtes, sondern wohl der wichtigste Überlebensfaktor.

Schlecht wird dieses Streben erst, wenn es einzig nur mehr um immer mehr und noch mehr persönlichen Energiegewinn – quasi „Energievöllerei“ – zu Lasten anderer geht. Ich spreche dann gerne von Energiediebstahl, von Vampirismus.

Im Gegensatz zu Tieren verfügen wir Menschen nicht nur über

das Stammhirn (oft als Reptiliengehirn bezeichnet), sondern auch über das sogenannte

limbische System, in dem Gefühle beheimatet sind, und das

Großhirn und damit prinzipiell (d.h., wenn keine Schädigung vorliegt) die Fähigkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedanklich zu unterscheiden.

Das bedeutet, Verantwortung für die Folgen unseres Handelns erkennen, tragen und ertragen zu können, zu sollen und zu müssen –, und außerdem noch

die Fähigkeit zu sprechen: nicht nur mit Anderen, sondern auch mit uns selbst im sogenannten „Inneren Dialog“ und in der „Gewissenserforschung“.

Welche Folgen Handlungen nach sich ziehen können, liegt meist nicht in unserer Macht – wir glauben es nur oft. „Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen“, lautet ein deutsches Sprichwort6. Man könnte all diese „Selbstschutztechniken“ als Erklärung für so manches unverständliche Verhalten, insbesondere auch Leiden, verstehen: Vieles, was man als unerwünschte Gefühle oder Gedanken bewusst „weggesteckt“ oder unbewusst „verdrängt“ hat, kehrt wieder – als plötzlicher Gefühlsausbruch oder als Tick, Zwang oder sonst ein Symptom von Störung oder Krankheit.

Geschehnisse oder Gedanken zu verheimlichen oder dies sogar zu müssen, bedeutet wiederum Energieverlust: Man verbraucht Lebenskraft, weil man ja aufpassen muss, sich nicht zu verraten, und das heißt im Klartext umgekehrt: man muss sich selbst verraten (im Sinne von nicht zu sich stehen).

Zu sich „stehen“ geschieht immer dann, wenn man sich nicht duckt, krümmt, versteckt, klein bzw. unsichtbar zu machen versucht. Das ist schwer, wenn einem das Herz stockt, der Magen umdreht, die Knie schwach werden, die Beine versagen (und die Stimme auch noch dazu), und was es sonst noch so alles gibt, was dem tierischen Totstellreflex entspricht.

Oft fehlen nur Vorbilder für alternatives Verhalten

Modell-Lernen ist vor allem deswegen schwer, weil die verwandte, befreundete oder gut bekannte Besserwisserschaft kaum ein nachahmenswertes Vor-Bild abgibt: Man kann sie selten in Situationen der Erniedrigung beobachten (und wenn, schaut man peinlich berührt meist gleich weg). Kommt es aber doch dazu – wie zum Beispiel bei öffentlichem Bashing7 (egal, ob es berechtigt ist oder nicht) – und gelingt es jemandem, dabei seine bzw. ihre Würde zu bewahren, so wird diese Form der Selbstbehauptung – und im Falle von Fehlverhalten Übernahme von Verantwortung – selten anerkannt, sondern mit Spott und Hohn, heutzutage noch dazu mit einem medialen Shitstorm, beantwortet.

Viele schämen sich, wenn sie sich in der sogenannten Opferrolle wiederfinden – glauben sie ja doch an das Märchen vom einsamen Glücksschmied („Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist einer der „drei Mythen der Macht“ neben „Alle Menschen haben die gleiche Macht“ und „Der Mensch ist grundsätzlich machtlos“) – und dass sie daher selbst an ihrem Elend schuld seien. „Du Opfer!“ wird gegenwärtig sogar als Schimpfwort unter Jugendlichen verwendet.

