Beraten - Cornelia Maier-Gutheil - E-Book

Beraten E-Book

Cornelia Maier-Gutheil

4,9

  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Das Thema Beraten begleitet Individuen in der Moderne über den gesamten Lebenslauf hinweg (von der pränatalen Beratung zur Seniorenberatung). Als eine der Kernaufgaben pädagogischer Fachkräfte kommt sie beiläufig oder institutionalisiert in den verschiedenen Handlungsfeldern zum Einsatz. Zentrale Fragen richten sich darauf, inwiefern diese Praktik etwa eine genuin pädagogische Handlungsform darstellt, inwieweit sie sich von anderen Praktiken, wie Bilden und Therapieren, abgrenzen lässt oder welchen spannungsreichen Relationierungen sie im Rahmen von lebens-, lern- und berufsbezogenen Zugriffen ausgesetzt ist. Dieser Band greift die genannten Aspekte auf, indem sie anhand zentraler wissenschaftlicher Erkenntnisse referiert, zugespitzt und mit Fallbeispielen veranschaulicht werden.

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Seitenzahl: 174

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Pädagogische Praktiken

Herausgegeben von

 

Birte Egloff

Werner Helsper

Jochen Kade

Christian Lüders

Frank-Olaf Radtke

Werner Thole

Cornelia Maier-Gutheil

Beraten

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022473-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026747-3

epub:    ISBN 978-3-17-026748-0

mobi:    ISBN 978-3-17-026749-7

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort der Herausgeber

 

Das Spektrum pädagogischer Felder hat sich in den letzten Jahren erheblich ausdifferenziert. Es reicht von der Familie über den Kindergarten und die Schule bis zur Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung, betrieblichen Weiterbildung und Altenbildung und umfasst inzwischen auch den eher informellen Bereich von Lehr- und Lernprozessen in den Massenmedien und im Internet. So vielfältig wie die Arbeitsfelder sind die pädagogischen Praktiken. Trotzdem lassen sich diese auf eine begrenzte Zahl von Grundformen pädagogischen Handelns zurückführen (die so etwas wie die operative pädagogische Matrix bilden).

Die Reihe »Pädagogische Praktiken« hat dieses Spektrum pädagogischer Handlungsformen zum Gegenstand. Die einzelnen Bände informieren vor dem Hintergrund des relevanten erziehungswissenschaftlichen Wissens jeweils kompetent über eine dieser grundlegenden pädagogischen Praktiken und liefern dazu das institutionell und professionell differenzierte Erfahrungs- und Hintergrundwissen, das in der pädagogischen Praxis zum Einsatz kommt.

Die kompakten Einführungsbände sind so geschrieben, dass sie Studierenden eine Erweiterung und theoretische Fundierung ihres Erfahrungshorizontes ermöglichen. Die Reihe wendet sich gleichzeitig auch an Praktiker, die hier zur Reflexion, Differenzierung und Erweiterung ihres Handlungsrepertoires angeleitet werden.

Die Herausgeber

Dr. Birte Egloff (Universität Frankfurt)

Prof. Dr. Werner Helsper (Universität Halle-Wittenberg)

Prof. Dr. Jochen Kade (Universität Frankfurt)

Dr. Christian Lüders (Deutsches Jugendinstitut, München)

Prof. Dr. Frank-Olaf Radtke (Universität Frankfurt)

Prof. Dr. Werner Thole (Universität Kassel)

Inhalt

 

