Aurora erwacht - Amie Kaufman - E-Book
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Aurora erwacht E-Book

Amie Kaufman

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Beschreibung

Der New-York-Times-Bestseller: spannend, actionreich und witzigTyler, frisch ausgebildeter Musterschüler der besten Space Academy der ganzen Galaxie, freut sich auf seinen ersten Auftrag. Als sogenannter "Alpha" steht es ihm zu, sein Team zusammenzustellen – und er hat vor, sich mit nichts weniger als den Besten zufrieden zu geben. Tja, die Realität sieht anders aus: Er landet in einem Team aus Losern und Außenseitern:Scarlett, die Diplomatin – Sarkasmus hilft immer (not.)Zila, die Wissenschaftlerin – dezent soziopathisch veranlagtFinian, der Techniker – besser: der KlugscheißerKaliis, der Kämpfer – es gibt definitiv Menschen, die ihre Aggressionen besser unter Kontrolle habenCat, die Pilotin – die sich absolut nicht für Tyler interessiert – behauptet sie zumindestDoch dieses Katastrophenteam ist nicht Tylers größtes Problem. Denn er selbst ist in den verbotenen interdimensionalen Raum vorgedrungen und hat ein seit 200 Jahren verschollenes Siedlerschiff gefunden. An Bord 1.000 Tote und ein schlafendes Mädchen: Aurora. Vielleicht hätte er sie besser nicht geweckt. Ein Krieg droht auszubrechen – und ausgerechnet sein Team soll das verhindern. Ouuups. Don't panic!

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Seitenzahl: 559

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Amie Kaufman | Jay Kristoff

Aurora erwacht

Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Püschel

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Teil 11 Tyler2 Auri3 Scarlett4 Zila5 Auri6 Cat7 Kal8 Zila9 Auri10 Finian11 Auri12 TylerTeil 213 Scarlett14 Auri15 Finian16 Tyler17 Kal18 Cat19 Zila20 Auri21 Finian22 Cat23 Scarlett24 TylerTeil 325 Auri26 Kal27 Zila28 Kal29 Cat30 Finian31 Auri32 Scarlett33 Auri34 Cat35 TylerSquadmitglieder

Wenn deine Crew schwer zu finden war

oder du immer noch suchst,

dann ist dieses Buch für dich.

Teil 1

Das Mädchen aus einer anderen Zeit

1Tyler

Ich verpasse die Auslese.

Die Hadfield zerfällt allmählich in ihre Einzelteile. Schwarze Quantenblitze schmelzen die Schiffshülle zu Schlacke. Mein Raumanzug kreischt in siebzehn verschiedenen Alarmtönen, das Schloss an dieser verdammten Kryokapsel will einfach nicht aufgehen, und das ist der Gedanke, der mich beherrscht. Nicht etwa, dass ich im Bett hätte bleiben sollen, um ausgeruht in den Tag zu starten. Oder dass ich schon längst wieder in der Aurora Academy sein könnte, wenn ich den scheiß Notruf ignoriert hätte. Oder wie dämlich es ist, auf diese Weise zu sterben.

Weit gefehlt. Im Angesicht des Todes denkt Tyler Jones, Squad Leader erster Klasse, nur an eins.

Ich verpasse die verdammte Auslese.

Ich meine, wenn du dein Leben lang auf eine einzige Sache hinarbeitest, ist dir die wichtig. Schon klar. Aber die meisten rational denkenden Leute würden die Gefahr, in einem manövrierunfähig durch den interdimensionalen Raum treibenden Raumschiff vaporisiert zu werden, als ein kleines bisschen wichtiger einstufen als die Schule. Sag ich mal so.

Ich schaue zu dem Mädchen runter, das in der Kryokapsel schläft. Sie hat ziemlich kurze schwarze Haare, mit einer komischen weißen Strähne im Pony. Sommersprossen. Trägt einen grauen Overall. Ihr Gesicht hat diesen seligen Ausdruck, den man nur bei Babys und kryonisch Eingefrorenen sieht.

Ich frage mich, wie sie wohl heißt.

Ich frage mich, was sie sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich ihretwegen gleich hopsgehe.

Und ich brumme kopfschüttelnd in mich hinein, während die Warnmeldungen an meinem Anzug immer lauter jaulen und das Schiff um mich herum in Millionen brennende Trümmer zerbirst.

»Na, hoffentlich ist sie es wert.«

***

Ich springe mal ein Stück zurück.

Ungefähr vier Stunden, um genau zu sein. Ich weiß, eine Geschichte braucht einen spannenden Einstieg, aber ihr solltet schon wissen, was hier eigentlich abgeht, damit es euch nicht ganz egal ist, ob ich vaporisiert werde. Es wäre nämlich echt scheiße, wenn ich vaporisiert würde.

Also. Vier Stunden zuvor liege ich noch in meinem Zimmer im Wohnheim der Aurora Academy. Ich starre die Unterseite von Björkmans Matratze an und bete zum Schöpfer, dass unsere Ausbildungsoffiziere mit so was wie einem Schwerkraftausfall oder einem Probealarm um die Ecke kommen. In der Nacht vor der Auslese gönnen sie uns wahrscheinlich unseren Schlaf. Aber ich bete trotzdem, dass es anders kommt, weil:

Björkman schnarcht gerade irre laut, was er sonst nie macht, und ich kann nicht schlafen.

Ich wünsche mir so sehr, dass mein Dad mich morgen sehen könnte, und ich kann nicht schlafen.

Es ist die Nacht vor der Auslese, und ICH. KANN. NICHT. SCHLAFEN.

Keine Ahnung, warum ich so aufgeregt bin. Ich sitze das doch mit einer Arschbacke ab. Ich habe jede Prüfung mit Auszeichnung bestanden. War in fast jedem Fach Klassenbester. Gehörte zum obersten ein Prozent aller Kadetten der Academy.

Jones, Tyler, Squad Leader erster Klasse.

Goldenboy. So nennen mich die anderen Alphas. Manche meinen es beleidigend, aber ich fasse es als Kompliment auf. Keiner hat sich so reingehängt wie ich, um hier aufgenommen zu werden. Keiner hat in den letzten fünf Jahren so hart gearbeitet wie ich. Und jetzt wird sich das alles auszahlen, weil morgen die Auslese stattfindet und ich mir vier von den fünf Top-Absolventen aussuchen darf und den besten Squad zusammenstellen werde, den ein Abschlussjahrgang der Aurora Academy je gesehen hat.

Warum kann ich dann nicht schlafen?

Ich gebe mich mit einem Seufzer geschlagen, steige aus dem Bett und in meine Uniform, fahre mit der Hand durchs Haar. Und mit einem letzten Blick zu Björkman, den ich am liebsten killen oder wenigstens stummschalten würde, klatsche ich auf das Kontrollfeld der Tür, stapfe auf den Flur hinaus und schneide mit der sich schließenden Tür sein Geschnarche hinter mir ab.

Es ist spät: 02.17 auf der Stationsuhr. Die Beleuchtung ist runtergedimmt, um Nachtzeit zu simulieren, aber als ich den Flur entlangschlendere, springen die Leuchtstreifen im Boden an. Über mein Uniglass schicke ich meiner Schwester Scarlett eine Nachricht. Keine Antwort. Ich überlege, ob ich Cat anpingen soll, aber die schläft wahrscheinlich. Was ich auch tun sollte.

Ich spaziere an einem langen Plastahl-Fenster vorbei und betrachte den Aurora-Stern, der dort draußen lodert und den Fensterrahmen in einem blassen Gold strahlen lässt. In der alten terranischen Mythologie war Aurora die Göttin der Morgenröte, die den kommenden Tag und das Ende der Nacht verhieß. Irgendwer hat vor langer Zeit einen Stern nach ihr benannt, und dieser Stern gab der Akademie, die ihn heute umkreist, und damit auch der Legion, der ich mein Leben verschrieben habe, ihren Namen.

Seit fünf Jahren lebe ich hier. Ich wurde an meinem dreizehnten Geburtstag aufgenommen, zusammen mit meiner Zwillingsschwester. Der Musterungsoffizier auf der New Gettysburg Station hatte unseren Vater gekannt. Sprach uns sein Beileid aus. Schwor, dass diese Schweinehunde dafür büßen würden. Dass das Opfer, das unser Dad und alle unsere Soldaten erbracht hatten, nicht umsonst gewesen sei.

Ich frage mich, ob ich das immer noch glaube.

Ich sollte schlafen.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe.

Dabei weiß ich genau, wohin ich will.

Ich gehe immer weiter durch den Flur Richtung Andockbucht.

Spanne den Kiefer an.

Vergrabe die Fäuste in den Taschen.

***

Vier Stunden später hämmere ich mit eben diesen Fäusten gegen die Versiegelung der Kryokapsel.

Um mich herum befinden sich Tausende weitere solcher Kapseln, alle von einer weißen Eisschicht überzogen. Das Eis knackt unter meinen Schlägen, aber die Versiegelung hält stand. Das Programm, das ich auf meinem Uniglass laufen lasse, um das Funkschloss zu hacken, ist zu langsam.

Wenn ich nicht schleunigst hier rauskomme, bin ich tot.

Die nächste Stoßwelle trifft die Hadfield und rüttelt das ganze Schiff durch. Weil die Schwerkraft in dem Wrack ausgesetzt ist, kann ich nicht umfallen. Aber obwohl ich mich an der Kryokapsel festklammere, werde ich wie ein Kinderspielzeug hin und her geschleudert und krache mit meinem Helm gegen die benachbarte Kapsel, woraufhin sich ein neuer Alarm zu den siebzehn anderen gesellt, die mir schon in den Ohren gellen.

Achtung: Anzug nicht mehr intakt. H2O-Tank beschädigt.

