Balanceakt - Andy Holzer - E-Book

Balanceakt E-Book

Andy Holzer

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Beschreibung

Andy Holzer sieht die Berge nicht. Dass der von Geburt an blinde Kletterer dennoch alles wahrnimmt, beweist er auf seinen Expeditionen auf die höchsten Gipfel der Erde. Ohren, Nase, Mund und Hände reichen ihm, um sich ein präzises Bild von der Welt zu machen. Sein Erfolg und sein ansteckender Optimismus haben viel mit seiner Lebensgeschichte zu tun. Er wuchs wie ein ganz normaler Junge auf, besuchte keine Blindenschule und behauptete sich schon früh in der Welt der Sehenden. Grenzen, die sein Handicap mit sich bringt, überwindet er mit mentaler Stärke, Vertrauen und einer unbändigen Leidenschaft für steile Felswände. Höhenangst hat Andy Holzer dabei nicht: "Man darf nur nicht nach unten schauen, so mach ich's auch immer."

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Seitenzahl: 351

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COVER

HAUPTTITEL

INHALT

BILDTEIL

ÜBER DEN AUTOR

ÜBER DAS BUCH

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

Andy Holzer

Balanceakt

Blind auf die Gipfel der Welt

Patmos Verlag

Ihr seht Dinge, die vorhanden sind,

und fragt: »Warum?«

Aber ich träume von Dingen, die es nie

gegeben hat, und frage: »Warum nicht?«

GEORGE BERNARD SHAW

INHALT

Eine ganz normale Kindheit

Natürliche Auslese

Nur Ohren für Eine

Knie- und Schultersteine

Tod eines Freundes

Doppelblinde Seilschaft

Lieblingsfarbe: hellblau

Seven Summits

Cho Oyu

Wie im richtigen Leben

Dank

ICH TASTE MIT MEINER LINKEN HAND nach oben, um wieder sicheren Halt zu finden. Gott sei Dank kommt mir ein Griff in die Finger, weil ich schon spüre, wie der winzige Felsvorsprung, auf dem ich mit dem rechten Zehenballen stehe, ganz langsam unter mir zerbröselt. Das durchlebe ich in den letzten zehn Minuten nun schon zum vierten Mal. Trotz dieses erbarmungslosen Ausgesetztseins oder vielleicht gerade deswegen genieße ich meine Lage auf eine sonderbare Weise – weil ich erneut dabei bin, die Grenzen meiner Möglichkeiten weiter auszudehnen.

Dass ich mich dreißig Meter über dem Abgrund befinde, spüre ich ganz deutlich. Mein Sicherungsseil läuft an diesem Tag nicht gestrafft hinauf wie sonst, wenn Hans mich von oben sichert. Stattdessen hängt es von meinem Klettergurt in einem leichten Bogen schlaff nach unten. Beim Einstieg, auf einer abschüssigen Felsrampe, steht meine Mutter, die mir das Seil nachgibt und meinen Kletterkünsten blind vertraut. Was soll sie auch sonst tun, ist das doch ihre erste richtige Klettertour. Und sie hat keine Ahnung, wie man so eine Seilschaft händelt. Kurz vor unserem Einstieg in die Wand habe ich ihr noch schnell gezeigt, wie man den Bremsknoten macht, der das Seil im Falle meines Sturzes in ihrem Karabiner blockiert.

Mutter ist mit mir in der Früh zwei Stunden über teils wegloses Geröll bis zum Wandfuß der Teplitzerspitze hochgestiegen, weil ich für mein Vorhaben an diesem prächtigen Septembertag keinen anderen Partner gefunden hatte. Beim aufrechten Gehen bin ich auf die Geräusche eines Partners angewiesen, dessen Schritte ich akustisch analysiere. Auf diese Weise kann ich unterscheiden, ob mein Fuß beim nächsten Schritt auf einem festen Untergrund, einem schlüpfrigen Rasenflecken, einem schiefen Schotterpodest oder einem weichen Moospolster landen wird. Ich folgte also meiner Mutter, die in diesem mühsamen Gelände meine Führerin war. »Wir müssen jetzt hinauf zu diesem Schneefleck und dann leicht nach rechts in die zweite Schlucht von rechts«, erklärte ich ihr gemäß meiner virtuellen Landkarte, die ich im Gehirn gespeichert habe, und das genügte ihr, um uns zum Einstieg zu bringen. Ab dort war ich der Chef, weil ja nun meine Finger den jetzt senkrecht verlaufenden Boden ertasten konnten und ich plötzlich genügend Sinneseindrücke erhielt, um mich zu orientieren. Um die Moral unserer Seilschaft hochzuhalten, sagte ich meiner Mutter noch, dass es oben bald wieder flacher werden wird und wir dann leichter vorankämen.