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

1 Beraten als Handlungsform – erste Annäherungen und Spezifizierungen

1.1 Allgemeine Grundlagen der Praktik Beraten

1.2 Das Handlungsschema der Beratung

1.3 Beraten in Abgrenzung zu Therapieren und Bilden

2 Pädagogische Beratung oder das spezifisch Pädagogische am Beraten

2.1 Feldbezogene Perspektive

2.2 Strukturtheoretische und interaktionistische Perspektive

2.3 Phänomenologische Perspektive

3 Beraten in pädagogischen Kontexten

3.1 Schule

3.2 Sonderpädagogik

3.3 Sozialpädagogik

3.4 Erwachsenen- und Weiterbildung

Fazit

Literatur

Einleitung

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der pädagogischen Praktik »Beraten« in verschiedenen pädagogischen Kontexten. Um in die Details einzusteigen, möchte ich mit der Erzählung eines Mannes beginnen, der seit vielen Jahren als Schamane bzw. Heiler tätig ist. Martin Schmidt, Mitte fünfzig, berichtet in einem Interview darüber, was er in seiner schamanischen Praxis macht und wie Einzelsitzungen ablaufen. Obwohl dieses Beispiel weder ein klassisches Beratungsformat, wie etwa Erziehungs- oder Lernberatung, darstellt noch eine konkrete Beratungsinteraktion abbildet, können anhand des längeren Interviewauszugs einige im Zusammenhang mit beratendem Handeln bedeutsame Aspekte aufgezeigt werden, die im Verlauf des Textes vertieft werden. Zugleich werden aber auch Grenzen dessen sichtbar, was als »Beratung« bezeichnet werden kann. Lesen wir, was Herr Schmidt uns über seine Tätigkeit erzählt:1

»S: Also ich mach mit Sicherheit keine Sitzungen, wie man sie sich konventionell vorstellt, dass ich denen dann erzähle, was sie wie zu tun hätten, was sie falsch machen und wie’s richtig zu sein hat. Sondern ich seh mich, wenn ich ’ne Sitzung mach, einfach nur als Moderator. So, die Leute kommen zu mir, die ham ’n Hauptproblem. Ich guck mir an, in welcher Verfassung sie sind, und das Erste, was ich mach, ist mal, ihre Verfassung wiederherzustellen, so dass sie überhaupt arbeitsfähig sind. (…) Und vielfach erleb ich, dass wir dann letztendlich n andres Thema bearbeiten als das, mit dem sie gekommen sind. (…) Und ich hab ja den Vorteil, wie n externer Berater ja von außen unbefangen draufzublicken. So, und in ihrem Hamsterrad ham die halt nur die Sichtweise bis kurz vor die Fußzehen, mehr sehn se net. (…) Und wenn ich da jetzt herkomm’ und sagen würde, du machst die und die Fehler, und du musst das so und so machen, da prall ich dann einfach ab. Deshalb moderier ich die dann so und bring die vom physischen und energetischen Zustand auf so ’n Level, dass sich ihr Blick erweitert, ihre Wahrnehmung erweitert, dass se überhaupt (…) dann auch eher für neue Impulse empfänglich sind. Und dann sag ich auch net, das musst du so oder so machen, sondern denk doch mal über das und jenes nach, oder wär das oder jenes net vielleicht ’ne Option dazu. (…) Und für mich ist immer wichtig, dass die Leute dann die Entscheidung treffen. Ich versuch sie immer dorthin zu führen, sie dorthin zu moderier‘n, dass von ihnen immer ‘ne Entscheidung kommt.

Ich hab zum Beispiel letztens ne Frau gehabt, das war ganz abgefahren. Die ist in nem längerem Scheidungsprozess. Das is’ alles so unklar und wischiwaschi und zieht sich, und sie trifft keine klaren Entscheidungen. (…) Dann kam die zu mir mit dem Wunsch cord-cut2 von ihrem Mann. So, und dann sind wir in die Vorbereitungen gegangen (…), um se einfach da auf den cord-cut richtig vorzubereiten (…). Und dann sind wir in Richtung Thema gegangen, und an dem Thema sind wir dann hängengeblieben, sind net weitergekommen, ja. Und siehe da, es war net ihr Mann als cord-cut dran, sondern es war ’ne manipulative Freundin dran, wo der cord gecuttet gehört. Und das war wirklich ’ne harte Arbeit, über diese Blockade drüberzukommen, aber plötzlich war ihr total klar, nix Mann, sondern jetzt is’ die Person da dran. Und wir ham den cord gecuttet von dieser manipulativen Freundin, und plötzlich is’ alles ins Laufen gekommen. (…)

So, und ich lass alle Möglichkeiten offen. Ich weiß net, ob das ’n cord-cut dann wirklich mit dem Mann wird. Aber ich bereit erstmal das gesamte System Mensch so weit vor, dass er überhaupt ’ne eigene weitgehend unabhängige zeitaktuelle Entscheidung treffen kann, und geh net zwingend davon aus, dass jetzt ’n cord mit dem Ehemann gecuttet wird. (…) Und dadurch, dass ich das physische und energetische Niveau anheb, mach ich ja das Unterbewusstsein immer mehr offen. (…) Also geh ich her und sorg überhaupt erstmal dafür, dass das Unterbewusstsein in die Lage versetzt wird, Informationen freizugeben, die jetzt wirklich dran und elementar sind.

