Bilder des Bösen - Britta Hasler - E-Book
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Bilder des Bösen E-Book

Britta Hasler

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Beschreibung

Die dunklen Abgründe von Wien … Der fesselnde historische Kriminalroman »Bilder des Bösen« von Britta Hasler jetzt als eBook bei dotbooks. Schatten und Glanz im Wien der Jahrhundertwende, 1906: Rot gelocktes Haar, ein schlanker Körper – das Mädchen, welches die Privatdetektive Lischka und Pawalet eben noch auf einer Fotografie gesehen haben, liegt nun tot vor ihnen. Es ist bereits das siebte Opfer einer brutalen Mordserie, verstümmelt durch die Hand eines Täters, der es auf Prostituierte abgesehen hat. Die Polizei bittet die beiden Männer um Mithilfe – doch als Pawalet beobachtet wird, wie er von einem weiteren Tatort verschwindet, wird er plötzlich zum Hauptverdächtigen. Mit Lischkas Unterstützung ermittelt er im Untergrund weiter und stößt dabei auf einen florierenden Schwarzmarkthandel mit brisanten Fotografien, der ihn bis in die höchsten Kreise Wiens führt – und zu einem Geheimnis, das die Grausamkeit der Morde bei Weitem übertrifft … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Bilder des Bösen« entführt in das ebenso abgründige wie faszinierende Wien um die Jahrhundertwende – für alle Fans von Oliver Pötzsch, der zweite mitreißende historische Wienroman von Bestsellerautorin Britta Hasler, die als Britta Habekost zusammen mit ihrem Ehemann Christian Chako Habekost die Erfolgskrimireihe »Elwenfels« schreibt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 553

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Über dieses Buch:

Schatten und Glanz im Wien der Jahrhundertwende, 1906: Rot gelocktes Haar, ein schlanker Körper – das Mädchen, welches die Privatdetektive Lischka und Pawalet eben noch auf einer Fotografie gesehen haben, liegt nun tot vor ihnen. Es ist bereits das siebte Opfer einer brutalen Mordserie, verstümmelt durch die Hand eines Täters, der es auf Prostituierte abgesehen hat. Die Polizei bittet die beiden Männer um Mithilfe – doch als Pawalet beobachtet wird, wie er von einem weiteren Tatort verschwindet, wird er plötzlich zum Hauptverdächtigen. Mit Lischkas Unterstützung ermittelt er im Untergrund weiter und stößt dabei auf einen florierenden Schwarzmarkthandel mit brisanten Fotografien, der ihn bis in die höchsten Kreise Wiens führt – und zu einem Geheimnis, das die Grausamkeit der Morde bei Weitem übertrifft …

Über die Autorin:

Britta Hasler, Jahrgang 1982, ist das Pseudonym der erfolgreichen deutschen Autorin Britta Habekost. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Stuttgart; ihr Studium finanzierte sie auf ungewöhnliche Art: als professionelle Domina. Diese Erfahrung verarbeitete sie unter dem Pseudonym Nora Schwarz in ihrem ersten Buch »Lessons in Lack«. Ihr kunst- und literaturgeschichtliches Studium inspirierte sie zu ihren Kriminalromanen »Das Sterben der Bilder« und »Bilder des Bösen«, die im Wien der Jahrhundertwende spielen.

Die Website der Autorin: www.britta-hasler.de

Bei dotbooks veröffentlichte Britta Hasler ihre Kriminalromane »Das Sterben der Bilder« und »Bilder des Bösen«, die auch im Sammelband »Die Toten von Wien« erhältlich sind.

Unter Nora Schwarz veröffentlichte sie außerdem bei dotbooks ihren Kriminalroman »Todestrieb« sowie ihre erotischen Romane der NYLONS-Serie aus dem dunklen Berlin der Nachkriegszeit, die auch im Sammelband »Dark Temptation – Gefährliches Spiel« erhältlich sind.

Unter Britta Habekost erscheinen bei dotbooks ihre Kriminalromane um die Mannheimer Ermittlerin Jelene Bahl:

»Ein dunkles Spiel – Der erste Fall«

»Eine dunkle Lüge – Der zweite Fall«

***

Originalausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Odor Zsolt

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-95824-991-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt. Diese Fiktion spiegelt nicht die Überzeugungen der Autorin oder des Verlags wider.