Ich merkte schon sehr bald, dass es an diesem Tag ernst werden würde. Ein Schwefelgeruch, der entsteht, wenn das Gestein durch Erosion und wetterbedingte Einflüsse brüchig ist, und glitschige Wasserflecken in tieferen Einbuchtungen sind für mich Alarmzeichen. Es fühlt sich an, als kletterte man im Souvenirladen über ein gläsernes Regal und hielte sich an lauter Kaffeetassen und kleinen Blumentöpfen fest, die jederzeit mit einem in die Tiefe stürzen wollen. Trotzdem schiebe und drücke ich mich durch eine körperbreite Spalte immer höher. Mir kommt in den Sinn, was Hans gemeint hat, als er mir sagte, dass sich diese Nordwand für mich nicht eigne, weil der Fels so brüchig sei und schon sehende Kletterer hier ein großes Risiko eingingen. Trotzdem bin ich meinem unbändigen Kletterdrang gefolgt, habe meine eigene Mutter, eine Dame von über fünfzig Jahren, als Seilpartnerin eingeteilt und raufe nun ums Durchkommen. Einen kurzen Moment denke ich auch an einen Rückzug, was mir jedoch in meiner prekären Lage als reiner Selbstmord erscheint. Wenn man beim Hochklettern schon an der Grenze des Möglichen ist, dann ist ein Abklettern blanker Wahnsinn. Und irgendwo ganz tief in mir spüre ich ganz deutlich, dass kein Grund zur Panik besteht.

Mit meinem Kletterhelm stoße ich plötzlich gegen einen Überhang. Mir wird klar, dass ich am oberen Ende des Risses angekommen bin und mich meine Route nun nach rechts in nicht mehr ganz so steiles Gelände führen muss. Ich taste mich über die rechte Kante hinaus und versuche mich über einen Felshöcker, der sich anfühlt wie der Rand einer überdimensionalen Badewanne, hinüberzuschwingen.

Als ich mich dabei mit dem Fuß abstoße, löst sich wieder ein Fels­brocken, und ich glaube ins Leere zu fallen. Mir ist klar, dass ein Absturz an dieser Stelle nicht zu überleben ist, weil ich bis jetzt noch keine einzige Zwischensicherung eingehängt habe. Was heißt eingehängt, ich habe auch noch keinen Haken zum Einhängen gefunden. Intuitiv winde ich meinen Oberkörper und bekomme punktgenau eine fingerbreite Ritze zu fassen, die ich mir Sekunden zuvor beim Abtasten gemerkt habe. Im selben Moment höre ich weit unten den Felsbrocken irgendwo dumpf aufschlagen. Oh mein Gott, meine Mutter!

»Pass auf!«, ruft sie, und weil sie keine Sichtverbindung mehr zu mir hat, weiß sie auch nicht, wie hart ich kämpfe. Ich bin beruhigt, dass sie der Stein, dem sie gerade noch ausweichen konnte, nicht verletzt hat. Während ich ihr aufmunternde Worte zurufe, bewege ich mich die steile Felsrinne weiter nach oben.