Oh-oh …

Das Mädchen in der Kryokapsel runzelt im Schlaf die Stirn, als hätte sie einen Albtraum. Kurz kommt mir der Gedanke, was es für sie bedeuten würde, falls wir das hier überleben.

Und dann spüre ich an meinem unteren Hinterkopf etwas Nasses. In meinem Helm. Ich verdrehe den Kopf, um das Problem zu orten, und die Flüssigkeit schwappt mir über den Nacken, von der Oberflächenspannung auf meine Haut gepresst. Mir wird klar, dass mein Trinkschlauch gerissen ist. Dass sich meine Wasservorräte in meinen Helm ergießen. Und dass sich, selbst wenn ich diesen Raumfaltensturm überleben sollte, mein Helm in ungefähr sieben Minuten mit Wasser gefüllt haben wird und ich wohl der erste Mensch sein werde, der im All ertrinkt.

Falls wir das hier überleben?

»Vergiss es«, murmele ich.

***

»Vergiss es«, sagt die Offizierin.

Dreieinhalb Stunden zuvor stehe ich im Flugsicherungszentrum der Aurora Academy. Die Flugdeckoffizierin, Lieutenant Lexington, ist nur zwei Jahre älter als ich. Auf der Gründungstagparty vor ein paar Monaten war sie so beduselt, dass sie mir gestanden hat, wie hübsch sie meine Grübchen findet. Seither lächle ich ihr so oft wie möglich zu.

Hey, man darf mit seinen Reizen nicht geizen.

Selbst zu dieser späten Stunde ist viel los an den Docks. Vom Zwischengeschoss aus sehe ich, wie ein schwerer Frachter aus dem Traskischen Sektor entladen wird. Das riesige Schiff hängt an der Flanke der Station, die Hülle sichtlich ramponiert von den Milliarden Kilometern, die es schon auf dem Buckel hat. Beladerdrohnen umsurren es in einem metallisch glänzenden Schwarm.

Ich drehe mich wieder zu der Offizierin. Lächle noch ein bisschen breiter.

»Nur für eine Stunde, Lex«, bitte ich.

Second Lieutenant Lexington zieht eine Augenbraue hoch. »Meinten Sie nicht: ›Nur für eine Stunde, Ma’am‹, Kadett Jones?«

Ups. Übers Ziel hinausgeschossen.

»Jawohl, Ma’am.« Ich salutiere so zackig, wie ich nur kann. »Verzeihung, Ma’am.«

»Sollten Sie sich nicht eher ausruhen und hinlegen?«, fragt sie zweifelnd.

»Ich kann nicht schlafen, Ma’am.«

»Lampenfieber vor der Auslese?« Sie schüttelt den Kopf und ringt sich endlich zu einem Lächeln durch. »Sie haben die höchste Punktzahl von allen Alphas in Ihrem Jahrgang. Wovor sollten Sie Angst haben?«

»Ist nur Adrenalin.« Ich nicke zu den Phantoms rüber, die in Bucht 12 aufgereiht stehen. Die Aufklärer sind schnittig. Tränenförmig. Schwarz wie das Nichts da draußen. »Ich dachte, ich könnte die nervöse Energie vielleicht für eine kleine Flugübung in der Raumfalte nutzen.«

Ihr Lächeln erstirbt. »Negativ. Ohne einen Wingman dürfen Kadetten nicht in die Raumfalte, Jones.«

»Ich habe eine Fünf-Sterne-Empfehlung von meinem Flugtrainer. Und ab morgen bin ich Vollmitglied der Legion. Ich fliege auch nicht weiter als ein Viertel Parsec.«

Ich beuge mich vor. Drehe den Grübchencharme bis zum Anschlag auf.

»Ich würde Sie doch niemals belügen, Ma’am.«

Und langsam, ganz langsam wandern ihre Mundwinkel wieder in die Höhe.

Danke, Grübchen.

Zehn Minuten später sitze ich im Cockpit einer Phantom. Die Triebwerke laufen warm, die Docksysteme befördern mein Schiff in die Startröhre, und unter geräuschlosem Tosen werde ich in die schwarze Leere katapultiert. Hinter den Schutzscheiben glitzern Sterne. Ringsum erstreckt sich die unendliche Weite des Alls. Die Aurora Station leuchtet hinter mir; flinke Kreuzer und schwerfällige Großkampfschiffe ankern an ihren Liegeplätzen oder brausen durch die Dunkelheit um die Raumstation. Ich ändere den Kurs und werde von Schwindel gepackt, als die Schwerkraft von mir abfällt.

Vor mir, etwa fünftausend Kilometer vom Bug der Raumstation entfernt, ragt das Raumfaltentor auf. Ein riesenhaftes Hexagon. Seine Pylone blinken grün. Im Innern des Sechsecks erkenne ich ein schimmerndes, von nadelspitzen Lichtern durchlöchertes Feld.

In meinem Kopfhörer knackt eine Stimme.

»Phantom 151, hier ist die Aurora-Flugsicherung. Eintritt in die Raumfalte ist freigegeben, Ende.«

»Verstanden, Aurora.«

Ich zünde meine Triebwerke und werde von dem mächtigen Schub in den Beschleunigungssitz gepresst. Das automatische Leitsystem übernimmt, das Raumfaltentor gleißt heller als die Sonne. Und ich tauche völlig geräuschlos in einen unendlichen, farblosen Himmel ein.

Milliarden Sterne funkeln mir entgegen. Die Raumfalte klafft weit auf und verschluckt mich, und in diesem Moment höre ich weder das Dröhnen meiner Triebwerke noch das Piepen meines Bordcomputers. Die Gedanken an die Auslese und die Erinnerungen an meinen Dad sind wie weggeblasen.

Für einen klitzekleinen Moment ist die gesamte Milchstraße vollkommen still.

Und ich höre rein gar nichts.

***

Ich höre rein gar nichts.

Bis ich die Kryokapsel endlich aufgeschlossen kriege, hat der Wasserklumpen an meinem Hinterkopf meine Ohren erreicht und würgt die Alarmsignale meines Anzugs ab. Ich schüttele heftig den Kopf, aber in der Schwerelosigkeit wabert die Flüssigkeit nur über meine Haut nach vorn, ein großer Klecks, der sich auf meinem linken Auge sammelt und mich halb blind macht. Mit einem unterdrückten Fluch löse ich die Versiegelung der Kapsel und ziehe die Tür auf.

Das Farbspektrum in der Raumfalte ist monochrom – alles ist auf Schwarz- und Weißtöne reduziert. Als die Beleuchtung in der Kapsel zu einer anderen Graustufe wechselt, bin ich also nicht sicher, welche Farbe sie annimmt, bis …

Alarmstufe Rot. Stasis unterbrochen. Kapsel 7173 unbefugt geöffnet. Alarmstufe Rot.

Auf den Monitoren blinken Warnungen, sobald ich meine Hände in das dickflüssige Gel tauche. Ich stöhne auf, als die eisige Kälte durch meinen Anzug dringt. Ich habe keinen blassen Schimmer, was mit dem Mädchen passiert, wenn ich sie vorzeitig da raushole, aber wenn ich sie in diesem Raumfaltensturm zurücklasse, stirbt sie auf jeden Fall. Und ich auch, wenn ich jetzt nicht endlich die Biege mache.

Und ja, das wäre wirklich verdammt scheiße.

Das Gute ist: Die Hülle der Hadfield scheint schon vor Jahrzehnten leckgeschlagen zu sein. Somit dürfte es keine Atmosphäre mehr geben, die die letzte Wärme aus dem Körper des Mädchens ziehen könnte. Der Nachteil daran: Dann gibt es auch keine Atemluft für sie. Aber die Medikamente, mit denen sie vor dem Einfrieren vollgepumpt wurde, haben ihren Stoffwechsel wahrscheinlich sowieso so stark verlangsamt, dass sie ein paar Minuten ohne Sauerstoff überleben kann. Mit dem Trinkbrunnen, der weiter in meinen Helm sprudelt, muss ich mir eher um mich Sorgen machen, was das Atmen angeht.

Schwerelos hängt das Mädchen an ihren Infusionsleitungen über der Kapsel, immer noch umschlossen von dem eiskalten Kryogel. Durch die Hadfield geht wieder ein Ruck, und ich bin froh, dass ich nicht hören kann, was der Raumfaltensturm mit dem Rumpf anstellt. Neben mir sengt sich ein pechschwarzer Blitzstrahl durch die Wand. Das Wasser, das in meinen Helm läuft, kriecht mit jeder Sekunde näher an meinen Mund heran. Ich schaufle mehrere Handvoll von dem Kühlzeugs vom Gesicht des Mädchens und schleudere es durch die Kammer, wo es gegen andere Kryokapseln klatscht. Reihenweise Kapseln, alle mit diesem Gefriergel gefüllt, alle mit einer verschrumpelten Menschenleiche im Innern.

Sie sind alle tot. Tausende. Zehntausende.

Sämtliche Terraner auf diesem Raumschiff sind tot, bis auf sie.

Gerade als ein Blitz einen weiteren Teil des Rumpfs schmelzen lässt, flackert das holographische Display in meinem Helm. Es ist eine Nachricht vom Bordcomputer meiner Phantom.

Achtung: Raumfaltensturm gewinnt an Stärke. Empfehle sofortigen Abflug. Ich wiederhole: Empfehle sofortigen Abflug.

M-hm, danke für den Tipp.