I: Wie moderierst du so einen Prozess?

S: Durch Fragen und durch Hinweise. (…) Das Ganze, weißt du, so ’ne Beratung, ist ja immer ‘ne ganz individuelle Geschichte. Die einen gehen offen damit um, sind aufgeschlossen, haben vielleicht energetische oder physische Blockaden – das is’ ja das geringste Problem. Aber da kommen ja manchmal auch Leute, die haben die Indoktrinationen, haben Filter da drin sitzen. Da wird’s dir ja schwindlig.

I: Wie kommen die zu dir?

S: Oftmals siehst du’s ja auch am Habitus, wie verhärtet oder versteinert oder unbeweglich oder beweglich die Leute sind. Das sollte man einfach erkennen und danach seine Fragestellung richten. So, und manche brauchen es eben brutal und manche, mit denen geht’s einfacher. Das kommt dann einfach auf den Typ drauf an. Da gibt’s keine pauschale Vorgehensweise.« (vgl. Heinrich 2014, Interview 1, S. 21, Z. 29; S. 23, Z. 15).

Betrachten wir nun genauer, was Herr Schmidt sagt, wenn er über seine schamanische Praxis spricht, so fallen einige grundlegende und konstitutive Elemente von Beratung auf. Dazu gehören die Nicht-Betroffenheit und eine professionelle Distanz (»von außen unbefangen draufzublicken«) wie auch eine bei der ratsuchenden Person verbleibende Entscheidungsautonomie (»immer wichtig, dass die Leute dann die Entscheidung treffen«). Als Ziel für die Klient/inn/en wird eine Perspektiverweiterung genannt (»dass sich ihr Blick erweitert, … dass se aus diesem engen Blickwinkel rauskommen«), die über unterschiedliche Interventionen erreicht wird. Die hierbei aufgeführten Methoden beinhalten dabei einerseits in der Beratung typische Arbeitsweisen, wie Moderieren, Fragenstellen (»Fragen und Hinweise«) sowie das Fehlen expliziter Ratschläge (»ich mach mit Sicherheit keine Sitzungen …, dass ich denen dann erzähle, was sie wie zu tun hätten, was sie falsch machen und wie’s richtig zu sein hat«) oder eine grundsätzliche Ergebnisoffenheit (»ich lass alle Möglichkeiten offen«). Die Offenheit spiegelt sich auch darin wider, dass er seine Aufgabe als ein Anbieten von Optionen versteht – mögliche Lösungswege, die er den Klient/inn/en aufzeigt (»denk doch mal über das und jenes nach, oder wär das oder jenes net vielleicht ne Option dazu«). Andererseits wird auf Methoden rekurriert, die eher in medizinisch-therapeutische Sphären gehören, wie zum Beispiel korrigierende Eingriffe (»korrigier da das eine oder andere«), »Unterbewusstsein öffnen«, »Blockaden lösen« oder explizit schamanische Praktiken (»cord-cutting«).

Als Rahmenbedingungen betont Schmidt eine grundsätzliche Arbeitsfähigkeit seiner Klient/inn/en (»das erste, was ich mach, ist mal, ihre Verfassung wiederherzustellen, so dass sie überhaupt arbeitsfähig sind«), an deren Ende eine Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit steht. Auch geht er nicht vorschnell davon aus, dass das klientenseitig eingebrachte Anliegen (»Hauptproblem«) möglicherweise nicht das tatsächliche Thema darstellt, sondern sich vielleicht erst im Verlauf des (Beratungs- und im Beispiel teilweise Behandlungs-)Prozesses entwickelt beziehungsweise herauskristallisiert (»wie der Prozess dann sich entwickelt und moderiert wird oder zu moderieren ist – das ist dann situativ bedingt«). Es wird deutlich, dass Schmidt eine fallspezifische Vorgehensweise verfolgt, die ebenfalls für professionelles Beratungshandeln in pädagogischen Kontexten konstitutiv ist (»so ’ne Beratung, ist ja immer ’ne ganz individuelle Geschichte«). Darüber hinaus verweist er auf für sein Handeln notwendige bestimmte Wissensbestände (»das sollte man einfach erkennen und danach seine Fragestellung richten«). Damit rekurriert er auf Wissen und Können als zwei zentrale Bestandteile professionellen Handelns und betont die Notwendigkeit, dass die beratende Person über eine gewisse Professionalität verfügen solle. Dazu gehört auch, dass er sich von bloßen Routine-(Be-)Handlungen distanziert (»da gibt’s keine pauschale Vorgehensweise«).