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Bilder des Bösen« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

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www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de

Britta Hasler

Bilder des Bösen

Kriminalroman

dotbooks.

Prolog

Samstag, 14. April 1906, 19.27 Uhr, Leopoldgasse, Wien

Als der kleine Bodo aus dem Wohnzimmer lief, beide Hände zitternd auf den Hosenboden gepresst und mühsam das Weinen unterdrückend, legte sein Vater den Rohrstock beiseite und trank mit zufriedenem Schnaufen einen Schluck Portwein. Ihm entging der entsetzte Blick seiner Ehefrau, die wie versteinert am anderen Ende des Zimmers an der Wand stand. Er stellte das Glas ab und sah sie an.

»Ist gut, Ilse. Du kannst dich wieder bewegen. Aber du wirst ihn nicht trösten, hörst du?«

Seine Frau löste sich zögernd aus ihrer Ecke neben dem Kamin. Wie eine Katze, die nicht weiß, ob eine Gefahr schon vorbei ist, stand sie unschlüssig am Rand des Teppichs.

»Du hältst mich für einen Unmenschen?«, fragte er.

Ilse schwieg, starrte ihn aber mit dem bebenden Blick an, den sie immer aufsetzte, wenn sie ihren Sohn nicht vor ihm beschützen konnte.

»Sag schon. Hältst du mich für einen Unmenschen?«, forderte er sie heraus.

Sie schüttelte den Kopf. »Du … musst nicht so hart zu ihm sein«, wisperte sie. »Er ist zehn.«

»Alt genug, um diese Dinge zu verstehen. Ich ziehe einen Sohn groß. Einen Mann. Kein degeneriertes Kaninchen.«

Er sah befriedigt, wie Ilse zusammenzuckte. Wenn sie Bodo doch nur nicht so verhätscheln würde! Eigentlich müsste er auch sie schlagen, damit sie nicht länger seinen Erziehungsidealen zuwiderhandelte. Aber beim Gedanken daran, seine Frau zu züchtigen, so wie er es mit seinem Sohn tat, wurde ihm ganz übel. In seiner Brust zog sich alles zusammen, und er musste schnell noch einen Schluck Portwein nehmen. Schlagartig war es vorbei mit seinem kleinen Triumph, und er spürte nur noch eine quälende Unruhe und Leere in sich. Er ertrug den Anblick des Rohrstocks nicht länger und legte ihn auf den Boden. Das Gefühl des glatten Bambus durchzuckte ihn wie ein Stromschlag. Ihm fiel ein, dass er noch etwas zu erledigen hatte. Etwas, das er seit Wochen vor sich herschob. Eine Sache, die mit jedem Tag dringlicher wurde und sein Leben immer mehr durcheinanderbrachte. Rasch stand er auf. »Ich muss noch einmal fort, Ilse.« Er trat auf sie zu und strich ihr über die Wange. Sie wich nicht aus, aber er sah in ihren Augen, dass sie es gern getan hätte.

»Ich will, dass unser Sohn sich in der Schule prügelt«, sagte er leise. »Dass er Fröschen den Arsch aufbläst oder meinetwegen Steine in Fensterscheiben schmeißt. All das wäre altersgemäß, verstehst du?«

Ilse nickte zaghaft. Er ergriff ihr schmales Kinn. Wie dünn sie geworden war. Missbilligend spürte er den Knochen unter ihrer gespannten, blassen Haut.

»Ich würde unseren Bodo niemals züchtigen, wenn er ein normaler Junge wäre. Und wenn sich das nicht ändert, dann müssen wir … ihn zu einem guten Arzt bringen. Und wenn es dieser blasierte Jude aus der Berggasse ist!«

Er löste sich von ihr und ging aus dem Zimmer. Es war eine ungewöhnlich warme Nacht für April, und aus dem nahen Augarten hörte er das ausgelassene Lachen von Frauen. Bis zur Karmelitergasse war es ein ganzes Stück, aber seine Erregung würde sich bei dem Spaziergang vielleicht auf ein erträgliches Maß abkühlen.

Er beschleunigte die Schritte. Die Abendluft war lau, im Westen leuchtete der Himmel über den Dächern noch ein wenig rosa. Man sollte ausgehen an einem solchen Abend! Im offenen Fiaker über den Ring fahren, an der Seite eine Frau, die für alles zu haben war. Mit einer Flasche Champagner in einem der Gärten sitzen und seine weinerliche, stumm klagende Ehefrau vergessen und natürlich auch die Missgeburt von einem Sohn.

