Baise-moi – Fick mich - Virginie Despentes - E-Book

Baise-moi – Fick mich E-Book

Virginie Despentes

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Beschreibung

Nadine hat einen Mord begangen. Manu auch. Beide eher zufällig. Auf der Flucht begegnen sie sich, und beschließen, sich gemeinsam durchzuschlagen. Erst scheint alles gutzugehen, doch irgendwann eskaliert das Abenteuer. Virginie Despentes erzählt in diesem Roman, der 1999 in Frankreich erschien und ihren Ruhm als Skandalschriftstellerin begründete, ungeschminkt und radikal von anarchischer Lebenswut, von Drogen und Gewalt. Sie erzählt aber auch von einer intensiven Frauenfreundschaft, in der vor allem eines wichtig ist: unabhängiges, selbstbestimmtes Handeln, auch wenn es in den Abgrund führt. Der Roman und ebenso die Verfilmung unter der Regie von Virginie Despentes gerieten zum internationalen Skandal, aber die Themen, die sie hier setzte, beschäftigen die Autorin und unsere Gesellschaft bis heute.

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Seitenzahl: 270

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Virginie Despentes

BAISE-MOI

Fick mich

Roman

Deutsch von Kerstin Krolak und Jochen Schwarzer

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Virginie Despentes

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Dritter Teil

Inhaltsverzeichnis

In diesem Roman werden an einigen Stellen diskriminierende Ausdrücke verwendet sowie körperlicher und sexueller Missbrauch explizit geschildert.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Weil du aber lau bist und weder kalt noch heiß, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.

Fjodor Michailowitsch D.

Ma mère m’avait dit que j’étais fait pour l’amour Je ne connais que le sexe et même pas tous les jours.

Sale Déf.

Kapitel 1

Im Schneidersitz vor dem Bildschirm hockend, drückt Nadine auf den Vorspulknopf, um den Vorspann zu überspringen. Der Videorekorder ist alt und hat keine Fernbedienung.

Auf dem Bildschirm ist eine dicke Blondine kopfüber an ein Rad gefesselt. Großaufnahme ihres geröteten Gesichts, unter dem Make-up schwitzt sie stark. Ein Typ mit Brille besorgt es ihr kräftig mit einem Peitschenstiel. Er nennt sie fette, geile Hündin, und sie gluckst.

In diesem Streifen sehen die Schauspieler alle wie Kleinkrämer aus. Der irritierende Charme eines gewissen deutschen Filmstils.

Eine Frauenstimme aus dem Off faucht: »Und jetzt piss, was das Zeug hält, du Schlampe!« Pisse prasselt wie Feuerwerk. Die Off-Stimme gestattet dem Mann, sich an diesem Segen zu erfreuen. Begierig macht er sich über den Strahl her. Er wirft entrückte Blicke in Richtung Kamera, labt sich an der Pisse und zieht schwungvoll seine Nummer ab.

Schnitt: Dasselbe Mädchen hockt auf allen vieren und spreizt gewissenhaft die weißen Backen ihres dicken Hinterns. Ein Typ, der dem ersten ähnlich sieht, nagelt sie schweigend durch.

Die Blondine macht auf jugendliche Geliebte. Genießerisch leckt sie sich die Lippen, zieht die Nase kraus und stöhnt wohlgefällig. An ihren Oberschenkeln wird die Zellulitis paketweise hin und her geschoben. Ein wenig Spucke läuft ihr übers Kinn, und man sieht ganz deutlich die Pickel unter der Schminke. Mädchenhafte Gebärden eines alten, schlaffen Körpers.

Ihre gesamte Überzeugungskraft verwendet sie auf die Bewegung ihres Hinterns, und so achtet niemand mehr auf ihren Bauch, die Orangenhaut und das hässliche Gesicht. Ein Bravourstück. Nadine zündet sich eine Kippe an und lässt dabei den Fernseher nicht aus den Augen. Sie ist beeindruckt.

Szenenwechsel: Eine Schwarze, ziemlich drall, was ihr rotes Lederkleid gut zur Geltung bringt, geht die Treppe zu einem Mietshaus hoch. Ein vermummter Typ versperrt ihr den Weg und kettet sie blitzschnell ans Geländer. Dann packt er sie bei den Haaren und zwingt sie, ihm einen zu blasen.

Die Wohnungstür fällt ins Schloss, und Nadine grummelt was in dem Stil: »Die Schlampe wollte doch mittags nicht nach Hause kommen.« Gleichzeitig sagt der Typ im Film: »Du wirst schon sehn, zum Schluss magst du meinen Schwanz, allen geht es am Ende so.«

Ehe sie überhaupt die Jacke aus hat, fängt Séverine schon an zu schimpfen: »Du guckst dir ja schon wieder diesen Dreck an!«

Nadine antwortet, ohne sich umzudrehen: »Du kommst genau richtig. Der Anfang hätte dich ja ziemlich aus der Fassung gebracht, aber diese Schwatte muss doch selbst dir gefallen.«

»Mach das sofort aus, du weißt genau, dass mich das anwidert.«

»Und das mit den Handschellen zieht immer, fahr ich voll drauf ab.«

»Mach die Kiste aus. Sofort.«

Es ist das gleiche Problem wie mit Insekten, wenn sie sich an das Insektenspray gewöhnt haben: Man braucht immer was Neues, um sie totzukriegen.

