Believe in our love - Sophie Haven - E-Book
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Believe in our love E-Book

Sophie Haven

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Beschreibung

»Heute weiß ich, dass es nicht darauf ankommt, wie lange man lebt, sondern wie glücklich.« Das Leben ist unvorhersehbar. Das hat Allie schmerzhaft gelernt, als ihre Zwillingsschwester bei einem Verkehrsunfall starb, den sie überlebte. Für einen Neuanfang zieht Allie in das englische Küstenstädtchen Hastings. Sie will herausfinden, wer sie ohne ihre Schwester ist, denn mit ihr hat Allie auch ihre Liebe zum Zeichnen verloren. Als sie in dem Café, in dem sie arbeitet, auf Nathan trifft, ahnt sie nicht, dass auch er ein neues Kapitel beginnt. Der berühmte Fotoblogger hat sich selbst nach Hastings ins Exil verbannt. Denn im Gegensatz zu Allie, die den Rückhalt ihrer Freunde und Familie hat, verlor Nathan alles. Wenn sie zusammen sind, ergibt jeder Moment einen Sinn - wäre da nicht der Grund für Nathans Exil. Und die Frage: Wenn sich selbst seine Familie von ihm abgewandt hat, wie sollte Allie ihn jemals lieben können? Eine authentische, tiefgreifende und gefühlvolle Liebesgeschichte, die unter die Haut geht und zeigt, wie viel wir bereit sind, für die Menschen zu tun, die wir lieben.

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Vorwort zur Widmung

Da dieses Buch für mich etwas Besonderes ist, dessen Veröffentlichung ich fast nicht erlebt hätte, möchte ich ein paar Worte vor der Widmung loswerden. Nämlich für die Menschen, die dafür gesorgt haben, dass ich selbst Allies und Nathans Geschichte heute in den Händen halten darf.

Seit meiner Krebsdiagnose mit einundzwanzig wusste ich, dass jeder Tag für mich ein Wunder sein wird – oder ich ihn zu einem machen werde. Der Tumor hätte mir fast mein Lächeln und mein Leben genommen und ich bin seither sehr demütig und dankbar allem gegenüber, das mich umgibt. Wirklich aus tiefster Seele.

Ich habe mir geschworen, nie zu vergessen, dass mir ein zweites Leben geschenkt wurde und es ein Privileg ist, jeden Morgen in diesem besonderen Leben aufzuwachen, das ich aus tiefstem Herzen liebe. Trotz der Einschränkungen. Obwohl es nicht leicht und nie perfekt ist. Aber ich bin für jeden Moment dankbar – und voller tiefer Liebe für die Menschen, die mich umgeben.

Für mich sind die kleinsten Augenblicke und Gesten zu den größten geworden. Mir ist es wichtig, anderen Menschen ein Lächeln zu schenken, egal, auf welchem Weg; oder einfach einen glücklichen Moment, der einen vielleicht schlechten Tag erträglicher macht. Das ist es, worum es für mich geht. Füreinander da zu sein.

2023 hätte ich all das, die Dankbarkeit, die Lebensfreude, den Kampfgeist fast verloren und damit mich. Wenn ein Körper monatelang nicht funktioniert, wirkt sich das auf alles aus.

Die ersten acht Monate dieses Jahres waren die schwersten meines Lebens.

Bei euch, liebe Orthe 1, habe ich mich das erste Mal seit langer Zeit gut aufgehoben gefühlt. Sicher, geborgen, verstanden und vieles mehr. Ihr habt euch mehr gekümmert, als ich es zurückgeben konnte und vermutlich je zurückgeben kann.

Jedes Gespräch, jedes gemeinsame Lachen, jede noch so kleine Geste, jedes Lächeln, jede Umarmung, jede witzige Story beim Frühstück ... all das hat mir durch diese Zeit geholfen und dabei, zu mir zurückzufinden.

Wie Krankenschwestern, die sich nach dem Dienst noch zu mir setzen, um einfach zu reden. Oder die mich nach einem langen, schwierigen Arztgespräch in den Arm nehmen. Die mir selbst mitten in der Nacht Befunde erklären.

Ärzte, die mir Mut machen und alles ermöglichen, um mir Gewissheit zu verschaffen und zu helfen. Das Angrinsen über den Tisch hinweg in vielen Situationen, weil wir uns auch ohne Worte verstanden haben.

Und vor allem, dass ihr mir, trotz der Umstände, gezeigt habt, wie schön es für euch war, mich um euch zu haben.

Es war und ist diese Zwischenmenschlichkeit, die mich so berührt und es mir leicht gemacht hat, wieder zu meinem Strahlen zurückzufinden. Zu mir.

Worte können nicht beschreiben, wie dankbar ich euch für immer sein werde, dass ihr in der schwersten Zeit für mich da gewesen seid.

Ich weiß, dass ihr sagen werdet, dass ich es euch ›leicht‹ gemacht habe, aber für mich war es umgekehrt.

Dank euch darf ich nun die Veröffentlichung meines vielleicht wichtigsten Buches miterleben, mit so viel Freude, Hoffnung, Liebe und ganz viel neuer Energie, Kraft und Mut.

Am Ende geht es immer darum, was wir in den Menschen hinterlassen, die uns im Leben begegnen – und ihr habt einen großen Fußabdruck in meinem Herzen hinterlassen.

Danke für alles.

Ich würde für jeden Einzelnen von euch durchs Feuer gehen und hoffe, dass ihr das niemals vergesst.

Wenn es irgendwo brennt, bin ich nur einen Anruf oder eine WhatsApp-Nachricht weit entfernt. Und ich bringe neben Feuerlöschern auch leckeren Kuchen mit. Versprochen.

Also: auf euch und das Leben.

Und darauf, dass ausgerechnet wir uns zur gleichen Zeit begegnet sind.

Für die gesamte Orthopädie 1 der Uniklinik Magdeburg.

Für Mama.

Für Virgil.

Für Nancy.

Für Paula.

Für Anja.

Für Silke.

Für Nadine.

Für ›Molly‹ (Kathrin).

Für Evi.

Für Manfred.

Für Manu.

Für Stefan mit einem F.

Für Jennifer, auch wenn sie nicht mehr da ist.

Für Kathrin.

Für Kerstin.

Für René.

Für Lica.

Für Ariane.

Für Claudia.

Für Agnes.

Für Otto

(der als Radiologe zwar nicht zur Orthopädie gehört,

aber genau weiß, warum er es verdient hat, hier zu stehen).

Für Christian.

*Triggerwarnung: Dieses Buch enthält Themen, die triggern könnten. Bitte bedenkt, dass die Warnung euch den wichtigsten Twist und die Handlung spoilern könnte. Möchtet ihr sie trotzdem lesen, springt bitte zu Seite 338.

PLAYLIST

*Auszug*

The Black and White – The Band CAMINO

Up, Up & Away – Chance Peña

Medicine – Daughter

The Camera Turns – Born Without Bones

Anchor – Novo Amor

Wilderness – Jon Bryant

Bristol – Imaginary Future

What Was I Made For? – Billie Eilish

The District Sleeps Alone Tonight – Birdy

Love Like This (Acoustic) – Kodaline

State Lines – Novo Amor

1984 (Native) – Night Traveler

Holdin‘ Out – The Lumineers

Letting Go for a Little While – Ryan McMullan

Logical – Olivia Rodrigo

Losing Light (Live) – John Doherty

Wild Heart – Bleachers

Shallows – Daughter

To Build A Home – The Cinematic Orchestra|Patrick Watson

After The Storm – Mumford & Sons

Two Lungs – Mogli

Heal – Tom Odell

Red – Mt. Wolf

Looking Too Closely – Fink

Bitter Sweet Symphony (Live) – London Grammar

Empire – Belasco

Anthem Part Two – blink–182

Exile – Taylor Swift, Bon Iver

Youth – Daughter

Wait – M83

Blackout – Freya Ridings

Love Is Gone (Acoustic) – Slander/Dylan Matthew

The Art Of Getting By – Laura Zocca

Next To Me (Acoustic) – Imagine Dragons

*Zur Spotify-Playlist:

Inhaltsverzeichnis

PLAYLIST

Prolog

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Epilog

Prolog

Allie

Neun Monate zuvor

Etwas in mir dachte, dass uns Katastrophen nicht passieren. Dass wir wie unter einer unsichtbaren Kuppel leben, geschützt vor den Launen des Universums.

Uns geschieht das nicht.

Nicht uns.

Ich drehe den Kopf zur Seite, um meine Schwester anzusehen. Sie wird wie ich in den Sitz gedrückt. Jegliche Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen.