Die Grenzen des aus dem Fallbeispiel rekonstruierbaren Beratungshandelns werden vor allem auf der Ebene der Methoden sichtbar. Die genannten Interventionen rekurrieren implizit auf medizinische und therapeutische Kontexte. Immer dann, wenn Martin Schmidt beschreibt, wie er etwas mit der Klientin/dem Klienten tut, korrigiert etc., damit dann bestimmte Prozesse in Gang kommen können, verlässt er den Handlungsrahmen der Beratung und betritt den der Behandlung und Therapie. Beraten als Handlungsform ist also auf der einen Seite von medizinisch-therapeutischen Praktiken abzugrenzen. Wir werden noch sehen, dass sie sich auf der anderen Seite von pädagogischen Praktiken, wie Unterrichten, Vermitteln etc., abgrenzen lässt. Um dies zu klären, werden wir folgende Schritte vornehmen.

Fokussierungen und Auslassungen – Aufbau des Buches

Thematisiert wird das beratende Handeln als konkret-praktisches Tun, das in unterschiedlichen pädagogischen Kontexten zu beobachten ist. Nicht im Fokus stehen somit ausbildungs- oder schulenbezogene Spezifika der Handlungsform Beratung, wie sie vielfach entlang unterschiedlicher (ursprünglich meist psychologischer) Beratungsansätze und Methoden betrachtet werden. Hierfür gibt es bereits eine Vielzahl an Büchern, die sich mit den spezifischen Beratungsansätzen auseinandersetzen, wie kooperative, systemische, ressourcenorientierte etc. Beratung.3 Diese Darstellungen haben gemein, dass sie in der Regel aus einer theoretisch-konzeptionellen Perspektive jeweils eine bestimmte Form von Beratungshandeln beschreiben. Dafür werden dann der spezifische theoretische Hintergrund, meistens ein Ablaufschema oder Arbeitsschritte sowie bestimmte Techniken abgebildet. Die Frage, inwiefern diese Beratungsansätze auf der Basis empirischen Wissens, also im Rahmen von Forschung entwickelt wurden, bleibt meist unbeantwortet. Dies ist deshalb bedeutsam, weil allein der Blick auf die jeweiligen (Gesprächs-)Techniken viele Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Ansätzen zeigt, wodurch Unterschiede zwischen ihnen verschwimmen. Beispielsweise werden in vielen Formaten systemische Fragetechniken eingesetzt und nicht nur in der expliziten systemischen Beratung. Ob die in den Ansätzen beschriebenen Abläufe etc. schließlich in einer realen Beratungssituation zu beobachten sind, ist eine weitere Frage, die ebenfalls nur empirisch beantwortet werden kann.

Unabhängig davon, welchem Beratungsverständnis oder Ansatz die beratende Person folgt, wird das konkrete Handeln von kontextspezifischen Bedingungen beeinflusst, die sich fördernd, hemmend oder neutral auf Beraten auswirken können. Genau diese Bedingungen wie auch die spezifischen Aufgaben und Anforderungen, die an das Beratungshandeln in den unterschiedlichen pädagogischen Kontexten Schule, Sonder- und Sozialpädagogik sowie Erwachsenen- und Weiterbildung gestellt werden, stehen im Zentrum dieses Buches. Durch den Blick auf die jeweils bedingenden Strukturen kann Beraten über Grenzen, Ausdifferenzierungen und Spannungsfelder als eine spezifische pädagogische Handlungsform beschrieben werden, die in andere Handlungsschemata eingebettet ist, von ihnen flankiert wird oder in einem spannungsvollen Verhältnis zu ihnen steht. Solche Grenzen beziehungsweise Spannungsfelder können etwa durch unterschiedliche, teilweise widersprüchliche professionelle Handlungslogiken (z. B. bei multidisziplinären Teams) oder auch aus widersprüchlichen Anforderungen (z. B. zwischen Beraten und anderen Handlungsschemata) entstehen.

