Ausg'spuit im Bayerwald - Tessy Haslauer - E-Book

Ausg'spuit im Bayerwald E-Book

Tessy Haslauer

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Beschreibung

Mörderischer Winter in Niederbayern Der Mord an einem ehemaligen Landwirt gibt Kommissar Mike Zinnari Rätsel auf: Die Ermittlungen führen zum letzten Wohnsitz des Mannes – einer exklusiven Seniorenresidenz in Straubing, wo es augenscheinlich nicht mit rechten Dingen zugeht. Als einer seiner Verdächtigen unter merkwürdigen Umständen zu Tode kommt, muss sich Mike in einem ihm nur allzu vertrauten Dorf im Bayerischen Wald der Vergangenheit stellen.

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Tessy Haslauer, in Niederbayern geboren und aufgewachsen, lebt und arbeitet als Projektbetreuerin in Neustadt an der Donau. Neben dem Schreiben, Lesen und der Naturfotografie wandert sie in ihrer Freizeit am liebsten gemeinsam mit Ehemann und Hund durch den Bayerischen Wald, dem sie seit ihrer Kindheit eng verbunden ist.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Hayden Verry/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat, Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-717-0

Originalausgabe

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Dieser Roman ist all jenen gewidmet,

die selbstlos anderen Menschen helfen, egal,

ob als Freiwillige, Ehrenamtliche oder von Berufs wegen.

Es glaubt der Mensch, sein Leben zu leiten,

sich selbst zu führen,

und sein Innerstes wird unwiderstehlich

nach seinem Schicksale gezogen.

Prolog

Vor siebzehn Jahren, Frühsommer

Mit zitternden Händen schob sie die Bettdecke zur Seite, stand auf, schaute zuerst auf das Laken, dann prüfend an sich hinunter. Wieder keine Spur von Blut. Absolut nix. Ihre Periode hatte sie auch heute Nacht nicht bekommen.

Heute war der dreiundzwanzigste, das hieß, sie war schon seit mehr als einer Woche überfällig. Lieber Gott, das durfte doch nicht wahr sein! Nein, es konnte nicht sein! Als »es« passiert war, war sie noch Jungfrau gewesen, und es hieß doch immer, beim ersten Mal würde man nicht schwanger werden. Vor allem nicht, wenn man »es« gar nicht gewollt hatte! Wenn man dazu gezwungen worden war!

Mit an den Magen gepressten Händen stürzte sie zum Fenster, riss es heftig auf, atmete tief die reine, taufeuchte Morgenluft ein. Es war kurz nach sechs, die aufgehende Sonne sandte goldene Strahlen über die Bergkämme des Bayerischen Waldes. Vor ihrem Fenster breitete sich, noch im Schatten des über eintausend Meter hohen Berges Hirschenstein, ein dicht bestandener, reich blühender Obstgarten aus. Amseln und Buchfinken begrüßten in den knorrigen Ästen überschwänglich zwitschernd den neuen Tag.

Hatte sie dieser herrliche Anblick bisher jedes Mal beruhigt und seelisch gestärkt, so fand sie heute keine Freude daran. Überhaupt keine. Was sollte sie bloß tun, wenn sie tatsächlich schwanger war? Ein Kind bekam von diesem … ein Kind von ihm?

Ihre Eltern, mit Sicherheit zumindest ihr Vater, würden ihr wahrscheinlich nicht glauben, dass sie es nicht gewollt hatte, als er ihr im Heustadel nahe gekommen war. Viel zu nahe. Sie hatte sich heftig gewehrt, doch selbst mit ihren von vieler Arbeit starken Muskeln war sie ihm nicht übergekommen. Er war ein großer Mann, schwer gebaut, es hatte nicht viel bedurft, sie unter sich zu zwingen. Mit harten Küssen auf den Mund hatte er ihr Wimmern erstickt, mit seinen wie Pranken wirkenden Händen hatte er sie festgehalten.

Und dann war es passiert …

Hinterher hatte er sie noch mal hart geküsst, ihr gesagt, wie schön sie sei und dass er sich so etwas viel öfter von ihr wünschen würde. Ihre blutig gebissene Unterlippe und ihre tränennassen Wangen schien er dabei nicht bemerkt zu haben.

Zumindest hatte er nicht zynisch gelacht, nein, das nicht. Gelächelt auch nicht. Seine blauen Augen waren kalt geblieben, eiskalt, sie zeigten keine Spur von Zuneigung oder gar von Zärtlichkeit. Nein, sie wollte es kein zweites Mal! Ganz bestimmt nicht!

Seither war sie ihm aus dem Weg gegangen, soweit es irgendwie möglich war. Ihre Schlafzimmertür hatte sie vorher schon nachts vorsorglich abgeschlossen; Gott sei Dank hatte er bisher nie versucht, zu später Stunde in ihr Zimmer einzudringen. Sicher hatte er davor zurückgescheut, dass sie mit lautem Geschrei alle anderen im Haus wecken könnte. Zum Glück hatte sie es seitdem auch vermeiden können, mit ihm allein zusammenzutreffen. Und in Gesellschaft anderer ließ er sich nicht anmerken, was zwischen ihnen vorgefallen war. Was er ihr angetan hatte.

Was sollte sie nur machen? Jetzt zur Polizei gehen, um diese Vergewaltigung anzuzeigen, würde nach mehr als zwei Wochen wohl nichts mehr bringen. Und ehrlich gestanden, dazu fehlte ihr auch der Mut. Sie war noch immer so eingeschüchtert und gelähmt wie an dem Tag, als es passiert war. Was dann? Sich jemandem anvertrauen? Sie wüsste nicht, wem. Außer … ihrer Mutter vielleicht, wohl die Einzige, die ihr Glauben schenken würde. Er war schließlich ihr Chef, der Herr auf dem Hof, seine Schwester und alle anderen Angestellten würden ihr sowieso nicht glauben. Eher noch ihr die Schuld zuschieben. Als Verleumderin würde sie dastehen, als Lügnerin. Nein, diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen.

Würgend schluckte sie ihre Angst hinunter, Wut kroch langsam in ihr hoch. Der Druck im Magen wurde etwas leichter, der Knoten in der Kehle löste sich allmählich.

Sie würde nicht weinen, nein, sie würde stark sein. Sie musste es! Jetzt zu weinen hieße, an Gott zu zweifeln. Hilf dir selbst, dann …

Es gab nur eine Möglichkeit. Sie musste fort von hier, weg von diesem Hof, aus diesem Dorf, und weg von ihrem Zuhause. Dorthin, wo kein Mensch sie kannte. Irgendwo in der Fremde würde sich schon etwas finden, wo sie bleiben könnte. Wo sie sich klar werden könnte, wie es weitergehen sollte.

Unvermittelt lachte sie bitter auf. Wie sollte es wohl schon mit ihr weitergehen, einem Mädchen von siebzehn, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, ohne Kontakte, aber mit einem unehelichen Kind, das noch nicht einmal geboren war?

Schöne Aussichten. Eine glückliche Zukunft schien in diesem Moment für sie in weite Ferne zu rücken …

1

Sonntag, 3. März

»Jetzt geht’s aber los, Papa!« Barbara Zinnari, von allen nur kurz Babs genannt, lachte ihrem Vater schadenfroh ins Gesicht. »Ich dacht eigentlich«, fuhr die Siebzehnjährige fort, »du als Polizist müsstest besonders fit sein, dabei machst du als Erster von uns allen schlapp!« Sie wedelte mahnend mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum. »Schäm dich!«

Eine müde Handbewegung seinerseits war die Antwort. Auf beide Skistöcke gestützt, beugte sich Kriminalhauptkommissar Mike Zinnari keuchend nach vorn. Diese Abfahrt im Skigebiet Pröller hatte er nicht so schwierig in Erinnerung, doch irgendwie war ihm seine Familie mit Leichtigkeit davongefahren. Dabei war es noch nicht einmal eine schwarze Piste gewesen!

Vielleicht hätte er eine rasante Schussfahrt seinen eleganten, jedoch sehr anstrengenden Schwüngen vorziehen sollen. Sowieso hatte niemand auf seine extraschön gefahrenen Bögen geachtet. Das mitleidige Gesicht seiner Kinder und Isabels, die weiter unten am Berg auf ihn warten mussten, hätte er sich damit ganz sicher erspart. Außerdem wäre er in direkter Falllinie bestimmt nicht so außer Atem gekommen.

Mike war ein wenig schwindlig, seine Hände zitterten, und das Herz klopfte schnell und hart gegen seinen Brustkorb. Das Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzogen, sah er nun schnaufend zu seiner Tochter hoch. »Du hast gut reden, Babs. Ein alter Mann ist halt kein D-Zug!«

»Du bist beim technischen Fortschritt hintendran, Papa, inzwischen heißt das ICE«, gab Babs trocken zurück.

Mit der Hand klopfte sein Sohn Lukas ihm nun auf den daunengepolsterten Rücken. »Du bist kein alter Mann, Papa, bloß a bisserl aus der Form! Aber ich kann dich ja trainieren, dann wird des schon wieder!«

Seit der zwölfjährige Lukas in Deggendorf Mitglied der D-Jugend von SpVgg Grün-Weiß 03 war, hatte er meist nur noch Fußballtaktiken und Konditionstraining im Kopf.

Mike grinste pflichtschuldigst, während sich ein leises Auflachen vernehmen ließ. Gleich darauf sagte eine helle Stimme: »Dein Wort in Gottes Ohr, Lukas! Glaubst du wirklich, dass du das schaffst?«

Isabel Weingartner hatte sich mit Hilfe der Stöcke auf ihren Skiern einige Meter nach oben geschoben. Mit einem besorgten Blick, ein spöttisches Zwinkern sich aber nicht verkneifen könnend, blieb sie vor Mike stehen.