Ich sollte das Mädchen hierlassen. Das würde mir niemand zum Vorwurf machen. Und die Galaxis, in der sie aufwachen wird? Beim Schöpfer, sie würde es mir wahrscheinlich danken, wenn ich sie stattdessen dem Sturm ausliefere. Aber wenn ich diese ganzen Leichen in den anderen Kapseln so sehe … all diese Leute, die sich vor so vielen Jahren von der Erde verabschiedet haben und mit der Verheißung eines neuen Horizonts eingeschlafen sind, nur um niemals mehr aufzuwachen … da wird mir klar, dass ich sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen kann.

Geister gibt es auf diesem Schiff schon mehr als genug.

 

Mein Dad hat uns gern Geistergeschichten über die Raumfalte erzählt.

Mit diesen Schauermärchen sind wir großgeworden, meine Schwester und ich. Mein Vater blieb bis spät nachts bei uns sitzen und erzählte von den alten Zeiten, als die Menschheit ihre ersten wackeligen Schritte weg vom Planeten Terra wagte. Damals, als wir zum ersten Mal den Weltzwischenraum entdeckten, in dem das Universum anders zusammengefügt ist. Und weil wir Terraner ja so wahnsinnig kreativ sind, haben wir diesen Zwischenraum nach dem simplen, magischen Phänomen benannt, das wir darin erlebten.

Die Raumfalte.

Also. Ihr nehmt ein Blatt Papier. Jetzt stellt euch vor, dieses Blatt ist unsere gesamte Galaxis, die Milchstraße. Bisschen viel verlangt, aber vertraut mir. Denn hey, können diese Grübchen lügen?

Okay, und jetzt stellt euch vor, dass ihr euch auf einer Ecke von diesem Blatt befindet. Und die gegenüberliegende Ecke ist am gaaaanz anderen Ende der Galaxis. Selbst wenn ihr mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs wärt, bräuchtet ihr einhunderttausend Jahre, um da hinzukommen.

Aber was passiert, wenn ihr das Blatt in der Mitte faltet? Dann liegen diese Ecken übereinander, stimmt’s? Aus einer eintausend Jahrhunderte langen Reise ist ein Spaziergang ans Ende der Straße geworden. Das Unmögliche ist auf einmal möglich.

So funktioniert die Raumfalte.

Die Sache ist nur: So was hat natürlich seinen Preis.

Dad hat uns echte Horrorstorys erzählt. Die Stürme, die aus dem Nichts angepeitscht kommen und riesige Weltraumregionen abschneiden. Die frühen Expeditionsschiffe, die einfach verschwanden. Das unheimliche Gefühl, nicht allein zu sein, sitzt einem dort ständig im Nacken.

Offenbar verwirrt der Aufenthalt in der Raumfalte den Verstand umso mehr, je älter man ist. Ist man über fünfundzwanzig Jahre alt, wird es einem nur noch empfohlen, wenn man sich vorher einfrieren lässt. Ich habe also sieben Jahre als Legionär, und danach werde ich das Cockpit für den Rest meines Lebens gegen einen Schreibtisch eintauschen.

Aber jetzt, beziehungsweise vor etwas über einer Stunde, sitze ich am Steuer meiner Phantom. Überquere binnen Minuten die weiten Gefilde zwischen den Sternen. Sehe zu, wie die Sonnen verschwimmen und der Raum dazwischen sich kräuselt und Entfernungen bedeutungslos werden. Und trotzdem kriecht allmählich dieses Gefühl in mir hoch. Der Atem streicht über meinen Nacken. Die Stimmen sind gerade noch außer Hörweite.

Ich bin lang genug in der Raumfalte gewesen.

Morgen ist die Auslese.

Ich sollte mich mal aufs Ohr hauen.

Schöpfer, was habe ich hier draußen überhaupt zu suchen?

Ich will gerade einen Kurs zurück zur Aurora Academy eingeben, als die Botschaft auf meinem Hauptbildschirm erscheint. Sich in kurzen Abständen wiederholt. Eine automatisierte Nachricht.

SOS.

Beim Anblick der drei blinkenden Buchstaben wird mir flau im Magen. Laut der Charta der Aurora Legion sind alle Schiffe verpflichtet, einem Notruf nachzugehen, aber mein Sensor ortet einen Raumfaltensturm von vier Millionen Kilometern Durchmesser in der Nähe des Notrufsenders.

Und dann übersetzt mein Computer den Transpondercode des Notrufs.

Fahrzeug: Terranisches Raumschiff der Archen-Klasse

Name: Hadfield

»Ich werd nicht mehr«, flüstere ich.

Die Hadfield-Katastrophe ist jedem ein Begriff. In der Anfangszeit der terranischen Expansion verschwand das ganze Schiff in der Raumfalte. Die Tragödie beendete das Zeitalter privatwirtschaftlicher Weltraumexpeditionen. Knapp zehntausend Kolonisten kamen dabei um.

Da leuchtet noch eine Computermeldung auf meinem Schirm auf.

Achtung: Biosignal empfangen. Überlebender an Bord.

Ich wiederhole: Überlebender an Bord.

»Schöpfer hilf«, flüstere ich.

***

»Schöpfer hilf!«, brülle ich.

Nur wenige Meter von meinem Kopf entfernt bricht ein weiterer Quantenblitz durch die Hülle der Hadfield. Weil die Atmosphäre fehlt und meine Ohren sowieso voller Wasser sind, kann ich nicht hören, wie das Metall verglüht. Aber mir dreht sich der Magen um, und das Wasser in meinem Helm schmeckt auf einmal nach Salz. Inzwischen bedeckt es auch meinen Mund – nur mein rechtes Auge und meine Nase sind noch frei.

Es hatte eine Weile gedauert, bis ich sie fand. Ich musste mich lange durch die lichtlosen Eingeweide der Hadfield hangeln, vorbei an Tausenden von Kryokapseln mit Tausenden von Leichen, während draußen der Sturm immer näherkam. Ich entdeckte keine Hinweise darauf, woran diese Leute gestorben waren oder warum ein Einziger von ihnen noch lebte. Und dann stieß ich endlich auf sie. Sie lag mit geschlossenen Augen zusammengerollt in ihrer Kapsel, als wäre sie gerade erst eingeschlafen. Wie Dornröschen.

Und sie schläft auch jetzt noch, obwohl die Erschütterungen mich so hart gegen die Wand schleudern, dass mir die Luft wegbleibt. Das Wasser in meinem Helm wabbelt hin und her, sodass ich es versehentlich einatme und einen Hustenanfall bekomme. Mir bleiben vielleicht noch zwei Minuten, bis ich ertrinke. Also ziehe ich ihr kurzerhand den Sauerstoffschlauch aus dem Hals, reiße die Infusionsleitungen aus ihren Armen und sehe ihr Blut im luftleeren Raum kristallisieren. Sie rührt sich immer noch nicht. Aber sie runzelt weiter die Stirn, als könnte sie ihrem Albtraum nicht entkommen.

Kann ich gerade gut nachempfinden.

Der Wasserklumpen klebt mir jetzt auf beiden Augen. Drückt von beiden Seiten gegen meine Nasenflügel. Blinzelnd halte ich das Mädchen fest und trete gegen das Schott. Wir sind beide schwerelos, aber durch die ständigen Erschütterungen und meine verschwommene Sicht ist es fast unmöglich, sich gezielt zu bewegen. Wir krachen in eine Traube von Kryokapseln, alle mit einer uralten Leiche im Innern.

Ich frage mich, wie viele dieser Leute sie kannte.

Wir prallen von der gegenüberliegenden Wand ab, ohne dass meine Finger Halt finden. Der Bauch dieses Schiffs ist ein einziges Labyrinth aus Kammern mit Kryokapseln. Aber Orientierung in der Schwerelosigkeit war eine meiner Paradedisziplinen. Ich weiß genau, wo wir hinmüssen. Ich kenne den Weg zurück in die Hangarbucht der Hadfield, wo meine Phantom wartet.

Doch da schwappt das Wasser über meine Nase.

Und ich kriege keine Luft mehr.

Klingt ziemlich übel, ich weiß …

Okay, es ist übel.

Aber wenn ich sowieso nicht mehr atmen kann, brauche ich meinen Sauerstoffvorrat auch nicht mehr. Also drehe ich mich in Richtung des Korridors, der aus dem Kryobereich hinausführt, taste an der Rückseite meines Raumanzugs nach den richtigen Schläuchen und reiße sie ab. Und das O2 entweicht in einem so kräftigen Stoß, dass es uns wie ein winziger Strahlantrieb vorwärtskatapultiert.

Ich drücke das Mädchen fest an meine Brust. Steuere uns mit meiner freien Hand, blinzele durch das Wasser, das meinen Helm mittlerweile fast vollständig füllt. Meine Lungen brennen. Blitze durchschneiden die Wand aus Titan, als wäre sie aus Butter. Das Schiff bebt, und wir prallen von Wand zu Wand, Konsole zu Konsole, während ich wie wild mit den Füßen trete, um uns irgendwie auf Kurs zu halten.

Raus.

Weg.

Jetzt sind wir in den Docks. Meine Phantom parkt am anderen Ende, ein dunkler Fleck in meiner Unterwassersicht. Vor den Toren der Bucht lauern gewaltige, wirbelnde Sturmwolken. Schwarze Blitze wölben sich über uns. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Die ganze Galaxis verschwimmt. Ich bin fast taub. Fast blind. Ein einziger Gedanke drängt sich in mein Bewusstsein.

Wir sind immer noch zu weit vom Schiff entfernt.

Mindestens zweihundert Meter. In wenigen Sekunden wird mein Atemreflex einsetzen, ich werde mir die Lungen mit Wasser vollsaugen und kurz vor dem rettenden Hafen sterben.

Wir werden beide sterben.

Schöpfer, steh uns bei.

Blitze zucken. Meine Lungen kreischen. Mein Herz kreischt. Die gesamte Milchstraße kreischt. Ich schließe die Augen. Denke an meine Schwester. Bete für sie. Ein Schwindel packt mich. Und dann spüre ich es unter meiner Hand. Metall. Vertraut.

