Avas letzter Tanz - Marion Petznick - E-Book

Avas letzter Tanz E-Book

Marion Petznick

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Beschreibung

Lisa Liebich hat es nach Berlin verschlagen, wo sie im Landeskriminalamt neue Erfahrungen sammeln kann.Doch nicht nur beruflich, sondern auch privat wagt sie sich an neue Herausforderungen: einen Tango-Tanzkurs. Als einer der Tänzer zusammenbricht, befindet sie sich plötzlich mitten in ihrem nächsten Fall.Sie weiß: Das Böse verschanzt sich allzu oft hinter der Maske der Täuschung und gibt sich den Anschein des Guten …

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Marion Petznick
Avas letzter Tanz
Ostsee-Krimi
Ostsee-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Avas letzter Tanz

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Epilog

Personen

Persönliche Worte

Danksagung

Die Autorin

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

»Tanze und dein Körper wird die Seele
vom Geist befreien.«
Unbekannt
Alle agierenden Personen, Namen und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Prolog

Beide bewegten sich fast allein auf der großen Tanzfläche im roten Salon der Villa El Gato. Leidenschaftlich und hingebungsvoll wie kaum jemand vor ihnen. Vor wenigen Minuten hatten sie große Mühe, den langen Schritten ihres Tanzes gerecht zu werden, so eng war es auf der Tanzfläche. Tango war beliebt und machte in der Villa am Rande der Stadt nicht halt. Erst nach Mitternacht wurde es ruhiger, wenige Paare blieben und ihre Zeit begann. Sie tanzten durchdrungen von dem Gefühl, sich dem anderen hinzugeben. Selbst der nun ausreichende Platz hielt sie nicht ab, ihre Körper fest aneinander zu schmiegen. Die Musik saugten sie wie im Rausch mit allen Sinnen auf. Die Frau ließ sich fallen, um sich gleich wieder eng an ihn zu schmiegen. Lange, schleichende Gehschritte wechselten sich mit kleinen, zackigen Bewegungen ab. Die waren zwar fließend, doch manche wirkten abgehackt. Das ruhige Dahingleiten ihrer Oberkörper stand im Gegensatz zu den ruckartigen Drehungen der Köpfe, die eine kühle Leidenschaft voller Distanz ausdrückten.
Wer die Beine des Tanzpaares betrachtete, sah die gleichmäßigen Schritte und würde meinen, dass nicht nur diese Beine eine Einheit zwischen ihnen bildeten. Der Rumpf blieb ruhig, doch ihre Haltung verriet mehr. Der Mann führte seine Partnerin mit dem gesamten Körper. Dabei nutzte er nur den rechten Teil seines Brustkorbes und Beckens. Mit seinen Armen gab er den Rahmen, in dem sich seine Partnerin verlässlich bewegen konnte. Sie blieben ganz bei sich. Zwei Seelen verschmolzen wortlos mit der Musik, zwei Herzen, die synchron schlugen, und die Umgebung existierte für sie nicht mehr. Er hatte mit vielen Frauen, auch Männern getanzt. Bei ihnen waren es immer nur lange Schritte, die sie miteinander tanzten. Mit ihr dagegen erlebte er zum ersten Mal die besondere Erotik des Tangos. Ihm reichten nur wenige Minuten, dann war ihm, als kenne er sie seit vielen Jahren. Nie zuvor hatte er ein so starkes Gefühl erlebt; sich völlig im Tanz zu verlieren. Er nahm ein Gefühlchaos mit nach Hause.
Anstatt die wertvollen Erlebnisse als Momente des Augenblicks anzunehmen und zu genießen, spürte er die einzigartige Intimität zwischen ihm und dieser Frau.
Bereits während der ersten Schritte schlangen sich zuerst die Beine umeinander, dann ihre Körper. Das waren schnell keine Anfängerschritte mehr.
Seit Monaten gelang es ihm nicht mehr, einfach aufzuhören oder nur eine einzige Nacht ausfallen zu lassen. Das wäre weit mehr als nur verlorene Tanzstunden. Ein Tag ohne sie würde in ihm eine Leere zurücklassen, die durch nichts anderes gefüllt werden konnte. Sie ahnte seine aufgewühlten Gefühle, doch es gelang ihr von Mal zu Mal besser, die Gedanken an sein erotisches Verlangen von sich zu weisen. Es gab Nächte, in denen er sie besonders spüren ließ, wie groß seine Sehnsucht war. Dem stillen Beobachter entging kaum der hungrige Blick des Mannes. Sie selbst bekam seine Lust zu spüren. Ihr gelang es, diese Erfahrung gut zu verdrängen, und ihre Befürchtungen wischte sie einfach weg. Sie beruhigte sich damit, dass sein Begehren allein ihren Bewegungen galt.