Noch vor einer halben Stunde haben wir zusammen auf der Party mit unseren Kommilitonen gefeiert. Meine Schwester hat auf der Tanzfläche gestanden und lauthals den Song mitgesungen, den der DJ spielte. Sie hat sich seit Monaten auf die Party gefreut. Die letzte vor den Abschlussprüfungen. Es ist erst Januar – doch wir alle sind uns einig gewesen, dass die Wochen bis zum Prüfungsstart viel zu schnell vergehen würden. Deshalb wollten wir diese private Feier, nur für unseren Jahrgang. Es sollte ein Abschied werden.

Das Haus unseres Kommilitonen ist überfüllt gewesen von Menschen. Der Bass hat so laut gedröhnt, dass man ihn selbst draußen im Garten in den Beinen spüren konnte. Die Leute haben sich um den beheizten Pool getummelt, sind dank der Wärmestrahler kurzärmlig rumgelaufen. In gefühlt jeder Ecke hat man knutschende Pärchen gefunden und in der Luft hing der süßlich-zuckrige Geruch von Alkohol. Ich habe mich aus meiner Ecke zur Tanzfläche durchgeschlängelt. Es war erst halb zwei und wahrscheinlich viel zu früh, um aufzubrechen. Mein Gedanke hat sich bestätigt, als ich meine Schwester zwischen den Tanzenden entdeckt habe. Sie hat ihre Hüften im Takt der Musik bewegt, gelacht und sich vorgeneigt, um ihrer Tanzpartnerin was ins Ohr zu flüstern. Mia.

Meine Schwester ist seit Monaten verknallt in Mia. Und obwohl sie die Furchtlose von uns beiden ist, hat sie bis heute keine Gelegenheit gefunden, sie nach einem Date zu fragen.

Das habe ich ihr nicht kaputtmachen wollen. Ich habe mich zum Gehen umgewandt und gerade per App das Taxi bestellt, als meine Schwester mich entdeckt hat. Bevor ich in der Menge verschwinden konnte, hat sie mich eingeholt. Sie bestand darauf, mitzukommen. Zusammen nach Hause zu fahren. Keine Ahnung, wie lange ich mit ihr diskutiert habe, dass sie bleiben sollte. Doch sie hat nur abgewinkt und gelächelt. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Das hat sie gesagt. Mia hat ihre Nummer und einen Abschiedskuss auf die Wange bekommen, ehe meine Schwester sich bei mir untergehakt und mich raus zum Taxi gezogen hat.

Zu dem Taxi, in dem wir jetzt sitzen.

Zu dem Taxi, das mit rasender Geschwindigkeit auf die Leitplanke zusteuert. Zu dem Taxi, in dem ich nun erneut den Kopf drehe, um meine Schwester anzusehen. Mein Blick trifft ihren. In diesem Moment existieren weder Zeit noch Raum.

Das Letzte, das ich höre, ist, wie sie meinen Namen sagt. »Allie.«

Dann durchbricht der Wagen die Leitplanke und die Welt wird schwarz.

Prolog

Nathan

Zwei Wochen zuvor

»Verschwinde. Lass dich hier nie wieder blicken.« Die Augen meines Vaters sind ausdruckslos. Genauso gut könnte ich ein Wandgemälde anstarren.

Ich stehe im Flur vor der halb geöffneten Haustür. In der einen Hand die Türklinke, in der anderen den Koffer, auf dem Rücken den Rucksack. Die restlichen Taschen liegen bereits im Kofferraum des Polos. Das ist es, was von meinem dreiundzwanzigjährigen Leben hier übrig geblieben ist.

»Werdet ihr zurechtkommen?«, frage ich.

Mein Vater schnaubt. Sein eiskalter Blick streift mich. »Du hast unser Leben zerstört und fragst, ob wir zurechtkommen werden?« Er schüttelt den Kopf über so viel Unverfrorenheit.

Ich versuche, mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Stattdessen zwinge ich mich dazu, ihm weiter mit dem Verständnis zu begegnen, das er für mich nie haben wird. »Ja.«

»Hau ab, Nathan. Sofort. Bevor ich mich vergesse.«

Ich presse Ober- und Unterkiefer fest zusammen, dann nicke ich und drehe mich dem Wohnzimmer zu. »Mum?«, frage ich, mit einem Anflug von Hoffnung.

Meine Mutter sitzt unbeweglich auf dem Sofa und kehrt mir den Rücken zu, wie vor fünf Minuten als ich mit dem Gepäck durch die Hintertür hereinkam. »Ich habe keinen Sohn mehr. Geh.«

Meine Arme zittern.

Und es liegt nicht am Gewicht der Taschen. Mit letzter Kraft umschließe ich den Koffer, straffe meine Schultern und blicke durch den Flur aus dem Fenster in der Küche. Die weite Wiese liegt ruhig da, ebenso wie der kleine Hof zwischen Vorder- und Hinterhaus.

In Letzterem habe ich bis heute Morgen gewohnt. Ein Sonnenstrahl fällt auf das Dach und ich schlucke. Was Dad wohl mit dem Haus anstellen wird? Vielleicht wandelt er es wieder in einen Stall um.

»Ich werde immer da sein, wenn ihr reden wollt«, wage ich einen letzten Versuch.

Keine Antwort. Stattdessen sorgen die leeren Augen meines Vaters dafür, dass ich endlich aus der Tür auf den Kiesweg trete. Die Haustür fällt mit einem dumpfen Laut hinter mir zu. Einen Augenblick lang verharre ich, warte darauf, dass Dad auf der Schwelle erscheint, mich in den Arm nimmt, mir sagt, dass wir das schon hinkriegen werden.

Nichts geschieht. Und ich begreife, dass es vorbei ist. Ab heute habe ich keine Familie mehr.

Plötzlich kann ich es nicht erwarten, von hier wegzukommen. Ich sprinte zum Auto, werfe die Taschen und Koffer auf den Rücksitz und hechte auf den Fahrersitz. Der Motor des Polos stottert, springt jedoch beim ersten Versuch an. Ich rase vom Grundstück, ohne zurückzublicken. Erst als mein Heimatdorf im Rückspiegel kleiner wird, atme ich zittrig ein und erlaube es mir, meinem Schmerz freien Lauf zu lassen. Der Gedanke an Hastings ist es, der mich irgendwann in die Gegenwart zurückholt. Die Vorträge am College werden mich ablenken. Ich werde weit weg, am Meer sein. Alles andere wird sich zeigen.

Mit dem Ärmel wische ich mir über die feuchten Wangen. Dann, als ich auf den Motorway auffahre, mache ich das, was ich mir vor langer Zeit für diesen Moment vorgenommen habe: weiter.

1. Kapitel

Allie

Heute

Das Erste, was ich sehe, als ich die Dachgeschosswohnung betrete, sind die blauen Luftballons, die jemand in den Sofaritzen befestigt hat.

»Welcome home«, lese ich die Schrift darauf vor und merke, wie meine Stimme bricht.

Draußen vor den Fenstern weht die typisch kalte Küstenbrise. Nur das Prasseln des langsam einsetzenden Regens übertönt das Rauschen und besänftigt die Panik in mir.

»Gefallen sie dir?« Ethan stellt die letzten Umzugskisten zwischen uns ab und fährt sich durch die schwarzen Haare, die er von seinem Vater hat. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn.

»Ich liebe sie. Danke, Ethan. Auch dafür.« Ich deute auf die vielen Kartons und Koffer, die er fast allein nach oben getragen hat – und bekomme wieder ein schlechtes Gewissen.

»Hey, das ist jetzt deine Wohnung, Al. Also kein Ding.« Mein bester Freund lächelt. Grübchen bilden sich auf seinen Wangen. »Immerhin sollst du es schön haben.«

Meine Wohnung.

Wie in Zeitlupe blicke ich mich um. Nichts hat sich seit den letzten Weihnachtsferien, die wir hier verbracht haben, im Raum verändert. Das hüfthohe Regal mit dem Home is a feeling not a place-Schild steht rechts neben der Haustür und grenzt die Garderobe vom Wohnbereich ab. Das Big-Sofa mit den drei Liegeflächen ist in U-Form zum Fernseher an der Wand ausgerichtet. Die cremefarbene Landhausküche fügt sich direkt dahinter, eingearbeitet in eine Nische, in das offene Areal ein.

Beim Gedanken daran, wie viele Ferien wir in der Wohnung verbracht haben, wie viel Kindheit ich hier atme, wie viele Erinnerungen an jeder Ecke haften, wird mein Herz gleichzeitig leicht und schwer.

Wie unfair, dass hier drinnen alles beim Alten geblieben ist, während sich mein ganzes Leben verändert hat.

Ethan scheint den Gedanken gelesen zu haben, denn er zupft sacht an meinem Pulloverärmel. »Komm mit. Ich will dir was zeigen.«

Widerstandslos folge ich Ethan zur Tür gegenüber des Eingangsbereiches. Erst kurz davor bleibe ich stehen. »Hör zu«, beginne ich zögernd. »Ich weiß nicht, ob …« Ich schon bereit bin, dieses Zimmer zu sehen, will ich sagen, kann es aber nicht.