Was zum …

Ich öffne die Augen, und tatsächlich: Wir schweben unmittelbar neben meiner Phantom. Meine Finger berühren die Einstiegsluke. Das ist unmöglich. Das kann nicht s…

Halt dich nicht mit Fragen auf, Tyler.

Ich stemme die Luke auf, ziehe uns beide hinein und werfe sie hinter mir zu. Während sich die winzige Luftschleuse mit O2 füllt, reiße ich mir den Helm vom Kopf, schüttele das Wasser um mein Gesicht weg und schnappe mit letzter Kraft nach Luft. Vornübergekrümmt, rudernd, keuchend sauge ich in gierigen Atemzügen Sauerstoff in meine Lungen. Die schwarzen Punkte vor meinen Augen zerbersten. Die Hadfield zittert und ruckt, und die Phantom schwankt in den Andockhalterungen hin und her.

Komm in die Gänge, Tyler.

MACH SCHON, IDIOT.

Ich schiebe die Luftschleuse auf, hangele mich mit schmerzenden Lungen und tränenden Augen auf den Pilotensitz. Schlage auf die Steuerkonsole ein, aktiviere die Zünder, noch bevor die Koppelungen sich überhaupt gelöst haben, und düse aus dem Bauch der Hadfield, als hätte ich Feuer unterm Hintern.

Hinter uns tobt der Raumfaltensturm, alle meine Sensoren blinken im roten Bereich. Der Schub drückt mich in den Sitz, die Schwerkraft quetscht mir die Brust zusammen, als wir beschleunigen. Nach dem Sauerstoffmangel gibt mir das den letzten Rest.

Ich schaffe es gerade noch, mit zitternden Händen einen Notruf abzusetzen. Dann versinke ich. In das Weiß hinter meinen Augen. Die gleiche Farbe wie die Sterne, die da draußen im unendlichen Schwarz funkeln.

Und mein letzter Gedanke, bevor ich endgültig ohnmächtig werde?

Nicht etwa, dass ich gerade jemandem das Leben gerettet habe, oder dass ich keine Ahnung habe, wie wir die letzten zweihundert Meter bis zur Luftschleuse der Phantom zurückgelegt haben, oder dass wir beide eigentlich mausetot sein müssten.

Ich denke daran, dass ich die Auslese verpassen werde.

2Auri

Ich bin aus Beton. Mein Körper ist aus einem Felsblock gemeißelt, und ich kann keinen einzigen Muskel bewegen.

Und das ist das Einzige, was ich weiß. Dass ich mich nicht rühren kann.

Ich weiß nicht, wie ich heiße. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, warum ich weder sehen noch hören, weder schmecken noch riechen noch irgendetwas spüren kann.

Aber dann … nehme ich etwas wahr. Es ist so, als würde man fallen und könnte nicht sagen, wo oben und wo unten ist. Oder als würde einen ein Wasserstrahl treffen, von dem man nicht sagen kann, ob er heiß oder kalt ist. Ich bin nicht sicher, ob ich höre, sehe oder fühle. Ich weiß nur, dass ich etwas spüre, was ich vorher nicht spüren konnte, und so warte ich ungeduldig darauf, was als Nächstes passiert.

»Bitte, Ma’am, wenn Sie mir mein Uniglass geben würden, könnte ich mich von hier aus zuschalten. Dann erwische ich vielleicht noch die letzten Runden der Auslese, und wenn es nur …«

Ich höre die Stimme eines Jungen, und ich verstehe die meisten Wörter, auch wenn ich keine Ahnung habe, wovon er spricht – aber in seinem Ton schwingt eine solche Verzweiflung mit, dass mein Puls prompt schneller schlägt.

»Sie müssen verstehen, wie wichtig das ist.«

***

»Du musst verstehen, wie wichtig das ist, Aurora.« Ich höre die Stimme meiner Mutter, die hinter mir steht und mir einen Arm um die Schultern legt. »Das ändert alles.«

Wir stehen an einem Fenster. Hinter der dicken Scheibe sind Schleierwolken oder Smog zu sehen. Ich beuge mich vor, um die Stirn an das Glas zu drücken, und als ich runterschaue, erkenne ich, wo ich bin. Tief unten leuchtet ein schmuddelig grüner Fleck. Der Central Park mit seinem braunen Flickenteppich, den Barackendächern und den kleinen Äckern, die von den Bewohnern angelegt wurden, und daneben das graubraune Wasser.

Wir sind in der West Eighty-Ninth Street in der Zentrale von Ad Astra Incorporated, der Firma, in der meine Eltern arbeiten. Der Start der Expedition Octavia III steht kurz bevor. Meine Eltern wollten, dass wir verstehen, warum sie mitfahren. Warum wir uns auf ein Jahr Internat und Ferien bei verschiedenen Freunden einstellen müssen. Das war ungefähr zwei Monate, bevor Mom erfuhr, dass sie von der Mission suspendiert wurde.

Bevor Dad ihr mitgeteilt hat, dass er ohne sie fährt.

Da beginnen vor meinen Augen die Bäume im Central Park zu wachsen. Sie schießen in die Höhe wie die Bohnenranke im Märchen. Binnen Sekunden sind sie so hoch wie die Wolkenkratzer ringsum. Mehrere Triebe springen auf unser Gebäude über und umranken es im Schnellvorlauf. Wie Schlangen ziehen sie ihren Würgegriff enger, bis der Putz an den Wänden zu bröckeln beginnt und feiner Staub von der Decke rieselt.

Blaue Flocken fallen wie Schnee vom Himmel.

Aber dieser Teil meiner Erinnerung ist nie passiert, und der Anblick ist schmerzhaft – auf eine Art und Weise unangenehm, die ich selbst nicht genau fassen kann. Ich schrecke zurück, schüttle die Erinnerung von mir ab, strampele wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins.

Zurück ins Licht.

 

Das Licht ist hell, und der Junge redet immer noch, und als ich in meine leibliche Hülle zurückkehre, erinnere ich mich an meinen Namen. Ich bin Aurora Jie-Lin O’Malley.

Nein, Moment. Ich bin Auri O’Malley. So ist es besser. Das bin ich.

Und ich habe definitiv einen Körper. Das ist gut. Das ist ein Fortschritt.

Mein Geschmack- und mein Geruchsinn sind zurück, und ich wünsche sie mir sofort wieder weg, denn holy cake, ich habe einen Geschmack im Mund, als wären zwei Viecher reingekrochen, hätten sich bis auf den Tod bekämpft und wären dann vermodert.

Jetzt höre ich eine Frauenstimme. Sie scheint etwas weiter weg zu sein. »Ihre Schwester wird bald hier sein. Wenn Sie bitte einfach warten würden.«

Und der Junge: »Scarlett kommt her? Schöpfer hilf, ist schon alles vorbei? Wie lange muss ich denn noch warten?«

 

Wie lange muss ich denn noch warten?

Ich bin in einem Videochat mit meinem Dad, und diese Frage geht mir andauernd im Kopf herum. Die Uplink-Verzögerung zerrt an meinen Nerven, denn das Übertragungssystem lässt mich jedes Mal zwei Minuten warten, bis meine Antwort ihn auf Octavia erreicht, und genau so lange dauert es, bis seine zurückkommt.

Aber Dad hat Patrice neben sich sitzen, und ich wüsste nicht, warum sie dabei sein sollte, wenn sie mir nicht höchstpersönlich die große Neuigkeit mitteilen wollte. Ich rechne fest damit, gleich von ihr zu hören, dass die Warterei, die mein Leben zwei Jahre lang beherrscht hat, sehr bald vorbei sein wird. Gleich werde ich erfahren, dass die viele Arbeit sich endlich auszahlt und ich für die dritte Mission nach Octavia eingeteilt bin.

Heute ist mein siebzehnter Geburtstag, und das wäre das schönste Geschenk im ganzen weiten Universum.

Aber noch hat Patrice nichts gesagt, und Dad redet belangloses Zeug und grinst dabei, als hätte er den galaktischen Jackpot gewonnen. Sein Zelt ist weg – sie sitzen vor einer richtigen Wand, mit echtem Fenster und allem. Also geht es auf der Kolonie wohl tatsächlich voran. Auf Dads Schoß sitzt einer der Schimpansen des Octavia-Biologie-Programms, für das Dad arbeitet. Wenn meine Schwester und ich uns danebenbenehmen, bezeichnet er die Affen zum Spaß als seine Lieblingskinder.

»Meiner Adoptivfamilie geht es prima«, sagt er lachend und streichelt das Tier. »Aber ich freue mich darauf, wenigstens eins meiner Mädchen bei mir zu haben.«

»Also ist es bald so weit?«, platze ich raus.

Ich stöhne innerlich, lege den Kopf in den Nacken und stelle mich auf die nächsten vier Minuten Wartezeit bis zu seiner Antwort ein. Aber ich verspüre einen Stich, als ich meine Frage endlich bei ihnen ankommen sehe. Dad lächelt unbeirrt, doch Patrice wirkt … nervös? Besorgt?

»Es ist bald so weit, Jie-Lin«, verspricht mein Vater. »Aber … heute wollten wir dir etwas anderes sagen.«

… Wie, er hat doch nicht etwa an meinen Geburtstag gedacht?

Er lächelt immer noch, und er hebt seine Hand so hoch, dass ich sie auf dem Bildschirm sehen kann.

Mothercustard, er hält Patrices Hand.