Der Mann fühlte anders. Er wollte sie ganz und gar, sein Wunsch, sie zu besitzen, wuchs mit jedem Tanz. Einmal blieb sie für einige Abende weg, doch er fand sie wieder. Sofort spürte er, wie die Musik den gesamten Raum mit ihren melancholischen Klängen übergoss. Ein Zauber, von dem er wusste, dass er nur vom Tango ausging. Dieser Zauber wirkte täglich ein bisschen mehr, sobald sie die Tanzfläche betraten und die rot-bläulichen Lichter mit den Klängen der Musik verschmolzen. Der Rhythmus floss von selbst in ihre Beine. Eine Stimmung, die er früher einmal erlebt hatte, berührte seine Seele. Er wusste, dass nur sie ihn mit ihrer Sinnlichkeit retten konnte.
Der frühe Morgen brach an, ohne dass die beiden den nahenden Tag überhaupt bemerkten. Erste Lichtstrahlen schimmerten durch die großen Fenster der Villa. Sie ließen das rot-bläuliche Licht im Raum flacher erscheinen. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis der letzte Ton sie beide in den kühlen Morgen entließ. Auch heute verabschiedete sie ihn in den frühen Morgenstunden mit den lapidaren Worten: »Es ist früh, ich muss mich beeilen.« Weg war sie.
Für sie war es nur ein Spiel, in dem sie und dann wieder er sich fallen ließen. Ein Spiel, in dem es nur Gewinner zu geben schien. Zumindest sah es von außen so aus. Dabei wünschte er sich täglich aufs Neue, ihr gemeinsamer Tanz möge nie zu Ende gehen. Jede Nacht träumte er von der Fortsetzung des Tanzes bei sich zu Hause. In seinen Träumen empfing er sie dort, gierig und immer mit demselben Lied: »Dance me to the End of Love«.
Die Wahrheit war anders: Er ging jeden Morgen allein nach Hause. Dort hatte er, bevor er ins El Gato gefahren war, allerhand vorbereitet, wie an jedem Abend. Selbst in der Realität lag immer dieser Titel von Leonard Cohen bereit. Er brauchte nur die On-Taste drücken und das Lied ertönte. Sie tanzte besonders gern zu solcher Musik. Das wusste er. Er hatte gespürt, wie leicht sie sich, während das Lied erklang, von ihm führen ließ oder sich selbst traute, zu improvisieren. Das gab ihm Hoffnung, sie einmal bei sich zu Hause zu empfangen. Dort stand Mate-Tee bereit, der anregend wirkte und zugleich beruhigend. Der Tee brauchte nur erwärmt zu werden. Seine Lieblingsvariante war es, ihn mit Milch oder Zimt zu trinken. Für sie beide würde er ihn mit feinstem Rum zubereiten. Sie würde mit einem kleinen Schwips wild und lustvoll mit ihm tanzen. Und vielleicht …?
Jedenfalls würde er ihr zeigen, dass sein Führungsstil zur Vollendung gebracht werden konnte. Ihre vollkommene Hingabe würde seine Erfüllung bedeuten.
Erneut blieb er mit seiner Sehnsucht allein. Ging enttäuscht nach Hause, trank seinen Mate-Tee ohne Alkohol, nur mit Milch. Er sinnierte vor sich hin, wie anders alles wäre, wenn …
Schnell mahnte er sich, beim nächsten Tanz offensiver vorzugehen. Er würde endlich mit ihr sprechen. Nur einige Stunden später lag er noch immer wach in seinem Bett und spürte seinen sehnsuchtsvollen Gefühlen nach. Einerseits hatte der Tanz all seine Sinne beflügelt, andererseits lag er nun da und fand keinen Schlaf. Oh, wäre sie in diesem Moment bei ihm!
Die Tage rauschten an ihm vorbei und jeder Tag, der ging, weckte tiefere Begehrlichkeiten in ihm. Bisher hatte er sich nicht getraut, sie direkt auf seine Wünsche anzusprechen. Manchmal dachte er, seine fordernden Worte könnten sie erschrecken. Dann wäre sie vielleicht für immer verloren. Sie war so zart, beinahe zerbrechlich, und stark zugleich. Je öfter sie tanzten, desto abweisender zeigte sie sich ihm hinterher. Ihre Kühle, kaum dass der letzte Ton verklungen war, zerriss ihm fast das Herz.
Seit einigen Tagen entfernten sich seine Gefühle ihr gegenüber in eine andere, eine fremde Richtung.