Als Séverine zum ersten Mal ein Pornovideo auf dem Wohnzimmertisch fand, war sie so schockiert, dass sie gar nichts mehr gesagt hat. Dann setzte bei ihr der Abhärtungseffekt ein, und nun muss man immer härtere Geschütze auffahren, um sie sich vom Hals zu halten.

Nadines Ansicht nach kriegt Séverine von ihr eine richtige Therapie geboten. Lockerungsübungen in Sachen Sex.

Währenddessen hat die Schwarze an dem Phallus des Typen wirklich Gefallen gefunden. Gierig verschlingt sie ihn und zeigt dabei ihre Zunge. Er ejakuliert ihr in den Mund, und sie fleht ihn an, sie von hinten zu nehmen.

Séverine baut sich neben ihr auf, achtet sorgsam darauf, nicht in Richtung Bildschirm zu blicken, und schreit mit schriller Stimme: »Du bist echt krank, und mich machst du damit auch noch wahnsinnig!«

Nadine fragt zurück: »Könntest du bitte in die Küche gehen? Ich würde lieber hier vor dem Fernseher masturbieren. Es nervt mich, dafür in mein Zimmer zu verschwinden. Natürlich kannst du auch dableiben.«

Séverine erstarrt. Sie versucht zu verstehen, was los ist, und sucht nach einer Antwort. Sie hat’s nicht leicht.

Nadine freut sich, sie aus dem Konzept gebracht zu haben, und macht den Videorekorder aus.

»War nur ’n Scherz.«

Séverine ist sichtlich erleichtert, schmollt, noch etwas unsicher, und fängt an zu reden. Sie erzählt belangloses Zeug über ihren Arbeitstag und zischt ab ins Badezimmer, um sich im Spiegel zu begaffen. Mit der Besessenheit eines Feldwebels inspiziert sie ihren Körper, wild entschlossen, Haut und Fleisch den Normen der Saison anzupassen, egal um welchen Preis. Ihre Stimme gellt aus dem Bad: »Und es hat keiner für mich angerufen?«

Sie ist nicht davon abzubringen, dass der Kerl, der sie letzte Woche bestiegen hat, sich melden wird. Aber der Junge schien nicht bekloppt zu sein, und es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass er’s macht.

Séverine stellt jeden Tag die gleiche Frage. Und jeden Tag ergeht sie sich in wütendem Gezeter: »Nie hätte ich gedacht, dass der so drauf ist. Wir haben uns prima unterhalten, ich versteh nicht, warum er nicht mehr anruft. Ist doch eklig, wie der mich benutzt hat.«

Sie benutzt hat. Als wäre ihre Möse zu fein, um es sich von einem Schwanz besorgen zu lassen.

Zum Thema Sex lässt sie oft derartigen Schwachsinn vom Stapel. Da wird sie fast verschwenderisch, sie kann endlos darüber reden und Widersprüche aufhäufen, die sie dann einfach so stehen lässt. Im Moment wiederholt sie gerade mit Nachdruck, dass sie »so eine« aber nicht sei. Die Gattung »so eine« umfasst für Séverine das Schlimmste, was die Menschheit je hervorgebracht hat. Dabei kann sie in diesem Punkt ganz beruhigt sein. Sie ist dumm, wahnsinnig eingebildet, auf ekelerregende Weise egoistisch und erschreckend banal, sobald sie den Mund aufmacht. Aber »so eine« ist sie wirklich nicht. Entsprechend lässt sie es sich sehr selten besorgen, obwohl sie es dringend nötig hätte.

Nadine schaut Séverine von der Seite an und findet sich damit ab, wieder mal die Vertraute spielen zu müssen. Sie schlägt vor: »Setz doch fürs nächste Mal ’n Vertrag auf. Der Typ soll sich verpflichten, dir am Tag danach Gesellschaft zu leisten oder dich im Laufe der Woche anzurufen. Solange er nicht unterschrieben hat, machst du nicht die Beine breit.«

Séverine braucht eine Weile, bis sie versteht, ob sie das als Beleidigung, Witz oder klugen Rat auffassen soll. Schließlich hält sie es für das Beste, kurz und geziert aufzulachen. Gewollt subtil und erschreckend vulgär. Dann fährt sie unerbittlich fort: »Ich versteh das einfach nicht, der ist doch gar nicht so ein Typ, der es mit jeder macht, sonst hätte ich ja auch nicht gleich am ersten Abend gewollt. Aber es hatte doch wirklich gefunkt zwischen uns. Ich glaube, ich hab ihm Angst eingejagt. Das soll man nicht unterschätzen: Männer fürchten sich vor Frauen, die eine starke Persönlichkeit haben.«

Auf das Thema ihrer »starken Persönlichkeit« kommt sie gern zu sprechen. Wie sie auch oft von ihrer lebhaften Intelligenz oder ihrer umfassenden Allgemeinbildung faselt. Mysterium des menschlichen Gehirns, Gott allein weiß, wie sie sich das in den Kopf setzen konnte.