»Patrice und ich haben in den letzten Monaten viel Zeit zusammen verbracht«, sagt er. »Und wir haben beschlossen, dass es Zeit wird, es etwas offizieller zu machen und ein gemeinsames Quartier zu beziehen. Wir werden also zu dritt sein, wenn du herkommst.« Er redet weiter, aber ich höre kaum noch hin. »Vielleicht könntest du Reismehl mitbringen. Und Tapiokastärke. Ich wünsche mir wenigstens eine nicht synthetische Mahlzeit, um unser Wiedersehen zu feiern. Ich werde euch Reisnudeln kochen.«

Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass er fertig ist und auf meine Antwort wartet. Ich starre die zwei an, wie sie Händchen halten. Dads Lächeln ist hoffnungsvoll, Patrices eher verkrampft. Ich denke an meine Mom und versuche zu verarbeiten, was das bedeutet.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sage ich schließlich. »Du willst, dass ich … feiere?«

Eine Diskussion mit vier Minuten Zeitverzögerung nach jeder Wortmeldung bringt nichts, also lasse ich meine Übertragung weiterlaufen. Rede mir einfach alles von der Seele, bevor er etwas entgegnen kann.

»Tut mir leid, Patrice, dass du das hören musst, aber Dad war ja leider nicht rücksichtsvoll genug, es mir unter vier Augen zu erzählen.« Ich richte meinen wütenden Blick auf meinen Vater und halte den Übertragungsknopf so fest gedrückt, dass mein Knöchel weiß hervortritt. »Erst mal danke für deine Glückwünsche zu meinem Geburtstag, Dad. Danke für die Gratulation zu meiner Titelverteidigung im All-States-Turnier. Danke, dass du daran gedacht hast, Callie vor ihrer Aufführung alles Gute zu wünschen. Sie hat übrigens hervorragend gespielt. Aber vor allem – danke dafür. Mom hat keine Fluggenehmigung für Octavia bekommen, also hast du sie einfach ersetzt? Ihr seid noch nicht mal geschieden!«

Ich will seine Antwort nicht abwarten. Ich will keine neuen Versionen von alten Ausreden oder Entschuldigungen hören. Mit einem Knopfdruck beende ich die Übertragung. Aber bevor ich mich abwenden kann, flackert das Standbild der beiden.

Ich sehe einen Lichtblitz.

Er ist so grell, dass die ganze Welt weiß zu gleißen beginnt. Und als ich blinzelnd die Hände vor mich halte, merke ich, dass ich nichts mehr sehen kann.

Ich kann nichts sehen.

 

Ich kann sehen.

Ich liege auf dem Rücken, und ich kann die Decke sehen. Sie ist weiß, und Kabel schlängeln sich daran entlang, und irgendwo über mir ist ein Licht, das mir in den Augen weh tut. Wie in meinem Traum halte ich die Hände schützend vor mich und bin fast überrascht, dass ich meine Finger sehen kann.

Aber von den schrägen Träumen mal abgesehen weiß ich jetzt immerhin meinen Namen. Und ich erinnere mich an meine Familie. Ich war Teil des dritten Kolonistentransports auf den Planeten Octavia III. Fortschritt!

Vielleicht bin ich jetzt auf Octavia, und das gehört alles zum Auftauprozess?

Ich starre an die Decke, lasse die Augen zum Schutz vor dem Licht aber halb geschlossen. Ich spüre mehr Erinnerungen in mir aufkeimen, aber sie entfalten sich noch nicht weiter. Vielleicht sollte ich einfach in eine andere Richtung schauen, damit sie sich raustrauen. Und dann packe ich blitzschnell zu.

Also konzentriere ich mich auf etwas anderes und versuche, den Kopf zu drehen. Ich entscheide mich für die linke Seite, weil die Stimme des Jungen von dort kam, glaube ich zumindest. Ich fühle mich wie einer dieser Muskelmänner, die sich dabei filmen, wie sie eine komplette Beladerdrohne per Hand zu ziehen versuchen, denn im Kampf gegen die Trägheit muss ich jedes Atom in mir anstrengen. Das ist ein extrem komisches Gefühl – ein unermesslicher Kraftaufwand ohne jegliche körperliche Wahrnehmung.

Belohnt werde ich dafür mit dem Anblick einer Glaskabine, die ungefähr bis in Hüfthöhe mattiert ist. Der Junge tigert auf der anderen Seite der Scheibe hin und her wie ein eingesperrtes Tier.

Mein Gehirn spielt verrückt, weil es zu viele Informationen auf einmal zu verarbeiten hat.

Tatsache: Der Typ ist so was von heiß. Markante Kiefer, blonde Wuschelhaare, düster funkelnder Blick mit einer perfekten kleinen Narbe quer durch die rechte Braue – er sieht einfach verboten gut aus. Das nimmt schon mal einen Großteil meines Denkvermögens in Beschlag.

Tatsache: Er trägt kein T-Shirt. Dieser Fakt konkurriert mit dem ersten um den Spitzenplatz der wichtigsten Tatsachen und kommt meinen Interessen momentan sehr entgegen.

Was auch immer meine Interessen sind.

Wo auch immer ich hier bin.

Aber Moment, meine Damen, Herren und Diversen. Wir haben eine neue Anwärterin auf die Tatsache des Jahrhunderts. Alle anderen Tatsachen machen jetzt bitte Platz.

Tatsache: Obwohl das Mattglas alle reizvollen Details verschleiert, steht zweifelsfrei fest, dass der schöne Unbekannte auch keine Hose trägt.

Der Tag fängt auf jeden Fall gut an.

Er runzelt die Stirn, was die Narbe an der Braue perfekt in Szene setzt.

»Das dauert echt ewig«, sagt er.

 

»Das dauert echt ewig.«

Der Mann vor mir stöhnt schon wieder. Wir stehen zu Hunderten für die Einfrierprozedur an, und im ganzen Gebäude riecht es nach chemischen Putzmitteln. Ich habe ein Flattern im Bauch, aber nicht vor Nervosität, sondern aus Vorfreude. Das Training dafür hat Jahre gedauert. Ich habe mit Zähnen und Klauen für meinen Ausbildungsplatz gekämpft. Ich habe mir diesen Moment verdient.

Gestern habe ich mich von meiner Mutter und meiner kleinen Schwester Callie verabschiedet, und das war bei weitem der schwerste Schritt. Seit der Sache mit Patrice habe ich nicht mehr mit Dad gesprochen, und ich habe keine Ahnung, was wir einander sagen werden, wenn wir uns wiedersehen. Patrice selbst hat es wohl ganz gut weggesteckt – sie hat mir ein paar Briefings geschickt, die ich lesen sollte, und blieb immer freundlich und professionell. Aber warum musste mein Vater sich ausgerechnet die Frau, die meine Betreuerin sein wird, zum Vögeln aussuchen?

Na vielen Dank auch, Dad.

Ich rücke bis an den Anfang der Warteschlange vor. Gleich bin ich mit Duschen dran, und ich werde mich so gründlich abschrubben wie noch nie, meinen dünnen grauen Overall überziehen und in die Kapsel treten. Wir werden betäubt, bevor die Sauerstoffschläuche und Magensonden gelegt werden.

Das Mädchen hinter mir ist ungefähr so alt wie ich und höllisch nervös. Ihr Blick zuckt hin und her, als würde er sofort abprallen, sobald er irgendwo landet.

»Hallo«, sage ich und probiere es mit einem Lächeln.

»Auch hallo«, erwidert sie mit zittriger Stimme.

»Ausbildung?«, tippe ich, um sie abzulenken.

»Meteorologie«, sagt sie mit einem etwas einfältigen Grinsen. »Ich bin ein Wetter-Nerd. Komme halt aus Florida. Da kriegen wir die ganze Palette ab.«

»Ich mache Erkundung und Kartographie«, sage ich. »Expeditionen ins Unbekannte, solche Sachen. Aber in der Basisstation werde ich auch oft sein. Wir könnten uns ja mal treffen.«

Sie neigt den Kopf zur Seite, als hätte ich etwas Seltsames gesagt, und die ganze Szene beginnt zu flimmern. Irgendwo flackert ein helles Licht, wie ein Stroboskop. Das Mädchen kneift geblendet die Augen zusammen, und als sie sie wieder aufschlägt, hat sich ihr rechtes Auge verändert. Die Pupille und der schwarze Rand der Iris sind immer noch zu sehen, aber im Gegensatz zu ihrem braunen linken Auge ist das rechte komplett weiß geworden.

»Eshvaren«, flüstert sie und starrt durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da.

»… Was?«

Der ungeduldige Mann, der vor uns in der Schlange steht, wiederholt das Wort flüsternd.

»E-E-Eshvaren.«

Ich fahre herum und sehe, dass auch sein rechtes Auge weiß geworden ist.

»Was bedeutet das?«

Aber keiner von beiden antwortet mir. Sie flüstern das Wort noch einmal, und es springt auf die anderen Wartenden über wie ein Waldbrand.

»Eshvaren.«

»Eshvaren.«

»Eshvaren.«

Mit sengendem Auge und zitternden Fingern streckt das Mädchen die Hand nach meinem Gesicht aus.

 

Ah, hallo, Tastsinn. Schön, dass du auch noch zu uns stößt. Und jetzt, wo du da bist, merke ich, dass ich an allen möglichen Stellen Schmerzen empfinde, die ich physiologisch bisher nicht für möglich gehalten habe.

Eine weitere Schmerzwelle erfasst mich, spült den letzten Rest von diesem unheimlichen Erinnerung-Wachtraum-Mischmasch weg und macht mir unmissverständlich klar, dass ich körperlich genauso im Eimer bin wie geistig. Ich kann nur keuchen und stöhnen – was in meiner brennenden Kehle einen Würgereiz auslöst – und durchhalten, bis es allmählich abklingt. Immerhin kehrt mit dem Schmerz und dem Tastsinn auch meine Beweglichkeit zurück. Und das heißt, dass ich mich auf die Ellbogen hochstemmen und noch mal nach dem Typen Ausschau halten kann. Seine untere Hälfte ist jetzt dunkelgrau, woraus ich schließe, dass er inzwischen leider eine Hose anhat.