Er atmete tief ein und schüttelte heftig den Kopf, um die Bilder loszuwerden. Mit pochendem Unbehagen merkte er, dass sie nichts als Zuckerguss waren über einem schimmeligen Kern. Seine Bedürfnisse waren andere. Und obwohl Wien in dieser Zeit von Frauen zu wimmeln schien, die sich darauf einstellten, so machte es die Sache doch keinesfalls besser. Im Gegenteil. Sie waren alle eine Gefahr für einen echten, standhaften Mann. An der Ecke der großen Pfarrgasse zögerte er. Dann bog er nach links ein, schließlich in die Große Sperlgasse, vorbei am Seifensiederhaus, und auf Höhe der Tandelmarktgasse begegnete ihm die erste Hure. Er erkannte ihre übertriebene Lässigkeit schon von Weitem. Wie ihn diese Weibsbilder doch anwiderten. Er sah genau, dass die Frau es auf ihn abgesehen hatte, und wechselte augenblicklich die Straßenseite. Doch dann gurrte ein leiser Ruf über die Straße. »Werter Herr, in dieser Nacht sollte niemand allein sein!« Er hörte das Klimpern von Glasperlen, ihre harten Absätze auf dem hallenden Pflaster. Außerdem erkannte er die Stimme. Erschrocken wandte er den Kopf.

Das war ja Mimi! Und sie benutzte genau denselben Spruch wie an jenem Abend, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah zu, wie der Frauenkörper sich wiegend auf ihn zubewegte. Dann erkannte auch sie ihn. Er ließ zu, dass sie ihre Hände auf seine Brust legte und ihn mit ihren großen, hungrigen Augen förmlich ansprang.

»Na, das nenn ich mal einen glücklichen Zufall! Und ich dachte schon, heute Nacht leistet mir keiner Gesellschaft!« Sie zeigte kurz ihre Zungenspitze und bog ihm ihr ausladendes Dekolleté entgegen. Ein Geruch von überreifen Früchten stieg von dort auf, und er schloss die Augen. Sie brachte seine Pläne durcheinander.

»Wolltest du zu mir, Schätzchen?«, sang Mimi. Sie trug ein eng geschnürtes Korsett, unter dem Rocksaum sah er ihre Knöchel, denn sie stand breitbeinig vor ihm wie ein Kerl. Er nickte. Es entsprach ja auch der Wahrheit. Nur dass Mimi ihn jetzt von seinen eigentlichen Plänen ablenkte. Sie knöpfte ihm den obersten Knopf des Gehrocks auf. »Na dann … aber sag mal, du willst doch bestimmt wieder die Sonderbehandlung, oder?«

Das Wort fuhr ihm durch Mark und Bein. Von einem Moment auf den nächsten brodelte ein irrsinniges Verlangen in ihm, das noch stärker war als seine Wut.

»He, spinnst du?«, zischte sie.

»Sei leise!«, befahl er. »Nicht auf der Straße!«

»Ist ja gut, werter Herr!« Sie zog ein beleidigtes Gesicht und zeigte die Gasse hinunter. »Gehen wir zu mir. Ist ja nicht mehr weit.«

»Gut.« Er war schlagartig erleichtert. Mimi hatte ein Zimmer in der Karmelitergasse. Ein schlichtes, sauberes Zimmer mit einem Bett und einer Badewanne, mit violetten Vorhängen und einem Papageienkäfig, den sie zudeckte, wenn sie Besuch empfing. Bei der Vorstellung dessen, was er dort tun würde, durchfuhr ihn ein heißer Schauer. Er würde es doch tun, oder? Nun, er wäre ohnehin zu ihr gegangen, da konnte er doch auch gleich ein letztes Mal …

Er straffte sich und folgte den rollenden Hüften der Dirne, die mit zielsicheren Schritten in die nächste Gasse einbog. Das dumme Weibsstück dachte doch nur an sein Geld! Und dennoch … sie besaß etwas, das er brauchte, das er bereit war zu kaufen, auch wenn es der größte Fehler seines Lebens war.

Sie zog einen Schlüsselbund hervor und öffnete lächelnd ein Hoftor. Darin war es stockdunkel, und ihre Schritte hallten als verzerrtes Echo von den Wänden zurück.