Immer auf der Suche nach anspruchsvollen Themen. Was sie sagt, vermengt sie mit haarsträubenden Theorien, die bei den Leuten, mit denen sie verkehrt, Gültigkeit haben. Sie hat auch eine ganze Reihe kultureller Anspielungen auf Lager, die sie wie Modeaccessoires wählt: immer der letzte Schrei und mit dem richtigen Riecher für den Geschmack von Hinz und Kunz.

Ihre Persönlichkeit ist ihr so wichtig wie die säuberliche Enthaarung der Bikinizone. Schließlich weiß sie, dass man nichts unversucht lassen darf, um einen Mann zu verführen. Höchstes Ziel dabei ist, einen von denen für immer an sich zu binden, und so wie sie sich anstrengt, hat sie wohl vor, sich einen fetten Bürgerfisch zu angeln.

Dank ihrer männlichen Intuition machen die Jungs einen großen Bogen um dieses Bonsai-Bäumchen. Aber einer wird schon noch auf sie hereinfallen. Dann wird sein Schädel die Kloschüssel sein, in der sie täglich ihre Alltagsscheiße ablässt.

Nadine streckt sich und empfindet kurz aufrichtiges Mitleid mit dem armen Kauz, der Séverine in die Falle tappen wird. Sie steht auf und holt sich ein Bier. Séverine folgt ihr in die Küche und redet ohne Atempause weiter. Mit dem Flegel, der nicht mehr anruft, ist sie fertig, davon wird sie erst morgen wieder anfangen. Eifrig macht sie sich an die Bestandsaufnahme der neuesten Gerüchte.

Nadine lehnt am Kühlschrank und schaut ihr beim Salatessen zu.

Sie sind nur aus praktischen Gründen zusammengezogen. Nach und nach hat das Zusammenleben pathologische Züge angenommen, aber keine von ihnen besitzt das Geld, sich allein eine Wohnung zu nehmen. Solange sie keinerlei Einkommensnachweis hat, kann sich Nadine sowieso bei keiner Hausverwaltung blicken lassen. Und Séverine erträgt sie im Grunde besser, als man denken würde. Als eingefleischte Masochistin hat sie fast Spaß an den ständigen Angriffen. Pervers und herzlos.

Nadine trinkt ihr Bier aus und kramt im Aschenbecher nach einem brauchbaren Zigarettenstummel. Sie ist zu faul, zum Tabakladen zu gehen. Sie findet einen Joint, der nur zur Hälfte aufgeraucht ist. Genug, um sich damit zuzudröhnen, dieser unerwartete Fund bringt sie in Stimmung.

Geduldig wartet sie, bis Séverine wieder zur Arbeit muss, und wünscht ihr höflich einen schönen Tag. Dann durchsucht sie ihr Zimmer, weil sie weiß, dass dort noch Whisky gebunkert ist. Sie schenkt sich ein großes Glas ein und macht es sich vor dem Fernseher bequem.

Sie brennt den Joint an, bemüht sich, den Rauch so lange wie möglich zu inhalieren, dreht die Anlage voll auf und stellt den Videorekorder ohne Ton an.

I’m tired of always doing as I’m told, your shit is starting to grow really old, I’m sick of dealing with all your crap, you pushed me too hard now watch me snap.

Sie spürt die Distanz zwischen sich und der plötzlich friedlich gewordenen Welt, nichts bringt sie aus der Ruhe und über alles könnte sie lachen. Mit Freude bemerkt sie an sich sämtliche Symptome eines absoluten Vollrauschs.

Sie lässt sich ganz tief in den Sessel sinken, zieht die Hose aus und streichelt über den Slip. Sie betrachtet ihre Hand, die zwischen den Schenkeln gleichmäßig kreist, beschleunigt die Bewegung und spannt das Becken an.

Sie wendet den Blick wieder zum Bildschirm. Das über das Treppengeländer gebeugte Mädchen bewegt den Kopf hin und her, wiegt den Hintern, will das Geschlecht des Mannes endlich verschlingen.

There’s an emotion in me, there’s an emotion in me. Emotion n° 13 blows my mind away, it blows me away.

Kapitel 2

»Aber irgendwas muss man doch unternehmen.«

Der Kleine protestiert vehement, traurig und schockiert, dass Manu so leicht aufgibt. Vorwurfsvoll fährt er fort: »Er war doch einer deiner besten Freunde, nun ist er tot, ermordet. Und du bleibst seelenruhig und willst gar nichts unternehmen.«

Bis dahin hatte er nur vorsichtig und möglichst allgemein über die Gewalttätigkeit der Polizei gesprochen, über die Ungerechtigkeit, den Rassismus und die Pflicht der jungen Leute, sich zu organisieren und endlich etwas zu tun. Jetzt fordert er sie zum ersten Mal unverblümt auf, seine Empörung zu teilen.