Ethan drückt meine Hand. Seine schwarzen Locken fallen ihm in die Stirn, weil er sich zu mir runtergebeugt hat und mich warm ansieht. »Vertrau mir. Es ist nicht mehr das, was du denkst.«

Nach einem weiteren Augenblick des Zögerns nicke ich und Ethan wartet nicht ab, bis ich es mir anders überlegen kann. Er stößt die weiße Tür auf. Was sich dahinter auftut, ist tatsächlich nicht mehr das, was ich erwartet habe. Das Gästezimmer, in dem meine Geschwister und ich sonst geschlafen haben, ist jetzt ein Arbeitszimmer.

Ein Schreibtisch steht links unter dem in der Dachschräge eingelassenen Fenster. An der Wand rechts reihen sich leere Bücherregale bis zur Ecke geradeaus, in der ein breiter Sessel und eine Pflanze stehen. Überall im Raum sind Lichterketten befestigt. An den Regalen, den Wänden. Sogar am Rand des Schreibtisches.

»Wir dachten, ein Arbeitszimmer kannst du besser gebrauchen als drei weitere Betten«, sagt Ethan mit einem Zwinkern. »Die Ecke hier haben wir noch freigelassen.« Er tritt in den Raum hinein und deutet auf den freien Platz neben dem Schreibtisch, direkt unter dem Fenster. »Damit du deine Staffelei aufstellen kannst.« Er lächelt mir zu, bis er den Ausdruck in meinen Augen bemerkt. »O Shit. Du hast noch nicht wieder mit dem Malen angefangen, oder, Al?«

Ich schüttele den Kopf. Über das Zeichnen und Malen zu reden, tut zu weh. Es fehlt mir. Genau so, wie ich mir fehle. Aber ich finde den Weg zu dem Gefühl nicht mehr zurück, das ich empfunden habe, wenn ich einen Pinsel gehalten habe. Es erinnert mich daran, dass ich nicht nur sie, sondern auch mich an diesem Tag im Januar verloren habe. Die Reha und die Therapien haben mir zurück ins Leben geholfen – doch mir sagen, wer ich heute bin, kann niemand. Das muss ich selbst herausfinden.

»Nein«, sage ich, um Ethans Frage zu beantworten. Dabei merke ich, wie meine Augen feucht werden, aber es liegt nicht daran, dass ich meine Leidenschaft vermisse. Es ist eher alles um mich herum, das mich emotional überfordert. Hastings. Die Wohnung. Das Meer. Das Gefühl von Heimat. Die Erinnerung an unbeschwerte Tage, voller Glückseligkeit. Ethan und Richard, die ein Arbeitszimmer für mich einrichten.

»Danke, Ethan«, sage ich mit belegten Stimmbändern. »Wie soll ich euch das je zurückzahlen?«

»Gar nicht, du Nuss.« Ethan tritt auf mich zu und pikt mir spielerisch in die Wange. »Dad und ich haben das gern getan. Das Zimmer ist ein Geschenk zum Einzug. Außerdem – wenn du irgendwann deine eigene Ausstellung hast und deine Bilder die Galerien dieser Welt erobern, können wir immer noch drüber reden.«

Ich schnäuze mich geräuschvoll und schweige, weil ich weiß, dass Widerworte nichts bringen würden. Erneut blicke ich mich im Zimmer um, ehe ich das Gesicht hinter den Händen verberge. All das ist einfach zu viel für mich.

»Hey. Komm her.« Ethan zieht mich an sich. Er ist größer als ich, was bei meiner Größe von einem Meter zweiundsechzig nicht verwunderlich ist. Deshalb hebe ich an seiner Brust den Kopf, um ihn durch verquollene Augen anzusehen.

»Danke.«

»Noch einmal und ich setze das Wort auf die Rote Liste«, raunt Ethan an meinem Haar. Er riecht vertraut. Nach Kindheit und Unbeschwertheit. Nach Vollständigsein.

Etwas, das ich nie wieder so haben oder sein werde.

Eine Weile verharren wir in der Position, bis Ethan mich sacht von sich löst. »Weißt du denn schon, was du machen willst?«, fragt er. »Die Galerien würden dich doch sicher mit Kusshand nehmen. Wenn du irgendwann wieder malst, meine ich. Dazu kommt noch dein Bachelor mit Auszeichnung. Der Traum meiner schlaflosen Nächte.« Er zwinkert mir zu.

»Ich weiß es noch nicht«, gestehe ich ehrlich und schüttele die Ärmel des viel zu großen Pullovers, der schon lange nicht mehr nach ihr riecht. »Erst mal fange ich Montag im Hanushka an. Der Rest wird sich ergeben.«

»Logo. Lass dir Zeit, Al.« Ethan lässt mich voran ins Wohnzimmer gehen, wo ich mich auf der Sofakante niederlasse und er sich gegen die Wand neben der Küchenzeile lehnt. »Bis du wieder einen Plan hast, wirst du schön jedes Wochenende einen Pint im Sailor’s Hymn mit mir trinken gehen. Neil veranstaltet nämlich wieder Watchpartys.«

»Hast du als Collegejunior nicht eher zu lernen?«, frage ich und boxe meinem Freund lässig gegen die Schulter. Grinsend stemmt er sich von der Wand ab und bleibt vor mir stehen. Wohlwissend, dass ich mich einem Besuch in unserem Stammpub sowieso nicht entziehen kann.

»Och, ein paar Wochenenden werde ich im ersten Semester schon entbehren können.« Er hebt die Augenbrauen. »Um das Abendessen bei uns kommst du übrigens auch nicht drum herum.«

»Damit kann ich leben«, sage ich und schmunzele. »Solange du nicht kochst.«

»Ha. Ha. Ha.« Dramatisch reckt Ethan das Kinn in die Höhe, während er Richtung Haustür geht. »Ich merke schon, ich werde hier nicht mehr gebraucht.«

»Ausnahmsweise«, korrigiere ich liebevoll und freue mich, dass Ethan das versteckte Kompliment heraushört. Mit einer ausladenden Geste fasst er sich an die Brust, ehe seine Gesichtszüge ernster werden. Seine Stimme klingt plötzlich so aufrichtig und erwachsen, wie ich sie bisher nur selten aus seinem Mund gehört habe.

»Ich bin echt stolz auf dich, Al. Du machst das alles besser, als du denkst. Und wenn was sein sollte, melde dich einfach. Wir sind ab jetzt nur ein paar Straßen entfernt. Dein Sicherheitsnetz, könnte man sagen. Es kann also gar nichts schiefgehen.«

Ich lächele. Seit wir uns kennen, ist Ethan wie unser kleiner Bruder gewesen. Wir haben auf ihn aufgepasst. Wie zur Hölle hat sich das so schnell ändern können?

»Versprochen«, sage ich. »Und dan- … du weißt schon.«

»Immer gern. Bis dann, Al.« Ethan hebt zum Abschied die Finger an die Stirn und ist bereits im Flur verschwunden, als er noch mal den Kopf hereinstreckt. »Und vielleicht fängst du in Hastings ja wieder mit dem Malen an. Das gehört schließlich zu dir wie Atmen, oder?«

Das ist das Letzte, das ich höre, ehe die Tür ins Schloss fällt. Eine Minute lang starre ich wie hypnotisiert auf das weiße Holz. Dann lasse ich mich nach hinten auf das Sofa fallen. Zum ersten Mal seit meiner Entlassung aus der Reha vor drei Wochen habe ich Zeit zum Durchatmen. Mit der eintretenden Stille überfallen mich die Gedanken … und die Müdigkeit.

Seufzend presse ich mir eines der Kissen an die Brust und schließe die Augen. Das Malen gehört zu dir wie Atmen, oder? Das hat Ethan gesagt.

Ich wische mir die Tränen von den Wangen und erkenne – hier, an diesem ersten Tag in meinem neuen Leben –, dass ich seit acht Monaten die Luft anhalte.

Also atme ich.

Bewusst, tief, lange.

Zum ersten Mal, seit meine Schwester gestorben ist.

2. Kapitel

Nathan

Heute

»… und das ist es, was Momente ausmacht. Sie dauern nur Sekunden an. Der Moment ist jetzt. Und jetzt. Und jetzt.« Ich schnippe mit den Fingern. Im Hörsaal ist es totenstill. Weder Papierrascheln noch das Knarzen von Stühlen erklingt.

Ich habe meine Zuhörer am Haken.