Mimi knipste eine trübe Lampe an. Und dann patschte sie ohne Vorwarnung voller Übermut auf seinen Hintern und sagte lachend: »Hast Glück, ich bin heute schon gut in Übung!«

April 1906

Clara schauderte beim Anblick ihrer abgestoßenen Schuhspitzen und des ausgefransten Rocksaums. Ihr Magen knurrte so laut, dass sie glaubte, den Widerhall sogar in ihrer Schädeldecke zu spüren. Konnte es wirklich sein, dass ihr Leben bereits jetzt in eine dieser Sackgassen geraten war, vor denen ihre Tanten sie so wortreich gewarnt hatten? Dabei bin ich doch erst 13, dachte sie und hätte es am liebsten in die Welt hinausgeschrien. Allerdings hatten die Tanten ihr niemals verschwiegen, dass es gerade die jungen Dinger am ärgsten traf, wenn man nicht aufpasste. Bleib anständig und sauber, dann bleibt dir das erspart, hatten Tante Therese und die garstige Emilie immer gesagt. Aber sie hatten nichts unternommen, ihr zu zeigen, wie das denn ging – anständig und sauber bleiben. Und das Geld, das Clara von dem jungen Offizier bekommen hatte, nahmen sie gerne. Neue Tischleinen waren davon gekauft worden und ein Karpfen, der Clara schwer im Magen gelegen war. Der Offizier wollte ja wirklich nichts Böses von ihr. Nur anschauen, hatte er gesagt. Im Abendlicht an einem Fenster, nackt, nur mit dem dünnen Samtband um den Hals.

»Bist eine Schönheit. Pass auf, dass die Künstler das nicht herausfinden, sonst kommst du gar nicht mehr zur Ruh’. Bist ja auch noch zu jung für die anderen Sachen. Maler sollte man sein …«

Ja, sie war schön, das wusste Clara. So schön wie Mama, die schon seit zwei Jahren tot war. Die hätte ihr sicher gezeigt, wie man das machte, das Anständigbleiben.

Die Tanten wollten sie nicht in der engen Wohnung haben. Immer wenn Clara zu Hause war, prasselte es Schimpftiraden. Was für ein Sauhund ihr leiblicher Vater doch gewesen war, nach dem Tod der Mutter einfach auf und davon, und noch dazu nach Italien. Mit einer Schauspielerin! Und sie mussten nun dafür sorgen, dass ein weiteres hungriges Maul gestopft wurde, dabei war ja nicht einmal für die beiden genug zum Essen da. Es war unerträglich. Geld müsste man haben.

Und das mit der Schule kam ihr vor wie ein Spott auf ihre Lage. Lernte man denn in der Schule etwas Gescheites, das einen davor bewahrte, übel zu enden?

Nachdem das mit dem Offizier passiert war, hatte Clara einen Plan gefasst. Sie wusste, dass es in der Leopoldstadt viele Künstler gab, und sie alle waren auf der Suche nach Modellen. Es hatte ihr gefallen, sich nackt betrachten zu lassen. Dabei hatte sie sich vorgestellt, wie man es wohl anstellte, einen Menschen zu malen. Vielleicht konnte sie so etwas auch lernen. Irgendetwas lernen, womit sich etwas anfangen ließ. Vielleicht war das mit dem nackten Posieren ja ein Anfang.

Was war denn schon dabei? Es war gewiss etwas ganz anderes als das, was die anderen Mädchen taten. Es war edel. Sie wurde verewigt, diente der Kunst. So wie die Frauen auf den französischen Gemälden, die in einem dicken Buch im Kunstsaal ihrer Schule abgebildet waren, das die Lehrer unter einem Tisch verstauben ließen und in das sie ein einziges Mal einen Blick hatte werfen können.