Schnell richtete er sich auf. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass sie glaubte, er würde sich altersschwach vor ihr verbeugen müssen! Immerhin war Isabel gut zwölf Jahre jünger als er und konditionell um einiges fitter, wie Mike im Laufe ihrer Beziehung manchmal leidvoll feststellen musste.

Isabel war Mikes Freundin, Lebensabschnittsgefährtin nannte man es heutzutage wohl, und wenn irgendjemand das Recht hatte, über ihn zu spötteln, dann sie.

Die Sonne in ihrem Rücken, konnte Mike Isabels Gesicht nicht genau sehen, er blinzelte trotz der getönten Skibrille, musste niesen und wandte den Kopf hinüber zu seiner Tochter Babs, die ihn teils belustigt, teils ängstlich musterte.

»Musst mich ned so anschauen, ich bekomm schon keinen Herzinfarkt«, knurrte er ungehalten, dehnte sich mit ausgestreckten Armen und atmete einige Male tief durch.

Langsam ging es ihm besser. Dass er aber auch so wenig Ausdauer besaß, nicht zu fassen! Schon nach der dritten längeren Abfahrt ging ihm die Puste aus, er musste Babs recht geben, er sollte sich schämen.

Okay, sein Rennrad verstaubte seit gefühlt einer halben Ewigkeit im Keller, aber der Hauptgrund schien ihm Isabels gutes Essen zu sein, das er seit einigen Monaten genießen durfte. Anscheinend schlug es sich nicht nur auf seinem zunehmenden Hüftumfang nieder.

Isabel beugte sich vor, mit einer Hand auf seiner Schulter drückte sie einen Kuss auf seine Wange. »Mein armer Schatz. Jetzt hast du schon mal frei, und wir Sklavenschinder jagen dich so den Berg hinunter. Geht’s wieder?«

»Freilich.« Er reckte sich zu seiner stattlichen Größe von über eins neunzig, legte Isabel den Arm um die Schultern und feixte. »Kinder, beim nächsten Mal nehmen wir wieder die Hinterwies-Abfahrt, dann könnts ihr mir hinterherschauen, das schwör ich euch!«

Damit nahm er sich selbst auf den Arm. Da die Skigebiete rund um St. Englmar quasi ihre Hausberge waren, kannte natürlich jeder die Pisten in- und auswendig. Die Hinterwies-Abfahrt war als blau, also leicht zu fahren ausgewiesen, zahlreiche Skischulen und Anfänger tummelten sich dort. Alle lachten.

Geschickt versuchte Mike, von seiner verkümmerten Kondition abzulenken. Mit lauter Stimme stellte er fest: »Mensch, ist das heut nicht einfach ein herrlicher Tag? Schauts euch mal diese Aussicht an!«

Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, der Neuschnee der letzten Tage hatte nachgerade zum Skifahren eingeladen, es war ein Sonntagnachmittag wie aus dem Bilderbuch. Die schneebedeckten Berge des Bayerischen Waldes boten ein Werbeprospekt-Panorama, das keinerlei Bildbearbeitungskorrekturen bedurfte.

Mike stand zwischen seiner Tochter und Isabel, genoss zufrieden ihre nickende Zustimmung, aber noch viel mehr ihre Nähe. Zusammen mit seinen Kindern und der Frau, die er liebte, diesen Tag verbringen zu können machte ihn einfach nur glücklich. In so guter Stimmung war er schon lange nicht mehr gewesen, daran konnte auch eine wenig glanzvolle Hangabfahrt nichts ändern.

Hätte ihm das jemand vor zwei Jahren prophezeit, hätte er sich vielsagend an die Stirn getippt und den Kopf geschüttelt. Seine Ex-Frau Marion war damals zusammen mit Lukas ausgezogen, er hatte danach das Gefühl gehabt, es würde nur noch bergab gehen. Von Selbstzweifeln und müden Gedanken beherrscht, brachte er gerade noch die notwendige Energie für Beruf und die Bedürfnisse seiner Kinder auf, das war es aber schon. Etwas später hatte er Isabel bei einem seiner Mordfälle als Zeugin kennengelernt, zwischen ihnen hatte es sofort gefunkt. Seine Kinder mochten sie auch sehr, und an Schorschi, Isabels Golden Retriever, hatten Babs und Lukas schlichtweg einen Narren gefressen.

Die Scheidung von Marion etwas später war eigentlich nur noch Formsache gewesen und ohne großes Tamtam abgelaufen. Inzwischen gehörten die blonde Heilpraktikerin und ihr Hund Schorschi zu seiner Familie, auch wenn Isabel bisher nicht dazu bereit gewesen war, ihr kleines Häuschen in Rundlberg, hier ganz in der Nähe, aufzugeben und bei ihm einzuziehen. Sie pendelte, blieb an manchen Wochenenden bei ihm in Bogen, oder, an den Tagen, die Babs bei ihrer Mutter in Deggendorf verbrachte, fuhr Mike zu Isabel, sofern es sein Dienst zuließ.

Ja, Mike war glücklich, das ließ sich nicht leugnen, und in solchen Momenten wie diesem hätte er am liebsten die ganze ihm zu Füßen liegende bayerische Welt umarmt.

Zurück auf den Boden der Tatsachen brachte ihn schließlich sein Handy, das sich zuerst mit einem Vibrieren, dann mit Falcos Song »Drah di ned um, der Kommissar geht um« lautstark meldete.

»Verdammt …« Widerwillig nahm Mike den Arm von Isabels Schultern, zog sich, die Hände zwischen die Knie geklemmt, die Handschuhe aus und fummelte das Telefon aus der Tasche seines Anoraks.

»Das ist Jutta, ich erkenn das am Klingelton«, behauptete Babs und stieß Isabel von der Seite an. »Jetzt ist wohl Schluss mit lustig.«

Isabel gab keine Antwort, sie beobachtete Mikes Gesicht, das sich während des Gesprächs immer mehr verfinsterte. Falcos Welthit als Klingelton für die Kriminalinspektion, meistens in Person seiner Kollegin Jutta Heinze, war ihnen inzwischen hinreichend geläufig, und wie so oft erklang er zu den völlig unpassendsten Momenten.

Seufzend drehte sich Isabel zu Babs um. »Sieht ganz so aus, Babs, Schluss mit lustig«, gab sie ihr recht. »Gut, dass wir eh schon fast am Parkplatz sind, die letzten paar Meter gehen ja schnell.«

Verdrossen schob Mike das Smartphone wieder ein.

»Wir müssen heimfahren, Kinder, tut mir leid.« Obwohl er versuchte, seine Stimme unbeschwert klingen zu lassen, war ihm der Ernst der Angelegenheit anzusehen, die schmalen Augen und die umwölkte Stirn sprachen für sich. Seine Anwesenheit wurde verlangt, weil ein Mensch sein irdisches Dasein verlassen hatte, und das höchstwahrscheinlich nicht auf natürlichem Wege.

Lukas war es, der nach Sekunden enttäuschten Schweigens den Startschuss gab.

»Dann nix wie los!«, rief er laut, stieß sich ab und wedelte flink die etwa hundert Meter voraus, die sie noch vom Zugang zum Parkplatz trennten. Babs schoss ihm hinterher.

Isabel und Mike blieben kurz nebeneinander stehen. Schnell setzte er sie ins Bild. »Es gibt einen Toten. Ausgerechnet jetzt, aber es hilft nix, ich muss dahin. Jutta ist nur noch heut in Bereitschaft, ab morgen hat sie frei, weil sie ihre Mutter in Bielefeld besuchen will. Wäre blöd, wenn ich jetzt da ned hinfahren würde …« Er sah sie entschuldigend an. »Tut mir echt leid, Isabel, aber es geht ned anders.«

Aus seiner Stimme war deutlich zu hören, wie sehr es ihm widerstrebte, einen der so selten stattfindenden gemeinsamen Familienausflüge abbrechen zu müssen.

Isabel ergriff seine Hand. »Komm schon, Mike, jetzt mach nicht so ein Gesicht! Deine Kinder sind dran gewöhnt und ich allmählich auch. Dein Beruf geht halt mal vor. Du nimmst doch auch auf meine Termine Rücksicht, oder? So ist es nun mal bei uns.«

Ja, bei ihr klang das so einfach. Aber war es nicht genau das, was seine Ex-Frau Marion ihm früher vorgeworfen hatte? Dass ihm die Arbeit wichtiger geworden war als seine Familie, wichtiger als sie, seine Ehefrau? Allerdings war Marion damals nicht berufstätig gewesen, im Gegensatz zu Isabel, die eine erfolgreiche Heilpraktiker-Praxis in Bogen führte. Marions Unzufriedenheit mit der damaligen Situation konnte Mike inzwischen sogar verstehen. Er hoffte nur, aus seinen alten Fehlern gelernt zu haben.

Gerade deshalb wurmte ihn nun dieser Einsatz besonders. Wie lange würde Isabel wohl so verständnisvoll auf die ständigen Unterbrechungen, die Verzichte auf Vergnügungen reagieren? Mike hatte keine Ahnung, er zuckte als Antwort auf Isabels Feststellung lediglich die Schultern. Missmutig machte er sich auf den Weg nach unten, Isabel folgte langsamer.

In aller Eile verstauten sie die Skier auf dem Autodach, alles andere flog achtlos in den Kofferraum, dann traten sie die Rückfahrt an, ohne über dieses Thema ein weiteres Wort zu wechseln.