Dabei zählt es im angeblich christlichen Abendland zu den wesentlichen Botschaften des Todes Jesu am Kreuz – an welchem man auf Golgatha im Gegensatz zu Kopf-unten-Kreuzigungen aufrecht fixiert wurde –, dass einen niemand zum Opfer machen kann, wenn man sich selbstbestimmt, aus freiem Willen in solch einer Situation seelisch-geistig aufrichtet, in der einem die Umwelt Gefühle von Schmach und Schande, von Angst und Verzweiflung beifügen oder zumindest suggerieren will. Angstmache sagt mehr über die Gefühls- und Gedankenwelt und Ziele dieser Akteure aus als über die eigene Seelenlage.

Unsere Gefühle machen wir selbst

Wir geben dem jeweils körperlich spürbaren Impuls einen Namen – den wir bereits meist lange vorher (nämlich beim Spracherwerb in der Kindheit und auch später, wenn wir ein neues Wort kennenlernen) unserem Sprachschatz einverleibt hatten – ohne viel nachzudenken, ob es wirklich der zutreffende ist, und ohne zu überprüfen, ob damit bereits eine bestimmte Bewertung mitgeliefert wird. Dann fühlen wir uns kompetent, nicken uns selbstbestätigend zu und speichern diese Selbstzuschreibung im Repertoire der Selbstdefinition ab.

Mein immer wieder gern zitiertes Beispiel umfasst meine wiederholten Erfahrungen mit Menschen, die sich als eifersüchtig bezeichneten oder bezeichnet wurden. Ich bitte sie dann jedes Mal, genau nachzuspüren und zu differenzieren, ob ihnen ihre Empfindung signalisiert, dass sie eine alltägliche Konkurrenzsituation lediglich ungewohnt, unangenehm oder aber echt bedrohlich empfinden, ob sie selbst rivalisieren oder aber alte Erinnerungen an unfaire Rivalitäten ausgelöst worden sind, oder ob ihr Körper Furcht bzw. Angst vor Wiederholung auftauchen lässt, um sie vor gefährlichen Nahe-Situationen zu warnen – oder ob sie sich in einer tatsächlichen Situation von Benachteiligung befinden.

Meist ist es nämlich genau dies – eine Form von subjektiv empfundener Ungerechtigkeit oder Hintanstellung. Aber dieser Art von Ahnung und Erkenntnis mögen viele Menschen nicht vertrauen, weil ihnen diese „Wahr“nehmung von den Bezugspersonen der frühen Kindheit ausgeredet wurde. (So protestieren kleine Kinder oft mit dem Satz „Das ist gemein!“ und meinen damit „ungerecht“, kennen aber Begriffe wie Gerechtigkeit oder Fairness noch nicht – und ihre Bezugspersonen werden wütend, weil das ihrem Selbstbild widerspricht; und so geht Gerechtigkeitsempfinden verloren. Früher lautete die folgende Drohbotschaft meist: „Wenn du so was Garstiges sagst, werd’ ich dir gleich den Mund mit Seife auswasch’n!“, und oft genug wurde diese Strafe auch vollzogen.)

Eines der wesentlichen Ergebnisse einer gelungenen Psychotherapie besteht darin, dass die äußere indoktrinierte Wahrheit von der authentischen inneren überlagert wird (aber als Alarmsignal bei Versuchen von Ein- bzw. Ausreden bestehen bleibt), oder anders gesagt: dass Hirn und Herz (und auch der Bauch) wieder eins werden.

Aus genau diesem Grund habe ich für das Coverbild dieses Buches den als „Nike von Samothrake“ bezeichneten Torso gewählt: Ich verstehe ihren Leib nach „oben offen“ für höhere Wahrheiten, nicht mehr nur kopflastig voll vom erdrückenden Schul- und Buchwissen, und damit zugleich auch nach „unten offen“ zu dem tieferen Spürwissen und flugbereit zum Aufstieg zur nächsten, höheren Entwicklungsstufe, und gleichzeitig doch auch bereit, aufrecht auf dem Boden der Tatsachen zu stehen.