Mit einer halben Drehung wende ich mich der Leinwand hinter mir zu und deute auf die Collage an Bildern, die darauf zu sehen ist. »Conny war die Erste, die ich für das True-Self-Projekt fotografiert habe. Wie Sie sicher unschwer erkennen, war es ein Brand, der ihr Leben für immer verändert hat. Conny hat den Aufruf zum Projekt bei Instagram gesehen und sich bei mir gemeldet. Ihre Narben offen vor der Kamera zu zeigen, war ein riesiger Schritt, aber danach sagte sie mir, dass sie sich lange nicht mehr so stark und wohl in ihrem Körper gefühlt hat. Das war ziemlich bewegend.« Mein Blick verweilt kurz auf Connys Porträt, ehe ich darauf deute. »Als Fotograf ist es meine – und Ihre – Aufgabe, solche Emotionen einzufangen. Diesen einen besonderen Moment festzuhalten, der Zeit überdauert.«

Ich drücke eine Taste auf dem Laptop, der vor mir auf dem Rednerpult steht, und das Logo in Pastelltönen wird auf die Leinwand projiziert.

»Das True-Self-Projekt ins Leben zu rufen, war ein Risiko. Es hat sich deutlich von dem unterschieden, was ich bis dahin als Fotograf gemacht habe. Am Ende hat sich das Risiko gelohnt. Der Blog ist steil durch die Decke gegangen, die internationale Presse wurde auf das Projekt aufmerksam, sogar Hollywood. Es war mir wichtig, zu zeigen, dass Schönheit nichts mit Körpermaßen oder Makellosigkeit zu tun hat. Sondern mit Echtheit, mit Ausstrahlung. Und die kommt von hier.« Ich tippe gegen meine Brust. »Genau das ist Fotografie für mich. Die Chance, eine Geschichte in einem Bild zu erzählen. Etwas, das Zeit und Erinnerungen überdauert.«

Damit schalte ich den Projektor aus, versetze den Laptop in den Ruhezustand und betätige den Knopf der Fernbedienung, die auf dem Pult liegt. Die Rollläden vor den Fenstern fahren nach oben. Wie die Studenten muss ich ein paar Mal blinzeln, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben.

»Danke, dass niemand von Ihnen eingeschlafen ist«, sage ich und trete um das Pult herum, um mich rücklings dagegen zu lehnen. »Das ist ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für mich.«

Gelächter erfüllt den Saal.

Ein Student aus der ersten Reihe hebt die Hand und ich deute auf ihn. »Keine Frage, Mr. Hall, ich wollte nur sagen, dass es ’ne Ehre ist, Sie hier zu haben. Sie sind kaum älter als wir und haben schon so viel erreicht. Für den Hype sind Sie echt lässig und bodenständig geblieben.«

Applaus und zustimmendes Gemurmel.

Ich kratze mich unter dem Kinn und hebe die Hände, um das Auditorium zu beschwichtigen. Dabei male ich mir aus, wie viele von ihnen mir noch zujubeln würden, wenn sie wüssten, was ich getan habe. Dass ich mehr als alles verloren habe wegen dieser einen Entscheidung.

Um nicht die Fassung zu verlieren, setze ich mein einstudiertes Tausend-Volt-Lächeln auf und proste dem Studenten mit einem unsichtbaren Glas zu.

»Cheers, mate.« Bevor ich noch verlegener werden kann, beendet die Klingel die Vorlesung für mich. Beim Packen meiner Sachen lasse ich mir Zeit, damit die Studenten im Vorbeigehen ein paar Worte loswerden können, wenn sie wollen. Die Rektorin hat mir schon im ersten Gespräch gesagt, dass sich die meisten vor Freude kaum halten konnten, als sie erfuhren, dass ich ans College kommen würde, um die Gastvorträge zu übernehmen.

Deshalb will ich mir so viel Zeit wie möglich nehmen.

Erst nachdem sich der Saal nahezu vollständig geleert hat, gehe ich auf den Flur hinaus. Das East Sussex College Hastings besteht von außen wie innen hauptsächlich aus weißer Farbe und Glas. Es gibt fünf Etagen, die sich um das offene Karree in der Mitte stapeln. Im Erdgeschoss, auf der freien Fläche, befinden sich Tische und Stühle, an denen die meisten Studenten ihre Pausen verbringen. So auch heute. Umso erleichterter bin ich, als ich endlich aus der Eingangshalle ins Freie trete.

Die kühle Meeresbrise sorgt dafür, dass mein Kopf klarer wird und die Aufregung von mir abfällt. Ich lasse die Schultern sinken, umfasse die Aktentasche, mit der ich mir wie ein Börsenmakler vorkomme, und laufe hinunter zum Meer. Meine Wohnung befindet sich keine fünfzehn Minuten vom College entfernt in der George Street, deshalb gehe ich jedes Mal den Weg zum Strand entlang. Beim Laufen öffne ich die ersten Knöpfe meines Hemdes und nehme einen tiefen Atemzug.

Die Luft riecht salzig, sogar ein wenig fischig.

Ich liebe das. Diesen Duft von Freiheit. Von unendlicher Weite. Unbegrenzten Möglichkeiten. Hoffnung.

Ausgerechnet dieser Gedanke ist es, der mich plötzlich traurig macht und meine Eingeweide verkrampfen lässt. Denn ich erinnere mich daran, wer oder was in der Wohnung auf mich warten wird: nichts. Nichts und niemand.

Ich bin allein.

Mein altes Leben ist vorbei. Die Geschichte dieses Nathan ist zu Ende erzählt. Nun muss ich einen neuen Anfang schreiben und herausfinden, wer ich sein will, ohne meine Familie, ohne meine Freunde, ohne die Vergangenheit.

Unter der Anzugjacke habe ich die Hände zu Fäusten geballt. Meine Finger beginnen, zu kribbeln, der Kloß in meinem Hals schwillt an. Panik baut sich in mir auf wie ein Tsunami, der direkt auf mich zurollt, ohne Möglichkeit, zu entkommen. Nicht mal die Meeresluft beruhigt meine Lunge.

Inzwischen renne ich fast am Kiesstrand und den Fischerbuden vorbei. Weiter, einfach weiter. Nicht anhalten, um die Gedanken sich ausbreiten zu lassen. Als ich endlich in der George Street ankomme, erkenne ich, dass ich nicht in die Wohnung kann. Nicht, ohne die schlimmste Panikattacke seit Wochen in Kauf zu nehmen. Ich brauche Ablenkung. Einen Ruheort. Und zwar schnell.

Das Hanushka Coffee House. Es befindet sich im ersten Drittel der Straße, ein paar Eingänge von meiner Wohnung entfernt. Der Innenraum besteht aus bis an den Rand gefüllten Bücherregalen und Gemälden. Neben goldfarbenen Tischen und Stühlen gibt es in jeder Ecke zwei rote Samtsofas. Papierrascheln erfüllt dort die Luft, sie ist getränkt von Kaffee-, Tee- und Kuchenduft. Die Menschen sitzen vor ihren Scones, Zimt-Macchiatos oder Sandwiches, lesen in Büchern, tippen auf ihren Laptops herum, unterhalten sich angeregt, versinken in den Gemälden. Es ist genau der Ort, an dem ich jetzt sein will.

Hastig laufe ich zum Eingang und strecke meine Hand nach der Tür aus. In dem Moment, in dem ich eintrete, geschieht das, was ich vermeiden wollte: Die Panikattacke überrollt mich.

3. Kapitel

Allie

Dunkelbraune Haare, ein ovales, aber markantes Gesicht, Dreitagebart, blass um die Nase.

Das ist es, was mir zuerst an dem Mann auffällt, der das Café betritt. Der Arbeitstresen mit der Auslage befindet sich direkt neben der Tür, weshalb jeder neue Gast erst mal unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Normalerweise dauert dieser Check-up bloß einige Sekunden. Doch er hat was an sich, das mich genauer hinsehen lässt.

»Wow, da hat wohl jemand einen Kotzbrocken gefrühstückt«, nuschelt Olivia mir zu, nachdem sich der Kerl – ohne ihre strahlende Begrüßung zu erwidern – an den Gästen vor der Theke vorbeigedrängt hat. Eine kritische Falte bildet sich auf ihrer Stirn, wodurch sie wesentlich älter als fünfunddreißig aussieht. Mit geschürzten Lippen streicht sie sich eine rote Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat, und wäscht sich die Hände am Waschbecken in der Ecke.

»Glaube ich nicht«, sage ich, während ich unserem geheimnisvollen Gast hinterher sehe. »Ich glaube, er hat eine Panikattacke.«

»Was?« Olivias unterdrückter Schrei lässt mich zusammenzucken. Ihr Zopf wippt hin und her, als sie den Hals reckt, um zu unserem Gast in der Ecke zu schauen.

»Bist du sicher?«, fragt Isabel, meine zweite Chefin, die soeben die Laufkundschaft verabschiedet hat und sich neben mich stellt.