1. Kapitel

Lisas erster Tag in Berlin
Die Zeit verging wie im Flug. Obwohl die monotone Landschaft in einem zartweißen Kleid steckte, zeigte sich an manchen Orten bereits der Frühling.
Gerade mal zwei Stunden hatte der Zug benötigt, um den schmucklosen, dafür aber riesigen Bahnhof zu erreichen. Sie hatte zwar in einem Bericht von seinem Bau und der bemerkenswerten Konstruktion auf verschiedenen Ebenen gehört, doch das gesamte Ausmaß des Bahnhofs in natura zu erleben, hinterließ einen wirklich starken Eindruck. Aber da war auch wieder die Anonymität zu spüren, die riesige Bahnhöfe in fremden Städten meist bei ihr auslösten. Früher war sie in Berlin auf dem Ostbahnhof angekommen, damals war die Stadt noch in Ost- und Westberlin geteilt, und den Hauptbahnhof gab es nicht. Sie erinnerte sich daran, wie lange das schon zurücklag. Es waren über dreißig Jahre.
Als Lisa auf ihre Uhr sah, stellte sie zu ihrer Freude fest, dass der Zug pünktlich war. Damit konnte sie die Verabredung mit Dr. Walter Althaus von ihrer Seite aus problemlos einhalten. Kaum auf dem Bahnsteig angekommen, lief sie den Bahnsteig entlang und dachte an Max. Eigentlich war er es, der sie abholen wollte!
Inzwischen am Ausgang angekommen, hatte sich auch ein Bild von Dr. Walter Althaus in ihrer Vorstellung breitgemacht. Einmal hatte sie ihn während einer Besprechung in Rostock gesehen.
Und jetzt erkannte sie ihn, den großen Mann mit den wenigen Haaren, der genau wie sie nach jemandem Ausschau hielt. Lisa kam näher und erkannte in ihm den Mann vom Landeskriminalamt, der sie abholen wollte. Er lächelte ihr zu, als er merkte, dass sie direkt auf ihn zulief.
Althaus begrüßte Lisa: »Ich werde Sie am Anfang unter meine Fittiche nehmen. Gewissermaßen bin ich verantwortlich für Sie. Schließlich war ich es, der für die Dienstreise in Ihrem Kriminalkommissariat Rostock geworben hat.« Gut gelaunt fügte er hinzu: »Jemand muss Sie durch den Dschungel der Großstadt führen.«
Lisa bemühte sich zu lächeln. »Danke, dass Sie sich extra meinetwegen herbemüht haben.«
»Sie wissen ja, das war anders geplant, der Schlüssel sollte im Nachbarhaus hinterlegt werden, aber ich wollte Sie gleich von Anfang an wissen lassen, dass wir uns auf Sie freuen.«
Lisa fand das zwar nett, hatte aber bereits am Telefon nur ungern seinem Wunsch nachgegeben, sie abzuholen. Spätestens als sie den Hörer aufgelegt hatte, hatte sie ihre Zusage bereut. Max wollte sie natürlich auch vom Zug abzuholen. Ihre Bekanntschaft von der Graal-Müritzer Seebrücke hatte sie seit dem Kennenlernen nicht wiedergesehen. Ihm hatte sie nun absagen müssen und sich erst für den späten Abend zum Essen mit ihm verabredet. Zwar standen sie im regelmäßigen Kontakt mit allen technischen Hilfsmitteln, die es so gab, aber das konnte in keinem Fall eine persönliche Begegnung ersetzen. Desto mehr freute Lisa sich jetzt, dass sie ihre Dienstreise mit dem Wiedersehen verbinden konnte.
Der Kollege vom Landeskriminalamt zeigte sich vom ersten Augenblick an aufmerksam und galant. Das hatte Lisa ihm so gar nicht zugetraut. Als er vor mehreren Wochen bei ihnen im Rostocker Kommissariat zu Besuch war, hatte er sich eher spröde und kurz angebunden gezeigt.
Walter Althaus brachte sie in die Reichsstraße, dort sollte ihre künftige Bleibe für die nächsten zwei Wochen sein. Bei ihren Recherchen hatte Lisa herausgefunden, dass die Wohnung im Bezirk Charlottenburg liegt.
Althaus und sie waren vor einem ansehnlichen Bürgerhaus in einer quirligen Einkaufsstraße angekommen, aber ihr zu Hause würde es natürlich keinesfalls ersetzen.
Großstadt. Das bedeutete Kontrastprogramm zu ihrem beschaulichen und ruhigen Graal-Müritz und sie überlegte, ob sie sich überhaupt in Berlin wohlfühlen würde. Schnell wischte sie den Gedanken weg, schließlich war sie zum Arbeiten hier, um Neues zu erfahren und mal über den Tellerrand zu schauen. Und dann war da vor allem Max, den sie gleichzeitig besser kennenlernen würde. Wohl auch deshalb war ihr die Entscheidung für Berlin relativ leichtgefallen. Nach diesen vierzehn Tagen würde sie garantiert sicherer in ihrer Meinung sein und erfahren, ob der Mann wirklich so gut zu ihr passte, wie es bis jetzt den Anschein hatte.
Walter Althaus überreichte Lisa einen Stadtplan mitsamt einem bunten Blumenstrauß. Sie war nicht nur überrascht, sondern erkannte darin eine besonders aufmerksame Geste. Demnächst würde sie sich wohl einige plausible Gründe einfallen lassen müssen, falls er weitere Überraschungen bereithielt, die ihre Zeit beanspruchten. Sie wollte ihn aber auf keinen Fall verletzen. Die Einladung für ein Abendessen an diesem ersten Abend konnte sie jedenfalls geschickt abwehren. Falls er wieder eine Einladung aussprechen sollte, musste sie gut vorbereitet sein. Gleich am nächsten Tag wollte sie ihm durch die Blume mitteilen, dass sie nach der Arbeit gern allein blieb, außerdem war sie daran tatsächlich seit Jahren gewöhnt.
Wenige Minuten später stand Lisa in dem fremden Hausflur, der von innen genau wie von außen bewies, dass er eine Menge Jahrzehnte hinter sich hatte. Eine massive Holztreppe mit gedrechselten Geländestäben, die antiken Säulen nachempfunden waren, hielt sofort ihren Blick gefangen. Der Baustil ließ sich nicht mit dem der Küste vergleichen, der meist sachlich kühl und vor allem zweckmäßig war. Natürlich gab es auch entlang der Ostseeküste Orte im typischen Bäderstil, die mit Jugendstilornamenten versehen waren. Diese Häuser waren mit maritimem oder floralem Muster verziert und die Fassaden meist weiß getüncht. Deshalb wurden diese Kurbäder wie beispielsweise Heiligendamm auch »weiße Perlen« genannt.