Sichtlich erregt spricht der Kleine von den Unruhen, die der Unfall hätte auslösen müssen. Wie andere über Boxen, Sex oder Stierkämpfe reden. Einige Schlüsselwörter rufen vor seinem inneren Auge Visionen hervor, in denen er mannhaft den Ordnungshütern trotzt und an der Seite seiner würdigen und wild entschlossenen Kameraden Autos umkippt. Diese Bilder überwältigen ihn. Er fühlt sich erhaben und heldenhaft.

Manu ist keine Heldin. Sie hat sich daran gewöhnt, ein glanzloses Leben zu führen, den Bauch voll Scheiße zu haben und die Schnauze zu halten.

Rein gar nichts an ihr ist grandios. Höchstens ihr unlöschbarer Durst. Ob nach Wichse, Bier oder Whisky, scheißegal, Hauptsache, es hilft. Das Apathische und Schlampige ihres Wesens schlägt alle Rekorde. Es macht ihr nichts aus, sich in Kotze zu suhlen. Eigentlich kriegt sie von der Welt, was sie zum Leben braucht: fast täglich genug Alkohol und einen Kerl, der’s ihr besorgt.

Wenn der Kleine wüsste, wie scheißegal ihr hier in diesem Drecksloch die Revolution ist. Außerdem braucht man, um sich wie der Kleine in Ekstase zu reden, einen Sinn für das Erhabene und Selbstachtung, und beides geht Manu ab.

Sie wühlt in einer Schublade nach einem Fläschchen Nagellack und unterbricht ihn barsch: »Was fällt dir ein, mir in meinen eigenen vier Wänden auf die Nerven zu fallen? Verdammte Scheiße, mit welchem Recht willst du mir Lektionen erteilen? Und wie kommst du dazu, jetzt auch noch zu behaupten, dass sie ihn umgebracht haben?«

»Das weiß doch jeder, du hast selbst gesagt, dass …«

»Ich erzähl, was ich will, und ich trinke doch wohl genug, damit man nicht auf mich hört. Außerdem hab ich nur gesagt, es wär nicht seine Art, sich zu erhängen, und du hast das gleich so verstanden, dass es die Bullen waren, die ihn kaltgemacht haben. Ich rate dir ganz schwer davon ab, meine Lügen mit deinen zu verwechseln.«

Sie hat ihr Fläschchen Nagellack gefunden, hält es in der Faust und fuchtelt dem Kleinen damit wild vor der Nase herum. Vorsichtshalber zieht er sich zurück, stammelt eine Entschuldigung, er habe sie nicht kränken wollen. Einerseits, weil er keineswegs bösartig ist, andererseits, weil er sie für fähig hält, ihm den Schädel einzuschlagen. Ihre Gewalt kennt keine Grenzen, und um sich auszutoben, würde sie nie auf den politisch korrekten Moment warten.

Mit seinem Rückzug tut der Kleine genau das Richtige, denn sie ist wirklich kurz davor, auf ihn einzuprügeln.

Sie weiß so gut wie der Kleine, dass Camel sich ganz bestimmt nicht in aller Einsamkeit aufgehängt hat. Dazu war er zu stolz. Und wenn er auch kein Talent zum Leben hatte, kam er doch genug auf seine Kosten, um noch eine Weile am Ball zu bleiben. Außerdem hätte Camel niemals Selbstmord begangen, ohne zuvor ein gutes halbes Dutzend seiner Zeitgenossen zu erwürgen. Sie kannte ihn gut genug, um das beurteilen zu können. Sie verstanden sich prima, hingen gern zusammen ab und hatten die gleichen Vorstellungen über die richtige Art, sich den Tag zu vertreiben.

Die Leiche war am Tag zuvor entdeckt worden, erhängt in einem Hausflur. Die letzten Menschen, die Camel lebend gesehen haben, sind die für seine Bewährung zuständigen Bullen. Niemand wird je erfahren, was wirklich vorgefallen ist. Und der Kleine hat Recht, selbst ihr fällt es schwer, das zuzugeben und nichts dagegen zu tun. Aber damit wird sie schon noch fertig.

Die Tricks, die der Kleine drauf hat, um sie mit seiner Empörung anzustecken, gefallen ihr nicht, und seine Versuche, diesen Toten als Beweis für seine Überzeugungen zu nutzen, erst recht nicht. Der Kleine glaubt, rechtmäßige Ansprüche auf die Leiche zu haben. Sie hat entweder politischen Zielen zu dienen oder ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Unverhohlen verachtet der Kleine Manu für ihre Feigheit. Ihrer Meinung nach ist die ganze Sache bisher für ihn viel zu glimpflich abgelaufen, als dass er sich erlauben könnte, sie zu verachten. Aber sie kann gerne dafür sorgen, dass er auch sein Fett abbekommt.