2. Vom Boden empor

Welche biographischen Erfahrungen dazu führen, dass sich Menschen eher klein machen (lassen) als sich groß aufzurichten.

–Aufrecht gehn

aufrecht gehn

ich hab endlich gelernt

wenn ich fall

aufzustehn …

Liedtext Mary Roos

Am Beginn seines Lebens durchläuft jeder Mensch alle in der Entstehungsgeschichte der Menschwerdung vor ihm liegenden Entwicklungsphasen von Lebewesen (abgesehen vom Fliegen, deswegen sehnen sich ja auch viele so sehr danach): Zuerst schwimmt er im (Frucht)Wasser; dann, ans Licht der Tageswelt gekommen, muss er selbstständig atmen, später liegend, vibrierend (zappelnd) sich immer mehr Bewegungen und Töne erarbeiten; mit zunehmender Erstarkung der Muskulatur gilt es, den Kopf heben und drehen zu lernen, sich vom Wippen zum Kriechen, danach zum Aufrichten und schlussendlich zum freihändigen Gehen fortzubewegen. Schließlich, so um den zweiten Geburtstag, beginnt das Menschlein zielgerichtet das Greifen, Zwicken, Schlagen, Beißen etc. zu beherrschen. Phylogenese heißt dieser entwicklungsgeschichtliche Verlauf und sollte uns einerseits daran erinnern, woher wir kommen, und andererseits, wie viel Kraft jedes Baby braucht, den schweren Kopf aufrecht zu halten und später dann den ganzen Körper – und den Mut nicht zu verlieren, wenn es beim Versuch, den Körper aufzurichten, immer wieder hinplumpst. „So geht Resilienz.“8

Als mein jüngerer, sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin geborener, daher sehr zarter Sohn diese Klimmzüge trainierte, stürzte jedes Mal sein 21 Monate älterer, von Geburt an kräftiger Bruder auf ihn zu und drückte ihn wieder zu Boden. Der Jüngere protestierte lauthals und signalisierte mir damit die Notwendigkeit, „auf der Bühne“ – oder besser im „Ring“ – aufzutreten. Ich sagte dann immer: „Es ist gut, dass du übst – und du wirst es schaffen, auch wenn du dabei gestört wirst!“ Möglicherweise liegt in der Überwindung dieser ersten geschwisterlichen Unterdrückungsversuche die Wurzel seiner heutigen Zähigkeit im Verfolgen seiner Ziele.

In seiner Abhandlung „Hemmung, Symptom und Angst“ setzte sich Sigmund Freud mit den Gedankengängen seines Schülers Otto Rank auseinander, der den Geburtsvorgang als erste Gefahrensituation und Vorbild für spätere Angstreaktionen erblickte. Freud fokussierte dieses „Reagieren mit Angst“ – auch in späteren Gefahrensituationen – auf die fundamentale Trennung von der Mutter. Er schränkt aber auch ein: „Nun trifft das Trauma der Geburt die einzelnen Individuen in verschiedener Intensität, mit der Stärke des Traumas variiert die Heftigkeit der Angstreaktion, und es soll nach Rank von dieser Anfangshöhe der Angstentwicklung abhängen, ob das Individuum jemals ihre Beherrschung erlangen kann, ob es neurotisch wird oder normal.“9

Wie so oft liegt es daran, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist: auf das Verhalten der Gebärenden, auf die „Lage“ – im Doppelsinn des Wortes – des Kindes, auf das eigene Handeln als Geburtshelfer*in oder auf die Rahmenbedingungen z. B. in Hinblick auf ihr Angst-Auslöse- oder ihr Prägungs-Potenzial. Denn vieles an späteren Lebensmustern wird verständlich, wenn man die Geburts- oder auch Schwangerschaftsbedingungen erfährt.