Lisa betrat ab jetzt wohl in jeglicher Hinsicht Neuland. Nachdem sie sich in der kleinen möblierten Zweiraumwohnung umgesehen hatte, stellte sie zufrieden fest, dass diese zweckmäßig und auf dem neuesten Stand eingerichtet war. Die Modernität hatte sie so nicht erwartet. Außerdem gaben die großen Fenster einen grandiosen Blick auf die bunte Geschäftsstraße preis. Hier würde sie alles finden, was sie täglich brauchte. Sie dachte spontan an eine Shoppingtour, die sich garantiert lohnen würde. Wie lange hatte sie das nicht mehr getan?
Ihre wenigen Sachen waren schnell in der kleinen Wohnung verstaut. Alles war übersichtlich angeordnet und sie fand sich schnell zurecht. In der Küche stand repräsentativ ein Kaffeeautomat bereit, der sie förmlich dazu aufforderte, einen Latte Macchiato auf ein genussvolles Ankommen zu trinken. Eine gute Idee, fand Lisa, und der frisch gebrühte Kaffee brachte auch ihre gewohnte innere Ruhe zurück. Doch auf einmal musste sie an die Rostock-Kollegen denken. Sie hatte versprochen, sich zu melden, sobald sie in Berlin angekommen war.
Gedanken an Silke Peters kamen hoch, die auf einmal so präsent wurden, dass Lisa sie nicht mehr loswerden konnte. In der kurzen Zeit bei der Kripo hatte sie eine Menge gelernt. Vor allem wurde ihr dabei oft deutlich vor Augen geführt, dass sich das Böse meist hinter der Maske der Täuschung verschanzte und manchmal sogar den Anschein des Guten gab.
Lisa zögerte nicht, sie wählte die Nummer des Kommissariats in Rostock. Wenig später ertönte auch schon die Stimme von Jens, dem Technikspezialist in ihrem dortigen Team. Er war so schnell am Telefon, dass Lisa spontan meinte: »He Jens, du hast wohl auf meinen Anruf gewartet?«
»Lisa, du? Na ja, nicht direkt gewartet. Doch gut, dass du dich meldest. Du weißt, bei uns ist immer eine Menge los. Wir erwarten den Rückruf der schwedischen Kollegen. Silke Peters wurde in einem Ferienhaus in Sundsvall aufgegabelt. Als sie dort ankam, erwartete die schwedische Polizei sie bereits vor der Tür. Sie zeigte sich kooperativ und weigerte sich nicht, mitzukommen. Die Beweise, die in Verbindung mit dem von ihr geplanten und durchgeführten Mord standen, waren zu erdrückend. Wenig später erzählte sie den schwedischen Kollegen die ganze Geschichte. Schonungslos alles, was es zu dem Anschlag zu sagen gab! Ich organisiere gerade ihre Rückführung nach Deutschland.«
»Das war von dieser Frau kaum zu erwarten gewesen, aber Ausreden und eine weitere Flucht machten wohl keinen Sinn mehr.«
»Genau. Sowie sie in Deutschland ist, wird sie dem Haftrichter vorgestellt.«
»Das sind sehr gute Nachrichten und wir können damit den Fall ›Die Last der Lust‹ endgültig zu den Akten legen.«
»Mich freut vor allem, dass Silke Peters endlich dorthin kommt, wo sie schon längst hingehört.«
»Mir fällt Lutz Wolf ein. Was ist eigentlich mit ihm? Der ist ja nicht weniger gefährlich und hat mindestens genauso viel kriminelle Energie bewiesen wie die Peters. Konnte ihm neben der Beteiligung bei der Entsorgung der Leiche noch mehr bewiesen werden?«
»Es hat sich gezeigt, dass der Mann viel mehr auf dem Kerbholz hat als den Missbrauch der Frauen. Enno hatte ja angedeutet, dass erst durch Wolfs kräftigen Würgegriff die Frau zu Tode kam.«
»Und war das tatsächlich so?«, hakte Lisa nach.
»Ganz klar sogar. Der erhält genau wie Catrine Schreiber eine gesonderte Einladung vom Gericht, aber er wird nicht so viel Glück haben wie sie. Sie wird mit einer Bewährungsstrafe relativ milde bestraft. Was den Wolf betrifft, dem konnten wir neben Beihilfe einiges mehr nachweisen. Die schwer verletzte Frau aus dem Krankenhaus ist nicht die Einzige, die den Mann klar wiedererkannt hat. Eine weitere Frau hat sich heute gemeldet, die Spitze des Eisberges ist sicher noch nicht erreicht.«
»Dann hat er mindestens genauso viel, wenn nicht sogar weitaus mehr Schuld am Tod der Frau als die Peters.«
»So sieht es aus.«
»Doch ehe die befragt werden, dauert es bestimmt, und ich werde längst zurück sein, um mir das aus der Nähe anzusehen. Jetzt will ich nicht länger die Leitung blockieren und rufe besser morgen an. Bestell den anderen einen lieben Gruß. Bei mir ist alles soweit okay. Bin schon gespannt auf den ersten Tag im LKA.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Halt uns weiter auf dem Laufenden. Wir sprechen später mehr. Die anderen grüße ich.«
Lisa legte auf. Es erschien ihr unwirklich, mit dem Kollegen aus der Ferne zu sprechen.
Inzwischen war es kurz vor 17 Uhr. Beim ersten Date mit Max in seiner Stadt wollte sie ihn auf keinen Fall warten lassen. Er hatte für 18.30 im Ristorante Piccolo Mondo einen Tisch reserviert. Bei ihrem letzten Telefonat hatte Max gemeint, dass das der beste Italiener weit und breit sei und es mehr als ein Zufall sein müsse, dass sie ausgerechnet in der Nähe seines Lieblingsrestaurants ihre Wohnung bezogen hatte.
»Das kann nur ein gutes Omen für uns beide bedeuten«, hatte er hinzugefügt. Er selbst lebte im Westend, das ein paar Querstraßen von der Reichsstraße entfernt lag.
Gewissermaßen fügte sich alles zum Besten. Lisa wollte nur rasch duschen und überlegte, was sie anziehen sollte. Sie wusste, was sie nicht wollte: Sich zu sehr aufbrezeln. Das war überhaupt nicht ihr Stil. Sie kleidete sich meist sportlich-salopp, und so sollte auch Max sie heute sehen. Dann ging alles relativ schnell.
Zehn Minuten vor der Verabredung stand sie auf der Straße. Die wenigen Schritte bis zum Restaurant brachte sie schnell hinter sich, ging gleich hinein und …
… sah ihn an einem der hinteren Tische sitzen. Er musste die ganze Zeit seinen Blick direkt auf die Tür gerichtet haben, denn kaum dass sie am Eingang war, stand er auf und kam ihr strahlend entgegen.
