Bestiarium der deutschen Literatur - Fritz J. Raddatz - E-Book

Bestiarium der deutschen Literatur E-Book

Fritz J. Raddatz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Inzwischen ist es knapp hundert Jahre alt: Franz Bleis «Großes Bestiarium der Literatur», jenes legendäre Buch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das bei Rowohlt viele Auflagen erlebt hat. Ein neues Bestiarium tritt ihm jetzt an die Seite. Fritz J. Raddatz hat es verfaßt: mit dem nachlässigen Glanz liebevoller Parodie und dem scharfen Blick der Satire, mit Hellsicht, mit Witz, mit märchenhaften, ja phantastischen Pointen überall. Die Größen der deutschen Literatur erscheinen hier als Fabelwesen; der Leser trifft die nach Wien verirrte Möwe Jelinek, eine Meisterin der Resteverwertung, und die Trockenqualle Lenz, die, sobald zerrieben, Grundstoffe für die Farben Emil Noldes bildet. Der Enzensberger und der Goetz treten auf, Grass als Aal, der onanierende Pimpfe verschlingt, oder Martin Mosebach, der «Andenflamingo» genannte Vogel mit dem gravitätischen Gang. Ulla Hahn ist eine Schleichkatze, die Mayröcker ein Silberlöwe, der nicht brüllen kann, und der Ruge ein Seehase. Und das Habermas, eine possierlich-aggressive Primatenart, kann sich durch besondere Ruflaute zum Clanherrscher aufschwingen. Raddatz gelingt ein genußreiches Portrait vieler wichtiger Autoren unserer Zeit: eine Sammlung dichter Leseerfahrung und Leselust, von Klaus Ensikat meisterhaft illustriert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 63

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fritz J. Raddatz

Bestiarium der deutschen Literatur

Illustriert von Klaus Ensikat

Was darf die Satire? Alles.

Kurt Tucholsky

Achternbusch, der

Bayerischer Gockel, dessen populärer Name wohl dem Umstand zu verdanken ist, daß das Vieh schon um acht Uhr morgens «achtern» aus dem Busch kräht. Im Volk unbeliebt und Gegenstand vieler Zivilprozesse. Vor einigen Jahren berichtete die Presse: In der Gemeinde Eching am bayerischen Ammersee wohnten seinerzeit 1404Menschen, 669Rinder, elf Schweine, drei Schafe und 15Hähne. 14 davon sind normale deutsche Haus- und Hofgockel. Einer aber ist etwas Besonderes: ein Achternbusch-Zwerghahn namens «Tscheki». Er mißt von seinen gefiederten Füßen bis zum blaßrosa Kamm nur 16Zentimeter. Seine Stimmbänder sind dafür um so kräftiger ausgebildet. Und das ist der Grund, weshalb sich die bayerische Justiz damals über Monate mit dem Federvieh beschäftigen mußte. Am Ende fällte die 4.Zivilkammer des Augsburger Landgerichts als Berufungsinstanz ein abschließendes Urteil im Hahnen-Kampf: Tschekis Kikeriki galt als unzumutbare Lärmbelästigung. Die Richter teilten damit die Ansicht der Familie Rudolf und Emilie Kofron, die mit Tochter und Schwiegermutter in der Greifenberger Straße 8a in Eching wohnte. Mauer an Mauer mit Tscheki, zwei Hennen, einer Wachtel und sechs Fasanen. Die Geflügelzucht gehörte dem Nachbarn Franz Gebele, 56, mit dem die Kofrons anfangs noch freundschaftlich per «Du» waren. Das wurde schlagartig anders, als der Schreiner Gebele an Stelle seines altersschwachen Dorfgockels vor zwei Jahren den Zwerghahn kaufte. «An und für sich hab’ ich nichts gegen Hähne», versicherte Rudolf Kofron, 41.