So ein Pech aber auch.

Die Sache mit der Hose kitzelt eine Frage in meinem Kopf wach, und ich gucke unter das leichte, silbrige Tuch, mit dem ich zugedeckt bin, was ich eigentlich anhabe. Nichts, wie sich rausstellt. Also gar nichts.

Oha.

Ich schaue wieder zu dem Jungen rüber, und im gleichen Moment dreht er sich zu mir um und macht große Augen, als er sieht, dass ich wach bin. Ich hole Luft und versuche zu sprechen, aber es kommt nur ein Röcheln heraus. Mein Hals fühlt sich an, als würde mir jemand die Stimmbänder einzeln rausziehen.

»Geht es dir gut?«, fragt er.

»Ist das hier Octavia?«, raspele ich.

Er schüttelt den Kopf, und seine blauen Augen begegnen meinen. »Wie heißt du?«

»Aurora«, bringe ich mühsam hervor. »Auri.«

»Tyler«, entgegnet er.

Ich sollte ihn fragen, wo ich bin. Ob wir auf der Hadfield sind und ich vorzeitig aufgetaut wurde, oder noch auf der Erde, weil die ganze Mission geplatzt ist. Aber in seinem Blick liegt etwas, das mich davor zurückschrecken lässt.

Es klopft dumpf, als er die Stirn gegen die Scheibe fallen lässt. Wie ich damals am Fenster in der Eighty-Ninth Street. Die Erinnerung erwischt mich eiskalt, und auf einmal werde ich von einem Ich-will-meine-Mama-Heimweh überwältigt. Dieser Junge sieht genauso verloren aus, wie ich mich fühle.

»Geht es dir gut?«, wispere ich.

»Ich hab sie verpasst«, sagt er nach einer Weile. »Die Auslese. Ich hab sie komplett verpasst.«

Ich habe keine Ahnung, was diese Auslese sein soll oder warum sie so wichtig ist. Aber ich frage trotzdem.

»Ist was dazwischengekommen?«

Er nickt und seufzt. »Deine Bergung.«

Bergung.

Das ist kein gutes Wort.

»Wer weiß, wen ich abgekriegt habe«, sagt er, und wir wissen beide, dass er das Thema wechselt. »Ich hätte mir vier der fünf besten Kandidaten aussuchen dürfen, und jetzt krieg ich nur noch die ab, die übrig geblieben sind. Die Ausgemusterten, die sonst keiner wollte. Und dabei hab ich mich nur an die Vorschri…«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht gekommen, Ty.«

Die samtig tiefe Stimme erreicht mich von irgendwo außerhalb meines Blickfelds. Ein Mädchen.

Tyler wirbelt herum, als wäre ich Schnee von gestern, und geht an die Frontseite seiner Kabine. »Scarlett.«

Ich lasse den Blick vorsichtig in ihre Richtung wandern – ich muss weiterhin planvoll und strategisch vorgehen, spontan macht mein Körper noch gar nichts mit – und nehme besagte Scarlett in Augenschein. Da stehen zwei Mädchen, beide in Uniformen von der gleichen blaugrauen Farbe wie die Hose, die Tyler irgendwie zugeflogen ist. Eine hat flammend rote Haare – eigentlich eher orange, tolle Tönung –, die zu einem asymmetrischen Bob frisiert sind und über markante Kieferknochen fallen, die Tylers wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Sie hat auch genauso volle Lippen und dichte Augenbrauen wie er. Ihr Uniformrock ist beeindruckend kurz. Sie ist sehr groß. Und sieht hammermäßig aus. Das muss wohl Scarlett sein.

Das andere Mädchen hat ein schmales Gesicht und ein Tattoo von einem aufsteigenden Phönix auf dem Hals (autsch). Schwarzes Haar im Iro-Schnitt, mit Spikes oben und noch mehr Tattoos unter dem kurz geschorenen Flaum an den Seiten. Mir scheint, dass sie Grübchen hat und sehr breit lächeln kann, aber das ist nur eine Vermutung, weil sie gerade dreinschaut, als hätte jemand ihre Großmutter auf dem Gewissen.

»Cat?«, fragt Tyler sie. Seine Stimme ist leise, flehend.

»Ketchett wollte mich haben«, sagt Cat. »Und danach noch ein paar andere. Ich hab ihnen gesagt, dass ich schon einen Alpha habe, der es nur nicht zur Auslese geschafft hat.«

»Ach was, gesagt hast du es ihnen? Lebt Ketchett noch?«

»So halb«, sagt sie grinsend. »Wenn du demnächst mal in eine Kapelle gehst, könntest du vielleicht für seine Eier beten.«

Er atmet tief durch und legt seine Hand flach an das Glas, und sie legt ihre von der anderen Seite darauf.

Das Mädchen mit dem orangen Haar mustert sie. »Ich musste nicht ganz so stur bleiben«, sagt sie sarkastisch. »Aber ich konnte dich ja schlecht allein losziehen lassen. Du würdest da draußen keine drei Tage überleben, wenn du mich nicht hättest, um dich rauszuhauen, Bruderherz.«

Das Tattoo-Mädchen schiebt die Ärmel ihrer Uniform hoch. Darunter kommen noch mehr Tattoos zum Vorschein. »Apropos, kannst du uns mal verraten, warum du auf eigene Faust in die Raumfalte abgezischt bist? Hast wohl wieder mit deinem anderen Kopf gedacht?«

Scarlett nickt zustimmend. »Jungfrauen in Nöten zu retten ist total 22. Jahrhundert, Ty.«

… Häh?

Tyler hebt in einer »Was wollt ihr von mir?«-Geste die Hände, und die Mädchen schauen zu mir rüber und beäugen mich neugierig. Checken mich ab. Von oben bis unten.

»Ich mag ihre Frisur«, stellt Scarlett fest. Dann scheint ihr einzufallen, dass ich kein Gegenstand bin, und sie wiederholt etwas lauter und langsamer: »Ich mag deine Frisur.«

Das zweite Mädchen schnaubt. Sie wirkt weniger angetan. »Hast du ihr schon die schlechte Nachricht zu ihren Bibliotheksbüchern überbracht?«

»Cat!«, schnauzen die beiden anderen gleichzeitig.

Bevor sie weiterreden können, mischt sich eine Erwachsenenstimme ein. »Legionär Jones, Ihre Quarantäne ist aufgehoben, Sie dürfen gehen.«

Ty schaut zu mir, und unsere Blicke treffen sich. Er zögert.

Hast du ihr die schlechte Nachricht überbracht?

»Sie können morgen früh anrufen und fragen, wann ein Besuch möglich ist«, sagt die Stimme.

Er nickt widerstrebend und verlässt seine Box, als die Tür vor ihm aufgleitet. Mit einem letzten Blick zu mir geht das Trio aus dem Zimmer, und Ty verschwindet aus meiner Sicht- und Hörweite.

»Hey, habt ihr ein T-Shirt für mich?«, ist das Letzte, was ich von ihm höre.

Jetzt registriert mein Gehirn weitere Tatsachen, und während die Kälteschlaflethargie allmählich von mir abfällt, macht sich Unruhe in mir breit.

Wo bin ich? Wer sind diese Leute? Sie sind alle in Uniform – ist das eine Art Militärstützpunkt? Wenn ja, was mache ich dann hier, und bin ich in Sicherheit? Ich versuche, eine Frage zu krächzen, aber meine Stimme spielt nicht mit. Und es ist sowieso niemand da, den ich fragen könnte.

Und so bleibe ich allein zurück, in einer vollkommenen Stille, in der sämtliche Nerven im Rhythmus meines Herzschlags pochen, mir tausend unausgesprochene Fragen auf der Zunge brennen und mein Kopf mit der Verwirrung kämpft, die der Kälteschlaf offenbar mit sich bringt.

 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, als ich wieder Stimmen höre. Ich bin mitten in einem weiteren seltsamen Traumding von einer fremden Welt voller grüner Schlingpflanzen und blauem Schnee, der vom Himmel fällt, und da –

»Aurora, können Sie mich hören?«

Mühsam dränge ich die Bilder zurück und wende den Kopf. Ich muss eingedöst sein, denn neben mir steht eine Frau in der gleichen blaugrauen Uniform wie die anderen vorhin.

Die Frau ist ganz und gar weiß. Und damit meine ich nicht »Ich bin zur Hälfte Chinesin und du bist weißer als ich«-weiß, ich meine weiß wie frisch gefallener Schnee. Unfassbar weiß. Ihre Augen sind hellgrau – das ganze Auge, nicht nur die Iris – und viel zu groß. Ihr knochenweißes Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Ich bin Greater Clan Battle Leader Danil de Verra de Stoy.« Sie macht eine Pause, damit ich diesen Bandwurm schlucken kann. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Aurora.«

Great Clan wie bitte?

»M-hmm«, stimme ich zu. Ein anderes Geräusch riskiere ich lieber nicht.

Aurora werde ich nur genannt, wenn es Ärger gibt.

»Ich nehme an, dass Sie viele Fragen haben.«

Sie erwartet sichtlich keine Antwort. Ich nicke fast unmerklich und nehme meine ganze Willenskraft zusammen, um nicht wieder wegzudriften.