Natürlich macht sie sich erst noch ein Reservebier auf, ehe sie mit dem Nagellackieren beginnt. Aus Erfahrung weiß sie, dass ihre Nägel noch längst nicht trocken sind, wenn sie schon wieder Durst bekommt. Erst zögert sie, doch dann bietet sie der Rotznase auch eins an, um zu zeigen, dass sie nicht nachtragend ist. Es wird nicht lange dauern, bis sie so voll ist, dass ihr die ganze Geschichte nichts mehr anhaben kann. Am Ende gewöhnt sie sich immer an den Gedanken, dass ein Teil der Bevölkerung eben die Rolle des Opfers spielen muss. Pech für sie, aber ausgerechnet an ihr bleibt es wieder mal hängen.

Weil ihre Hand immer ein wenig zittert, landet auf ihrer Haut genauso viel Lack wie auf den Nägeln. Hauptsache, das sieht beim Wichsen ordentlich bunt aus auf den Schwänzen …

Der Kleine schaut ihr missbilligend zu. Nagellack gehört nicht zu den Dingen, die seiner Meinung nach der Gerechtigkeit dienen. Er ist ein Zeichen der Unterwerfung unter die Macht der Machos. Aber da Manu zur Kategorie der unterdrückten Opfer ohne jegliche Bildung zählt, kann man nicht von ihr verlangen, moralisch einwandfrei zu handeln. Er wirft ihr dieses Versäumnis nicht vor, sondern empfindet Mitleid.

Lautstark pustet sie ihre linke Hand trocken und beginnt dann mit der rechten. Der Kleine erinnert sie an eine Jungfrau, die sich in den Duschraum eines Männergefängnisses verirrt hat: Die Umwelt stellt sich ihr lüstern und hartnäckig entgegen. Alles in ihrer Umgebung schüchtert sie ein, und der Teufel versucht ihr mit allen Tricks der Lasterhaftigkeit die Unschuld zu rauben.

Es klingelt an der Tür. Manu bittet ihn aufzumachen und wedelt dabei mit den Händen, damit der Lack schneller trocknet. Radouan kommt herein.

Er kennt den Kleinen vom Sehen, weil sie im selben Viertel wohnen, ist aber verwirrt, ihn hier bei Manu anzutreffen, da er nie ein Wort mit ihm wechseln würde. Linksradikale halten Araber für reaktionäre Arschlöcher mit religiös-fanatischen Neigungen. Araber halten Linksradikale für besoffene, hochgradig schwule Penner.

Scharfsinnig kommt Radouan zu dem Schluss, dass Manu den Kleinen wohl für einen Ritt auf ihrem Bauch hergelockt hat. Das würde ihn bei ihr nicht wundern. Er fragt, ob er störe, und gibt Manu diskret ein Zeichen, dass er für Anzüglichkeiten Verständnis habe. Dermaßen diskret, dass der Kleine hochrot anläuft und sich auf seinem Stuhl windet. Sex ist doch schon wieder so ein Thema, über das man keine Scherze macht.

Ehe sie Radouan antwortet, setzt Manu ein albernes und blödes Grinsen auf.

»Natürlich störst du nicht. Wir haben uns zufällig beim Einkaufen getroffen, und der Kleine ist mit zu mir, damit wir in Ruhe über Camel reden können. Hast du schon gegessen? Im Kühlschrank sind noch Nudeln.«

Radouan bedient sich selbst und fühlt sich wie zu Hause, denn er kommt so oft zu Besuch, dass es für ihn hier wirklich wie zu Hause ist. Der Kleine ergreift wieder das Wort und ist ganz begeistert, einen neuen Gesprächspartner zu haben.

Er selbst verkörpert genau das, was er mit erschreckender Seelenruhe anprangert. Wie der Enkel eines Missionars will er die Eingeborenen im Viertel zu seiner Denkweise bekehren. Er will nur ihr Bestes und würde ihnen so gern die Erleuchtung bringen.

Besonders clever ist der Kleine zwar nicht, aber er bekommt trotzdem sehr schnell mit, dass Radouan für seine Worte noch unempfänglicher ist als Manu. Schwer geprüft schiebt er ab.

Manu verabschiedet sich freundlich von ihm. Das Schlimmste an dummen Menschen ist eigentlich, dass sie nur im Film durch und durch unsympathisch sind. Im wirklichen Leben bringen sie einen mit ihrer warmherzigen Art ganz durcheinander.

Und dann hat der Kleine im Grunde auch nicht ganz Unrecht. Eigentlich sind im wirklichen Leben nur die Bullen durch und durch verachtenswert.

Statt zu warten, bis die erste Lackschicht trocken ist, legt sie gleich die zweite auf. Weil sie nichts Besseres zu tun hat. Voller Stolz zieht Radouan ein Piece aus der Tasche.