Aber Tscheki krähe nun mal nicht wie ein normaler Hahn, sondern mehr wie eine hysterische Operndiva: «schrill, laut und oft». Als Schichtarbeiter kam Rudolf Kofron meist erst gegen ein Uhr ins Bett. «Und drei, vier Stunden später weckt ihn dies gottserbärmlich graisliche Geschrei wieder auf», klagte seine Frau. Man versuchte es mit Ohrstöpseln, Schlaftabletten und einem «vernünftigen Gespräch» mit dem Gebele. Aber der Bauernsohn fragte nur verblüfft: «Soll ich dem Gockel vielleicht den Schnabel zubinden?» Da zogen die Kofrons vor Gericht: mit sieben Zeugen, einem Tonband und einer Kikeriki-Statistik, die bewies, daß Tscheki an hellen Sommertagen schon morgens ab 3:40Uhr schreit… «bis zu 40 mal in der Stunde, durchdringend und schrill». Das Landsberger Amtsgericht beriet lange, ob in diesem Hahnenstreit nur «eine subjektive Geräuschempfindlichkeit der Nachbarn» oder «eine objektive Ruhestörung» durch einen Zwerghahn vorlag – und gab schließlich dem jammernden Schichtarbeiter recht. Tscheki erhielt Kikerikiverbot.

Bachmann, der

Der Totenkopfschwärmer wird von der österreichischen Landbevölkerung die «Große Somnambule» genannt. Das leitet sich daher, daß der mancherorts als Unglücksbote verrufene Nachtfalter – der übrigens auch tagaktiv ist – wie betrunken auf Lichtfallen reagiert. Ein berühmter Schweizer Spezialist hat zum Zweck des Anlockens unter einem Laken aus dünner Leinwand das Licht einer Quecksilberdampflampe (wie sie auch auf Theaterbühnen verwendet werden) installiert, dazu eine sonst nur aus Romanen bekannte Schwarzlicht-Neonröhre: und schwirr blobb, schwirr blobb, mit einem an experimentelle Lyrik erinnernden Geräusch, läßt sich die Große Somnambule, vom Kunstlicht verführt, nieder. Oft hat der braun in braun gemusterte Falter mit seinem schönen Pelz am Kopf sich zuvor an Honig gütlich getan, den er aus Bienenstöcken in der Landschaft um Rom stibitzt. So gesättigt, läßt er sich in Schnappdeckelgläschen bugsieren, die jenen Schweizer Spezialisten bei Erhalt in einen Glückstaumel versetzen, obwohl er weiß, daß es sich um ein Exemplar handelt, das auf der roten Liste bedrohter Arten steht. Die genauen Ergebnisse seiner Forschung hat der Lichtfallensteller einer Akademie übergeben und auf Jahrzehnte sekretieren lassen.

Bernhard, der

Fledermausartiger Totenvogel, dessen Flügel ihn klebrig umschlingen. Ein nasenförmig vorspringender Schnabel läßt ihn auf verzerrte Weise menschlich aussehen – weswegen ländliche Bewohner sich vor dem Tier fürchten, das vornehmlich auf Friedhöfen oder in Spital-Gärten nistet und als bösartig gegenüber seiner Umwelt gilt. Nachtsegler von großer Ausdauer, der bei seinem schweigenden Ausschwingen nur gelegentlich klagend klingende Unkenrufe ausstößt, die zu vielerlei Sagen und Überlieferungen Anlaß gaben; so gilt es in ganz Oberbayern als verbürgt, daß die jüngste Tochter eines Hofes, auf dem der Vogel nistet, von der Auszehrung befallen wird. Ein jüdischer Staatsmann Südosteuropas hatte zur Zeit des Sechstagekrieges eine Studie in Auftrag gegeben, ob man das unheimliche Tier nicht zur Bekämpfung der Palästinenser außer Landes bringen könnte. Geheimpolizisten berichteten glaubhaft, daß sie kurz nach diesem Beschluß ein großes, schwarzgesprenkeltes Bernhard-Ei im Garten des Regierungs-Palais fanden, das, von einem Sprengkommando in die Luft gejagt, wochenlang pestilenzartigen Gestank verbreitete.