»Nein«, gebe ich ehrlich zurück. Zwar sind Panikattacken bis vor Kurzem meine ständigen Begleiter gewesen, aber jeder geht anders mit ihnen um. Ich kann den Fremden nicht einschätzen, der vor gefühlt einer Minute durch die Tür gekommen ist. Es ist einfach ein Bauchgefühl.

Wie das beinahe selbstverständliche Verständnis in der Reha, das wir Patienten untereinander hatten, die mit Depressionen, Angst und Trauer vertraut waren.

Genau das sage ich meinen Chefinnen, die nicken. Dieser mitfühlende Ausdruck tritt in ihre Augen, weil sie wissen, warum mir die Situation so bekannt vorkommt. Beiden ist das, was meiner Familie passiert ist, sehr nahegegangen. Sie kennen uns seit Jahren, weil wir in jeden Ferien im Hanushka gefrühstückt haben. Man könnte sogar sagen, dass Liv und Isabel Freunde der Familie geworden sind.

Sie wissen, wie viel meiner Schwester das Café bedeutet hat und warum es mir wichtig war, hier anzufangen. Doch ich mag den Job nicht nur, weil ich mich meiner Schwester nahefühle. Oder eher näher als woanders. Ich mag ihn, weil er Normalität bedeutet, in einer Umgebung, die ich liebe, die mich erdet, die mich ablenkt. Zudem tun Isabel und Olivia ihr Bestes, um mir den Start in mein neues Leben zu erleichtern.

»Was machen wir jetzt mit unserem Sorgenkind?«, fragt Isabel und nickt zu dem Kerl hinüber. Er hat an dem Zweiertisch in der hintersten Ecke vor dem Bücherregal Platz genommen, in dem sich Klassiker von Dickens, Shakespeare, Orwell, Defoe und Austen aneinanderreihen. Die Aktentasche steht zwischen seinen Beinen, seine muskulösen Unterarme liegen auf dem Tisch auf. Er verkrampft die Finger ineinander und starrt Löcher in die Luft. Mir fällt auf, wie verkrampft er versucht, ruhig zu atmen.

»Wir sollten mal checken, wie es ihm geht.« Olivia runzelt die Stirn. »Falls wir einen Arzt rufen müssen.«

»Ich kann das übernehmen.« Die Worte kommen zu schnell über meine Lippen.

Wie erwartet blicken meine Chefinnen mich an, als hätte ich ihnen mitgeteilt, dass ich den nächsten Flug ins All nehmen will. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Immerhin gewöhne ich mich erst wieder an einen halbwegs normalen Alltag. Seit dem Unfall brauche ich mehr Anlaufzeit als früher, um mit neuen Leuten warm zu werden. Es fällt es mir nicht schwer, andere in mein Herz zu schließen, im Gegenteil. Es ist eher so, dass ich lieber zuhöre, als von mir zu erzählen. Denn viel gibt es nicht mehr, worüber sich das Erzählen lohnt. Mein Leben hat monatelang stillgestanden. Jeder Tag hat sich darum gedreht, gesund zu werden, körperlich und geistig – oder eher, sich mit diesem neuen Leben zu arrangieren. Ich habe grundsätzlich Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Angst, dass die Menschen mich durchschauen und dann nicht mehr wissen, was sie mit mir anfangen sollen.

Und Angst, dass ich nicht weiß, wie ich jemandem das alles erklären soll, was in den letzten Monaten passiert ist. Es ist so schwierig, Menschen, die es nicht hautnah erlebt haben, im Nachhinein zu erläutern, was dieser Zeitraummit mir gemacht hat.

Was unseren fremden Gast betrifft, habe ich allerdings wenig Bedenken. Schon in ein paar Tagen wird er sich nicht mehr an mich erinnern. Unsere Begegnung hat ein Ablaufdatum. Das macht mir die Entscheidung leichter.

»Ich schaffe das«, sage ich und erwidere den Blick meiner Chefinnen, während ich mir die Schürze um die Hüfte binde.

»Und dein Arm?« Isabel deutet auf meine linke Körperseite.

»Sollte er ein gigantisches Menü ordern, rufe ich euch«, verspreche ich.

»Klingt nach einem Deal. Was meinst du, Liv?«

Olivia schürzt ihre knallroten Lippen. »Bin dabei. Aber sollte der Typ bloß mies gelaunt sein und dich anmotzen, sag Bescheid. Zucker und Salz kann man schließlich leicht verwechseln.« Sie wackelt vielsagend mit den Augenbrauen.

Ich grinse, binde meinen Dutt enger und mache mich auf den Weg zum Tisch in der Ecke. Mein Herz galoppiert wie verrückt. Himmel, warum fühlt sich dieser Schritt wie eine gigantische Hürde an? Und wieso denke ich schon wieder darüber nach, was der Kerl von mir halten wird? Oder was ich Falsches sagen könnte?

Trotz der Aufregung setze ich mein freundlichstes Lächeln auf und bleibe an seinem Tisch stehen. »Herzlich willkommen bei uns, Sir. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Kann ich Ihnen etwas bringen?«

Er hebt den Kopf. Seine Augen begegnen meinen. Sie sind genauso dunkelbraun wie seine Haare und strahlen vielmehr Wärme aus, als ich erwartet habe. Etwas an ihm ist auf außergewöhnliche Weise sofort interessant für mich, auch wenn ich nicht erklären kann, was es ist. Der Kerl wirkt sogar im Sitzen groß und überragt mich im Stehen sicher um mindestens anderthalb Köpfe.

Er nimmt die Ellenbogen vom Tisch, um, wie ich vermute, das Zittern seiner Hände zu verbergen, und lehnt sich zurück. Dabei knittert das graue Hemd, das er unter der Anzugjacke trägt. Ich rieche sein Parfüm. Ein süßlich-herber Geruch von Lavendel, Holz und etwas, das ich nicht zuordnen kann. Aber ich mag es.

»Oje, wirke ich inzwischen so alt, dass ich Sir genannt werden muss?« Er verzieht den Mund. Auf seiner linken Wange zeichnet sich ein Grübchen ab. »Das verdanke ich wohl dem Collegestress.« Er lacht. Charmant, offen, herzlich. Ein Lachen, mit dem er sicher viele Menschen auf Anhieb um den Finger wickelt. Aber ich spüre, dass es nicht von Herzen kommt. Er scheint zu merken, dass ich ihn durchschaue, denn sein Gesichtsausdruck wandelt sich von amüsiert zu ernst, gar panisch. Erneut neigt er sich vor, um die Arme auf dem Tisch aufzustützen und ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen.

»Geht’s?«, frage ich leise, sodass nur er mich verstehen kann. »Soll ich einen Arzt rufen?«

»Nein, geht schon«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Nur eine kleine Panikattacke. Gleich wieder vorbei.«

Also habe ich mich nicht getäuscht. »Was kann ich tun, um zu helfen?«

»Wenn Sie einen Zauberspruch kennen, mit dem es schneller geht, würde ich nicht nein sagen«, versucht er, zu scherzen, und klingt dabei so bittersüß und traurig, dass sich mein Herz zusammenzieht.

»Damit kann ich leider nicht dienen, aber ich habe gehört, eine heiße Schokolade mit Sahne soll ähnliche Gefühle auslösen.«

Nun blickt er auf und lächelt, trotz der Erschöpfung, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. »Deal.«

Ich bin erleichtert über die Antwort und deute hinter mich zum Tresen. »Bin gleich wieder da, nicht weglaufen, bitte.«

Er hat den ironischen Unterton gehört, denn er hebt milde lächelnd die Hände, was wohl bedeutet, dass er sowieso nichts anderes vorgehabt hat. Raschen Schrittes kehre ich hinter die Theke zurück, wo Isabel gerade einen Latte macchiato mit Zimt und Orangennote zubereitet. »Und?«, fragt sie, bevor sie sich umdreht, um mir eine Porzellantasse aus dem oberen Regal an der Wand zu reichen.

»Danke«, sage ich, ehe ich die Erklärung hinterherschiebe: »Panikattacke.«

Ich stelle die Tasse unter den Hahn der Kaffeemaschine, drücke den Knopf für die heiße Schokolade und will mich Isabel zudrehen, da fällt mein Blick auf unsere Auslage mit den vielen Sandwiches und Gebäcken. Noch bevor ich meine Frage stellen kann, antwortet Isabel, die mich aufmerksam beobachtet hat, schon darauf.

»Mach schon, ehe ich es mir anders überlege.«

Ich lasse die Schultern sinken. »Wirklich?«

»Ja.« Sie macht eine wedelnde Handbewegung.