So klagte ein im Handeln untätiger, emotional jedoch ungeduldiger Klient, dass er immer wieder in Situationen gerate, in denen entgegen seiner Erwartungen „nichts weitergeht“. Auf meinen intuitiv spontanen Hinweis, er möge doch seine Mutter fragen, wie seine Geburt verlaufen ist, berichtete er in der nächsten Stunde, er sei „lange im Geburtskanal gesteckt und musste geholt werden“. Auf dieser Erfahrung aufbauend wurde es ihm möglich, seine Ungeduld als „bisher mangelndes Zutrauen“ auf zufallende „Hilfe von außen“ zu definieren und bewusst in entspanntes und daher „offenes“ Vertrauen – wie auch immer diese sein mochte – zu verwandeln. Denn dazu hatte er bisher viele Erlebnisse, nur waren ihm diese weder als erlebte Ressource noch als immer vorhandene Möglichkeit bewusst geworden.

Der Begründer der psychotherapeutischen Biosynthese, David Boadella (*1931), ein Schüler Wilhelm Reichs, verweist auf das vorgeburtliche Leben: Die Ohren können sechs Wochen nach der Empfängnis hören; der Embryo lutscht schon nach einer halben Schwangerschaft am Daumen, obwohl die Finger noch keine Knochen haben, und er tritt Wasser – die biologische Grundlage für Aggression (im Sinne von „Vorwärtsbewegung“). Der Körpertherapeut schreibt: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Erregungsmuster des Fötus, angenehme wie unangenehme, und die mit ihnen verbundenen Reflexbewegungsmuster in irgendeiner Form aufbewahrt, die möglicherweise später wiederentdeckt werden kann.“10, und: „Wir brauchen Erinnerungsfähigkeit – so verstanden – nicht auf das Gehirn beschränken. Organismen ohne Hirngewebe oder Nervensysteme haben Erfahrungen. Sie sind empfindungsfähig, reagieren auf ihre Umgebung und handeln danach. Es scheint, dass sogar einzelne Zellen ein bestimmtes System primitiver Erinnerungsfähigkeit an vergangene organische Zustände besitzen.“11 Seine Vermutung gilt zwischenzeitlich als sicher.12

So schreibt die Wiener klinische Psychologin Beate Handler: „Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass der emotionale Zustand der Mutter über die Nabelschnur dem Ungeborenen ‚mitgeteilt‘ wird. Gefühle bringen unser Innerstes in Aufruhr und dadurch werden körperliche Prozesse in Gang gesetzt.“13 Ich ergänze: und umgekehrt – es sind parallel laufende Prozesse.

Negative Prägungen am Beginn des Lebens könnten möglicherweise verhindert oder zumindest gemildert werden, wenn alle, die an einer Entbindung beteiligt sind, diese nicht nur als einen „stummen“ (oder maximal anleitenden, oft befehlenden) medizinischen Routinevorgang betrachten, sondern auch als einen „dialogischen“ Prozess, der für Kind wie auch Mutter in Zukunft lebensbestimmend sein kann.

Wirkkraft von Sprache

Die französische Kinderpsychoanalytikerin Caroline Eliacheff (* 1947) beschreibt anschaulich, wie unbedachtes Reden vor Kleinstkindern – im Sinn von „die verstehen ja doch nichts“ – sehr wohl negative Symptome auslöst und wie diese durch „Gegenreden“ zum Verschwinden gebracht werden können.

So schildert Eliacheff den Fall eines zur Adoption frei gegebenen farbigen Säuglings mit Ekzemen auf Gesicht und Kopfhaut: Obwohl sich der kleine Bub die ersten vier Wochen gut entwickelt hatte, waren diese und weitere Symptome, wie Eliacheff herausfand, gerade dann aufgetreten, nachdem seine Betreuungspersonen im Säuglingsheim negativierend darüber gesprochen hatten, sie hätten erwartet, dass die Mutter die Adoptionsfreigabe rückgängig machen würde. Eliacheff erklärt nun dem Baby, welch gute Mutter er habe, die zu seinem Besten den Weg frei mache, auf dass er bessere Lebensbedingungen haben solle als bei ihr: „Sie hat sich gewünscht, dass diese Familie nicht die gleiche Hautfarbe hat wie du, der du eine schwarze Haut hast. Es ist noch nicht klar, ob das der Fall sein wird. Aber du musst deswegen nicht deine Haut ändern.“ Eine Woche später sind die Symptome weg.14