»Hast du Blättchen da?«

»In dem Korb hinter dir. Willst du das jetzt rauchen?«

»Tickst du noch ganz richtig? Das ist für dich, ein Geschenk von King Radouan.«

»Ist der jetzt also Dealer, ganz wie sein großer Bruder, das Arschloch Radouan?«

»Was willst du? Ich kümmer mich um mein Business. Hab alles im Griff.«

»Geht mich ja auch nichts an. Rennst du deshalb jetzt immer in so abgefahrener Montur rum? Man könnte glatt meinen, sämtliche Luxusklamottenfirmen der Welt sponsern dich. Im Viertel reden alle über dein Business, du stellst dich dermaßen blöd an, dass du nicht mal warten musst, bis die Bullen dich schnappen. Du lässt dich schon vorher von den Kerlen im Viertel festnageln …«

»Das geht dich ’n Scheißdreck an, sag ich dir, davon hast du keine Ahnung. Vertrau mir einfach und probier den Stoff von King Radouan, den besten im ganzen Land und ein Geschenk für dich.«

Sorgfältig klebt er die beiden Blättchen zusammen. Weil er selbst nicht kifft, ist er es nicht gewohnt zu drehen und macht es ganz vorsichtig. Er leckt eine Zigarette der Länge nach an und schlitzt sie auf, wie er es bei den Alten gesehen hat. Er ist gut drauf, weil er gut angezogen ist und Manu ein Geschenk machen kann.

Sie weniger, denn ihr sind schlimme Geschichten über ihn zu Ohren gekommen. Er hätte Leute abgezockt, die es überhaupt nicht mehr gewohnt waren, abgezockt zu werden. Ihr fällt nichts ein, womit sie ihn zur Vernunft bringen könnte. Schon als er mit dem Dealen anfing, war ihr nichts dazu eingefallen. Sie hätte ihm nicht einen einzigen mitreißenden Vorschlag unterbreiten können, damit er auf der rechten Bahn blieb. Sie meint nochmal: »Pass auf dich auf, schalt mal zur Abwechslung dein Hirn ein.«

Dann lässt sie ihn das Thema wechseln.

Kapitel 3

»Hast du Francis in letzter Zeit gesehn?«

»Nein, in den letzten Tagen nicht …«

»Der hat schon lange nichts mehr von sich hören lassen. Machst du mir ’n Bier?«

Selbst am helllichten Tag ist es finster in dieser Kneipe. Den endlosen Tresen entlang versackt eine Horde bunt gemischter Stammgäste. Kaleidoskop aus Geschichten, Kunstlicht und dem Gemurmel sich überlagernder Gespräche. Die Leute gleiten aufeinander zu, bleiben auf ein Glas beieinander, helfen sich gegenseitig, die Zeit totzuschlagen, bis sie endlich besoffen genug sind, um es zu ertragen, nach Hause zu gehen.

Nadine ist noch ganz bedröhnt vom Kiffen, das schärft ihre Sinne. Das Bier schmeckt frisch, und sie leert es in zwei Zügen.

Ein paar Studis büffeln an einem Tisch an der Tür. Hefte liegen aufgeschlagen auf dem Tisch, sie murmeln Formeln vor sich hin und versuchen, sie auswendig zu lernen.

Am anderen Ende des Tresens unterhält sich ein Junge mit dem Kellner und schaut verstohlen zum Eingang, um ja kein hereinkommendes Mädchen zu verpassen. In seiner Fantasie malt er sie sich in verschiedenen Stellungen aus und ergötzt sich daran, während er weiterredet. Wie die Lungen aufs Atmen ist sein Kopf nur auf Sex eingestellt. Er kommt regelmäßig hierher, und Nadine wird nicht müde, ihn zu beobachten. Wenigstens die Freude am Laster kann ihr keiner nehmen.

In einer Nische sitzt ein junger Mann auf einem Barhocker und spielt an einem Computerspiel. Ein Mädchen an seiner Seite sieht zu, wie die bunten Symbole niedersinken und sich ineinander schieben. Er hat ihr kaum guten Tag gesagt, ist ganz in sein Spiel vertieft. Trotzdem versucht sie, mit ihm zu reden: »Weißt du was? Ich hab gerade mit der Sozialarbeiterin gesprochen. Sie meint, du sollst mal bei ihr vorbeischaun.«

»Lass mich in Ruhe. Ich hab dir doch gesagt, dass es für mich bei denen nichts zu holen gibt.«

Er hat ihr barsch, aber ohne Feindseligkeit geantwortet. Er will bloß, dass sie ihn in Frieden lässt. Nach kurzem Schweigen setzt sie wieder an, hartnäckig, auch wenn sie eine Entschuldigung vorschiebt: »Zu Hause ist Post für dich, soll ich sie dir holen?«

Er scheint sie nicht mal gehört zu haben. Sie hakt nochmal nach, so sanft wie möglich, sie weiß, dass es ihn ärgert, beim Spielen gestört zu werden, aber sie kann eben nicht anders: »Du hast schon seit fünf Tagen nicht mehr zu Hause geschlafen. Wenn du nicht mehr mit mir zusammenwohnen willst, brauchst du’s nur zu sagen.«

Sie bemüht sich, weder vorwurfsvoll noch traurig zu klingen, sie weiß, dass Vorwürfe und Traurigkeit ihn wütend machen. Er seufzt laut, um ihr deutlich zu zeigen, wie sehr sie ihn nervt: »Ist gestern spät geworden. Das heißt doch nicht gleich, dass ich ausziehen will. Verdammte Scheiße, kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen?«

Nicht gerade eine beruhigende Antwort. Das Mädchen wirkt bestürzt, entgegnet aber nichts. Sie starrt auf den Bildschirm, die bunten Symbole bewegen sich immer schneller nach unten. Mit rasender Geschwindigkeit betätigen die Hände des jungen Mannes den Joystick.