»Du bist die Beste, Isa, danke.« Unscheinbar sehe ich mich um. »Bitte sag Olivia nicht, dass ich das gesagt habe.«

Sie lacht und ich schnappe mir eine Serviette und zwei Teller aus dem Fach neben der Kaffeemaschine. »Das Geld dafür lege ich nachher in die Kasse«, füge ich an, weil ich meinen Chefinnen nichts schuldig sein will. Sie haben schon viel zu viel für mich getan. Dem Unbekannten diese Aufmunterung zu spendieren, ist etwas, das ich unbedingt tun möchte.

Was mich die Trauer und der Schmerz gelehrt haben, ist, dass viele Dinge unwichtig sind. Was man anderen geben kann – Freude zum Beispiel –, ist viel bedeutsamer. Das Geld, das ich investiere, um ihm ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, kommt wieder.

Unter Isabels wachsamen Augen beginne ich, auf dem ersten Teller frisch gebackene Scones mit Clotted Creme und Erdbeerkonfitüre anzurichten, danach das Sandwich auf dem zweiten.

»Er sieht ziemlich gut aus, oder?« Isabel schlürft geräuschvoll ihren Kaffee und ich bin mir sicher, dass sie nicht von dem angerichteten Teller spricht.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sage ich und konzentriere mich weiter aufs Anrichten.

Isabel betrachtet mich aus den Augenwinkeln, bis sie ihre Tasse abstellt und eine Hand in die schmale Hüfte stemmt. »Du hast echt keine Ahnung, was für ein guter Mensch du bist, Allie.«

Abrupt halte ich inne. »Was?«

Isabel tritt auf mich zu und berührt meine Schulter. Dabei sucht sie meinen Blick. »Du bist niemandem was schuldig. Es gibt nichts, das du wiedergutmachen musst, okay? Du bist nicht für die ganze Welt verantwortlich und kannst nicht jeden retten. Dass du ihm das Essen ausgibst, ist nett, aber … das geht nicht immer.«

Ich presse die Lippen aufeinander. So was Ähnliches hat meine Schwester schon vor Jahren zu mir gesagt. Und obwohl mir klar ist, dass Isabel recht hat, ist es schwer, mir das begreiflich zu machen. Weil ich nie wieder das Gefühl vertreiben kann, die Welt geraderücken zu müssen. Denn eine meiner Entscheidungen hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht.

»Ja«, murmele ich, bedacht darauf, Isabel nicht direkt anzusehen. Sie drückt nochmals meine Schulter und widmet sich dann den neuen Gästen, die zur Tür hereinkommen. Gleichzeitig erscheint Olivia aus der Backstube.

»Soll ich dir helfen?«, fragt sie und deutet auf die zwei Teller und die dampfende Tasse vor mir, auf der ich gerade die Sahne und Streusel drapiere.

»Bitte«, sage ich erleichtert, schnappe mir die heiße Schokolade und den Teller mit den Scones und balanciere beides zu dem Fremden. »Moment«, werfe ich ein, weil er schon antworten will, mache kehrt und nehme von Olivia den zweiten Teller mit den Sandwiches entgegen. Keine zehn Sekunden später steht das Essen angerichtet vor ihm auf dem Tisch. Der zimtig-schokoladige Geruch verteilt sich überall in der Ecke.

»Ich dachte, das beschleunigt vielleicht doppelt.« Ich verweise auf die Scones und das Sandwich. Ungläubig starrt der Mann darauf. »Geht natürlich aufs Haus«, füge ich hinzu, da es wahrscheinlich blöd rüberkommt, Essen vor ihm abzustellen, das er nicht bestellt hat. »Immerhin würde sich jeder von uns an schlechten Tagen über frischgebackene Scones freuen.« Zögernd verschränkte ich die Hände vor dem Bauch. »Ich … ich hoffe, das war nicht zu übergriffig.«

Er schüttelt den Kopf. Langsam. Überwältigt. Seine Gesichtszüge entspannen sich. »Nein, danke. Damit retten Sie mir den Tag, Miss …?«

»Allie«, antworte ich. »Einfach Allie.«

»Freut mich, Einfach-Allie.« Er streckt mir die Hand hin. »Nathan.«

Seine Haut ist kaltschweißig, trotzdem ist es keine unangenehme Berührung. Im Gegenteil. Sie sorgt dafür, dass mein Herz ins Stolpern gerät und sich ein warmer Strom in meinen Adern ausbreitet. Ich spüre ihn bis in die Fingerspitzen. Nachdem wir uns losgelassen haben, starrt Nathan wieder auf die Mahlzeit und die Tasse vor sich. Er holt schwerfällig Luft. Seine Augen huschen zwischen mir und dem freien Stuhl gegenüber hin und her.

»Es klingt wahrscheinlich blöd, aber … würden Sie sich kurz zu mir setzen? Nur bis …« Er braucht den Satz nicht zu beenden, ich weiß, was er sagen will. Deswegen zögere ich nicht lange, sondern setze mich ihm gegenüber. Dabei gestikuliere ich Olivia und Isabel, ob es in Ordnung ist, wenn ich kurz hierbleibe. Beide heben die Daumen und geben beruhigende Handzeichen. Erst danach nehme ich mir die Zeit, Nathan genauer anzusehen.

Isabel hat recht. Er sieht gut aus. Nicht auf eine aalglatte, makellose Weise. Eher charismatisch. Er hat etwas an sich, das es einem schwer macht, sich nicht für ihn zu interessieren.

»Sie sind also Student?«, versuche ich, das Schweigen zu überbrücken und ihn abzulenken. Dabei hoffe ich, dass er mir meine soziale Unsicherheit nicht anmerkt.

»Fast.« Er trinkt einen Schluck aus der Tasse und stöhnt genussvoll auf. »Gastdozent am East Sussex. Die heiße Schokolade ist übrigens lecker.«

Nun bin ich es, die sprachlos dreinschaut. Hat er gerade Dozent gesagt? Ich hätte ihn nicht älter als Mitte zwanzig geschätzt.

»Dreiundzwanzig«, sagt er schmunzelnd, weil er meinen Blick korrekt gedeutet hat.

»Wow. Dann müssen Sie eine Art Wunderkind sein. Oder berühmt. Man wird nicht ohne Grund zu Vorträgen am Sussex eingeladen.«

Er hebt die Schultern und dreht die Tasse zwischen seinen Fingern. »Glauben Sie mir, ich bin niemand, den man kennen muss.«

Die Antwort kaufe ich ihm nicht ab, aber es ist unübersehbar, dass er nicht näher darauf eingehen will, weshalb ich das Thema wechsele. Immerhin geht es darum, dass er sich beim Verlassen des Cafés besser fühlt. Nicht mehr und nicht weniger.

»Und wie lange sind Sie schon in Hastings?«, hake ich nach und er lächelt.

»Du, bitte.«

Ich gebe nach, obwohl es mir ein wenig unangenehm ist. »Du.«

»Seit knapp zwei Wochen.«

»Und gefällt es dir?«

Er lacht leise. »Es ist … ruhig. Also ja.«

»Ja, die wenigsten, die hierher ziehen, sind auf wilde Abenteuer aus«, sage ich und schlage mir innerlich vor die Stirn. Er schaut mich einen Moment lang nachdenklich an und trinkt dann einen weiteren Schluck. Vermutlich hält er mich für total verpeilt.

»Und du?«, fragt er.

Ich zögere. Unsicher, wie viel ich ihm anvertrauen will. »Meine Familie und ich haben früher immer die Ferien in Hastings verbracht. Inzwischen wohne ich hier.« Dass ich erst vor ein paar Tagen hergezogen bin, muss ich ihm ja nicht auf die Nase binden.

Er verzieht anerkennend den Mund. »Mutiger Schritt.«

Wenn er wüsste.

»Woher kommst du ursprünglich?«, fragt er weiter.

»Aus London.« Ich kann nicht verhindern, dass man das Lächeln aus meiner Stimme heraushört.

Überrascht hebt er die Augenbrauen. »Ich liebe London. Aber ein ziemlich krasser Kontrast zu Hastings, oder?«

»O ja«, sage ich und füge in Gedanken hinzu: Genau das, was ich brauche.

»Und arbeitest du Vollzeit hier im Café?« Sein Zeigefinger kreist einmal in der Luft.

»Nein, ich helfe nur ein paar Stunden in der Woche aus.«

Ihm entgeht nicht, dass ich den Satz nicht weiterführe, dennoch belässt er es dabei. Mit einem Mal bin ich unsicher, was ich sagen soll. Deshalb erhebe ich mich langsam und schiebe den Stuhl an den Tisch.

»Ähm, also … Ich müsste wieder an die Arbeit. Kann ich dich allein lassen?«

Diesmal bin ich mir sicher, dass sein Lächeln echt ist, denn es erreicht seine dunklen Augen. »Ich bin okay.« Er sagt diese drei Worte anders als ich. Bei ihm klingen sie ehrlich.