Einführend werden allgemeine Grundlagen von Beraten vorgestellt. Diese ersten begrifflichen Differenzierungen zu alltäglicher und professioneller wie auch impliziter und expliziter Beratung ermöglichen es, Beratungssituationen zu erkennen und zu beschreiben ( Kap. 1.1). Beratung findet immer im Rahmen einer Interaktion mit mindestens zwei Beteiligten statt, in der diese in einer Face-to-face-Interaktion oder medial vermittelten Kommunikation miteinander sprechen. Erkenntnisse aus der Soziolinguistik über das Handlungsschema der Beratung zeigen anschließend, welche unterschiedlichen Rollen und Aufgaben den Gesprächsbeteiligten obliegen. Durch die hier vorgestellten Komponenten lässt sich Beraten von anderen Handlungsschemata unterscheiden ( Kap. 1.2). Um sagen zu können, inwiefern es sich bei der Praktik Beraten um eine pädagogische Handlungsform handelt, werden im nächsten Schritt die drei diesbezüglich aktuellen Diskurse der Disziplin Pädagogik betrachtet. Diese Perspektiven werden flankiert von knappen, allgemeinen Anmerkungen zu Strukturbedingungen pädagogischen Handelns sowie drei elementaren Konzepten, die für pädagogisches Beraten essentiell erscheinen ( Kap. 2). Im Zentrum stehen schließlich interne und externe Konstitutions- und Rahmenbedingungen, die das beratende Handeln in den vier genannten unterschiedlichen pädagogischen Kontexten bestimmen (Schule, Sonder- und Sozialpädagogik oder Erwachsenen- und Weiterbildung). Die Bedingungen beziehen sich auf Adressat/inn/en, institutionelle Kontexte, Themen und Anlässe sowie (Kern-)Aktivitäten und Spannungsfelder. Dieses zentrale Kapitel basiert hauptsächlich auf qualitativ-empirischen, teils explizit interaktionsanalytischen, teils Interview- und ethnografischen Studien aus den jeweiligen Kontexten. Damit soll ein weitestgehend unverstellter Blick auf das konkrete Beratungshandeln in seinen kontextspezifischen Variationen eröffnet werden ( Kap. 3).

Eine zusammenfassende Bündelung sowie Überlegungen zu aktuellen Herausforderungen beschließen dann die Auseinandersetzung(en) mit der Praktik Beraten ( Kap. 4).

1     Der aus Gründen der Leserlichkeit leicht redigierte Auszug aus dem Interview wird freundlicherweise von der Interviewerin, Elske Heinrich, zur Verfügung gestellt, die diesen Fall (und weitere) im Rahmen ihrer Diplomarbeit über »Sonderfälle psychosozialer Beratung zwischen Helfen und Heilen – Die schamanische Behandlung« analysiert hat (vgl. Heinrich 2014).

2     Die Annahme ist hier, dass es zwischen Menschen energetische Verbindungen gibt, die prinzipiell positiv oder negativ sein können. Beim »Cordcutting« würden die negativen Verbindungen auf energetischer Ebene getrennt (vgl. Heinrich 2014, S. 92).

3     Diese finden sich beispielsweise in der Reihe »Fördern lernen« des Kohlhammer Verlags sowie generell in deren Angeboten des Schwerpunkts Pädagogik. Für einen grundlegenden Überblick siehe Nestmann u. a. 2007.

 

 

 

 

 

1

Beraten als Handlungsform – erste Annäherungen und Spezifizierungen

Die (erziehungs-)wissenschaftliche Literatur über Beratung füllt seit den 1960er Jahren viele Bibliotheksregale (allein mit über 11.500 Büchern in den Bibliotheken der Universität Heidelberg), die zu referieren hier den Rahmen sprengen würde. Dennoch sollen im Folgenden grundlegende Aspekte zusammengetragen werden, die uns helfen zu verstehen, was es mit der Praktik Beraten auf sich hat. Dafür werden zunächst einige grundlegende Überlegungen und Erkenntnisse zur Spezifizierung von Beraten zusammengetragen, die es uns im Verlauf des Buches ermöglichen, diese komplexe Handlungsform näher zu fassen ( Kap. 1.1). Da einer der Fokusse dieses Bandes die Frage danach ist, was Personen machen, wenn sie beraten, richtet sich der Blick anschließend auf Erkenntnisse aus einer erziehungswissenschaftlichen Bezugsdisziplin4, die sich mit dem Phänomen Beraten als Interaktion seit vielen Jahren befasst (vgl. Kallmeyer 1985; 2000; Nothdurft 1984; Nothdurft u. a. 1994) und handlungskonstitutiv erklären kann, was Beraten als Praktik ausmacht ( Kap. 1.2).