Ich selber war noch nie in dieser Wand und ich klettere nur dem Bild in meinem Kopf nach. Wenn mir Menschen etwas beschreiben, bin ich nach einigen gezielten Rückfragen in der Lage, mir eine sehr genaue, ja sogar detailgetreue Vorstellung davon zu machen. Das Bild dieser Route habe ich aus Erzählungen anderer Bergsteiger für mich generiert, und nun hoffe ich, mich darauf verlassen zu können. Demnach müsste mein fünfzig Meter langes Kletterseil langsam zu Ende gehen und hier irgendwo müsste der erste fixe Stand mit zwei Felshaken sein. Meine Mutter bestätigt mir lautstark von unten, dass ich nur noch zwei Meter Seil habe, und ich weiß nun, dass ich dringend einen Standplatz finden muss, um mich festzubinden, meine Mutter am straffen Seil nachzusichern und dann die nächste Seillänge in Angriff zu nehmen. Bis jetzt habe ich noch nicht den mindesten Hinweis darauf gespürt, dass sich hier tatsächlich ein von Menschenhand eingeschlagener Haken befinden soll. Ich weiß also nicht, ob ich überhaupt in der richtigen Route bin, und werde langsam nervös. Es ist natürlich immer noch denkbar, dass meine gedachte Landkarte mit der tatsächlichen Topografie nicht übereinstimmt und mir mein Vorstellungsvermögen einen bösen Streich gespielt hat. Wie wild fingere ich mit beiden Händen an den Felsen herum, um diese verdammten Metallhaken endlich zu finden. Wenn meine Mutter jetzt losklettert, liegt auf einmal nicht nur mein Schicksal, nein, auch das Schicksal meiner Mutter ganz in meiner Hand. Meine Mundhöhle ist staubtrocken und mein Gaumen schmeckt bitter.

Als mich meine Mutter von unten immer wieder fragt, was los sei, weil sie an der stagnierenden Seilbewegung erkennt, dass irgendetwas nicht stimmen kann, versuche ich ihr mit entspannter Stimme zu vermitteln, dass ich mir nur die Schuhbänder knüpfen müsse. Ich weiß haargenau, dass ich es bin, der unsere trudelnde Seilschaft nun ins Lot bringen muss. Also konzentriere ich mich noch einmal ganz auf das, was mir Monate zuvor von anderen Bergsteigern über die Teplitzer Nordwand erzählt worden war. Natürlich hatten sie nicht im Traum daran gedacht, dass dieser verrückte Blinde diese Route nun als Seilführender klettern würde, denn sonst hätten sie wohl geschwiegen.

Hatte damals nicht einer gemeint, dass er die Haken mit der Hand fast nicht erreicht hätte und noch ein kleines Stück höher steigen musste, um den Sicherungskarabiner dort einzuhängen? Also strecke ich mit dem Karabiner in der Hand meinen Arm so hoch ich kann nach oben und höre endlich das metallische Klirren vom Standhaken. So schnell ich kann, klinke ich ihn ein und rufe mit selbstbewusster Stimme: »Nach­kommen!«

Nach kurzer Zeit höre ich von unten, dass meine Seilpartnerin ihren Aufstieg beginnt und ich sie nun am gespannten Seil die erste Seillänge bis zu mir herauf nachsichern kann. Schnell kehrt mein Urvertrauen zurück und ich bin stolz darauf, wie meine Mutter am anderen Ende des Seiles relativ flott heraufklettert, und ebenso stolz darauf, der Führer dieser besonderen Seilschaft zu sein.

Zwischen uns werden nicht viele Worte gewechselt, weil wir uns inmitten einer dreihundertfünfzig Meter hohen, wilden Felswand befinden. Ein Entkommen ist nur noch über den Weg nach oben möglich. Meine Mutter begreift schnell, dass sie unser Team nun nicht mit destruktivem, panischem Verhalten, sondern nur durch Zuversicht und gegenseitiges Vertrauen positiv beeinflussen kann. Immerhin haben wir noch zwölf Seillängen vor uns.