Mich erinnert das an das Märchen vom Dornröschen, in dem die böse uneingeladene Fee der Prinzessin den Tod am 15. Geburtstag anflucht und danach die noch nicht an der Reihe gewesene letzte gute Fee den „magischen Befehl“ auf hundertjährigen Schlaf mildert.

Sprache hat Suggestivkraft: Sie bewirkt „Wirklichkeit“. Die Soziologen Norbert Elias und John L. Scotson erkannten in ihren Forschungen über jugendliche Außenseiter: „Gib einer Gruppe einen schlechten Namen, und sie wird ihm nachkommen.“15

Namensgebung kann Fluch sein oder Segen

Ein Name kann niederdrücken, verkleinern und klein halten – oder aufbauen, Wachstum fördern und damit den Blick in die Weite und Höhe ermöglichen, leider auch mit der Gefahr der Selbstüberschätzung. So um den zweiten Geburtstag, wenn Kleinkinder über genügend Muskelkraft verfügen, um zielgerichtet zu greifen, zu klammern, zu zwicken, zu schlagen und zu treten, entwickeln sie erstmals ein stolzes Selbstgefühl und halten sich für supergut (was ja im Vergleich zur Zeit vorher, wo alles eher zufällig geschah, teilweise auch stimmt), jedoch ohne vorausblickend Gefahren und Gefährdungen zu erkennen bzw. zu kennen. Der Volksmund nennt diese Lebensphase das erste Trotzalter – man könnte diese Zeit aber auch als erste Selbstbehauptungsphase erkennen und benennen. Im ersten Fall „definiert“ man das Kind als ungehorsam und negativ, wenn Gehorsam der angestrebte Wert ist. Im zweiten Fall hingegen kann man, vorausgesetzt, man nimmt sich die Zeit für Erklärungen und alternative Verhaltensangebote, erste Formen von Verantwortlichkeit – da steckt das Wort „antworten“ drin! – fördern.

Es liegt also an den jeweiligen Erziehungszielen, auf die hin Kinder schon von klein auf trainiert werden: Wenn Stillhalte- und Schweigeappelle nicht ausreichen, um das natürliche Gerechtigkeitsempfinden zu tabuisieren, werden Schimpfnamen, im Klartext Attacken auf das Selbstwertgefühl, eingesetzt, um Unterwerfung zu erzwingen. Später wundern sich dann die so „Disziplinierten“ oder ihre Umwelt, wieso die „Verduckmäusten“ sich „tot stellen“, d. h. wegschauen, wo sie sofort protestieren sollten (oder sich hinter Kamera oder Smartphone verstecken und ihre Dokumentationsvideos auf YouTube platzieren – möglicherweise damit andere stellvertretend aktiv werden sollen – oder aber im Gegenteil ihre Position z. B. der Häme teilen) und Zivilcourage nur von anderen erwarten oder verlangen.