1.1        Allgemeine Grundlagen der Praktik Beraten

Beraten ist eine Aktivität, die zum Grundrepertoire menschlicher Handlungsformen zählt. Sie kann in transitiver (jemanden beraten) und reflexiver (sich beraten) Form sowohl in alltagsweltlichen Zusammenhängen (unter Freunden, in der Familie) als auch in professionellen Kontexten vorkommen (z. B. in der Schule, der sonderpädagogischen Förderstelle, der Weiterbildungseinrichtung oder der schamanischen Praxis) und sich an Personen oder Organisationen richten. Der Unterschied zwischen alltagsweltlichen und professionellen Kontexten besteht darin, dass wir von professionellen Berater/ -inne/n erwarten, dass sie auch dementsprechend handeln. Sie sollen wissen, was sie tun,5 und im Sinn der ratsuchenden Person oder Organisation beraten, also beispielsweise keine eigenen (möglicherweise zum eigentlichen Anliegen konträren) Absichten verfolgen. Da sich jedoch gewisse (institutionelle, finanzielle etc.) Abhängigkeiten nicht vermeiden lassen, sollen sie zumindest in der Lage sein, diese zu reflektieren, um etwaige negative Einflüsse auf das Beratungshandeln zu minimieren.6

Wir gehen zwar auch in privaten Kontexten, wenn wir uns einen Rat holen, zumeist davon aus, dass der Ratgeber oder die Ratgeberin nach bestem Wissen und in unserem Sinn handelt. Sie sind jedoch – im Gegensatz zu den meisten professionellen Berater/inne/n – in der Regel nicht für diese spezifische Tätigkeit ausgebildet. Auch fehlt es ihnen, gerade weil es private und/oder freundschaftliche Verbindungen gibt, an der notwendigen Unabhängigkeit7 und Nicht-Betroffenheit. Geht es beispielsweise um die Berufsfindung, können beratende Gespräche mit Verwandten und Freunden eine gute Unterstützung darstellen, weil sie eine gewisse Kenntnis von mir als Person und meinen Fähigkeiten, Vorlieben etc. haben. Möglicherweise wären die um Rat Befragten aber unmittelbar/mittelbar von einer Entscheidung meinerseits für einen bestimmten Beruf betroffen, wenn damit zum Beispiel der Umzug in eine andere Stadt, die Finanzierung einer eigenen Wohnung o. ä. verbunden wäre. Sie könnten mir also aus eigenen Motiven zu- oder abraten, die wenig mit mir und der für mich »richtigen« Entscheidung zu tun haben. Demgegenüber werden gerade Asymmetrien zwischen Berater/inne/n und ratsuchenden Personen als konstitutiv für Beratung erachtet (vgl. Nothdurft/Reitemeier/Schröder 1994).

Betrachtet man den inflationär anmutenden Gebrauch des Begriffes Beratung,8 liegt die Frage auf der Hand, ob das, was jeweils unter diesem Namen firmiert, das Gleiche ist, Ähnlichkeiten aufweist oder doch sehr unterschiedliche Konkretionen erfährt. In einem ersten Zugriff können wir auf die spezifischen Situationen und deren jeweilige (interne und externe) Konstitutionsbedingungen schauen, in denen Beratung zu beobachten ist.

Implizite und explizite sowie integrierte und differenzierte Beratung

Im pädagogischen Berufsalltag gibt es immer wieder Situationen, in denen Beraten zum einen beiläufig neben anderen pädagogischen Praktiken stattfindet oder ausdrücklich gewünscht wird (vgl. zum Folgenden Tab. 1 auf S. 22).

1.    Etwa wenn die Sozialpädagogin in der offenen Jugendarbeit beim Projekt »Videoclip drehen« von einer Jugendlichen den letzten Streit mit den Eltern erzählt bekommt und erfährt, dass das Mädchen es nicht mehr zu Hause aushält, und daraufhin ein Gespräch mit ihr über die aktuelle Situation und mögliche Handlungsalternativen beginnt.