Lisa war aufgeregt und Max umarmte sie herzlich, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. Dabei sah er ihr tief in die Augen und meinte: »Es wird Zeit, dass wir uns endlich wiedersehen und du in Berlin bist.«
»Es ist wirklich schon etwas Zeit vergangen, seit du Graal-Müritz verlassen hast. Du warst mir aber immer ganz nah.« Lisa schaute Max verlegen an. In seiner Nähe fühlte sie sich entspannt und locker.
Max lächelte und nahm Lisas Hand. »Komm erst einmal mit. Wir haben da drüben einen schönen Platz.«
Nachdem er sie erneut fest umarmt hatte, führte er sie nach hinten.
Lisa merkte gleich, dass ihre anfängliche Aufregung völlig unnötig war. Max begegnete ihr ausgeglichen und mit großer Herzlichkeit, die sofort übersprang und sie weich und sanft werden ließ. Kaum dass sie saßen, gab Lisa die Antwort auf die Frage nach der Fahrt.
»Alles hat prima geklappt. Die Bahnfahrt war kurzweilig, mein Kollege pünktlich und er hatte sogar einen Stadtplan für mich dabei. Ich habe höflich seine Bitte nach einem gemeinsamen Abendessen abgelehnt.«
Max verfolgte aufmerksam Lisas Worte und fragte schmunzelnd: »Das ist dir hoffentlich nicht schwergefallen?«
»Ich denke, dass ich einen sehr guten Grund hatte, ihm abzusagen. Jedenfalls freue ich mich auf das, was mich in deiner Stadt erwartet.« Dann schaute sie ihn direkt an und lächelte. »Und natürlich auf dich.«
»Alles andere hätte mich jetzt auch gewundert«, meinte Max mit gespielter Verwunderung.
»Gut, dass ich auf dich gehört habe und mein Auto zu Hause stehenlassen habe. Das U- und S-Bahn-Netz ist perfekt und sogar gleich in der Nähe der Wohnung. Damit komme ich ohne viel Stress zur Arbeit.«
»Genau, erst die U-Bahn und dann ein paar Stationen mit der S-Bahn. Du hast ja den Plan. Mehr als eine halbe Stunde dürfte deine Fahrzeit nicht dauern, und das ist für Berliner Verhältnisse ziemlich gut. Aber jetzt bist du erst mal bei mir. Ehrlich, ich habe nicht damit gerechnet, dass wir uns so schnell wiedersehen.«
»Stimmt, ich auch nicht«, erwiderte Lisa gut gelaunt. »Das haben wir meinem gut eingespielten Rostocker Team zu verdanken. Etwas Glück gehörte wohl auch dazu.«
»Glück?«
»Ja, unseren aktuellen Fall konnten wir recht zügig abschließen. Die Täterin hatte sich nach Schweden abgesetzt. Vorhin habe ich erfahren, dass sie in Sundsvall festgenommen werden konnte. Vielleicht sollte am heutigen Abend unser Job besser nur am Rande eine Rolle spielen. Ich bin froh, dass mir mein Chef überhaupt dieses Angebot unterbreitet hat und wir dadurch einige Stunden für uns gewonnen haben. Hoffentlich hast du nicht allzu viele Dienste im Krankenhaus?«
»Da müsste schon Gravierendes passieren. Im Vorfeld habe ich den Dienstplan umorganisiert. Mein Kollege hat selbst meine Bereitschaft übernommen, und ich werde nur am Tag in der Klinik sein. Das machen wir ab und an, umgekehrt gilt das natürlich auch für mich. Damit habe ich an allen Tagen, die du hier bist, ab 16 Uhr Zeit für dich. Was sagst du jetzt?«
»Sehr schön. Wie es bei mir wird, kann ich dir erst morgen sagen. Ich muss zuerst die Gepflogenheiten im LKA kennenlernen, dann weiß ich, was mich erwartet. Aber Dienste und Überstunden wird es für mich bestimmt kaum geben. Es sei denn, ich werde an einem aktuellen Fall beteiligt. Doch in der kurzen Zeit, die ich in Berlin bin, halte ich das für ausgeschlossen.«
»Das hoffe ich sehr. Ich habe jede Menge mit dir vor. Morgen soll es gleich losgehen. Damit wir keine Zeit verlieren, habe ich alles ziemlich eng geplant.«
»Jetzt machst du mich neugierig.«
»Ich bin froh, dass du da bist, länger hätte ich meine Überraschung nicht für mich behalten können. Ich muss dir endlich erzählen, was ich für uns geplant habe.«
Kaum hatte Max das Wort Überraschung rausgebracht, kam der Kellner und wollte die Bestellung aufnehmen. Lisa und Max sahen sich an und schmunzelten. Sie hatten nicht einmal die Getränke ausgewählt.
Genau wie in Graal-Müritz, dachte Lisa. Wieder waren sie so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie ihre Umgebung komplett ausblenden konnten.
»Entschuldigen Sie, wir sind noch nicht so weit. Ich gebe Ihnen ein Zeichen«, ergriff Max schnell das Wort, um den Kellner nicht zu verärgern. Dann schaute er auf die Karte und unterbreitete Lisa einen Vorschlag: »Die Perlhuhnbrust in Honigkruste ist sehr zart. Ich kann sie nur empfehlen. Dazu ein Sauvignon Lahn? Ich denke, dass ein köstlicher Weißwein sehr gut zu unserer ausgelassenen Stimmung passen würde.« Er ergänzte: »Diesen Wein trinke ich nur zu besonderen Anlässen. Er hat zwar eine gewisse Fülle, trotzdem gibt er einem eine mundende Leichtigkeit. Was meinst du? Das passt doch zu unserem Wiedersehen?«
Lisa schaute ihn an und meinte kess: »Ich bin mir sicher, dass ich deiner Empfehlung vertrauen kann, lass mich nachher besser ein abschließendes Urteil abgeben. Einverstanden?«
»Ein sofortiges Urteil hätte mich bei dir auch eher überrascht«, plänkelte Max zurück und winkte den Kellner zu sich, um die Bestellung aufzugeben.
»Nun zu meinen Plänen. Willst du raten?«
»Ich habe zu Hause bereits tüchtig nachgedacht. Hast du etwa Karten für die Oper oder gibt es gerade ein besonderes Musical? Vielleicht ist es ja ein Konzert? Du sagtest, dass die Überraschung etwas mit Musik zu tun hat.«
»Ganz kalt. Keine Angst, ich lasse dich nicht länger zappeln. Etwas ganz anderes. Ich habe uns für einen Tango-Schnellkurs angemeldet. Als wir in der Graal-Müritzer Pink Lady Bar saßen, hast du nebenbei von deiner Liebe zum Tango gesprochen, und dass du ihn gern erlernen würdest. Das habe ich mir gemerkt, und weil ich denke, der Tanz könnte mir auch gut gefallen, habe ich für uns Plätze in einem Crashkurs reserviert. Ehrlich gesagt hat der Zufall dazu beigetragen. Ich konnte mich schnell entscheiden und habe die Gelegenheit am Schopf gepackt. In einer Zeitung fand ich die Werbung für diesen Kurs. Da der Termin genau in die kurze Zeit fiel, die du hier bist, habe ich nicht gezögert, uns anzumelden. Du musst nur zustimmen und dich freuen.«