2

Der Fundort der Leiche lag irgendwo mitten in der Prärie, hatte Kommissarin Jutta Heinze am Telefon erklärt, zwischen den kleinen Ortschaften Perasdorf und Schwarzach, nur über schmale Ortsverbindungsstraßen zu erreichen und später über ein Gewirr von verschneiten Agrarwegen noch schwerer zu finden.

Wieder einmal war Mike froh über seinen Renault SUV, dem die schneebedeckten Straßen und von groben Traktorreifen stammenden Eisbrocken in den Fahrspuren kaum Probleme bereiteten.

Um halb vier nachmittags stellte Mike seinen Wagen erleichtert ab, verabschiedete sich von seinen Kindern auf der Rücksitzbank und schwang sich mit einem energischen Satz hinaus. Er wartete, bis Isabel ebenfalls ausgestiegen und zu ihm auf die Fahrerseite gekommen war.

»Danke, dass du die Kinder heimbringst, Isabel.«

»Ist doch klar. Soll ich bei dir zu Hause warten, bis du heimkommst?«

»Wenn es dir nix ausmacht? Ich kann aber ned sagen, wie spät es wird.«

»Gib mir einfach zwischendurch Bescheid, wenn du was weißt.« Sie sah zu ihm hoch, mit diesen sanften goldbraunen Augen, die ihn schon immer fasziniert hatten.

»Bitte, Mike, hör endlich auf, ein schlechtes Gewissen zu haben«, sagte sie leise, aber eindringlich. »Ich liebe dich, und ich versteh vollkommen, dass es dir ned leichtfällt, jetzt da hinüberzugehen.« Isabel wies mit dem Kinn auf den von gut einem Dutzend Leuten bevölkerten Fundort der Leiche. »Aber deine Arbeit ist wichtig, und du weißt inzwischen hoffentlich ganz genau, dass ich immer für dich da bin!«

Flüchtig berührte sie seine Wange, drehte sich um und öffnete die Autotür. Mike hielt sie am Oberarm zurück, Isabel wandte ihm das Gesicht zu. »Isabel, ich … ich dank dir. Ich meld mich später, okay?« Das war es eigentlich nicht, was er hatte sagen wollen, das Wesentliche konnte Isabel jedoch aus seinem Blick lesen.

Sie nickte und lächelte. »Ist gut. Pass auf dich auf, Mike.«

Sie stieg ein, schnallte sich an, drückte den Startknopf. Mike sah ihr nach, wie sie den Feldweg langsam zurückstieß, bis sie den Renault wenden konnte und vorsichtig davonfuhr.

Mit schmalen Augen musterte Mike nun das Szenario, das sich ihm bot. Er hatte seine Sonnenbrille im Auto vergessen, jetzt reflektierte der Schnee die schräg einfallenden Sonnenstrahlen fast unerträglich.

Eine tief verschneite ebene Landschaft dehnte sich vor ihm aus, von den darunterliegenden Kartoffel- oder Rübenäckern, abgeernteten Mais- oder Gerstenfeldern war nichts zu erahnen. Dazwischen nahmen sich einzig die blassgelben Farbtupfer eingefrorener Rapsblüten aus, die von der Zwischensaat im letzten Herbst übrig geblieben waren. In der weiteren Umgebung waren die Anbauflächen von im Gegenlicht schwarz wirkenden Wäldchen umgeben.

Eigentlich hätte es eine friedliche ländliche und einsame Gegend sein können, wären nicht die Einsatzwagen und der dunkle Leichenwagen dahinter gewesen, die sich den Schotterweg entlang aufgereiht hatten. Etwa fünfzig Meter von ihm entfernt konnte er Kollegen vom KDD, dem Kriminaldauerdienst, und Polizisten der Inspektion Straubing erkennen, die dunkelblauen Uniformen hoben sich deutlich vom Schnee ab. Dagegen erschienen die Gesichter der Spurensicherer wie bei einer Pantomime, die Körper in weiße Wichtelanzüge gehüllt, verschmolzen sie aus der Ferne fast völlig mit dem hellen Hintergrund.

Widerwillig setzte er sich in Bewegung, hatte kurz darauf die abgesperrte Stelle am Rande eines Ackers erreicht. Seine Kollegin Jutta sah ihn kommen und eilte Mike entgegen, dabei strich sie sich wie gewohnt mit einer fahrigen Bewegung eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. Stirnrunzelnd betrachtete Jutta Mikes neonbuntes Skifahrer-Outfit, verlor darüber aber kein Wort. Ihre Stimme klang müde, als sie ihn begrüßte.

»Servus, Mike. Gut, dass du da bist. Hat ja ewig gedauert.«

Schon lag ihm der Spruch vom alten Mann und dem D-Zug auf der Zunge, doch Mike unterließ es. Stattdessen sagte er ruhig: »Grüß dich, Jutta. Klär mich auf, was gibt’s denn?«

»Eine männliche, noch unbekannte Leiche, Alter geschätzt zwischen siebzig und achtzig, der Tod ist mutmaßlich durch starke Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf eingetreten. Die Spusi hat die Tatwaffe gesichert, es ist ein Flurbegrenzungsstein, er lag neben dem Toten und war voll Blut, ein paar Haaren – und …«, ein leichtes Zögern war zu hören, Jutta konnte ihr Schaudern nicht verbergen, »… Fragmenten von Schädelknochen und Hirnmasse. Echt grauenhaft.«

Mike musste schlucken. Das hörte sich wirklich nicht gut an. Ganz und gar nicht gut. Mit vielen Leichen waren sie hier im niederbayerischen Straubing Gott sei Dank nicht gesegnet, und ein Mord, der sich so grausam darstellte wie dieser, war mehr als ungewöhnlich.

»Kann ich ihn mir noch ansehen, oder ist Pauli schon fertig?«, wollte Mike wissen.

Jutta nickte. »Der Tote ist noch da, Pauli hat ihn nur zugedeckt, damit …«

»… ihn ned friert?«

»… die Sonne nicht so auf ihn draufbrennt«, vervollständigte Jutta ihren Satz. Sie warf Mike einen abfälligen Blick zu. Sein Versuch, mit einem Scherz ihre Beklommenheit zu mildern, war völlig danebengegangen. Entschuldigend zog er die Schultern hoch.

Schweigend führte Jutta ihn über den gesicherten Pfad der Spurensicherung hinüber zur Leiche.

Der Tote lag etwa zwei Meter abseits vom Traktorweg in einem Feld, mit einer alufarbenen Plane abgedeckt.

Paul Heise, der Leiter des Erkennungsdienstes, stand davor und notierte gerade etwas auf einem Block. Auch er hatte über seine Wintersachen den obligatorischen Ganzkörperschutz gezogen. Er hob den Kopf und nickte Mike zu, musterte ebenfalls seine für diese traurige Örtlichkeit völlig unpassende bunte Bekleidung, grinste kurz, wurde jedoch sofort wieder dienstlich.

»Servus, Mike. Ned grad ein sonntägliches Nachmittagsvergnügen, würd ich sagen. Echt kein schönes Bild.«

Die Stimme des kleinen bebrillten Mannes klang im Gegensatz zu sonst nachdenklich und ernst. Selbst ihm schien dieses Opfer an die Nieren zu gehen, da er keinen seiner üblichen spöttischen Kommentare abgab.

Mike nickte zurück. »Grüß dich, Pauli. Wie lang liegt der schon da, was meinst du?«

Pauli zuckte die schmalen Schultern. »Schwer zu sagen. Im Freien und bei Kälte sind die Abläufe ganz anders als bei Toten in geschlossenen Räumen oder im Sommer. Das Blut gerinnt ned so schnell, die Körperflüssigkeiten trocknen langsamer aus, aber die innere Körpertemperatur sinkt nach Eintritt des Todes rapide ab. Genaueres kann dir der Gerichtsmediziner nach der Obduktion sagen, aber ich schätz mal ganz vorsichtig, seit dem späten Vormittag. Der gute Mann hat wohl heut irgendwann kurz vor Mittag das Zeitliche gesegnet, denk ich.«

Prüfend schaute Pauli ihn an. »Du wirst dir bestimmt einen eigenen Eindruck machen wollen, bevor wir ihn mitnehmen?«

Mike nickte, obwohl er sich überwinden musste. Alles, was er bisher gehört hatte, ließ seine Neugier auf den Anblick entschieden schrumpfen.

Pauli bückte sich und zog die Aludecke hinunter bis über die Hüften des toten Mannes.

Er lag auf dem Bauch, die Arme nach vorn ausgestreckt, den Kopf zur Seite gedreht. Das tiefe Loch am Hinterkopf war unter dem schütteren grauen Haar deutlich zu sehen, von seinem Gesicht unter einer Schicht getrockneten Blutes allerdings wenig zu erkennen. Der Mund, mit bläulichen, wie eingezogen wirkenden schmalen Lippen, stand halb offen, die hellblauen getrübten Augen stierten unter struppigen Brauen hervor.

Er trug einen dunkelgrünen Parka, der über die Hüften hochgerutschte Saum der Jacke brachte ein Stück rot kariertes Flanellhemd zum Vorschein. Unterhalb der von Pauli zusammengeschobenen Plane konnte Mike den Bund einer dunkelblauen Jeanshose erkennen.