Also war sie durch das Viertel gezogen, auf der Suche nach den Künstlern. Sie gewöhnte sich eine bestimmte Körperhaltung an, einen speziellen Gang. Die Schaufenster längs der Straße spiegelten ihr ein staksiges Schweben wider, das, wie sie hoffte, unschuldig und ätherisch genug wirkte, damit die Richtigen auf sie aufmerksam wurden. Aber in einem Zeitraum von drei Monaten war nur ein einziger Künstler auf sie zugekommen. Ein magerer Mann mit Höhlenaugen und Hungeratem. Er hatte ihr das Geld für ein Abendessen bezahlt und sie mitgenommen in ein düsteres Souterrain. Clara musste sich nackt auf eine schäbige Matratze legen, beleuchtet vom diffusen Licht, das durch die kleinen Fenster hereinfiel. In den kleinen Ausschnitten konnte sie die Füße der Passanten vorbeieilen sehen, und es war ihr so vorgekommen, als wäre sie auf einmal unsichtbar für die Welt, obwohl doch der Maler seine dunklen, nervösen Augen auf sie gerichtet hielt und sie mit fahrigen Bleistiftstrichen skizzierte.

Herausgekommen war ein verstörendes Abbild ihrer selbst. Er hatte sie gemalt wie eine Sterbende, ausgemergelt und kantig. Clara hatte mit einem Mal geglaubt, einen Blick auf ihre Zukunft zu werfen, und ihr war vor Angst ganz kalt geworden.

Drei Wochen später bekam sie zufällig mit, wie der Künstler aus seinem Souterrain getragen wurde. Tot. Zu viel Opium, munkelten die Nachbarn.

Von da an beäugte sie die Mädchen auf der Straße ganz genau und auch die Männer, die in scheinbarem Müßiggang durch die Gassen schlenderten. Einige sprachen sie an. Warum denn ein so schönes Mädchen am helllichten Tage nicht bei seiner Gouvernante sei und Puppenkleider sticke.

Nur anschauen, war Claras Devise. Nackt anschauen, vielleicht ein bisschen anfassen, mehr nicht. Sie hatte nichts als Gelächter geerntet. So schön sei sie nun auch wieder nicht, dass man darüber seine anderen Wünsche vergessen könnte, sagte einer. Da dämmerte es ihr allmählich, dass sie die Grenzen dessen erreicht hatte, was anständig und sauber war, und dass sie bereits tief in der Sackgasse steckte, vor der Therese und Emilie sie keifend gewarnt hatten.

Kapitel 1

Donnerstag, 21. Juni 1906, 14 Uhr, Wien-Währing

Endlich hatte der Sommer ein Einsehen und schickte einen lauen Wind, der den Schweißfilm auf dem Gesicht von Elfriede Sutter abkühlte. Er fuhr sogar unter ihre Röcke, und sie spreizte unauffällig die Beine, damit diese wohltuende Luft darunter fahren konnte. Sie fühlte eine plötzliche Erleichterung zwischen den dünnen Unterröcken und den nackten Schenkeln, die sich anfühlte wie ein unvermitteltes Streicheln. Fast hätte sie wohlig geseufzt, doch das war nicht möglich, denn das Hausmädchen war in der Nähe und räumte den Kaffee ab.

»Lisa, du bringst mir gleich noch ein Sodawasser mit Himbeere, ja?«, sagte sie, ohne von der Zeitung aufzusehen.

»Sehr wohl, gnädige Frau.« Das zarte Geschirr klang in Lisas Händen fast wie der Gesang der Vögel in den Rhododendron-Büschen.

Elfriede Sutter hatte jedoch nur Augen für die Annoncen im Anzeigenteil der Neuen Freien Presse. Dort las sie, dass bei übermäßigem Appetit und schwerem Körperbau Trinkkuren mit dem berühmten Mineralwasser aus Vichy empfohlen wurden, das in diversen Wiener Apotheken verkauft wurde. Daneben prangte die Anzeige einer Diätischen Heilanstalt am Attersee. Und am Ende der Seite präsentierte ein Arzt das neu erfundene Konzept einer Schlankheitspille. Links davon war die Zeichnung einer äußerst fülligen Dame mit herabgezogenen Mundwinkeln zu sehen, auf der rechten Seite lächelte anscheinend die gleiche Dame, nur dass sie nun ausgesprochen mager wirkte. Elfriede Sutter seufzte. Wenn sie doch nur die Disziplin hätte, nicht so viel zu essen. Keine Schlankheitspille, keine Wasserkur und kein Fastentee, den sie nicht schon ausprobiert hatte. Nicht einmal das steife Spezialkorsett, das sie sich heimlich besorgt hatte, konnte dabei helfen, das wahre Problem auszuschalten. In wenigen Monaten würde es in der Stadt wieder die ersten Herbstbälle geben, und sie erinnerte sich qualvoll an vergangenes Jahr, an die mitleidigen Blicke der sanft gerundeten, schlanken Damen in den fließenden Kleidern. Sie hingegen hatte zwischen den anderen Frauen gewirkt wie eine fünfstöckige Sahnetorte. Sie dachte an ihren Mann, der nicht müde wurde zu betonen, wie herrlich er ihre Fleischmassen fand. Früher hatte er sich auch gerne hineingewühlt, wie er es ausdrückte, doch seit einem halben Jahr schien ihr Körperumfang irgendeine Grenze überschritten zu haben, denn Alfred hatte sie schon so lange nicht mehr begehrlich angefasst. Elfriede Sutter seufzte betrübt. Während sie noch trübselig über die einzelnen vielversprechenden Anzeigen las, kam Lisa mit dem Himbeer-Soda. Sie stellte ein Glas und die Karaffe auf den Tisch und sagte: »Das hier hat eben ein Bote abgegeben.« Sie reichte Elfriede einen großen Umschlag, auf dem nur Frau Sutter stand. Keine Adresse und kein Absender, nur ihr Name.