Max sah Lisa mit strahlenden Augen an, als wollte er sich keine Reaktion entgehen lassen.
Lisa war sprachlos. Die Erfüllung ihres geheimsten Wunsches von diesem Mann praktisch auf dem Silbertablett serviert zu bekommen, damit hätte sie niemals gerechnet. Sie wollte sich zwicken, überprüfen, ob das echt war oder nur ein Traum. Sie musste sich zusammenreißen, um Max keine Antwort schuldig zu bleiben.
»Mir fehlen die Worte«, war ihre erste Reaktion, dann purzelten sie doch aus ihr heraus.
»Ich bin völlig überrascht und finde es unglaublich! Du hast dir tatsächlich meinen Wunsch gemerkt. Natürlich habe ich Lust dazu – und wie! Und wenn es dir auch Freude bereitet, dann ist es doppelt so gut«, sagte sie freudig und strahlte dabei übers ganze Gesicht.
»Eine wirklich tolle Nachricht! Da habe ich direkt ins Schwarze getroffen.«
»Nun müssen wir nur hoffen, dass deine neue Arbeitsstelle uns keinen Strich durch die Rechnung macht, das wäre mehr als ärgerlich.«
»Lass uns positiv bleiben, das hilft meistens. Wann soll der Kurs eigentlich losgehen? Und ist er hier in Charlottenburg oder in einem anderen Stadtteil?«
»Dienstag, Donnerstag und Samstag sind die Termine. Gleich morgen geht es los. Ich hole dich ab, das ist klar. Außerdem sind wir abends mit dem Auto viel schneller. Um 20 Uhr beginnt der Kurs und dauert etwa zwei Stunden. So kannst du dich zuvor etwas ausruhen.«
»Perfekt! Du hast wirklich an alles gedacht. Auf alle Fälle hast du jetzt etwas gut bei mir. Kaum dass wir uns kennengelernt haben, erfüllst du mir meinen größten Herzenswunsch.«
»Wenn du dich freust, freue ich mich auch. Außerdem ist das nicht ganz uneigennützig von mir. So sehe ich dich öfter, als du es möglicherweise eingeplant hast.«
Sie mussten beide laut lachen. Genau in dem Moment kam der Chef des Hauses höchstpersönlich an ihren Tisch und servierte den Wein. Während er zunächst Max die Kostprobe eingoss, fand er für seine Auswahl eine Menge lobende Worte: »Sie haben wirklich einen besonders guten Tropfen ausgewählt und scheinen ein Weinkenner zu sein.«
Max kostete gekonnt den Wein und ließ sich viel Zeit, um den Geschmack auf der Zunge nachzuspüren. Dann antwortete er charmant: »Bei Ihrer gut gefüllten Karte fällt einem die Auswahl schwer, das muss ich schon sagen.« Dann rühmte auch er die Qualität. »Ein köstlicher Wein. So, wie ich es in Ihrem Haus gewohnt bin. Vielen Dank. Wir werden den Wein genießen.«
Der Chef nickte und überließ die beiden sich selbst.
Max prostete Lisa vergnügt zu. »Auf eine gute Zeit in Berlin.«
Lisa strahlte ihren Freund zufrieden an. Sie genoss den Abend, und ihr Wohlsein verstärkte sich durch Max’ Charme. Obwohl dies erst ihr drittes Treffen war und das letzte bereits einige Zeit zurücklag, entstand am heutigen Abend zwischen ihnen eine vertraute Atmosphäre. Seine lockere und aufmerksame Art machte es Lisa leicht, sich in seiner Nähe wohlzufühlen. Sie schauten sich mitunter so tief an, dass es Lisa schwerfiel, ihren Blick von ihm abzuwenden. Sie sah Max nicht nur gern an, sondern entdeckte auch in seinen Augen eine Tiefe, wie sie diese selten zuvor erlebt hatte. Sie hoffte allerdings, ihre Gefühle nicht allzu schnell preiszugeben, damit das Feuer nicht so schnell erlosch.
Max schien es mit Lisa ähnlich zu gehen, denn auch er sah sie unverwandt an. Er nahm den Gesprächsfaden wieder auf: »Wie war eigentlich der Besuch vom kleinen Max, dem Sohn deiner Kollegin Tess in Graal-Müritz? Ich hoffe, dass er dir nicht besser gefällt als der Große.«
»Der Kleine ist ehrlich gesagt ganz groß«, betonte Lisa schmunzelnd. »Ich hatte ihn und Tess zum Schwimmen in unser modernes Aquadrom eingeladen. Eigentlich sollte es dabei bleiben, aber als ich in die Sauna ging, wollte Max den Schwitzkasten unbedingt auch mal ausprobieren.
Tess hatte das nie zuvor mit ihm gemacht, sie glaubte, er sei zu jung für die Sauna. Für den kleinen Mann war das also eine erste Bewährungsprobe. Und den Test hat er bravourös bestanden. Tess war am Anfang nur fünf Minuten mit ihm im Saunaraum, dabei blieb er leise und schaute sich aufmerksam um. Ehrlich, das beeindruckte mich. Wir hatten viel Spaß miteinander. Oft habe ich ja nicht das Vergnügen, mit so einem kleinen Kerl zusammen zu sein. Beim Schwimmen zeigte er keinerlei Angst und ließ sich von seiner Mutter und mir nach allen Regeln der Kunst verwöhnen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen, das würde ich auch nicht anders machen«, meinte er und fügte schnell hinzu: »Dich verwöhnen, natürlich.«
Lisa glühte innerlich, und das kam nicht nur vom gehaltvollen Wein, sondern auch von der vertrauten Nähe, die Max längst verbreitete.
»Hast du eigentlich Kinder?« Lisa erschrak, kaum dass die direkte Frage heraus war. Sie hatte längst festgestellt, dass im Gespräch mit ihrem Freund einige Bemerkungen wie von selbst und ganz selbstverständlich aus ihrem Mund herausrutschten.
Max zögerte nicht lange und beantwortete ungeniert Lisas Frage: »Einmal war ich in einer relativ langen Beziehung. Immerhin sechs Jahre.« Max machte eine kurze Pause, als müsste er nachdenken. »Wir hatten natürlich über Kinder gesprochen. Eines Tages trennte Charlotte sich unerwartet von mir. Sie nahm einen lukrativen Job in München an, zu dem ich ihr zuvor sogar geraten hatte. Wir beide hatten damals vor allem unsere Karrieren im Blick. Bei so einer großen Entfernung wäre eine spätere Trennung nicht zu vermeiden gewesen, und für uns beide war diese Entscheidung bestimmt das Beste. Heute bin ich froh, dass wir den Gedanken an Kinder verdrängt hatten. Was hätte ein Kind von mir, wenn ich es nur in den Ferien zu Gesicht bekomme?«