Auffallend schnell wandte er sich wieder ab. Mike war Kriminalbeamter, Mord und Totschlag sollten eigentlich mit zu seinem täglichen Brot zählen. Trotzdem, die Erfahrungen mit Mordopfern hielten sich Gott sei Dank in Grenzen. Vielleicht hatte Mike gerade deshalb mit jedem Toten, den er zu Gesicht bekam, Probleme. Der Grund dafür war, dass er jedes Mal insgeheim ein Gefühl von unerklärlichem Bedauern verspürte. Unwillkürlich stellte er sich immer wieder die Frage, was die Opfer in ihrem Leben von ihren Wünschen und Sehnsüchten wohl erreicht hatten beziehungsweise was sie nach ihrem Ableben an Gelegenheiten dazu versäumen würden. Diese Gedanken ließen sich nicht ausschalten, ganz im Gegenteil, Mike belasteten sie im Laufe der Berufsjahre immer schwerer.

»Okay, das reicht mir schon, Pauli, danke.« Mike sah auf den um knapp zwei Köpfe kleineren Mann hinunter. Dieser blinzelte ihm über den Brillenrand zu. »Ja. Verstehe.«

»Einen Unglücksfall kannst du ausschließen, oder?« Vorsichtshalber wollte Mike sich dessen vergewissern, damit sie sich nicht umsonst die Mühe einer bevorstehenden Ermittlung machten.

Seine Frage schien Pauli zu verwirren. »Hm?«

»Ja mei, ich mein halt, ob der Mann ned einfach gestürzt ist und sich den Kopf aus Versehen am Begrenzungsstein aufgeschlagen hat?«

»Nein.« Pauli stopfte den Notizblock über den Halsausschnitt seines Overalls in die Brusttasche des Anoraks und lächelte leicht.

»’tschuldige, du warst ja vorhin noch ned da. Die Tatwaffe, also der Flurstein, lag gut einen Meter neben dem Toten, deswegen kann ich schon ausschließen, dass es ein Unfall war, Mike. So leid’s mir tut, aber ich kann dir da keine Ermittlungsarbeit ersparen.«

»Wollt’s ja nur noch mal sicher wissen.« Mike grinste etwas schief und wandte sich an seine Kollegin. »Wer hat ihn überhaupt gefunden, Jutta?«

Sie wies hinüber zum Feldweg hinter dem Acker auf ein paar Jugendliche, die zwischen zwei Streifenwagen standen, umringt von uniformierten Beamten und Leuten in Zivil, die Mike von hier aus nicht deutlich erkennen konnte. Einzig Polizeiobermeister Willi Schretzlmeiers untersetzte Gestalt konnte er ausmachen, sein diensteifriger Kollege stach aufgrund seiner körperlichen Fülle auffällig aus dem Kreis der Kollegen hervor.

»Die Jungen dort drüben. Sie haben mit ihren Mountainbikes hier Geländefahren geübt, was wohl einigen Landwirten gar nicht gefällt, denn die sind einfach querfeldein gedüst. Jedenfalls haben sie den Toten hier liegen sehen und dann über ein Handy bei den Eltern eines der Jungs angerufen, die dann wiederum uns verständigt haben.«

»Hast du schon mit ihnen geredet?«

Jutta Heinze nickte. Angesäuert erwiderte sie: »Ja klar, du warst ja nicht da.«

Allmählich reichte es Mike mit ihren versteckten Vorwürfen. Schließlich hätte er heute freigehabt und war nur ihr zuliebe angetreten. Fast wollte er schon eine heftige Antwort geben, doch dann bemerkte er ihre müden Augen, die sorgenvollen Falten um ihre Mundwinkel, die zu einem schmalen Strich gepressten Lippen. Da verstand er ihre Anspannung. Er wusste, sie würde morgen nach Bielefeld zu ihrer an Alzheimer leidenden Mutter fahren, die nun zusätzlich noch an Lungenentzündung erkrankt war.

Mike sah ein, dass alles, was diesen Toten hier anging, Jutta im Moment nur peripher berührte, was heißen sollte, dass es ihr – bayerisch ausgedrückt – am Arsch vorbeiging. Klar war sie sauer darauf, dass er so spät erschienen war, denn sie wollte mit dem Fall so wenig wie möglich zu tun haben, schließlich würden alle weiteren Ermittlungen, zumindest in absehbarer Zeit, an Mike hängen bleiben.

»Tut mir leid«, murmelte er deshalb anstelle der schroffen Erwiderung. »Aber ich konnte ja ned ahnen, dass uns ausgerechnet heute ein Mordfall reinschneit, oder?«

Achselzuckend drehte sich Jutta um und sah zu den Jugendlichen hinüber. »Schon gut. Also, die primären Aussagen haben wir aufgenommen. Die Eltern des einen Jungen, der in der ersten Panik daheim angerufen hatte, sind ebenfalls hierhergekommen. Wie gesagt, noch haben wir keine Anhaltspunkte, wer der Mann ist. Er hatte weder Personalausweis noch Bankkarte oder irgendwelche anderen Dinge dabei, womit wir ihn identifizieren könnten. Willi und ich haben alles Wichtige aufgeschrieben, ich schick dir meinen Bericht bis spätestens morgen früh.«

Ihre Stimme war immer leiser geworden. Mike sah besorgt auf sie hinunter, erkannte ihre Blässe. »Hey, jetzt kipp mir bloß ned um, ja?«

Er war es nicht gewohnt, dass seine sonst so kühl und souverän agierende Kollegin plötzlich Schwäche zeigte. Langsam hob Jutta den Kopf.

»Entschuldige, aber – es ist heute einfach ein bisschen viel. In Gedanken bin ich wohl schon in Bielefeld, und dann die ganze Hektik und dieser erschlagene Mann, also, ganz ehrlich, ich kann nicht mehr …« Plötzlich packte sie Mike am Unterarm und zog ihn aus dem Acker heraus, zurück auf den Weg. »Lass uns fahren, Mike, ich will hier weg!«

»Okay. Gib mir den Schlüssel, Jutta, ich fahr.«

Dankbar reichte sie ihm den Zündschlüssel für den Audi der Fahrbereitschaft, ließ sich aufatmend auf den Beifahrersitz fallen und öffnete das Fenster einen kleinen Spalt. Vorsichtig manövrierte Mike den Wagen über die rutschigen Feldwege zurück auf die geteerte Straße, bevor er Gas gab. Der Fahrtwind, obwohl schneidend kalt, tat Jutta gut. Langsam kam wieder Farbe in ihre Wangen.

3

Während die beiden Kommissare auf dem Weg zur Straubinger Dienststelle waren, erzählte Jutta ihm alles, was sie bisher erfahren hatte. Viel war es nicht. Die fünf Jugendlichen, die das Opfer gefunden hatten, waren Freunde und verbrachten oft ihre Freizeit zusammen. Keinem von ihnen war der Mann bekannt gewesen. Und dass aufgrund fehlender Dokumente seine Identität noch nicht geklärt werden konnte, wusste Mike schon.

»Nur ein wenig Bargeld hatte er dabei, so um die dreißig Euro. Wenn es ein Raubmord gewesen wäre, hätte der Täter die sicher ebenfalls mitgenommen, oder?« Dann schwieg sie und sah nachdenklich aus dem Fenster.

Mike warf ihr einen Seitenblick zu. »Du, hör mal, ich fahr dich jetzt heim. Spar dir die schriftlichen Berichte, das übernehme ich. Du hast jetzt grad genug Probleme, also …«

»Ja, aber –«

»Nix aber, das passt schon. Du gibst mir deine Notizen, alles andere mach ich dann. Nein, ehrlich, halt jetzt die Klappe, das passt schon!«

Obwohl er einen harschen Ton angeschlagen hatte, schaute sie ihn dankbar an. »Okay. Lieb von dir. Ich wäre wohl sowieso keine große Hilfe«, seufzte sie.

Mike sagte nichts darauf, aber er lächelte ihr verständnisvoll zu.

Bald darauf hatte er sie vor ihrer Wohnung in einem außerhalb liegenden Stadtteil Straubings abgesetzt, stieg aus und reichte ihr zum Abschied die Hand. Normalerweise hätte Mike eine tröstende Umarmung vorgezogen, aber nicht bei Jutta Heinze, seiner Kollegin. Ihre introvertierte Art hatte schon immer für eine gewisse Distanz gesorgt, auch wenn sie sich zwischenmenschlich mittlerweile sehr gut verstanden. Jutta wusste auch so, was Mike dachte und fühlte.

Sie drückte kurz seine Hand, lächelte ihm flüchtig zu und bedankte sich noch einmal. Dann verschwand sie eilig hinter der Haustür zu ihrer Wohnung.

Mike fuhr weiter zur Kriminalinspektion Straubing, pflückte Juttas Notizen vom Beifahrersitz und stieg aus. Der Parkplatz im Hinterhof des Polizeigebäudes im Stadtkern von Straubing lag inzwischen völlig im Schatten.

Hier war es um einiges kälter, der Wind pfiff schneidend durch die Toreinfahrt, einige Sekunden blieb Mike dennoch stehen und atmete tief durch. Am westlichen Himmel ballten sich hohe Wolkenberge zusammen, verschlangen nach und nach den blauen Himmel, vermutlich würde es bald wieder zu schneien beginnen.

Mike seufzte.

Das Bild des Toten stand ihm noch deutlich vor Augen, die rohe Gewalt der Tat machte ihm fast Angst. Mit einem Begrenzungsstein erschlagen, lieber Himmel, Mike schätzte, dass dieser um die fünfundzwanzig Kilo wog. Der Tote schien nicht gerade ein Leichtgewicht gewesen zu sein, soweit Mike das von dem flüchtigen Anblick beurteilen konnte. Wie musste wohl der Mörder physisch gebaut sein, um so etwas auszuführen? Wer war zu so etwas nur imstande?