»Leider habe ich schlechte Neuigkeiten«, fährt sie fort. »Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen das behutsam beibringen könnte. Also sage ich es Ihnen ganz offen. Auf der Reise nach Lei Gong gab es einen Zwischenfall mit Ihrem Schiff.«

»Wir waren nach Octavia unterwegs«, krächze ich leise, aber ich weiß, dass der Name meiner Kolonie gerade keine Rolle spielt. An ihrem vorsichtig-zurückhaltenden Ton erkenne ich, dass die eigentliche Hiobsbotschaft erst noch kommt. In der Luft liegt eine Spannung wie kurz vor einem Gewitter.

»Sie wurden unsachgemäß aus dem Kryoschlaf geholt«, erklärt die Frau, »deshalb fühlen Sie sich so gerädert. Das wird sich bald bessern. Aber die Hadfield ist in der Raumfalte in einen Zwischenfall verwickelt worden, Aurora.«

»Auri, bitte«, flüstere ich und stocke.

Ein Zwischenfall in der Raumfalte.

»Auri.«

»Was für ein Zwischenfall?«, frage ich.

»Sie sind eine ganze Weile durchs All getrieben. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich anders aussehe als Sie.«

»Meine Mutter hat immer gesagt, dass es unhöflich ist, so etwas anzusprechen.«

Das quittiert sie mit einem traurigen Lächeln. »Ich bin Betraskerin. Ich gehöre zu einer von vielen extraterrestrischen Spezies, denen die Terraner begegnet sind, seit Sie sich auf der Hadfield eingeschifft haben.«

In meinem Kopf schalten sich schlagartig alle zusammenhängenden Gedanken ab und weichen einem monotonen Biiiiiiiiiiiiiiep.

Extraterrestrische Spezies?

Viele?

Beim Ausführen ist ein Fehler aufgetreten, bitte neu starten.

»Ähm«, sage ich probehalber. Mein Gehirn rattert wie wild verschiedene Möglichkeiten durch und findet nichts Brauchbares. Sind diese Leute Verschwörungstheoretiker? Bin ich von Spinnern entführt worden? Vielleicht sind das tatsächlich Soldaten, und man hat den Erstkontakt vor uns Zivilisten geheim gehalten?

»Das ist schwer zu verdauen, ich weiß«, sagt sie.

»Wir sind Außerirdischen begegnet?«, bringe ich heraus.

»Ja.«

»Aber die Reise durch die Raumfalte nach Octavia sollte nur eine Woche dauern! Wenn wir nicht angekommen sind, können doch höchstens ein paar Tage vergangen sein, oder?«

»Leider nein.«

Irgendetwas schiebt sich von den Rändern in mein Blickfeld, wie einsickerndes Wasser, nur dass dieses Wasser phosphoreszierend ist und von tausend türkisfarbenen Lichtpunkten durchbohrt wird. Ich schiebe es weg und konzentriere mich auf die Frau an meinem Bett.

»Wie …« Mein Hals schnürt sich zu. Die Frage kommt nur gehaucht heraus. »Wie lange war ich da drin?«

»Es tut mir leid, Aurora. Auri.«

»Wie lange?«

»… Zweihundertzwanzig Jahre.«

»Was? Ist nicht Ihr Ernst. Das ist …« Aber mir fehlen die Worte dafür. »Was?«

»Ich verstehe, dass das schwierig ist«, sagt sie vorsichtig.

Schwierig?

Schwierig?

Ich muss mit jemandem reden, der nicht so wirres Zeug von sich gibt. Mein Herz klopft fast zum Zerspringen, passend zu dem wilden Pochen hinter meinen Schläfen. Ich presse das silbrige Laken an mich und setze mich auf. Prompt dreht sich alles, aber ich schaffe es, die Beine von der Bettkante zu hieven und das Tuch wie eine Toga um mich zu wickeln, während ich wackelig aufstehe.

»Aurora –«

»Ich will mit jemandem von Ad Astra sprechen, jemandem von der Octavia-Expedition. Ich will mit meiner Mutter oder meinem Vater sprechen.«

»Aurora, bitte –«

Ich stolpere ein Stück vorwärts, und der Schwung trägt mich zur Tür, die vor mir aufgleitet. Zwei Frauen in blaugrauen Uniformen fahren zu mir herum, und eine macht einen Schritt auf mich zu.

Ich versuche auszuweichen, kippe aber fast zur Seite um. Sie packt mich an den Schultern. Weil ich das Laken festhalten muss, trete ich ihr kurzerhand gegen das Knie. Sie stöhnt laut auf und bohrt die Finger noch fester in meine Arme.

»Lassen Sie sie durch«, sagt die Dame in Weiß hinter mir, und während ich total Panik schiebe, klingt sie ganz ruhig. Irgendwie resigniert.

Die Frau lässt mich los, und mit zittrigen Beinen tapse ich weiter. Mein Hals fühlt sich so eng an, als wollte mich jemand erdrosseln.

Und da sehe ich die Fenster am anderen Ende des Flurs. Und das, was dahinter ist.

Sterne.

Mein Gedankenkarussell dreht sich immer schneller. Was ich da vor den Fenstern sehe, ist keine Wand. Es ist kein Gebäude. Es ist eine gewaltige, mit hellen Lichtern übersäte Front aus Metall, die sich in einem weiten Bogen vor mir erstreckt.

Was da draußen hin und her saust wie ein Schwarm winziger Fische um einen Hai, das sind Raumschiffe.

Das hier ist eine Raumstation. Ich bin im Weltall. Das ist doch nicht möglich. Gegen dieses Ding wirken die Cid-Schiffswerften, von denen die Hadfield ins All geschossen wurde, wie eine Tankstelle im hinterletzten Kaff.

Das ist doch nicht möglich.

Es sei denn, diese Frau ist tatsächlich ein Alien.

Es sei denn, ich bin tatsächlich im All.

Es sei denn, das hier ist tatsächlich die Zukunft.

 

Biiiiiiiiiiiiiiiiiep.

 

Fehler beim Ausführen, bitte neu starten.

Ich bin 237 Jahre alt.

Jeder, den ich kenne, ist tot.

Meine Eltern sind tot.

Meine Schwester ist tot.

Meine Freunde sind tot.

Mein Zuhause ist weg.

Alle, die ich kenne, sind weg.

Das ist zu viel für mich.

Die nächste Welle der Vision schwappt heran.

Und diesmal lasse ich das glitzernde Wasser über mir zusammenschlagen.

Und mich in die Tiefe ziehen.

3Scarlett

Mann, was für eine Scheiße.

Das geht meinem Bruderherz gerade durch den Kopf. Ich sehe es ihm deutlich an. Sagen würde er das nie, weil Tyler Jones, Squad Leader erster Klasse, natürlich nicht flucht. Tyler Jones kifft nicht, trinkt nicht und tut auch sonst nichts, was wir Normalsterbliche machen, wenn wir Spaß haben wollen. Aber wenn ich in meinen achtzehn Jahren in dieser komischen kleinen Galaxie eins gelernt habe, dann das:

Nur weil du es nicht sagst, heißt das noch lange nicht, dass du es nicht denkst.

Wir sitzen auf einer Galerie über dem Arboretum – na ja, Cat und ich jedenfalls. Tyler streunt hin und her und versucht damit klarzukommen, dass die letzten fünf Jahre Arbeit für die Tonne waren. Er fährt mit der Hand durch sein goldblondes Haar, und als er zum siebenhundertsten Mal an mir vorbeigeht, entdecke ich einen kleinen Kratzer auf seinen sonst so blitzblanken Stiefeln.

Auweia, es steht nicht gut um ihn.

Die durchsichtige Kuppel über uns lässt das Licht einer Milliarde ferner Sonnen herein. In dem Garten unter uns wachsen Pflanzen aus sämtlichen Planeten der Galaxis: Reben der rigellianischen Glasranke mischen sich mit den kugelförmigen Früchten der pangarischen Crepuscula und den Blüten des Singkristalls aus der Stillen See auf Artemis IV. Das Arboretum ist mein Lieblingsort hier in der Academy, aber die üppige Pracht geht meinem Brüderchen gerade wohl am Allerwertesten vorbei.

Verständlicherweise.

»Das ist doch nicht das Ende der Milchstraße, Ty«, sage ich schließlich.

»Das nicht, aber es ist verdammt nah dran«, gibt Cat zurück.

Ich werfe ihr von der Seite einen Blick zu, setze mein bestes Halt-jetzt-bloß-die-Klappe-Lächeln auf und sage leichthin: »Wir sollten das positiv sehen, Cat.«

»Ach hör doch auf, Scar«, sagt Cat, an der mein schönes Lächeln glatt abprallt. »Jeder weiß, dass Ty um seine Chance betrogen worden ist. Er hatte die besten Noten von allen Alphas in unserem Jahrgang. Und jetzt hat er sämtliche Loser und Assis an der Backe, die keiner in seiner Crew haben wollte.«

»Ich füttere dein fettes Ego ja nur ungern«, seufze ich, »aber du bist das Top-Ace der Academy, Cat. Zu den Losern oder Assis zählst du jedenfalls nicht.«

»Danke.« Sie grinst. »Ich hab ja auch dich und die anderen gemeint.«

»Oh nein, sag das nicht.« Ich presse die Hand auf die Brust. »Mein armes Herz.«

»Ooooh. Soll ich dich drücken?«

»Küss mich.«

»Aber ohne Zunge.«

Catherine Brannock ist meine Zimmergenossin an der Aurora Academy. Sie ist das Yin zu meinem Yang. Das halb leere Glas zu meinem halb vollen. Das Waffelröllchen in meinem Pinocchio-Eis. Außerdem ist sie meine und Tylers beste Freundin. Ty hat Cat an unserem ersten Tag im Kindergarten geschubst, und sie hat ihm dafür einen Stuhl so fest auf den Kopf gedonnert, dass das Holz gesplittert ist. Die ganze Aufregung bescherte meinem Bruder eine süße kleine Narbe in der rechten Augenbraue, die zu seinen supersüßen Grübchen passt, und eine Freundin, auf die er sich zu hundert Prozent verlassen kann.