Sie drehte den Umschlag in den Händen. Vielleicht war es eine Einladung von einer Freundin, dachte sie und öffnete ihn mit dem Fingernagel, während sie das Mädchen fortwinkte. Sie zerrte in plötzlicher Erwartung am Inhalt und hielt im nächsten Moment einen glänzenden Bogen Papier in der Hand, gänzlich unbeschriftet. Sie drehte ihn um und sah, dass es eine Fotografie war.

Im nächsten Augenblick schien sich der Schatten im Garten zu verdichten. Der Apfelkuchen in ihrem Magen stieg hoch in die Speiseröhre. Es war, als würde eine eisige Faust auf einmal alle Organe zusammenpressen, und in ihrer Fassungslosigkeit schnellte Elfriede Sutter vom Stuhl hoch. Sie fragte sich im ersten Moment, ob sie vielleicht in der Mittagshitze eingeschlafen und irgendwie in einen bösen Traum hinübergerutscht war, denn das, was sie auf der Fotografie sah, konnte unmöglich Teil der Realität sein. Eine außerordentlich detaillierte Fotografie, die alles Wesentliche festhielt und nicht den kleinsten Zweifel ließ.

Das Bild zeigte das Innere eines Salons. Man sah einen Orientteppich auf dem Boden, eine wuchernde Palme am Rand und gerahmte Bilder an der Wand. Gegenstand der Abbildung war eine Récamiere aus Samt. Und auf dieser Récamiere … Elfriede schloss die Augen, doch das Bild ließ sich nicht vertreiben. Sie träumte keinesfalls.

Dort kniete in einem schrägen Winkel eine nackte, sehr junge Frau mit lockigem Haar. Sie trug nur nachlässig hochgezogene Strümpfe und hochhackige Schuhe und verweilte dort in einer äußerst provokanten Pose, den Po in Richtung des Fotografen gereckt, eine Hand fasste wollüstig an die Brust, und auf ihrem Gesicht lag ein verdorbenes Lächeln. Und diese Einladung wurde angenommen, denn neben der Frau hockte ein Mann in angriffslustiger Position. Ein Knie lag abgestützt auf dem Rand des Sitzmöbels, das andere Bein stand angewinkelt auf dem Teppich. Der Mann war ebenfalls nackt. Seine Rechte ruhte auf dem Hinterteil, das sich ihm anbot, die Linke stützte sich entschlossen in die Seite. Der Mann war bereit zum Koitus, sein Glied stand prall von ihm ab. Das Gesicht war nicht der Kamera zugewandt, er blickte erwartungsvoll auf den mädchenhaften Körper vor sich. Und trotzdem erkannte Elfriede ihn sofort.

Es war Alfred Sutter. Ihr Gatte.

Der Apfelkuchen kam ihr hoch und dem Gaumen gefährlich nahe. Hastig stürzte sie ein Glas Soda herunter, ließ sich zitternd auf den Gartenstuhl zurücksinken und hoffte, dass Lisa sie vom Haus aus nicht sehen konnte. Widerwillig betrachtete sie das Bild erneut und schnappte nach Luft. Hatte sich das Geschehen darauf in den letzten Sekunden verändert? War nicht das Glied ihres Mannes … noch näher an den obszön aufgestellten Hintern der Nackten gerückt?