Aber auch von anderen (z. B. auch Medien) angeheftete „Kosenamen“ nehmen die Kraft der Eigenbestimmung (denn wenige trauen sich gleich zu protestieren!) und definieren die so angesprochene Person als klein, harmlos, putzig oder sexy (oder als Monster). In meinem (vergriffenen) Buch „Madonna UND Hure“ aus dem Jahr 1997 habe ich – damals in Unkenntnis der Usance eines medienpräsenten Wiener Baumeisters, seine jeweiligen Partnerinnen mit Mausi, Bambi, Kolibri, Katzi etc. zu bezeichnen – geschrieben: „Frauen bekommen oft Tiernamen angehängt: findet der Alltagsmann Gefallen, lobt er fesche Hasen, Tauben, Gazellen, Katzen … alles Tiere, die sich entziehen, flüchten, alles Tiere, die mann jagt. Erregt frau aber Missfallen, werden Schlachttiere zitiert: Kühe, Hühner, Säue. Auch Gänse und Enten. (Die Namen der zugehörigen Männchen borgt mann sich allerdings gerne aus: Stier, Hahn und Eber symbolisieren ununterbrochene Potenz.) Hingegen signalisiert der Name Schlange, dass mann solch einer Frau besser ausweicht. Zu gefährlich.“16 (Im Gegensatz dazu erinnere ich mich an einen Möchtegern-Casanova, der alle seine Geliebten und wahrscheinlich auch seine Ehefrau „Cherie“ nannte – einerseits um sich in der erotischen Trance nicht zu versprechen, andererseits um sich die Namen nicht merken zu müssen.)

Frauen wurden traditionell zum Dienen erzogen und dementsprechend mit Eigenschaftsworten belobigt, die Selbstaufgabe für andere bedeuteten. So schildert die westfälische Schriftstellerin und Komponistin Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) in ihrem Gedicht „Die beschränkte Frau“, wie eine stumm leidende Ehefrau ihrem verständnislos ärgerlichen Gatten anlässlich seines Bankrotts ihre heimlichen Ersparnisse übergibt – „und weinend hielt er sie umfangen“.17 Die gesellschaftlich geforderte Tendenz, weibliche Aufopferung zu glorifizieren, auch wenn der zugehörige Partner sie schlecht behandelt, wird deutlich wahrnehmbar.

Der Geist in der Sprache wurzelt im Denken

Erziehungsziele variieren je nach Zeit und Ort – und nach Geschlecht. Deutlich werden diese Unterschiede gerade jetzt in der Zeit der Neuen Völkerwanderung nach Europa. Dabei wird vergessen, dass auch in Europa erst die Zeit des 20. Jahrhunderts, vor allem in dessen zweiter Hälfte, die schrittweise und hart bekämpfte Befreiung von genau den gleichen hierarchischen Denkweisen brachte.

Geht man in der Geschichte zurück und sucht nach den Ursprüngen „repressiver“, also unterdrückender Erziehung, so findet man diese einerseits in den Wirtschafts- und folglich Lebensformen, andererseits in militärischen Erfordernissen begründet. In nomadischen Gesellschaften, wie sie zu Beginn der historischen Überlieferungen aus Vorderasien vorherrschten, war strikte Arbeitsteilung zwischen Kämpfern, männlich, und Zuarbeit vom Stützpunkt (weiblich) funktional – und auch, dass Frauen und Kinder sich nicht zu weit von dort entfernen sollten. Dem zuwiderlaufende Neigungen und Aktionen wurden geahndet und präventiv mit Angstmache verboten. Daraus ergibt sich bereits, dass etwa Neugier als Spähertum für Männer Pflicht war, für Frauen hingegen als Untugend verboten – sie hätten sich ja deshalb aus dem Kontrollraum entfernen mögen. Wenn man aber im Wissenserwerb beschränkt wird, sind Fehlhandlungen und falsche Risikoeinschätzungen logische Folge – und führen oft nur wieder zu Wissensvorenthaltung statt Anleitung, also zu einem klassischen Teufelskreis.

Diese Geisteshaltung, mit Verboten das erwünschte Verhalten erzwingen zu können, findet sich auch heute noch in vielen Familien. Ich nenne es das „Dornröschen-Prinzip“: zu glauben, wenn man alle Spindeln verbietet, könne sich niemand an ihnen verletzen – anstatt den achtsamen Umgang mit dem Instrument zu lehren. (Gilt übrigens für alle Waffen! Wobei nicht vergessen werden soll, dass man vermutlich alles zur Waffe umfunktionieren kann.)