»Das kann ich gut verstehen. Ich gewinne gerade den Eindruck, dass du keinerlei negative Seiten mit dir rumschleppst. Man könnte meinen, du bist sowas wie der Lieblingsschwiegersohn. Aber irgendeinen Haken muss es bei dir doch auch geben?«
Max lachte laut auf. »Klar, alles andere wäre unnormal. Ich bin nicht nur gut drauf. Du müsstest mich mal unmittelbar nach Dienstschluss erleben, da bin ich meist ziemlich abgelaufen und müde. In letzter Zeit ging es bei uns recht hart zu, wenige Chirurgen und viele Operationen. Du sagtest mal, dass du keine Ahnung hast, wie es in einem Klinikbetrieb abläuft. Sei froh! Ich frage mich manchmal, wie wir tagtäglich reibungslose Abläufe in guter Qualität hinbekommen. Das ist vor allem dem vollen Einsatz aller in unserem Team zu verdanken, und natürlich der Liebe zu unserem Beruf. Dabei spielt sowas wie unser Berufsethos wohl auch eine Rolle. Leider verliert dieses Ethos in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung. Auch dass ein Krankenhaus als wirtschaftlicher Betrieb angesehen wird, kann nicht gut für die Patienten sein. Dabei nehmen die Auseinandersetzungen zwischen Klinikleitung und Ärzten ständig zu. Nicht wenige kündigen, machen sich selbständig, weil sie sich dem Druck nicht aussetzen wollen.«
Lisa hörte mit großem Interesse zu und dachte an ihren eigenen Krankenhausaufenthalt in der Uniklinik Rostock im letzten Sommer, nachdem sie in die Klauen eines Mörders geraten war, der es auf ihr Leben abgesehen hatte. Doch die Zeit war nicht reif, um Max von dieser Geschichte zu erzählen. Sie wollte einem so harmonisch schönen Abend keinen bitteren Beigeschmack verleihen.
Indessen ließ Max nicht locker, bis Lisa wenigstens etwas von ihrem Job berichtete.
»Du nimmst sicher genau wie ich jede Menge ne­ga­tive Eindrücke mit nach Hause? Wie kommst du abends mit den Erlebnissen des Tages klar, wenn du abends allein zurückbleibst? Oder besser gefragt, kannst du überhaupt davon loskommen?«
»Ich denke, das wird so ähnlich wie bei dir sein. Du siehst jeden Tag kranke Menschen und machst alle Kräfte mobil, um ihnen zu helfen. Da bleiben nicht nur positive Eindrücke zurück. Auf alle Fälle sorge ich bewusst für mich. Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, kam ich gerade vom Laufen am Strand zurück. Genauso positiv wirken gute Bücher auf mich, aber auch Konzerte und Kinobesuche lenken mich gut ab. Zu Hause bin ich auch gern. Ich kann sehr gut allein sein, ohne mich einsam zu fühlen. Bei passender Musik komme ich schnell weg vom Desaster des kriminellen Milieus. Aber wir haben es nicht täglich mit Mord und Todschlag zu tun, und zum Glück habe ich gute Freunde um mich herum, so wiegt alles nur halb so schwer. Ich denke, das Gesamtpaket macht es.«
»Deinen Worten kann ich mich vollkommen anschließen, bei mir sieht es ähnlich aus. Aber jetzt, wo ich dich etwas besser kennenlernen darf, gibt es sogar noch etwas Besonderes, auf das ich mich freuen kann.«
»Du machst mich schon wieder verlegen«, sagte Lisa gerade, bevor das Essen gebracht wurde. Der Kellner zelebrierte am Nebentisch gekonnt das Zerlegen der Perlhühner, drapierte kunstvoll verschiedenes Gemüse auf den Tellern und garnierte dazu einige Löffel der feinen Sauce. Lisa betrachtete jeden Handgriff des Mannes. Der Anblick ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen.
»Man riecht den feinen Happen nicht nur, deine Auswahl sieht auch hervorragend aus.«
»Na, dann haben wir alles richtig gemacht und können unseren Gaumen verwöhnen.«
Der Kellner verließ sie mit den Worten: »Falls Sie was brauchen; ich bleibe in der Nähe.«
Lisa nickte Max in voller Freude auf das Essen zu, dann genossen sie ihr erstes Abendessen. Dennoch dachte sie kurz daran, dass alles bisher viel zu perfekt verlief. Da musste es irgendwann einen Dämpfer geben.
In früheren Beziehungen hatte sie erlebt, dass gerade dann, wenn alles zu passen schien, ein dickes Ende kam. Diesen Gedanken wischte sie rasch weg und wollte ihm keine Bedeutung beimessen. Sie blieb viel lieber im Hier und Jetzt und genoss den Abend mit Max in vollen Zügen.
Etwas später, als sie bereits die Nachspeise mit einem abschließenden Espresso krönten, klingelte Lisas Telefon. Walter Althaus war am Apparat. Natürlich fragte er, ob es ihr gut ginge, dann kam er schnell zum Grund seines Anrufes. »Mir ist eingefallen, dass wir nicht über die Abteilung gesprochen haben, in der du morgen erwartet wirst. Am Anfang wirst du im Dezernat 7 eingesetzt. Das könnte interessant für dich sein, der Schwerpunkt liegt bei der Ermittlungsunterstützung.«
Der Berliner Kollege betonte weiter: »Ich werde dich direkt am Haupteingang abholen, weil du dich ansonsten in unserer Behörde verlaufen könntest.«
Für seine Aufmerksamkeit dankte sie ihm vorab und wünschte ihm einen guten Abend, dabei war sie relativ kurz angebunden. Kaum hatte sie aufgelegt, fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich nach Berlin gekommen war. Sie musste in der kurzen Zeit der Arbeit und Max gerecht werden.
Max lächelte sie von der anderen Seite aus an. »Unseren Arbeitsalltag sollten wir in der kurzen Zeit, die uns bleibt, hinter uns lassen.« Er griff nach ihrer Hand und streichelte sanft mit den Fingern über die Haut.
Er verstand es geschickt, Lisas Gedanken zu ihm zurückzubringen. Lisa lächelte ihn dankbar an und ihr wurde in diesem Moment bewusst, was Nähe und Zweisamkeit wirklich ausmachte.
Ein Zustand, an den sie sich gewöhnen könnte.