Minutenlang saß Elfriede einfach nur da und starrte das Foto an. Ein Schrei formte sich in ihrem Mund, doch sie verschluckte ihn. Wie hätte das denn ausgesehen? Eine schreiende, Haare raufende Elfriede Sutter am Kaffeetisch in ihrem Gartenpavillon. Die Frau des bekannten, renommierten, erfolgreichen Modefabrikanten, völlig außer sich. Lisa würde angerannt kommen und fragen, was geschehen sei.

Eine Welle der Übelkeit schwappte ihr durch den Magen. Wie konnte Alfred so etwas tun? Wie er aussah auf diesem Bild … seine dünnen, behaarten Beine, das feiste Becken, von dem sein harter Penis abstand, der weiche, etwas weibische Bauch, die breiten Schultern. Elfriede bemerkte entsetzt, wie sich zu der grenzenlosen Empörung noch ein anderes Gefühl gesellte. Es war Sehnsucht. Plötzlich fühlte sie unter ihren Unterröcken wieder die sommerliche Schwüle. Sie hatte schon lange nicht mehr mit Alfred geschlafen, und in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr sie seine nächtlichen Besuche vermisste. Eine Weile war sie völlig hypnotisiert vom Anblick seines Genitals, das so nahe an der Scham dieses nackten Mädchens verweilte. Plötzlich wurde ihr klar, dass dieses Bild noch etwas anderes zeigte, etwas Unsichtbares. Ihr Mann hatte sich nicht nur hinter diese schamlose Weibsperson gestellt, um sich ablichten zu lassen. Das Bild war gewiss Teil einer Serie, und das bedeutete … Elfriede Sutter warf sich zur Seite und übergab sich lautlos würgend ins Rosenbeet.

Minuten später hatte sie sich etwas beruhigt und trank mit geschlossenen Augen das Himbeerwasser aus. Tränen strömten über ihre Wangen. Eine überwältigende Scham erfüllte sie. Da sah sie, dass sich in dem aufgerissenen Umschlag noch etwas befand. Ein kleines Stück Papier. Mit eigenartig schiefen Schreibmaschinen-Lettern stand dort:

Verehrte Frau Sutter, hiervon gibt es noch genügend Abzüge. Sie wissen bestimmt, was das bedeutet. Samstag um elf Uhr am Morgen. Treffen Sie mich am Grienzinger Friedhof, Haupteingang. Und bringen Sie 2000 Gulden mit. Malen Sie sich einfach aus, was passiert, wenn Sie nicht kommen.

Darum ging es also. Sie sollte erpresst werden. Aber warum schickte der Absender diese Fotografie dann nicht an Alfred? Ihn musste dieses Zeugnis doch am härtesten treffen. Warum bekam sie diesen Brief?

Was sollte sie nun tun? Heute war Donnerstag. Übermorgen sollte sie den Absender und Bewahrer dieses widerwärtigen Geheimnisses treffen. Der Gedanke war vollkommen abwegig. Sie war eine angesehene Frau. Undenkbar, allein und in dieser gedemütigten, ängstlichen Stimmung jemanden zu treffen, der zu so etwas in der Lage war und eine große Geldsumme von ihr erpressen wollte. Ihr brach erneut der Schweiß aus. Sie blinzelte und schaute in die Sonnenflecken, die auf der Zeitungsseite tanzten. Die Anzeigen für Diätpillen und Fastenkuren erschienen ihr mit einem Mal absurd und furchtbar banal. Doch dann fiel ihr Blick in dem Gewirr der Kästchen auf eine Anzeige ganz unten auf der Seite. Die war ihr vorhin noch gar nicht aufgefallen, und weil sie glaubte, sich zu irren, zog sie die Zeitung wieder zu sich und runzelte die Stirn. Diese Annonce schien sich zwischen die Produkte gegen die weibliche Verzweiflung verirrt zu haben und wirkte etwas deplatziert. Doch im selben Moment begriff Elfriede Sutter, dass sie ihre Rettung war. Dass sie an keiner besseren Stelle hätte auftauchen können. Hatte noch vor wenigen Minuten der Blick auf die angepriesenen Schönheitsmittelchen ihr Herz höherschlagen lassen, so war es nun diese Anzeige. Die Hoffnung wagte sich zurück in ihre vergifteten Gedanken. Am unteren Rand der Seite stand ein schmaler, länglicher Kasten mit den magischen Worten:

Detektei Rudolph Lischka und Julius Pawalet

Private Ermittlungen aller Art, diskret und preiswert. Lenaugasse 27 in der Josefstadt, 3. Stock.