Fröstelnd rieb er sich die Hände, während er das Amtsgebäude neben der ehemaligen Jesuitenkirche betrat.

Nach einer knappen Stunde hatte Mike Juttas schnell gekritzelte Handschrift entziffert und zu einem ordentlichen Bericht zusammengefasst. Es waren zwar keine persönlichen Dokumente, aber die Geldbörse mit ein paar Münzen und kleineren Scheinen bei der Leiche gefunden worden. Ein Raubüberfall? Jutta vermutete wohl zu Recht, dass der Täter dann wohl auch das restliche Geld oder gar das ganze Portemonnaie mitgenommen hätte, überlegte Mike.

Sie hatte ebenso die erste Einschätzung Paulis schriftlich festgehalten: Trotz der Neuschneedecke waren am Fundort kaum offensichtliche Spuren zu erkennen gewesen. Bevor die Spurensicherung eingetroffen war, hatten bereits zu viele Personen und Fahrzeuge ihre Abdrücke hinterlassen.

Na ja, dachte Mike, vielleicht fanden Pauli und seine Gefolgschaft nach akribischer Suche doch noch etwas Brauchbares, schließlich war Paul Heise bekannt dafür, sehr penibel zu sein.

Gerade als Mike den Bericht abgespeichert hatte, kam Polizeiobermeister Willi Schretzlmeier zu ihm ins Büro. Sein rundes Gesicht leuchtete rot wie eine Signalfahne, es hatte wohl durch den reflektierenden Schnee zu viel Sonne abbekommen.

Aufseufzend ließ sich Willi auf den Besucherstuhl vor Mikes Schreibtisch fallen. Über sein Uniformhemd hatte er einen dicken Pullover gezogen, für die Witterung draußen durchaus passend, für Mikes geheiztes Büro eindeutig zu warm. Ächzend zog Willi ihn sich aus und ließ ihn achtlos neben dem Stuhl zu Boden fallen.

»Lieber Mann, is des warm hier drin.« Mit einem Stofftaschentuch trocknete Willi sich die Stirn, während er weitersprach. »So, mia san am Tatort fertig, die Leich wurde abtransportiert. Pauli gibt uns Bescheid, sobald er die Fingerabdrücke abg’nommen und gecheckt hod. Hoffentlich is der Alte irgendwo registriert, sonst ham wir keine Ahnung, wer der Tote sein könnt.«

»Ja, das hoff ich auch«, gab Mike zurück. »Hol dir von der Gemeindeverwaltung die Grundbuchauszüge von der Gegend, Willi, dann können wir immerhin feststellen, auf wessen Acker er gefunden wurde. Vielleicht hilft uns das schon mal weiter.«

»Kann i scho machen, Mike, oba da musst du wohl bis morgen früh warten, an am Sonntag arbeiten die ned.«

»Ach so, ja, hab ich ganz vergessen. Dann eben morgen früh. Und prüf dann gleich noch die Vermisstendatei, vielleicht ist da inzwischen schon was eingelaufen.«

»Klar, hätt i eh g’macht. Sonst noch was?«

»Mir fällt nix mehr ein. Dir?«

Willi erhob sich schnaufend. »Mia scho. Heimfahren, umziehen, zum Bräu auf a Weißbier. Kommst mit?« Er schmunzelte und deutete auf Mikes Skihose. »Après-Ski? Kriegst anstelle des Biers auch an Jagertee oder an Glühwein. A bisserl Ablenkung würd uns jetzt allen ned schaden, glaub i.«

Damit gab Willi ebenfalls seinem mulmigen Gefühl Ausdruck, auch ihm schien dieser Tote irgendwie nahezugehen.

Der Gedanke an ein Feierabendbierchen im Kreis der Kollegen war durchaus verlockend, das musste Mike zugeben, doch er dachte an Isabel und seine Kinder, die zu Hause auf ihn warteten. Zudem musste er Lukas noch zurück zu Marion nach Deggendorf fahren.

Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Danke, aber es geht ned, ich muss heim. Vielleicht können wir das ein andermal nachholen, Willi?«

»Freilich. Also, servus, bis morgen!« Und schon wollte der dickliche Polizist zur Tür hinaus, Mikes laute Stimme bremste ihn.

»Brr ha, halt, Willi! Deinen Saustall räumst bittschön schon selber auf, ja?«

Willi drehte sich um, sah, dass Mike auf den am Boden liegenden Pullover deutete. Er grinste verlegen, klaubte das Bekleidungsstück auf und verschwand hinter der Tür, die krachend ins Schloss fiel.

»’tschuldigung«, kam es noch undeutlich von draußen, bevor Willis eilige Schritte im Flur verklangen.

Mike musste ebenfalls grinsen. Der freundschaftliche Umgangston in seinem Team wirkte wie so oft tröstend, nahm manchen Druck von der Seele.

Er griff zu seinem Handy und schrieb Isabel, dass er spätestens in einer halben Stunde heimkommen würde. Der Computer war schnell heruntergefahren, Mike schloss die Bürotür ab und machte sich mit dem Audi der Bereitschaft, den er von Jutta übernommen hatte, auf den Heimweg. Gott sei Dank betrug der Fahrweg zwischen seiner Dienststelle in Straubing und dessen Nachbarort Bogen, wo er wohnte, nur etwa fünfzehn Kilometer, eine Strecke, die er relativ schnell hinter sich bringen konnte.

Die Aussicht auf einen gemeinsamen Abend mit Isabel entschädigte Mike ein wenig für den aufreibenden Nachmittag. Morgen hatte ihre Praxis in Bogen geschlossen, sie wollte nur einige Hausbesuche machen. Vor allem, da Schorschi bei ihnen war und nicht einsam daheim in Rundlberg auf sein Frauchen wartete, hoffte Mike, dass Isabel über Nacht bei ihm bleiben würde.

Voller Vorfreude parkte Mike den Audi direkt hinter Isabels Kleinwagen am Straßenrand, stieg aus und ging quer über die Hofeinfahrt zur Haustür. Dabei stellte er überrascht fest, dass die Garage leer war, der Renault fehlte.

Isabel habe es übernommen, Lukas zurück nach Deggendorf zu Mama zu bringen, erfuhr er von Babs, die ihm mit einem Geschirrtuch in der Hand aus der Küche entgegenkam.

Diese Nachricht beunruhigte Mike, denn das hätte Isabel gar nicht zu tun brauchen. Düster stellte er sich vor, wie ein Zusammentreffen seiner Ex mit Isabel ablaufen könnte, zumal er nicht dabei war, um eingreifen zu können.

Isabel und Marion kannten sich lediglich flüchtig vom Sehen, zu einem längeren Gespräch zwischen ihnen hatte es noch keine Gelegenheit gegeben. Dass Mike daran die größere Schuld trug, wollte er sich nicht eingestehen. Marion hatte selbst einen neuen Freund, einen Kerl namens Bernd, den er ebenfalls nur vom »Grüß Gott«- und »Servus«-Sagen kannte.

Er wusste, Babs und Lukas hatten sich mit den neuen Partnern ihrer Eltern abgefunden, weshalb also sollte er darauf bestehen, eine dicke Freundschaft daraus zu machen?

Marion hatte schon mehrmals vorgeschlagen, zusammen etwas zu unternehmen, sie fand es doof, den Menschen an Mikes Seite, mit dem ihre Kinder Tage und Wochen verbrachten, nicht näher zu kennen. Als Mike dieses Thema Isabel gegenüber einmal erwähnt hatte, hatte sie seiner Ex-Frau recht gegeben. Mike aber war mit dem bisherigen Verlauf durchaus zufrieden und wollte keinen Ärger riskieren. Seine Verdrängungstaktik, die ihm die letzten Jahre manchmal geholfen, ihn aber auch blockiert hatte, konnte er einfach nicht so ohne Weiteres ablegen.

Nun war also der Fall eingetreten, dass sich Isabel und Marion ohne ihn treffen würden. Allerdings waren beide Frauen durchaus vernünftig, weshalb Mike hoffte, dass alles ohne Ärger abgehen würde.

In der Zwischenzeit hatte Babs den Küchentisch zum Abendessen gedeckt und eine alles andere als frugale Brotzeit zusammengestellt. Sogar an sein Weißbier hatte sie fürsorglich gedacht. »Damit du wieder zu Kräften kommst, du alter D-Zug«, neckte sie ihn lächelnd. »Isabel wird bald zurück sein, dann können wir essen.«

Isabels Hund Schorschi, den sie während ihres Skiausfluges im Haus gelassen hatten, sprang freudig um ihn herum. Mike bückte sich und tätschelte seinen Rücken. Inzwischen hatte er sich mit dem Golden Retriever dermaßen angefreundet, dass ihm etwas fehlte, sobald Isabel ihn wieder mit zu sich nach Hause nahm.

Mike hatte noch nie ein Haustier besessen, doch Schorschis treue Hundeaugen, die feuchtkalte Schnauze, die sich frech bei jeder Gelegenheit in sein Gesicht drückte, hatte Mike lieb gewonnen. Immer mehr wuchs in ihm die Sehnsucht danach, Schorschi – aber vielmehr noch dessen Frauchen – für immer bei sich zu haben …

Schnell sprang Mike unter die Dusche, schlüpfte in ein frisches Shirt und eine lange Trainingshose, kam genau in dem Moment nach unten, als Isabel den Renault in die Garage fuhr. Verstohlen beobachtete er sie durch das Fenster, wie sie im Licht der Hoflampe zur Haustür ging.