2. Kapitel

Erster Tag im Landeskriminalamt Berlin
Lisa erkannte von weitem ein großes Behördengebäude. Das sah gewaltig aus. Mehrere Gebäude reihten sich aneinander und nahmen den Großteil der Straße ein.
Lisa wurde deutlich vor Augen geführt, dass Althaus’ Vorschlag, sie abzuholen, vernünftig war. Allein wäre sie ewig durch diese langen Gänge der Behörde gelaufen, und am Ende wäre sie frustriert gewesen. Lisa war froh, dass sie am Haupteingang erwartet wurde.
Ohne Verspätung stand Lisa nun vor dem Eingang des Hauptgebäudes. Walter Althaus kam gerade he­raus und begrüßte sie freundlich.
»Du bist pünktlich. Das ist gut so, wir sind hier auch nichts anderes gewohnt.«
»Danke fürs Abholen«, meinte Lisa schnell, über seine knappe, sachliche Begrüßung war sie leicht irritiert. Die war das komplette Gegenteil vom überschwänglichen Empfang am Tag zuvor. »Euer Gebäude ähnelt einem Labyrinth. Wer weiß, wie lange ich allein gebraucht hätte, um mich da durchzukämpfen?«
»Das hätte ich dir locker zugetraut. Aber so ist es entspannter. Du lernst bei uns sicher genug Neues kennen, aber natürlich werden wir dich nicht überfrachten.«
»Die zwei Wochen sind auch viel zu knapp dafür«, konterte Lisa.
Althaus überging die Antwort und meinte stattdessen: »Wie war dein erster Abend in Berlin, so ganz allein? Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, dich in der Fremde zu lassen.«
Lisa lag bereits eine Antwort auf der Zunge: »Ach, so allein war ich gar nicht.« Sie besann sich dann eines Besseren und meinte schlicht: »Ich bin das gewohnt, und manchmal brauche ich das sogar. Bei unserem Job läuft es bei euch sicher nicht anders.«
Walter Althaus schmunzelte nur. Mit seiner heute eher knapp gehaltenen Kommunikation ersparte sie sich wahrscheinlich weitere gut gemeinte Fragen oder Ratschläge des neuen Kollegen. Außerdem schien er zu ahnen, dass Lisa nicht die Wahrheit sagte. Die Geräuschkulisse des Restaurants schien ihm beim gestrigen Anruf nicht entgangen zu sein. Immerhin war er ein langjähriger Kriminalbeamter.
Dann äußerte er sich doch zu Lisas Frage: »Ja, das ist so. Ich bin froh, wenn du in dieser Zeit gut zurechtkommst. Doch zurück zu deinem Einsatz. Du wirst das Dezernat 7 mit seinen Unterbereichen 71-73 kennenlernen. Es ist zwar ein relativ kleiner Bereich in der Behörde, der hat es dafür aber in sich. Du wirst später selbst einen Teil des riesigen Spektrums der Technik kennenlernen. Vor allem gehts dort um Forensische Informations- und Kommunikationstechnik. Dabei werden digitale Spuren in einem strafgerichtlichen Verfahren gesichert, untersucht und bewertet. Du wirst vom normalen PC bis hin zum Großrechner alles sehen, aber natürlich gehört auch die Mobilfunkforensik dazu. Die Leute arbeiten mit speziellen VPN. Oh, entschuldige. Vermutlich sagt dir das nicht viel. Ich meine virtuelle private Netzwerke, die sie für andere unsichtbar machen. Ich weiß, dass vieles Neuland für dich sein wird, aber genau deshalb bist du da: Um unsere technischen Möglichkeiten kennenzulernen.«
»Ja klar, ich bin schon sehr gespannt. Das Meiste wird hochinteressant sein, weil ich nie damit zu tun hatte.«
»Davon gehe ich aus.«
»Technische Fragen gehören nicht in mein Ressort. Darum kümmert sich Jens bei uns in Rostock, aber es kann nicht schaden, da mal reinzuschnuppern. Das breite Spektrum bei euch wird, ehrlich gesagt, eine große Herausforderung für mich sein, das hatte ich mir aber schon lange gewünscht. Ich bin bereit!«
»Das ist gut«, antwortete Althaus erneut kurz angebunden.
Sie liefen lange Gänge entlang und stiegen breite Treppen hinauf, bis sie einen Raum, ohne anzuklopfen, betraten. Ein großer, schlanker Mann kam ihnen entgegen und begrüßte Lisa: »Sie müssen Lisa Liebich aus Rostock sein. Freut mich, dass Sie uns über die Schulter schauen wollen. Ich bin übrigens Clemens Dreyer, der Leiter des siebten Bereiches. Bei uns werden Sie mit viel Technik konfrontiert, die ist allerdings deutlich umfangreicher, als das, was Sie von Ihrem regionalen Kommissariat her kennen. Aber Sie sind schließlich hier, um etwas Neues kennenzulernen.«
»Danke für die freundliche Aufnahme. Ich bin sehr gespannt, was mich bei Ihnen erwartet«, meinte Lisa, froh darüber, dass sie hier einen interessanten Bereich kennenlernen würde. Bereits der Anblick der großzügigen Büroräume beeindruckte sie, obwohl sie bis jetzt keine Technik zu Gesicht bekommen hatte.
Clemens Dreyer ergriff erneut das Wort:» Ich werde mich genauso um all Ihre Fragen kümmern. Scheuen Sie sich also nicht, mich zu löchern. Falls Ihnen etwas unklar erscheinen sollte, dann raus damit. Soweit es mir möglich ist, beantworte ich Ihre Fragen gern.«
Er zeigte Lisa einen Schreibtisch, an den sie sich setzen konnte, und nahm selbst auf der anderen Seite Platz.
»Hier können Sie sich erst mal einrichten. Der Kollege ist im Urlaub, passt also.«
Walter Althaus schaltete sich ins Gespräch mit ein. »Später wirst du mit zwei weiteren Bereichen bekanntgemacht, zuerst das Dezernat 72. Dort beschäftigen sich die Kollegen mit der technischen Ermittlungsunterstützung. Das ist unsere Zentralstelle fürs Internet, vor allem für den Bereich der Telekommunikationsüberwachung. Zum Ende deiner kurzen Zeit bei uns wirst du den Fahndungsbereich im Dezernat 73 kennenlernen. Nahezu alle Fahndungen nach strafverfolgten Personen laufen über dieses Dezernat.«
Lisa holte tief Luft. »Da bekomme ich wirklich einen guten Überblick, aber genau das wollte ich. Danke, dass ich überhaupt die Chance bekomme, Einblick in eure Arbeit zu nehmen.«
»Hatte ich bereits in Rostock versprochen«, meinte Walter Althaus betont gelassen. Seine umsorgte Freundlichkeit vom Vortag schien wie ausgewechselt, und Lisa kam nicht um die stille Frage, ob das vielleicht mit ihrer gestrigen Absage zu tun hatte.
»Richte erst mal deinen Arbeitsplatz ein, Clemens und ich sehen dich später.«
Clemens Dreyer machte sich einige Notizen und ging mit Walter Althaus in den Nebenraum. Lisa stellte die wenigen Utensilien, die sie mitgebracht hatte, auf den Schreibtisch.
Wenige Minuten später saßen sie zu dritt in Dreyers angrenzendem Büro und planten, wie es in der ersten Woche für Lisa weitergehen sollte. Lisa erkannte, dass die Berliner Kollegen sich im Vorfeld Gedanken zu ihrem Aufenthalt im Dezernat gemacht hatten. »Ich bin froh, die Möglichkeit zu erhalten, hier dabei zu sein.«
Althaus winkte nüchtern ab. »Ach, nicht der Rede wert. Erzähl lieber, wie es um den Fall bei euch in Rostock steht.«
»Peter hat mir vorige Woche am Telefon berichtet, dass euer Fall so gut wie abgeschlossen ist. Dann haben eure Ermittlungen relativ schnell zum Erfolg geführt. Kompliment.«