Ein kleiner Schock, den sie aufgrund ihres Augenlichts erst nur für sich verarbeiten muss, ist der Anblick der zweiten Seillänge. Sie führt über eine aalglatte Felsplatte, die steil ist wie ein gekipptes Fenster, horizon-tal hinüber. Meine Mutter kann nun die ganze Kletterstrecke bis zum nächsten Standplatz und die verschiedenen Zwischenhaken einsehen. Diese für sie ungewohnte Sicht in ein Labyrinth von Abgründen hilft nun wiederum mir, unsere zweite Seillänge zu meistern. Ihre kurzen Zurufe genügen mir zur groben Orientierung, und ich muss mich nur noch auf die Feinabstimmung meines Körpers, auf Tritte und Griffe konzentrieren. Die Überquerung dieser schrägen Platte bedeutet eine große Herausforderung für mich, weil meine Füße nicht mehr meinen Händen folgen können und ich keine Information darüber habe, wie es unter meinen Sohlen aussieht. Ich bringe diesen Balanceakt jedoch hinter mich und freue mich über eine zwanzig Meter lange, handbreite Spalte, die mir den Weg durch diese Plattenwand bis hoch zum Standplatz weist. Wieder das Hantieren mit Haken und Karabinern, Seil einhängen, das Kommando »Nachkommen!« und schon darf sich meine Mutter, von mir gesichert, ein paar weitere Schritte dem Gipfel nähern.

Stunde um Stunde vergeht, eine Seillänge folgt auf die andere. Unsere Seilschaft hat sich lange schon auf ihre Stärken und Schwächen eingestellt, und nur noch vierzig Höhenmeter trennen uns vom höchsten Punkt. Nun lasse ich meiner Mutter den Vortritt. Ungläubig schaut sie mich an. Schaut mich an? Ich registriere das anhand ihrer Atmung, der wärmenden Ausstrahlung ihrer Haut und anderer mir teils unbewusster Signale, die mir sagen, wie ihr restlicher Körper positioniert ist.

Meine Mutter war schon immer eine selbstbewusste Frau und steigt wirklich die letzten Meter der Steilwand hinauf, um dann nach wenigen Schritten die kleine Gipfelfläche zu erreichen. Ein aus tiefster Brust ­ertönender Juchzer von oben bestätigt mir, dass dies auch für meine Mutter einer der schöneren Tage in ihrem Leben sein muss…

EINE GANZ NORMALE KINDHEIT

AMLACH, MEIN HEIMATDORF, ist eine Dreihundert-Seelen-Gemeinde, ein kleines, idyllisches Nest in Osttirol. Zwischen schroffen Dolomitenzacken im Süden und den wildromantischen Gebirgszügen der Hohen Tauern im Norden liegt es sanft eingebettet im flachen Talboden von Lienz und wird vom schützenden »Amlacher Waldele« umrahmt. An diesem verträumten Platz ist mein Vater auf dem Hof seiner Eltern erwachsen geworden und hat sich zusammen mit meiner Mutter, die aus Lienz stammt, und mit seinem Bruder Alois und dessen Frau Christl ein Zweifamilienhaus gebaut. 1961 heirateten meine Eltern und zogen in das mit viel Mühe geschaffene Eigenheim ein. Mein Vater war Briefträger und meine Mutter Textilverkäuferin, und so hatten sie alle Hände voll damit zu tun, sich diese gemeinsame Bleibe zu schaffen. Im Mai 1963 kam dann endlich das erste Kind zur Welt, ein Mädchen. Als meine Mutter nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause kam und meine Schwester Elisabeth im Gepäck hatte, war im Hause Holzer die Stimmung nicht zu überbieten.

Nur wenige Tage konnten meine Eltern dieses Glücksgefühl genießen, bevor die Schreckensmeldung eintraf: Der Bruder meiner Mutter sei von seiner Tour noch immer nicht zurückgekehrt, obwohl es schon finstere Nacht war und er am nächsten Morgen zur Arbeit musste. Onkel Franz war ein begeisterter, ja beseelter Bergsteiger und hatte mit seinen zarten siebzehn Jahren schon so manche schwere Route gemeistert. Er wollte das lange Pfingstwochenende für mehrere Tagestouren hintereinander nutzen, um dem Alltag beim Klettern im warmen Dolomitenfels für eine Weile zu entkommen. Am Samstag war er ganz alleine aufgebrochen und jetzt war Montagnacht, doch von Onkel Franz gab es keine Spur.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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