Isabel sah entspannt und gut gelaunt aus, stellte er erleichtert fest, was wohl bewies, dass Marion und sie keinen Disput bekommen hatten. Als sie lächelnd in die Küche trat, ihn mit einem innigen Kuss begrüßte, wurde Mike herzklopfend wieder einmal bewusst, was für ein Glückspilz er doch war.

Seine beiden Kinder waren »wohlgeraten«, wie es so schön hieß, worauf er insgeheim ziemlich stolz war. Und diese umwerfende Frau, die in ihren engen Jeans, dem beigen Norwegerpulli und mit dem blonden Pferdeschwanz weitaus jünger als ihre siebenunddreißig Jahre wirkte, diese wunderbare Frau liebte ihn, gehörte zu ihm und war für ihn da. Womit hatte er das eigentlich verdient?

4

Montag, 4. März

Oberkommissar Richard Bacher war am Montagmorgen wie immer pünktlich in der Kriminalinspektion eingetroffen. Nichts ahnend strebte er seinem Büro zu, doch Mikes tüchtige Vorzimmerdame, die junge, rundliche Beate Bauernfeind, hielt ihn im Flur auf und leitete ihn zum Büro ihres Chefs um.

Zögernd trat er in Mikes Büro ein. »Guten Morgen, Mike!«

Er blieb an der Tür stehen und erwiderte das grüßende Zunicken seines Vorgesetzten mit einem vorsichtigen Lächeln.

»Morgen, Richard! Bitte, setz dich.« Mike sah ihm ernst entgegen, winkte ihm, näher zu kommen. Richard kam zu Mikes Schreibtisch und hockte sich auf den Besucherstuhl.

Es war ihm anzusehen, dass er wegen der abweichenden Montagsroutine unbehaglich darüber nachdachte, ob er etwas angestellt hatte. Immerhin war er der jüngste Kommissar in Mikes Abteilung, eigentlich Straubing nur vorübergehend zugeteilt, und seine dienstlichen Abenteuer seither hatten sein Selbstvertrauen, wenn überhaupt, nur mäßig bestärken können. Richards Befürchtungen waren allerdings völlig unbegründet, denn Mike hatte lediglich die Absicht, ihn persönlich in den neuesten Fall einzuweihen.

Während Mike nun sachlich den Fall schilderte, wurde Richard immer aufgeregter. Das Ganze erschien ihm wohl ebenso zu schrecklich, um es als alltägliches Kapitalverbrechen abzutun.

»Also, da Jutta ab heute Urlaub hat«, fuhr Mike nachdrücklich fort, »werden wir drei, du, Willi und ich, uns wohl oder übel damit befassen müssen. Mit Willi hab ich gestern schon besprochen, was als Nächstes anliegt. Du machst bitte beim Erkennungsdienst Druck, Richard. Wir können schließlich nicht anfangen zu ermitteln, solange wir nicht wissen, wer unser Toter ist.«

Richard nickte, während er sich nebenbei in den Tatortbericht vertiefte, den Mike ihm gereicht hatte. Mike bemerkte, wie der junge Kommissar angewidert das Gesicht verzog, vermutlich, weil er die Beschreibung der Kopfwunde und des Tatwerkzeuges las. Man konnte es ihm nicht verdenken. Aber er wollte Richards Meinung nicht vorgreifen und wartete schweigend auf seinen Kommentar.

Schließlich legte Richard die Mappe zurück auf den Schreibtisch und hob den Kopf.

»Mein lieber Schwan«, murmelte Richard, »das ist gar ned schöö. Allmächd, naa, des is wirkle gar nedd schöö.« Sein fränkischer Dialekt, den er sonst tunlichst zu vermeiden suchte, schlug durch, was deutlich von seiner inneren Anspannung zeugte.

»Und, was denkst du darüber?«

Ratlos gab Richard Mikes Blick zurück. Inzwischen wieder des Hochdeutschen einigermaßen mächtig, antwortete er: »Tja, so ein Stein hat schon sein Gewicht. Also, ich glaub, eine kleine, schmächtige Person kann den wohl nicht so weit nach oben heben, um einen Mann, auch wenn dieser schon älter war, von hinten damit zu erschlagen. Außer das Opfer wäre da schon gelegen. Aber das werden wir wohl erst nach den Berichten der Spusi und der Pathologie genauer wissen.«

»Vermutlich«, bestätigte Mike. »Trotzdem, der Schlag muss mit großer Kraft ausgeführt worden sein, ein Schädelknochen bricht schließlich ned so leicht durch. Obwohl, der Begrenzungsstein war alt, aus Granit, der ist schon noch etwas schwerer als die neueren, die kleiner sind und aus Leichtbeton gegossen werden. Je nach Größe muss man da mit gut einem halben Zentner rechnen.«

»Woher weißt du so was, Mike? Davon steht nichts hier im Bericht!« Fragend sah Richard ihn an.

Mike lachte. »Weil Grenzstreitigkeiten seit der Durchführung des Flurbereinigungsgesetzes andauernd vorkommen und Grenzsteinrücken früher bei den Bauern fast alltäglich war. Somit auch zwangsläufig das Ersetzen alter gegen neue Flursteine, wenn die alten ganz ›zufällig‹ verschwunden waren, weil man sie angeblich versehentlich mit eingeackert hatte. Das Spiel geht schon seit Mitte der siebziger Jahre so in Bayern, und mehr als einmal kam es dabei zu handgreiflichen Delikten.«

»Ah so, das wusste ich nicht. Hm.« Nachdenklich starrte Richard vor sich hin. »Der Tote scheint dem Bericht nach ein kräftiger Mann gewesen zu sein. Eine Person von dieser Statur spontan über den Haufen zu schlagen erscheint mir relativ schwierig, er hätte sich doch bestimmt gewehrt! Wenn sich uns mal ein Kreis von Verdächtigen erschließt, können wir wohl alte, schwache und kleine Leute als Täter von Haus aus ausschließen!«

»Ned unbedingt, Richard«, widersprach Mike. »Wir wissen ja noch gar ned, wie das Ganze abgelaufen ist. Vielleicht waren es ja mehr als einer. Bei zwei oder mehr Tätern schaut die Sache schon anders aus.«

Plötzlich kam ihm die Gruppe Jugendlicher in den Sinn, die den Toten gefunden hatten. Zu fünft waren sie gewesen, im Alter von fünfzehn bis siebzehn. Allein die Tatsache, dass sie mutwillig mit ihren Mountainbikes kreuz und quer außerhalb der Wege über Landwirtschaftsflächen gebrettert waren, zeigte Mike, dass ein gewisses Maß an Schonungslosigkeit und Gleichgültigkeit vorhanden sein musste. Ja, okay, zugegeben war die Erde momentan gefroren und schneebedeckt, der Schaden hielt sich deshalb wahrscheinlich in Grenzen.

Trotzdem, nach Mikes Ansicht tat man so etwas einfach nicht. Vielleicht hatte der alte Mann sie deshalb zur Rede stellen wollen, und die Jungen waren über ihn hergefallen?

Entschlossen sagte er: »Solange wir nichts Neues haben, reden wir noch mal mit den Jungs, die den Toten gefunden haben. Ruf die Eltern an, versuch herauszubekommen, wo die Buben zur Schule oder zur Arbeit gehen, sofern das nicht schon in den Protokollen vermerkt ist. Sag ihnen, dass wir sie ein weiteres Mal befragen wollen, entweder nach Schulschluss beziehungsweise nach deren Feierabend hier in der Dienststelle oder jetzt gleich noch an Ort und Stelle, was mir fast lieber wäre.«

Mike war der Gedanke gekommen, dass den Jungen, falls sie tatsächlich etwas damit zu tun hatten, der Schreck in alle Glieder fahren würde, wenn sie unerwartet von der Kriminalpolizei aufgesucht werden würden.

Vielleicht würde sich einer dabei unbewusst verplappern. Er wusste aber auch, dass sie ohne Anwesenheit oder Einverständnis eines Elternteiles nicht mit den Minderjährigen reden durften. Alles hing nun davon ab, was Richard mit den jeweiligen Sorgeberechtigten vereinbaren konnte.

Der rothaarige Kommissar nickte und erhob sich. »Okay, ich mach mich gleich dran. Und im Übrigen –« Richards Blick ging hinüber zu Juttas leerem Schreibtisch.

Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, wehrte Mike schon heftig mit den Händen ab. »Nix da, Richard, diesmal ziehst du ned zu mir um! Jutta bleibt nur solange es nötig ist in Bielefeld, dann kommt sie ja wieder zum Dienst. Lohnt doch die ganze Arbeit ned, jetzt deinen Krempel umzuräumen, oder?«

Vielleicht klang das ein wenig schroff, doch Mike wollte Richard gar keine Hoffnungen machen. Das hätte ihm noch gefehlt. Die Erfahrungen vom letzten Mal, als er mit dem jungen Kollegen das Büro geteilt hatte, reichten ihm allemal für die nächsten hundert Jahre.

Enttäuscht zuckte Richard die Achseln. »Hab ja nur gemeint«, murmelte er, »aber wenn du nicht willst …« Langsam ging er zur Tür, hoffend, dass sich Mike vielleicht noch anders besinnen würde.

Als sein Chef nichts mehr erwiderte, verließ Richard stumm das Büro. Mike seufzte tief. Ihm fehlte Jutta jetzt schon. Zugegeben, sie konnte sehr kühl und sachlich auftreten, aber insgeheim musste sich Mike eingestehen, dass sie ihm mit ihrer nüchternen Art immer wieder ein Gefühl von Rückhalt und Beruhigung gab.