Biermann, der

Eichenprozessionsspinner. Raupe, die Deutschland in Angst und Schrecken versetzt. Spezialtrupps fliegen Hubschraubereinsätze, versprühen Gift, gelegentlich werden gar Flammenwerfer eingesetzt; denn die nur 4Zentimeter lange Raupe, deren samtartig behaarte Rückenfelder und rötlich schimmernde Warzen das Tier possierlich wirken lassen, befällt vor allem die deutsche Eiche. Man spricht von einem musikalisch rhythmisierten Gänsemarsch, bei dem Stämme und Zweige des deutschen Symbolbaums auf der Nahrungssuche erklommen und kahlgefressen werden. In ihrer Gier nach Eichenlaub und durch eine schier unglaubliche Vermehrung können sie ganze Wälder vernichten. Die feinen Brennhaare auf dem Körper der Raupe erzeugen ein wundersam zirpendes Geräusch, das Menschen dazu verführt, sie zu berühren; sie enthalten aber ein hochwirksames Nesselgift, dessen Name Thaumetopoein wie die altmodische Bezeichnung für ein Lauteninstrument klingt. Doch Vorsicht ist geboten: Die nur scheinbar sanften 600000Brennhaare der erwachsenen Raupe schütten für jeden Bewunderer einen Cocktail aus entzündungserregenden Substanzen aus: Statt Applaus ergibt sich eine Raupendermatitis.

Böll, das

Gehört zur Gattung der Panzernashörner. Ursprüngliche Heimat ist Nepal. Auf bisher ungeklärte Weise in die Rheingegend gelangt. Das bis zu 40Zentner schwere Tier gilt als generell gutartig und wird nur in gereiztem Zustand – zum Beispiel wenn es ein BILD sieht – aggressiv, dann allerdings nachtragend und unversöhnlich. Wenn das Böll sich wohl fühlt, wälzt es sich im Schlamm – was ihm irrtümlich als Nestbeschmutzung angelastet wird. Die Massigkeit seines Körpers täuscht, das Tier ist zu überraschend zierlichen Bewegungen fähig und gilt als sehr gelehrig; die wissenschaftliche Literatur hat für seine Trippelschritte – meist von langem Gähnen begleitet – den Begriff «Satire» geprägt. Trotz seines BILD-Hasses wird das Böll oft und gern in Filmaufnahmen festgehalten und in zahlreichen Variationen in alle Welt exportiert. Erst ein unwilliges Grunzen und Zähnefletschen hinderte die deutsche Goethe-Haus-Organisation am weiteren Export des nebst Lederhosen, Bier und VW populärsten deutschen Nachkriegsvorkommens, dessen List man – obwohl ursprünglich nicht am Rhein beheimatet – gern als «typisch katholisch» anpries.

Brasch, der

Eine ursprünglich aus dem Lech bei Augsburg stammende Abart des Barschs, die sich zumeist in Bach-Tälern aufhält und deren eigenartige bartähnliche Maserung von den Kiemen abwärts die Aggressionslust seiner Artgenossen fördert. Der Fisch liebt es, durch starke Schläge der ausgeprägten Schwanzgräte in Flüssen und Flußschnellen stromaufwärts zu schwimmen, was man sonst nur von laichenden Lachsen kennt und was ihm den Namen «Unterwasseranarchist» eingetragen hat, zumal er sich – nicht nur zur Brutzeit – ausgesprochen einzelgängerisch verhält: Man hat ihn noch nie in Schwärmen auftauchen sehen, und selbst der Versuch, ihn an feste Futterplätze zu gewöhnen, scheiterte. Beobachtet wurde dagegen, daß junge, aber ausgewachsene Exemplare sich raubfischartig auf die Eltern stürzten und in wütender Kampfart Zierfische aus ihrem Bereich vertrieben. Gefürchtet bei Schwänen und Enten, denen er in die Schwimmhäute zu beißen pflegt. Unschmackhaft.

Braun, der

Beutelmull. Gewissermaßen ein Maulwurf, von diesem unterschieden durch ein goldgelb schimmerndes seidiges Fell. Die Fortbewegungsweise des mit Grabenkrallen ausgestatteten und gegen Ostwinde höchst empfindlichen Notoryctes wird als «Sandschwimmen» bezeichnet. Damit soll charakterisiert werden, daß das kälteempfindliche Tier (in Wandlitz wurde es bei 15,6°C