»Also bis dann«, sage ich.

»Bis dann, Einfach-Allie.«

Ich spüre seinen Blick in meinem Nacken, bis ich bei Olivia und Isabel ankomme, die mich plappernd in Empfang nehmen. Nathans Augen auf mir zu wissen, macht etwas mit mir. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, was gerade passiert ist, umarmen mich Olivia und Isabel.

Erst in diesem Moment begreife ich, wie groß dieser Schritt ist, den ich gerade gegangen bin. Ich habe meine sozialen Ängste überwunden. Ich bin auf Nathan zugegangen, habe mich sogar kurz mit ihm unterhalten. Es ist so simpel und gleichzeitig so groß.

In diesem Leben, in dem nichts mehr selbstverständlich für mich ist, schließe ich in Isabels und Olivias Armen die Augen und erlaube es mir, für einen Wimpernschlag lang stolz zu sein.

Denn ich bin hier.

Ich lebe.

Und irgendwann werde ich kein schlechtes Gewissen mehr deswegen haben.

4. Kapitel

Nathan

Unter mir erstrecken sich Hastings und das Meer. Die Aussicht auf die kleine Stadt und das Wasser ist das perfekte Postkartenmotiv.

Ich gehe in die Hocke, hebe die Spiegelreflexkamera und warte, bis der Autofokus die Dächer in den Vordergrund rückt. Dann knipse ich noch zwei Bilder mit dem Landschaftsmodus und dem größeren Objektiv. Als ich kurz darauf die Fotos auf dem Screen betrachte, warte ich auf das Gefühl, das sich sonst beim Fotografieren einstellt.

Die Erfüllung, das Die-Welt-um-sich-Vergessen. Wie ich für jedes Detail brenne, mich auf Anhieb in ein Motiv verliebe und so lange fotografiere, bis das perfekte Bild im Kasten ist. Dieser eine Moment, von dem ich den Studenten jedes Mal vorschwärme.

Doch da ist nichts.

Außer dem dumpfen Ziehen in meinem Bauch, das mich daran erinnert, dass es etwas gibt, mit dem ich mich lieber beschäftigen sollte, statt hier oben rumzustehen. Mit einem unterdrückten Fluch packe ich die Kamera zurück in die Umhängetasche und drehe mich dem Rand der Klippe zu.

Auf den East Cliff Hügel zu fahren, ist eine spontane Idee gewesen. Bisher habe ich in meinem Exil nicht viel von Hastings gesehen, abseits der üblichen Route zwischen College und Apartment. Da ich von der Wohnung bloß ein paar Minuten bis zur East Cliff Railway Station brauche, ist mir die Entscheidung heute – dank Google Maps – leicht gefallen.

Der Herbstwind wirbelt meine Haare durcheinander, die mittlerweile viel zu lang sind für meine Verhältnisse. Ein paar Strähnen fallen mir sogar schon ins Gesicht, wenn ich mich vorbeuge. Auch mein Bart ist aktuell eher ein Vierzehn-Tage-Bart.

Seufzend vergrabe ich die Hände in den Jackentaschen und verkrieche mich tiefer in meinem Schal. Unter mir liegen die schmalen Straßen der Altstadt, die Promenade, der Strand, die Fischerbuden, Pavillons, in der Ferne der Alexandra Park und das Hastings Castle. Hinter mir, etliche Meter weiter den Hügel hinauf, sitzen einige Leute auf der flachen Wiese. Ich versinke eine Weile im Treiben der Stadt, lausche dem Rauschen des Meeres, das sich mit meinem Herzschlag synchronisiert – und denke an Allie.

Den ersten Menschen seit Wochen, der mir das Gefühl gegeben hat, wirklich mich zu sehen. Am College interessiert sich jeder nur für Nathan Hall, den berühmten Fotografen und Blogger. Was wahrscheinlich normal ist, es ist mein Job. Dennoch hat es gutgetan, mal nicht auf ein Podest gestellt zu werden. Allie hat sogar meine Panikattacke bemerkt. Den meisten Menschen wäre es sicher scheißegal gewesen, wenn sie es überhaupt bemerkt hätten.

Unter anderen Umständen hätte ich Allie vielleicht auf einen Drink eingeladen. Sie hat ein umwerfendes, herzliches Lächeln und eine Ausstrahlung, die ihr vermutlich nicht mal bewusst ist. Aber zum einen sind meine Beziehungen immer an der gleichen Sache gescheitert, zum anderen ist meine Angst zu groß, wie jemand Neues auf das reagieren könnte, was ich getan habe. Und ich will mich nicht mehr dafür rechtfertigen müssen. Vor niemandem.

Über dem Meer braut sich weit am Horizont ein Unwetter zusammen. Die Wolken vereinen sich zu einer dunkelblau-grauen Wand, die näher und näher auf das Land zurollt. Ich kann den Regen schon fast riechen.

Gedankenverloren ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und öffne einen der letzten Whatsapp-Chats. Es ist die Gruppe, die ich mit ein paar Jungs aus dem Dorf vor Jahren gegründet habe. Wir alle kennen uns seit der ersten Klasse, Louis kenne ich sogar schon, seit ich denken kann. Nach dem Unterricht sind wir mit den Rädern über die Lavendel-Felder gefahren, haben den Bauern Streiche gespielt und auf den weiten Wiesen mit dem Ball gekickt. Seit der Fotoblog so erfolgreich geworden ist und ich ständig um die Welt gereist bin, sind unsere Treffen unregelmäßiger geworden, zudem zwei von uns schon eine eigene Familie gegründet haben. Aber wenn ich nach Hause gekommen bin, haben wir es immer geschafft, uns zu sehen.

Das Leben in den Cotswolds verläuft langsamer als im Rest Englands. Man ist umgeben von weiten Landschaften, alten Häusern, kennt seine Nachbarn oder sogar die Familien aus den Cottages von außerhalb. Ich habe es dort geliebt, bis mir die Jeder-kennt-jeden-Mentalität vor acht Wochen zum Verhängnis geworden ist. Nichts verbreitet sich so rasant wie Dorftratsch. Schneller als ich gucken konnte, wurde ich aus der Gruppe entfernt, ich bekam gar keine Gelegenheit, mich zu erklären. So viel zu Freundschaften, die jede Hürde überwinden.

Ich suche in der Gruppenübersicht nach Louis’ Namen und öffne unseren Privatchat. Wenn ich jemanden als besten Freund bezeichnet hätte, dann ihn. Der WhatsApp-Verlauf belehrt mich jedoch eines Besseren. Der zeigt nämlich seit sechs Wochen eine einseitige Konversation. Mein Daumen schwebt über dem Textfeld. Der Cursor darin blinkt vorwurfsvoll und kurz bin ich geneigt, einen weiteren Versuch zu starten. Ich tippe, fixiere den Papierflieger neben den Wörtern und schließe den Messenger wieder mit einem Wisch. Statt mich weiter selbst zu quälen, überfliege ich Nachrichten und Kommentare auf meinen Social-Media-Kanälen und der Homepage. Überraschenderweise hat noch kein Online-Magazin die Postings und Storys der Studenten aufgegriffen. Stattdessen bestehen die meisten Einträge und Kommentare aus Spekulationen, wann ich den Blog reaktivieren werde, der wie alle Kanäle seit zwei Monaten ruht. Viele nehmen an, dass ich mit einem Knall wieder auftauchen werde, der an das True-Self-Projekt herankommt. Oder es News dazu geben wird. Andere vermuten eine Pause wegen privater Probleme. Womit sie nicht falschliegen.

Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse mir den kalten Wind um die Nase wehen. Ich bin für niemanden mehr jemand. Und das tut verflucht weh.

»Entschuldigen Sie, sind Sie hier fertig?« Eine Frau steht mit ihren beiden Kindern an den Händen hinter mir. Erst jetzt checke ich, dass ich den Platz mit der besten Aussicht auf die Stadt belege.

»Klar«, sage ich und trete zur Seite, um die drei durchzulassen. Sofort stellen sich die Kinder an den Rand des Hügels und zeigen ihrer Mum die Häuser in der Ferne.

Ich blicke den dreien hinterher, danach mache ich mich auf den Heimweg. In der George Street werde ich auf Höhe des Hanushka Coffee Shops langsamer. Soll ich doch reingehen und nach Allie fragen, falls sie nicht da ist? Was dann? Sie einladen auf einen Kaffee? In einen Pub? Sie nach ihrer Nummer fragen?

Ich halte an und beäuge die knallrote Fassade des Cafés.

Nein. Nein, das wird nichts bringen. Ich weiß nicht, wie lange ich in Hastings bleibe. Und Allie scheint ein guter Mensch zu sein.