Bei Kriminaloberkommissar Richard Bacher lag der Fall anders. Zwar hatte auch er durchaus seine Vorzüge, aber trotz allem fühlte sich Mike ihm gegenüber stets etwas unsicher, um nicht zu sagen besorgt, in etwa so, wie ein fürsorglicher Vater für seinen halbwüchsigen Sohn fühlt. Das absolute Vertrauen fehlte einfach.

Mike erinnerte sich an seine letzten Mordfälle, die er, da die Tatorte in der Nähe von Bodenmais gelegen waren, mehr zusammen mit den Kollegen der Polizeiinspektion Regen aufgeklärt hatte. Richard hatte sich damals Urlaub genommen, um die Weinlese in seiner Heimat mitzumachen, und Polizeiobermeister Willi Schretzlmeier hatte sich wundersamerweise überreden lassen, an einem Seminar für psychologisch-rhetorische Befragungen teilzunehmen. So waren Jutta und er auf die ortskenntliche Hilfe der Kollegen in Regen angewiesen gewesen.

Als Erstes fiel Mike die nette Elke Schmidt ein, die ihm sämtliche angeforderten Informationen in Rekordzeit serviert hatte, womit sie locker sowohl sein Vorzimmermädel Beate als auch Willi, den Recherche-Experten, in die Tasche stecken konnte.

Vor allem aber dachte er an Andreas Rosenmüller, den kompetenten, sympathischen Polizeimeister, den Mike sich als Mitglied seines eigenen Teams in Straubing gewünscht hätte. Sein Vorhaben, Rosenmüller nach Straubing zu holen, um ihn von seinem arroganten und ziemlich strengen Vorgesetzten loszueisen, war zwischenzeitlich hinfällig geworden. Mittlerweile hatte sich in der Inspektion Regen ein sehr gutes Betriebsklima eingestellt, was auch ein wenig Mikes persönlichem Engagement zuzuschreiben war, wie er befriedigt feststellte.

Und was Mike noch mehr freute: Er war zur Hochzeit von Polizeimeister Andi Rosenmüller mit seiner Herzensdame Amy eingeladen worden. Im Mai sollte die Feier stattfinden, und Mike nahm sich fest vor, diesen Termin keinesfalls zu verpassen.

Ein halbes Jahr waren diese Ereignisse in Regen und Bodenmais nun schon her, sinnierte Mike. Er musste sich zwingen, wieder in die Gegenwart zurückzufinden, schließlich gab es ein neues Mordopfer, dem Gerechtigkeit widerfahren sollte, und das gelang erfahrungsgemäß nur mit akribischer Arbeit der Kriminalpolizei und der angegliederten Forensik.

Er musste niesen und zog eine Schublade seines Bürotisches auf, in der Hoffnung, dort eine Packung Papiertaschentücher zu finden. Dabei fiel sein Blick auf ein amtliches Kuvert, das er vor ein paar Tagen spontan dort hineingestopft hatte, und plötzlich wurde Mike von schlechtem Gewissen übermannt.

Ein schwerwiegender Brief lag seit Freitag in Mikes Schreibtischschublade, etwas, was seinen Kollegen Oberkommissar Richard Bacher betraf. Und das sogar fundamental.

Hätte Mike zu diesem Zeitpunkt geahnt, wie sehr dieses Schreiben Richards Zukunft beeinträchtigen würde, hätte er es entweder sofort verbrannt, was natürlich gar nichts bewirkt hätte, oder schleunigst an den jungen Kollegen weitergegeben. So aber hatte Mike das Wochenende verstreichen lassen, ohne mit Richard darüber zu reden, er hatte einfach noch nicht den Mut dazu gefunden. Und auch jetzt schob er schnell das Fach zu, um das Schreiben und seine Konsequenzen vorerst aus seinen Gedanken zu verbannen.

Während Mike auf Rückmeldungen seiner Untergebenen zum aktuellen Fall wartete, rief er seine E-Mails ab, studierte die aufgelaufenen Delikte und Vorkommnisse.

Wie üblich ohne Voranmeldung platzte Willi Schretzlmeier herein. Mike sah vom Bildschirm hoch. Willis rote Kopffarbe ließ nicht erkennen, ob er sich nur aufgeregt oder ob sich der Sonnenbrand vom Vortag verschlimmert hatte.

»Mia ham den Audi bei dir dahoam abg’holt und wieder aufn Parkplatz g’stellt«, informierte er Mike, während er auf den Stuhl vor Mikes Schreibtisch plumpste. Mike, der es heute Morgen vorgezogen hatte, mit seinem eigenen Auto zur Dienststelle zu kommen, nickte ihm zu. »Dank dir. Gibt’s sonst schon was Neues?«

»Der Richard lässt dir ausrichten, dass es no koa Identifizierung gibt. Die Fingerabdrücke von dem Toten san leider nirgends gespeichert. In der Vermisstendatenbank is bis jetzt auch nix.«

Willi rieb an seiner geröteten Nase, auf deren Rücken sich die Haut zu schälen begann. »Tja, i hob wenigstens scho mol den Grundbesitzer ausfindig g’macht. Der Acker, auf dem die Leich g’funden worden is, g’hört einem gewissen Hans Riedmeier, ein Landwirt in Großberghofen, des is a kloans Kaff in der Nähe von Perasdorf. Wennst wuisst, fahr i hin.«

»Ja, mach das, Willi. Lass dir von der Pathologie ein Foto vom Toten rüberschicken und nimm es mit, vielleicht kann dir dort jemand sagen, wer das ist.«

»Eh klar. Wos machst du in der Zwischenzeit?«

»Richard und ich wollten die Jugendlichen noch mal befragen. Er schaut grad, wo er sie am ehesten auftreiben kann, damit zumindest ein Elternteil zur Verfügung steht. Du kennst ja die Vorschriften.«

»Hm, hm.« Der sonst so redselige Willi machte eine nachdenkliche Pause. Dann kratzte er sich verlegen am Hinterkopf.

»Äh, Mike, i wui ja nix sagen, du hast ja selber einen Buben fast in dem Alter, aber … i wollt’s nur erwähnt ham, dass für meinen G’schmack die fünf Burschen gestern fei ganz schön frech waren, als Jutta und i ihre Personalien und die ersten Aussagen aufg’schrieben ham. Wie sogt ma – na ja, richtig pampig waren sie halt.« Offenbar überlegte Willi, wie er seine Eindrücke am besten beschreiben konnte. »Die ham kaum eine von Juttas oder meinen Fragen ernst g’nommen«, fuhr er nachdenklich fort, »ham rumdruckst und sich immer wieder gegenseitig ang’heizt zum Rumblödeln. Vielleicht kam’s ja von der Aufregung, wos man scho verstehen könnt, wenn man a Leich findt. Aber ganz ehrlich, Mike, i glaub des ned. Dafür waren einige der Jungs vui zu frech.« Er machte eine Pause, sein Gesicht wirkte ernsthaft besorgt, was bei Willi selten vorkam. Leise fügte er hinzu: »Sog mol, is de heutige Jugend allgemein so gefühllos, oder san de fünf Hanseln da was B’sonderes?«

Mike hatte Willis Schilderung aufmerksam zugehört, doch plötzlich konnte er sich ein spontanes Lächeln nicht verkneifen. Die elementaren Erfahrungen mit pubertierenden Mädels und Jungs, die Mike in den letzten Jahren mit seinen eigenen Kindern sammeln durfte, standen Willi noch bevor. Obwohl Willi die vierzig bereits gut überschritten hatte, war er Vater von zwei Töchtern, die gerade erst das Schulalter erreicht hatten. Ein Spätzünder.

»Gott sei Dank sind ned alle Kinder so, Willi«, gab Mike belustigt zurück, »aber ich will dir die Vorfreude auf das Teenageralter deiner Töchter ned nehmen. Ich denk, da muss jeder selber durch.«

Willi schnaubte: »Na, Prost Mahlzeit. Du machst mia ja Freud! Wenn meine Mädels mia jemals auf der Nase rumtanzen sollten, oba dann …«

»Tun sie das ned jetzt schon?« Mike zog die Augenbrauen anzüglich hoch, sich an einen Samstag erinnernd, an dem sie ein kleines »Abteilungs-Grillfest« in Willis Garten veranstaltet hatten. Die beiden Mädchen hatten sich als recht verzogen und eigenwillig herausgestellt, was zur Folge hatte, dass Willi den ganzen Nachmittag kaum zum Sitzen kam, sondern ausschließlich als Alleinunterhalter seiner Töchter fungierte.

Willis Gesicht rötete sich noch mehr. »Mei, manchmal probieren sie es halt. Oba so ausg’schamt und respektlos wia die Buben gestern werden meine Mädels hoffentlich nie werd’n, sonst dreh i denen den Kragen um!«

Spöttisch blinzelte Mike ihm zu. »Abwarten, Willi. Und ich kann dir eins versichern: Man wächst mit seinen Aufgaben!«

Nachdem der Polizeiobermeister gegangen war, lehnte sich Mike nachdenklich zurück. Auch wenn er über das Geplänkel mit Willi schmunzeln musste, machte es ihn nachdenklich.

Als frech, respektlos und »ausg’schamt« hatte Willi die Jungen bezeichnet. In Anbetracht dessen, dass diese Kinder einen Toten gefunden hatten, fand er die Einschätzung seines Kollegen mehr als bedenklich. Konnte man nicht eigentlich erwarten, dass sie eingeschüchtert und verängstigt reagierten? Mike erinnerte sich daran, wie sein Sohn Lukas sich verhalten hatte, als in seinem Beisein im Wald am Großen Falkenstein ein Totenkopf gefunden worden war.