Schließlich meldet die Maschine »Game over«. Ein Strahlen geht über das Gesicht des Mädchens: »Los, komm, ich kann dich auf ein Glas einladen. Wir haben uns schon so lange nicht mehr unterhalten.«

Sie hat sich sehr zusammengerissen, um begeistert und nicht flehend zu klingen. Sie weiß, dass er Begeisterung schätzt und Flehen ihn wütend macht. Unvermittelt fragt er: »Hast du mal zehn Franc?«

»Ja, ich lad dich ein, hab ich doch gesagt. Wo sollen wir uns hinsetzen?«

»Gib sie mir. Ich mach noch ’n Spiel.«

Er streckt die Hand aus, sie wagt nicht zu widersprechen und zieht eine Münze aus der Tasche. Er steckt das Geldstück in den Automaten und meint: »Bleib nicht das ganze Spiel hinter mir stehen, das lenkt mich ab. Wir unterhalten uns heute Abend, wenn du willst.«

»Kommst du spät?«

»Verdammte Scheiße, was weiß denn ich? Lass mich in Ruhe.«

Sie weiß, dass er, selbst wenn er heute Abend kommt, wohl zu besoffen sein wird, um sich mit ihr zu unterhalten. Bestenfalls hat er dann noch die Kraft, sie auf seine Seite zu drehen und von hinten zu nehmen.

Sie setzt sich allein an einen Tisch und bestellt einen Kaffee. In ihrem Blick liegt keine Wut, nichts als große Unruhe. Nadine weiß, dass sie bleiben wird, bis die Kneipe schließt, und im Laufe des Abends noch mehrere ungeschickte Versuche starten wird, die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich zu ziehen.

Bei dem Kaliber der Brünetten, die er in letzter Zeit immer durchzieht, kann ein dickes Fell nicht schaden, und je seltener sie darauf besteht, ihn mit nach Hause zu nehmen, desto besser wird er sich ihr gegenüber benehmen.

Sie wird halt so lange warten, wie es nötig ist, und hinnehmen, was hingenommen werden muss. Geduldig und zu allem bereit, um ihn bei Laune zu halten, bis er von allein zurückkommt.

Ein Typ steht von seinem Platz auf und torkelt an den Tresen. Eigentlich ist es noch zu früh, um sich schon in einem solchen Zustand zu befinden. Er feilscht mit dem Barkeeper um Kredit, erhält aber eine Abfuhr.

Eine Brünette kommt herein, und der Junge am anderen Ende des Tresens macht Stielaugen. Genau dieser Typ Frau versetzt ihm gefühlsmäßig den absoluten Kick. Auf einmal ist er nicht mehr total gelassen, sondern hibbelt auf seinem Hocker herum und antwortet auf das Augenzwinkern des Kellners: »Was können wir denn dafür, wenn’s die Weiber alle darauf anlegen?«

Nadine beobachtet das Mädchen und versucht, sie mit seinen Augen zu sehen. Warum die und nicht irgendeine andere? Vielleicht, weil sie dem ersten kleinen Mädchen ähnelt, dem er einen Finger in die Spalte schieben durfte. Vielleicht lächelt sie auch genau wie das Papiergirl, deren Foto er mit Flecken übersät hat, wenn er sich mit starrem Blick einen runterholte.

Einer seiner Kollegen gesellt sich zu ihm, und er fragt ganz unschuldig: »Die kleine Brünette da drüben, kennst du die?«

»Im biblischen Sinn. Erstklassig, wie die bläst.«

»Das glaub ich dir natürlich gern aufs Wort, trotzdem würde ich mich lieber selbst davon überzeugen. Kannst du mich ihr vorstellen?«

Sie nehmen ihre Gläser und setzen sich an den Tisch des Mädchens.

Neben dem Eingang lässt sich eine ultrascharfe Mulattin auf superhohen Absätzen dazu herab, zwei Jungs zu quälen. Ihr Rock hört genau da auf, wo ihr Unterleib beginnt, und darunter erstrecken sich endlose Beine. Die Jungs malen sich lieber nicht aus, wie die sich um die Taille des Glücklichen schlingen, der’s ihr besorgen darf. Lächelnd hört sie ihnen zu, eine Hand auf den Hüften, und wenn sie hell auflacht, lässt sie leicht das Becken kreisen. Der Schrei nach Sex wird bei ihr im Imperativ konjugiert, und eine Höllenfahrt gehört mit zum Programm. Sie ist eine Femme fatale im eigentlichen Sinn des Wortes. Alle in der Bar kennen Storys über Kerle, denen sie den Verstand geraubt hat, und alle Männer haben nur den einen Wunsch, selbst an der Reihe zu sein.