2.    Oder wenn die Kursleiterin im Spanisch-Fremdsprachenkurs von einem Teilnehmer während einer Konversationsübung wegen seiner Schwierigkeiten beim Vokabellernen angesprochen wird, die er gern beheben würde, woraufhin die Dozentin mit ihm einen Einzeltermin zur näheren Klärung vereinbart und darüber hinaus in der nächsten Sitzung einen Exkurs über verschiedene Methoden des Vokabellernens abhält.

3.    Oder wenn eine Lehrerin aus der Lehrerfortbildung an eine Schule gerufen wird, um die Kolleg/inn/en vor Ort bei der Entwicklung individueller Förderkonzepte zu unterstützen und zu coachen.

Solche »Situationen mit Beratungscharakter« (Knoll 2008, S. 24 ff.) lassen sich in Bezug auf die Explizitheit wie auch hinsichtlich ihrer Einbettung in alltägliche Arbeitsabläufe (integriert) bzw. in Abgrenzung zu alltäglichen Arbeitsgeschehnissen (differenziert) unterscheiden. Knoll spricht hier von integrierten und impliziten (Beispiel 1), integrierten und expliziten (Beispiel 2) sowie von differenzierten und expliziten (Beispiel 3) Beratungssituationen (vgl. ebd., S. 26 f.).9

Kriterien zur UnterscheidungDimension »Explikation«Implizitexplizit

Tab. 1: Typen von Situationen mit Beratungscharakter (Knoll 2008, S. 26)

Beratung findet zum anderen aber auch in vielen pädagogischen Handlungsfeldern als institutionalisiertes Angebot statt, wie beispielsweise als Erziehungs-, Familien-, Gründungs-, Schuldner-, Weiterbildungs-, Migrations- etc. -beratung. Hier ist Beraten der – zumindest nominelle – Handlungskern der jeweiligen Interaktion und wird mittels spezifischer Settings (geschützte Räumlichkeiten, feste Zeiten und Ansprechpartner/innen) explizit von der Außen-/Alltagswelt abgetrennt. Jedoch weisen interaktionsanalytische Studien darauf hin, dass Beraten auch in seiner institutionalisierten Form vielfach nicht in »Reinform« vorkommt, sondern es gleichfalls ein Wechselspiel mit anderen Aktivitäten, wie Wissen vermitteln, anleiten, überprüfen, diagnostizieren, informieren etc., gibt. In manchen Fällen wird faktisch gar nicht beraten, obwohl die Interaktion als Beratung bezeichnet wird (vgl. Maier-Gutheil 2009, S. 145 ff.).

Es wurde bereits betont, dass das Handeln in Beratungssituationen von einer spezifischen Logik und (Handlungs-)Struktur bestimmt wird. Wie diese aussieht, schauen wir uns jetzt an.

1.2        Das Handlungsschema der Beratung10

Werner Kallmeyer, Soziolinguist, der über 25 Jahre am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim im Bereich Pragmatik forschte, hat das Kernhandlungsschema11 von Beratung12 rekonstruiert und an unterschiedlichen Beispielen von Beratungsgesprächen exemplifiziert (vgl. Kallmeyer 1985; 2000). Konstituierend für eine Beratungssituation ist, wie bereits erwähnt, die Orientierung an einem Problem oder Anliegen, das eine der am Gespräch beteiligten Personen zu bewältigen hat und für das sie die Unterstützung einer anderen (hierfür ausgebildeten) Person in Anspruch nimmt. Damit ist zunächst die problem-/anliegensbezogene Ausgangslage beschrieben, die den Startpunkt für – mit Knolls Worten – sowohl integriert-implizite als auch differenziert-explizite Beratungssituationen bildet. Kallmeyer zeigt, dass diese »Grundstruktur des Beratungshandelns« (Kallmeyer 2000, S. 236 ff.) aus basalen und voneinander unterscheidbaren Komponenten besteht, die im folgenden Modell des Kernhandlungsschemas der Beratung abgebildet sind und einer gewissen Ablauflogik folgen. Allerdings sind diese Aspekte nicht als linearer Ablauf zu verstehen, der so und nicht anders erfolgt. Vielmehr handelt es sich bei den genannten Aspekten um ein Inventar, dessen sich die Interagierenden bedienen, um die jeweils damit verbundenen Aufgaben zu bearbeiten.

AufgabenBeteiligungsrollen