Ganz cool hatte der damals Zehnjährige es gefunden, es sogar bedauert, dass es nur ein ausgebleichter Schädel war, der von einem Gesicht nichts mehr erkennen ließ. Damals hatte Mike befürchtet, Lukas könnte zumindest Alpträume davon bekommen, doch nichts dergleichen war passiert.

Allerdings musste Mike seinem Sohn zugutehalten, dass dieser ganz und gar nicht unverschämt und frech war. Im Gegenteil, er hatte in dieser Situation sehr besonnen und erwachsen reagiert. Ein Prachtjunge eben, dachte Mike nicht wenig stolz.

5

Mit schlotternden Knien saß Verena Bogenrieder am Küchentisch, vor sich eine volle Kaffeetasse, die sie bisher nicht angerührt hatte. Als ihr bewusst wurde, dass sie nervös auf den Fingernägeln kaute, riss sie sich zusammen.

Der Anruf heute am frühen Morgen aus der Kriminalinspektion Straubing hatte sie erschreckt. Mit zitternden Händen hatte sie den Hörer gehalten, bis schließlich in ihrem von Angst blockierten Gehirn die Information angekommen war, um was es eigentlich ging.

Der Anrufer, dessen Namen sie in ihrer Aufregung nicht verstanden hatte, erklärte ihr, dass es um den Toten gehe, den Roland und seine Freunde tags zuvor aufgefunden hatten, wozu sie die fünf Jungs gerne ein weiteres Mal befragen wollten.

»Alles nur Routine«, murmelte Verena vor sich hin, hob die Tasse hoch, stellte sie, ohne getrunken zu haben, wieder zurück. Sie brachte nichts hinunter, zu aufgeregt war sie bei der Aussicht, sich in einer Stunde mit den Kriminalbeamten in der Schule treffen zu müssen. Die Bitte des Beamten abzulehnen kam nicht in Frage, das war klar. Sie war Rolands Erziehungsberechtigte, infolgedessen konnte sie dem Anliegen der Polizei kaum eine Absage erteilen.

Und wenn es schon sein musste, dachte sie, dann lieber das Ganze in der Schule hinter sich bringen als hier zu Hause.

Über ihr erklangen laute, abgehackte Schreie, doch sie reagierte nicht. Im Gegenteil, Verena hörte es kaum noch. Zu lange schon lag ihr Vater dort oben, völlig dement und bettlägerig, zu lange war sie anfangs bei jedem Laut nach oben gerannt, nur um festzustellen, dass er zornig über Personen aus der Vergangenheit schimpfte, sie als seine Tochter nicht erkannte und sie gereizt aufforderte, ihn in Ruhe zu lassen.

Wieder sah sie auf die Uhr. In zehn Minuten würde eine Nachbarin kommen, die stellvertretend für sie die Tagesschwester der Caritas empfangen musste und so lange im Haus bleiben würde, bis Verena von ihrem Termin zurückkäme. Seufzend stand sie auf. In der Diele warf sie einen kritischen Blick in den hohen Spiegel, während sie Stiefel anzog und einen Schal umlegte. Schulterlanges dunkles Haar umrahmte ein blasses Gesicht, fein gezeichnete Augenbrauen ließen ihre braunen Augen über der schmalen Nase groß erscheinen. Ihr Mund jedoch drückte mit den dünnen Falten um die Lippen ihren Missmut aus, der sie älter machte, als sie war. Energisch hob Verena die Mundwinkel nach oben und versuchte zu lächeln. Na ja, sie hatte schon mal schlechter ausgesehen, befand sie, und sobald der lange Winter zu Ende war und sie wieder mehr Sonnenlicht abbekommen würde, wäre auch ihr Gesicht nicht mehr gar so bleich.

Achselzuckend wandte sie sich ab. Es half nichts, sie musste sich langsam auf den Weg machen.

Es klingelte, Mathilde, die Nachbarin, stand vor der Tür. Mit einem resoluten »So, bin da!« kam die Mittfünfzigerin ins Haus, und Verena sah sie erleichtert an. Mechanisch, wie sie es all die Jahre getan hatte, gab sie sich heiter und sorglos, bedankte sich für die Hilfe, während sie Mathilde, schon im Gehen, noch einige Instruktionen hinterließ.

Niemand sollte ihr ansehen können, was sie tatsächlich dachte oder wie sie sich fühlte. Niemand. Niemals.

Gegen zehn Uhr machte sich Mike zusammen mit Richard auf den Weg zur Schule der Jungs, einem Gymnasium in der Nähe ihrer Dienststelle. Überrascht hatte Mike erfahren, dass alle fünf beteiligten Jugendlichen noch zur Schule gingen, sogar ins Gymnasium, was er nach Willis Ausführungen nicht erwartet hatte. Wenn schon so viel Intellekt vorhanden war, warum hatten sie sich dann gestern am Tatort dermaßen ungezogen aufgeführt?

Bisher hatte Mike die Erfahrung gemacht, dass viele seiner jugendlichen Verdächtigen oder Straftäter einer unterprivilegierten Schicht angehörten. Nicht immer, aber oft. Nun hatte er fünf Jungen als Zeugen, mit scheinbar intakten Elternhäusern, sozial abgesichert, intelligent genug, um ein Gymnasium zu besuchen, und trotzdem laut Polizeiobermeister Willi Schretzlmeier unerwartet respektlos, was sie in Mikes Augen umso verdächtiger machte.

Er beschloss, die Jungs genau unter die Lupe zu nehmen. Bisher hatten sich immerhin zwei Elternteile gefunden, die bereit waren, der Befragung in der Schule beizuwohnen. Das genügte ihm vorerst. Bei den drei anderen Jungen, die aufgrund der Vorschriften jetzt nicht vernommen werden durften, würde ihr Auftauchen vielleicht trotzdem Nachdenklichkeit und – im Falle des Falles – Reue erzeugen, was, wie Mike hoffte, in Anwesenheit ihrer Eltern später durchaus zu ehrlichen Aussagen führen würde.

Das sonnige Wetter vom Vortag hatte sich inzwischen gänzlich verabschiedet. Vorbei war es mit den Frühlingsgefühlen, der Winter schien nicht loslassen zu wollen. Dunkelgelbe Wolken jagten über den Himmel, wieder einmal trudelten dicke Schneeflocken zu Boden, machten die Straßen rutschig.

Mike musste sich gezwungenermaßen der vorsichtigen Fahrweise der Autos vor ihm anpassen, gut eine Viertelstunde später als geplant trafen Richard und er auf dem Parkplatz der Schule ein.

Der Direktor begrüßte die beiden Kommissare persönlich. »Grüß Gott, Herr Zinnari!« Direktor Pfisterhammer reichte ihm säuerlich die Hand.

Mikes Tochter Babs hatte früher diese Schule besucht, bevor er sie wegen schlechter gewordener Leistungen nach seiner Trennung von Marion auf ein anderes Gymnasium in Straubing gegeben hatte. Dort hatte sie bereits Freundinnen gehabt und sich schnell in die Gemeinschaft eingefügt, was sich bald an den besseren Noten zeigte. Der Schulleiter war damals nicht gerade erfreut gewesen, die Tochter eines Kriminalkommissars als Schülerin zu verlieren, Mike hatte das Gefühl, er trug ihm diese Entscheidung immer noch nach.

»Herr Pfisterhammer!« Mike begrüßte ihn und stellte seinen Kollegen Richard Bacher vor.

Pfisterhammer strich immer wieder über seine grau melierten Haare und rückte nervös an seiner Brille. »Im Grunde bin ich ned sehr begeistert davon, die Jungen aus dem Unterricht zu holen«, sagte er mit tiefer, brummiger Stimme. »Alles, was die Routine stört, trägt ja ned zur Förderung der Konzentration bei, ned wahr?«

Mike nickte. »Das ist uns klar, Herr Pfisterhammer. Doch nach einem solchen Erlebnis wie gestern denk ich, dass es mit der Aufmerksamkeit wohl eh ned weit her sein kann. Bestimmt reden die fünf Kinder darüber, sehen womöglich noch den grausigen Anblick von dem Toten vor sich. Wir wollen uns nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist, oder gegebenenfalls psychologische Unterstützung anbieten. Verstehen Sie das?«

Kein Wort davon, dass die Kinder in seinen Augen ebenfalls verdächtig sein könnten. Mike vermied es bewusst, schon im Vorfeld irgendwelche Ressentiments aufzubauen. Er wollte vom Direktor, oder besser noch vom Klassenlehrer, der die Jungen wohl näher kannte, eine unvoreingenommene Meinung über die Jugendlichen einholen. Da wäre es nicht ratsam gewesen, schon jetzt über irgendwelche Verdächtigungen zu sprechen.

Rektor Pfisterhammer nickte langsam. »Ja. Da ist was dran. Es gab schon eine gewisse Unruhe heute Morgen«, gab er zu, »doch Herr Schuster, der Klassenlehrer der 10a, hat das sehr schnell unterbinden können.«

»Herr Schuster ist der Klassenlehrer welcher Jungen?«, wollte Richard wissen, wobei er gleichzeitig seinen unvermeidlichen Notizblock zückte.

»Von Walter Schieder und Peter Voss. Peters Vater, der übrigens ebenfalls Peter heißt, wartet oben vor dem Klassenzimmer. Walters Eltern wollten oder konnten nicht kommen, tut mir leid.«

Richard nickte. »Ja, ich weiß, wir werden ihn zu Hause befragen.«