Nadine hat mal eines Abends beobachtet, wie sie am anderen Ende der Straße zusammenbrach, zwischen zwei Autos, nach einem Streit mit einem Liebhaber. Der leichenblasse Kerl beugte sich über ihren schrecklich zusammengekrümmten Körper, total baff, dass ein Mensch so leiden konnte, und entsetzt über einen solchen Wutausbruch. Sie war wie besessen, versuchte sich das Übel mit Schlägen in die Magengegend auszutreiben, wälzte sich schreiend hin und her, in ihrem Innern ein loderndes Feuer.

Nadine war es peinlich, unfreiwillig Zeugin dieser Szene zu werden, doch zugleich zog dieses Mädchen sie mächtig an.

»Nadine, Telefon für dich. Ich glaub, es ist Francis.«

Kapitel 4

In der Küche ist die Spüle noch immer verstopft. Bei der Hitze gammelt das aufgestaute Wasser besonders gut. Also stapelt Manu das schmutzige Geschirr im Badezimmerwaschbecken.

Ausnahmsweise hat Radouan mal nicht übertrieben: Das Dope ist erstklassig.

Ohne ihn auszuleeren, feuert sie den Aschenbecher ins Wasser. Augenblicklich überzieht ein schwarzer Film alles, was darin eingeweicht liegt. Sie lässt einen Schwall von Beschimpfungen gegen den Aschenbecher los und knallt die Badezimmertür zu, damit sie sich das nicht mehr anzusehen braucht.

Sie muss dringend raus und was zu trinken kaufen. In einem Berg schmutziger Wäsche sucht sie nach einer nicht allzu fleckigen Bluse. Sie schwört sich, noch vor dem Wochenende in den Waschsalon zu gehen. Als sie den Reißverschluss einer Jacke zuzieht, die nach kaltem Rauch stinkt, wird ihr klar, dass es viel zu heiß ist, um eine Jacke anzuziehen.

Das ist, als wolle sie schon seit Stunden raus und Getränke kaufen. Die Wohnung lässt sie nicht mehr los.

Erstklassiges Dope. Radouan hat ihr ganz viel dagelassen.

Sie weiß nicht mehr, wo der Wohnungsschlüssel ist. Sie wühlt alles durch, in der Hoffnung, dass er ihr zwischen die Finger kommt. Selbst im Kühlschrank schaut sie nach, man weiß ja nie. Schließlich findet sie ihn in der Tasche einer Jeans.

Endlich schafft sie’s doch noch hinaus auf die Straße. Die Sonne knallt ihr in die Visage wie ein auf sie gerichteter Scheinwerfer. Es ist so heiß, dass man sich auf den Bürgersteig setzen und den Abend abwarten möchte. Sie kneift die Augen zu und merkt, dass sie ihre Sonnenbrille vergessen hat, hat aber keine Lust, sie holen zu gehen.

Im Gehen zählt sie das Geld in ihrer Hand. Für zwei Flaschen Bier müsste es reichen. So ein Mist, dass sie die Pfandflaschen zu Hause gelassen hat.

Sie ist noch mit diesem Thema beschäftigt, als ihr auffällt, dass ihr Nagellack alles andere als planmäßig getrocknet ist. Er bildet unzählige kleine Rillen. Eigentlich sieht das gar nicht schlecht aus.

Ein Mädchen kommt über die Straße, um ihr Hallo zu sa-gen. Sie haben sich nie viel zu erzählen, wohnen bloß schon seit Jahren im gleichen Stadtviertel. Die Augen des Mädchens versinken in Rotz und Kummer. Sie wirkt noch viel geistesabwesender als Manu. Zugedröhnter Junkie, gängiges Modell. Weiß die Öffnungszeiten aller Apotheken im Viertel auswendig. Auch bei der Schautafel mit den Notdiensten macht ihr keiner was vor. Die Unterarme immer zerstochen, sie kriegt kaum einen Satz zu Ende.

Als sie damals im Viertel ankam, war sie noch ein liebliches Pflänzchen, hatte gerade ein Studium abgeschlossen, das ihr keiner je zugetraut hätte, steckte voller Pläne und konnte sogar glaubhaft machen, sie alle zu verwirklichen. Das ist sehr lange her, seitdem hat die Realität sie eingeholt und in die Gosse verwiesen, doch sie meint immer noch, das wäre nur so eine Phase in ihrem Leben, die sie sehr bald hinter sich lassen wird. Sie ist die Letzte, die noch an sich glaubt und denkt, dass sie da wieder rauskommt. Manu unterhält sich kurz mit ihr.

Dann setzt sie ihren Weg fort und wirft einen Blick in die Eckkneipe. Manchmal trifft sie da jemanden, den sie grad sehen möchte. Alles im Laden ist von einer Dreckschicht überzogen. Von besseren Zeiten träumende Spelunke. Dicke Luft, deren Ursache keinen Dreigroschenroman wert ist.

Ein Typ kommt aus der Kneipe und holt sie etwas weiter ein: »Hast du Radouan gesehn?«

»Nein. Ich weiß nicht, wo er ist.«