Das Letzte, das sie gebrauchen kann, ist jemand wie ich.

5. Kapitel

Allie

»Holy crap.« Keuchend bleibe ich stehen und wische mir über die Stirn. Unter dem dicken Pullover und der Jogginghose kleben mein Shirt und die Leggins an meinem Körper. Die Joggingrunde ist eine schlechte Idee gewesen. Oder sagen wir eher: Ich habe es übertrieben.

Nach der Reha bin ich so beschäftigt mit der Umzugsplanung gewesen, dass ich mein Sportprogramm vollkommen vernachlässigt habe. Das bekomme ich jetzt zu spüren. Meine Kondition ist komplett im Eimer.

Hinkend und schnaufend suche ich mir einen Platz auf dem Kiesstrand. Zwischen zwei Fischgerippen lasse ich mich nieder und massiere meinen schmerzenden Brustkorb. Meine Lunge steht in Flammen. Dem Schmerz nach zu urteilen, werde ich die Nachwirkungen mindestens bis morgen in den Muskeln und im Brustkorb spüren.

Unter lautem Stöhnen lasse ich mich nach hinten auf den Rücken fallen und strecke Arme und Beine von mir.

Der Himmel ist dunkelgrau, am Horizont braut sich etwas zusammen, das spüre ich als halbes Küstenkind. Selbst für September an der Küste ist die Luft erstaunlich eisig. Wie auf Kommando erschaudere ich und ziehe den Pulloverkragen enger. Wenn meine Trainer und meine Psychologin Mrs. Harrison mich so sehen könnten, dürfte ich mir eine Standpauke nach der anderen anhören. Mit Entlassung aus der Reha habe ich versprechen müssen, es langsam angehen zu lassen. Meine Medikamente regelmäßig zu nehmen. Das ist eine der Bedingungen für den Umzug nach Hastings gewesen. Immerhin war ich monatelang auf Hilfe angewiesen. Allein hierher zu ziehen, ist ein Risiko gewesen. Wie das erste Mal, ohne Stützräder Fahrrad zu fahren. Raus aus der Komfortzone.

Wäre mein Ziel nicht Hastings gewesen, sondern stattdessen eine fremde Stadt, hätten Mum und Dad es bestimmt nicht erlaubt. Der Gedanke an meine Eltern sorgt dafür, dass mein schlechtes Gewissen überkocht, weshalb ich mich aufsetze und die Beine anziehe. Ich sollte mich bei Mum melden. Sie anrufen oder eine WhatsApp-Audio schicken. Was ist schon dabei? Mein Kopf sagt: nichts. Mein Bauch: einiges.

Ich liebe meine Mum. Wirklich. Sie ist mein Engel. Mein ganzes Herz. Wir haben ein enges Verhältnis. Aber der Unfall hat mich auch von ihr fortgetrieben. Was vor allem mit ihrer Überfürsorge und meinem Drang nach Abstand zu tun hat.

Seit meiner Ankunft in Hastings brauche ich die Zeit für mich mehr denn je und meine Kraft, um mich in diesem neuen Leben und meinem Körper, wie er jetzt ist, zurechtzufinden.

Ein paar Minuten lang sehe ich den Wellen beim Heranrollen und Brechen zu. Während ich so dasitze, muss ich an Nathan aus dem Café denken. Er ist bloß ein Jahr älter und schon Gastdozent am College. Fast bin ich versucht gewesen, die Homepage des Colleges nach ihm zu durchsuchen. Aber wozu? Mit Sicherheit werde ich ihn nie wiedersehen. Außerdem habe ich erst mal andere Prioritäten. Mich zu verlieben, ist dabei nicht vorgesehen.

Ich denke daran, was meine Schwester mir geraten hätte, und muss traurig lächeln. Ihr Bild vor mir zu sehen, ist immer noch schmerzhaft. Es zerstört mich nicht mehr in meinen Grundfesten, morgens in den Spiegel zu schauen. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, nach jedem Aufstehen zu schreien oder etwas zu zerschlagen. Aber den Stich spüre ich trotzdem, selbst in dieser vierten Phase der Trauer. Das Umorientieren, das Neue-Pläne-Schmieden fällt mir am schwersten. Je mehr neue Schritte ich gehe, je mehr Erfahrungen ich ohne sie sammele, desto weiter entferne ich mich von dem Punkt, an dem ich sie verloren habe.

Und von der Allie, die ich gewesen bin.

Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und raffe mich auf. Schluss mit dem Selbstmitleid. In den letzten Tagen habe ich Fortschritte gemacht, das ist es, was zählt. Und wenn es nur das Aufstehen am Morgen und der Weg hin und zurück zur Arbeit gewesen ist. Ich habe etwas getan.

Den Weg zur Wohnung bringe ich mehr oder weniger humpelnd hinter mich. Dass die Straße in die Altstadt bergauf verläuft, kostet mich die letzten Kraftreserven. Als ich endlich im Hausflur ankomme, bin ich kurz davor, Tränen der Verzweiflung zu vergießen. Wieso ausgerechnet Dachgeschoss. Die Stufen bis hoch ins erste OG kommen mir wie der Aufstieg zum Mount Everest vor.

»Wir schaffen das«, wiederhole ich wie ein Mantra, während ich mich die Treppe hinaufschleppe. »Wir haben schon ganz andere Dinge geschafft.«

Aber noch bevor ich in der bewohnten Etage unter meiner ankomme, spüre ich, dass ich eine Pause brauche. Japsend lehne ich mich gegen die Wand und lasse mich zu Boden sinken. Ausgerechnet in diesem Augenblick öffnet sich die Tür neben mir.

»Hey, was … O scheiße. Alles cool bei dir?« Die Frau, die mit einem Fuß in den Flur tritt, ist höchstens fünf Jahre älter als ich. Sie hat kupferfarbenes Haar, das sie in einem modernen Bobschnitt trägt. Ihr schwarz-weißes Outfit betont ihre üppigen Kurven und hebt den dunkelroten Lippenstift, den sie trägt, hervor.

»Alles gut«, keuche ich und hebe den Daumen. Dass das wenig überzeugend klingt, merke ich selbst.

»Also für mich sieht’s eher so aus, als könntest du ein Sauerstoffzelt gebrauchen.« Sie mustert mich skeptisch von oben bis unten.

»Hast du eines?«, frage ich.

Nachdenklich wirft sie einen Blick über ihre Schulter in den Flur. Dass sie das Spiel mitspielt, macht sie mir direkt sympathisch. »Ne, sorry, Sauerstoffzelt ist leider aus. Ich könnte mich höchstens zu dir setzen?«

Hilfe annehmen, erinnere ich mich an meinen Vorsatz. Offen sein für neue Begegnungen. »Gern.«

Ihr rundes Gesicht hellt sich auf. Mit einem Tritt befördert sie den Türstopper zwischen ihre Tür und den Rahmen, dann kommt sie zu mir. »Ich bin Kelly«, stellt sie sich vor und setzt sich neben mich auf den Boden.

»Allie.« Ich lege den Kopf in den Nacken, um besser Luft zu bekommen. »Deine neue Nachbarin.«

»Dachte ich mir.« Kelly grinst breit, wodurch eine Zahnlücke zwischen ihren Vorderzähnen zum Vorschein kommt. Mit ihrer Stupsnase und den Sommersprossen auf den Wangen wirkt sie wie eine erwachsene Version der Pippi Langstrumpf. »Gibt ja nur zwei Wohnungen im Haus, also …« Sie schnalzt mit der Zunge und ihr Gesichtsausdruck wird ernst, als sie mich ein zweites Mal mustert. »Brauchst du wirklich keinen Arzt?«

»Nein«, versichere ich und da mein dünnes Keuchen nicht für meine Worte spricht, hole ich weiter aus. »Atmet sich nicht mehr ganz so leicht, wenn ein Viertel Lunge fehlt. Und man Wasser in den Beinen hat. Aber daran gewöhnt man sich.« Zur Untermalung kneife ich in meine steinharten Waden.

»Ja, Ethan hat mir davon erzählt.« Kelly sagt es weder bemitleidend noch aufgesetzt freundlich, sondern ganz normal. Entspannt. Und das tut wahnsinnig gut.

»Ach ja?« Interessiert drehe ich ihr den Kopf zu. »Was hat er denn außerdem so erzählt?«

»Och, nur, dass ihr euch schon ewig kennt, deine Eltern eine eigene Bäckerei in London haben und ihr hier oben immer die Ferien verbracht habt. Und du jetzt in die Bude gezogen bist, nachdem deine Zwillingsschwester im Januar gestorben ist. Und du gern malst und eher der stille Typ bist. Und du«, sie hebt eine Augenbraue, »dir selten Pausen gönnst, weshalb du dich erst mal wieder an die Ruhe hier gewöhnen musst.«