Nur falls ihr euch fragt: Sie steht natürlich kein bisschen auf ihn.

»Diese O’Malley hing zweihundert Jahre in der Raumfalte fest«, sagt Cat jetzt. »Die Legion sollte Ty einen verdammten Orden dafür verleihen, dass er sie gerettet hat, statt ihm ein Team aus lauter Nieten ans Bein zu binden.«

»Nieten?«, sage ich. »Hey, du kannst von Glück sagen, dass ich so ein gefühlloses Arbeitstier bin. Sonst könnte ich mich glatt ein bisschen gekränkt fühlen.«

Cat verzieht das Gesicht. »Die Aurora Legion ist unsere beste Chance, die Milchstraße zu befrieden. Wie sollen wir uns mit einem Team aus Psychos, schwer Vermittelbaren und Gremp-Streichlern da draußen nützlich machen?«

»Es gibt Leute, die Gremps streicheln?«

»Ist mir zu Ohren gekommen …«

»Wer macht denn bitte so was?«

»Sie hat recht«, sagt Tyler.

Cat und ich schauen zu meinem Bruder hoch. Er ist stehen geblieben und starrt auf den Garten runter. Kurz erinnert er mich an unseren Dad. Und obwohl ich mein Bestes gebe, weiter die Queen of Bitch raushängen zu lassen, empfinde ich in meinem verkümmerten schwarzen Herzen tatsächlich so etwas wie Mitleid mit ihm.

»Sie hat völlig recht«, wiederholt Tyler seufzend.

»Klar hab ich recht«, knurrt Cat. »Wir sollten mit de Stoy reden. Offiziell Beschwerde einlegen. Du hast dir deine Punkte verdient, Ty, das ist nicht fair.«

»Ich meine, Scarlett hat recht«, sagt Tyler.

»Was, sie?«

»Was, ich?«

Tyler dreht sich zu uns um und lehnt sich mit verschränkten Armen an das Geländer.

»Ich hätte von vornherein nicht in die Raumfalte fliegen dürfen. Es war meine Schuld.«

»Ty, du hast dein Leben ris…«

»Nein, Cat«, sagt Ty und schaut seine beste Freundin an. »Ich weiß, du hättest dir deinen Squad aussuchen können, und ich rechne es dir hoch an, dass du zu mir gehalten hast. Aber die Auslese ist vorbei. Es wäre nicht fair, eine Sonderbehandlung einzufordern. Ich muss die Sache jetzt durchziehen.«

Seufz.

Den Weg kennen.

Den Weg weisen.

Und den Weg gehen.

Das zeichnet einen guten Anführer aus, hat unser Dad, der große Jericho Jones, immer gesagt. Und das sind die Leitsätze, nach denen Tyler lebt. Sie sind der Grund dafür, dass er sich schon immer um mich und alle in seinem Umfeld gekümmert hat. Sie sind der Grund, warum er sich überhaupt für die Aurora Legion gemeldet hat. Und normalerweise verspüre ich jedes Mal, wenn er sie aufsagt, den Drang, ihn in sein Hochheiligstes zu treten. Aber ganz gelegentlich erinnern sie mich auch daran, wie sehr ich den kleinen Hosenscheißer liebe.

Tyler atmet tief durch und nickt entschlossen.

»Die Legion hat einen Auftrag. Es gibt Leute da draußen, die unsere Hilfe brauchen, und keinem ist damit geholfen, dass wir hier hocken und uns selbst leidtun. Immerhin habe ich die beste Pilotin der Legion in meinem Squad.« Er schenkt Cat ein Lächeln mit einer Extraportion Grübchen. »Das ist doch schon mal was, oder?«

Cat zieht eine imaginäre Mütze. »Das kannst du laut sagen.«

Ty zwinkert mir zu. »Und meine Diplomatin ist zumindest kein Totalausfall.«

»Etwas mehr Respekt vor dem Alter bitte, Bruderherz.«

»Du bist nur drei Minuten älter als ich, Schwesterherz.«

»Drei Minuten und 37,4 Sekunden, Baby-Bro.«

»Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst.«

»Was glaubst du denn, warum ich es mache?« Aber ich stehe langsam auf und salutiere ironisch. »Legionärin Scarlett Isobel Jones meldet sich zum Dienst, Sir.«

Tyler salutiert ebenfalls, und ich verdrehe die Augen.

»Der höchstrangige Alpha der Aurora Academy«, sagt er. »Das beste Ace. Ein Top-Face. Klingt doch nach einem super Team. Ich meine, wir gehen auf eine Elite-Militärakademie mit den besten Schülerinnen und Schülern der gesamten Galaxis, oder? Wie schlimm kann der Rest meiner Crew dann schon sein?«

Cat und ich wechseln einen betretenen Blick.

»Ähm, tja … Was das angeht …«

 

»Sie ist eine Psychopathin«, fasst Tyler zusammen.

»Streng genommen eher eine Soziopathin«, verbessere ich.

»Schau dir diese ganzen Disziplinarstrafen an, Scarlett.«

»Äh, ich hab sie gelesen, als ich das Dossier für dich erstellt habe. Bitte, keine Ursache.«

Cat, Tyler und ich laufen die C-Promenade entlang, auf der frühmorgendliche Betriebsamkeit herrscht. Hier ist immer viel los, aber heute ist das Gewusel besonders groß, weil die neu berufenen Squads auf ihre ersten Missionen entsandt werden. Alle in der Menge sind Soldaten – vor allem Betrasker und Terraner in unseren skandalös drögen Uniformen.

Ich schwöre, wer diese Dinger entworfen hat, muss langweilig für eine interstellare Sportart gehalten haben. Ich würde lieber dem Großen Ultrasaurus von Abraaxis IV die Füße massieren, als so was zu tragen. Der Schnitt ist ja noch ganz okay, figurbetont und mit Plattierungen und schicken Schulterpolstern. Aber sie sind in hässlichem Blaugrau gehalten und haben vorne auf der Brust das glänzende Logo der Aurora Legion und auf den Schultern und Ärmelaufschlägen einen einzelnen farbigen Streifen, der anzeigt, welcher Division wir angehören:

Blau für das Führungskorps, die Alphas.

Weiß für Cat und ihre Pilotenkollegen, die Aces.

Grün für die Wissenschaftsoffiziere, die Brains.

Lila für die Technikfreaks, die Gearheads.

Rot für die Kampfmaschinen, die Tanks.

Und – zum Glück – ein kräftiges, zu meinem sonnigen Gemüt passendes Goldgelb für das diplomatische Korps, die Faces.

Ich gebe mir alle Mühe, das Outfit aufzuhübschen – mein Rocksaum ist fünf Zentimeter höher, als die Vorschriften eigentlich zulassen, und mein BH setzt sich womöglich über das Newtonsche Gravitationsgesetz hinweg. Aber wenn ich es überreize (sinnbildlich gesprochen), handele ich mir einen Tadel von einem unserer Ausbilder ein, und davon habe ich definitiv schon mehr als genug angesammelt.

Es ist vierundzwanzig Stunden her, seit Tyler in der Raumfalte den edlen Ritter gespielt hat. Battle Leader de Stoy und Admiral Adams haben die Manöverkritik mit ihm schon durch, und abgesehen von dem ungewöhnlichen Ereignis, dass er ein zweihundert Jahre altes Waisenmädchen aus dem berühmtesten Wrack der terranischen Geschichte gezogen hat, geht alles seinen gewohnten Gang. Die ersten Missionen werden im Stundentakt vergeben, und je früher unser Squad sich versammelt, desto schneller können wir los. Auf diesen Moment haben wir fünf Jahre hingearbeitet, und ich habe derart die Nase voll von dieser Station, dass ich kaum noch Luft kriege. Schule ist so was von gestern.

Tyler geht immer noch das digitale Dossier auf seinem Uniglass durch. »Zila Madran. Terranerin. Achtzehn Jahre. Wissenschaftsdivision.«

»Schlau ist sie«, sage ich. »Ihre fachlichen Leistungen sind top.«

»Sie hat in den letzten zwei Jahren zweiunddreißig Verweise bekommen.«

»Tja, wir sind nicht alle solche Musterschüler wie du, Bruderherz.«

»Schließ bloß nicht von dir auf andere«, sagt Cat und klatscht sich grinsend auf den Hintern. »Ich bin eine Überfliegerin.«

Tyler schaut kopfschüttelnd von seinem Uniglass auf. »Hier steht, dass Kadettin Madran zwei Mitschüler in ein Labor eingeschlossen und sie dem Itreya-Virus ausgesetzt hat, um ein selbst gemixtes Serum zu testen.«

»Immerhin hat es funktioniert«, wende ich ein. »Sie sind nicht erblindet.«

»Sie hat mit einer Disruptorpistole auf ihre Zimmergenossin geschossen.«

»Die war aber auf Betäuben eingestellt.«

»Mehrmals.«

»Vielleicht hatte das Mädel ein dickes Fell?«, spottet Cat.

»Auch du, Brannock?«, fragt Tyler.

Wir salutieren vor einem vorbeikommenden Ausbilder, weichen einer Schar jüngerer Kadetten aus (die beim Anblick des berühmten Tyler Jones angemessen ehrfürchtig zu tuscheln beginnen) und betreten einen Aufzug, der zu den Briefingräumen der Squads runterfährt. Während die Raumstation mit ihrem Gewimmel aus zwanzigtausend Bewohnern vor dem durchsichtigen Plastahl vorbeisaust, ruft Tyler das Dossier zu unserem nächsten Teammitglied auf.