Rasch stand sie auf, nahm die Zeitung mit und eilte zum Haus. In ihren Gemächern angekommen, rief sie mit mühsam erzwungener Ruhe: »Lisa, hilf mir mit dem Korsett! Ich gehe noch einmal aus!«

Donnerstag, 21. Juni 1906, 17.49 Uhr, Schlösselgasse

»Ein anständiger Mann sollte so etwas nicht tun. Am helllichten Tag.«

In Käthes Stimme waren ein gespielt tadelndes Gurren und ein lüsterner Einschlag. Julius Pawalet schloss die Augen und erlaubte ihr, von hinten seine Gürtelschnalle zu öffnen.

»Ich habe niemals behauptet, ein anständiger Mann zu sein«, knurrte er leise. Er hörte, wie Käthe vor ihn trat, mit raschen Griffen seine Hosenknöpfe überwand, und er erschauderte wegen der Leichtigkeit, mit der sie ihn auch diesmal wieder bezwang.

Nein, korrigierte eine Stimme in ihm. Du erlaubst ihr, dass sie dich bezwingt. Das ist ein großer Unterschied.

»Auf die Knie mit dir!«, befahl sie. Julius hielt die Augen fest geschlossen, solange er Käthe im Blickfeld glaubte. Er wollte sie nicht ansehen. Nicht, weil die junge Frau hässlich gewesen wäre, im Gegenteil. Aber sie entsprach einfach in keiner Hinsicht seinen Wunschvorstellungen. Es war nur ihre Stimme, die ihn interessierte, der Tonfall, der Klang ihrer Absätze auf dem Boden und letztendlich das, was sie mit ihm tat. Das Abbild der Frau, die sich hinter seinen geschlossenen Lidern, auf dem Nährboden seiner Fantasie, vor Käthe schob, war das, woran er sich eigentlich festhielt. Eine Frau, die so unerreichbar war, dass mit etwas Vorstellungsvermögen jede andere eine Platzhalterin für sie sein konnte. Alles in allem waren diese Versuche, dem Traumbild nahe zu sein, nichts als verzweifelte Ablenkung. Aber Julius Pawalet konnte es sich leisten, am helllichten Tag diesem kleinen Luxus nachzugehen.

Er sank auf die Knie und neigte den Kopf. Wenn doch in diesem Moment nicht Käthe, sondern die andere vor ihm stehen würde … Dann könnte er die Augen öffnen und würde das vor sich sehen, was ihn bis in seine Träume verfolgte. So aber musste er sich Käthes aufgeschürzten Röcken, den kessen Stiefelchen, ihren Strümpfen und dem ganzen Rest verweigern, um sich an diesem inneren Bild festzuhalten. Käthes Schritte umrundeten ihn. Ihre Hand landete auf seinem Nacken und drückte ihn nach vorne gegen die Bettkante. Es war ein festes Ritual, und er wusste, was gleich kommen würde. Sein ganzer Körper spannte sich an, der Unterleib erwachte. Und das Bild vor seinem inneren Auge wurde lebendig.

»Ich werde dir zeigen, was unanständige Männer zu erwarten haben!«, drohte Käthe.

Julius zuckte leicht zusammen. Nicht vor Lust, sondern vor Enttäuschung. Er war sich sicher, dass die andere in diesem Moment etwas ganz anderes zu ihm gesagt hätte. Trotzdem verharrte sein Körper in stiller Erwartung.

Doch in diesem Moment schallte ein lauter Ruf von der Straße hoch und drang durch das halb geöffnete, verhängte Fenster.

»Julius!«

Käthe schnalzte mit der Zunge. Julius zerbiss einen Fluch.

»Julius, komm runter!«, schrie es.

Er erkannte die Stimme. Und in seinem Bauch begann die Wut zu beben.

Warum wusste Rudolph, wo er war? Und wie konnte er es wagen, ihn derart zu demütigen? Es wäre allerdings keine Demütigung, wenn er sich nicht anmerken ließ, dass er tatsächlich hier war, im Zimmer von Käthe, dem beliebtesten Mädchen in der Schlösselgasse. Julius verfluchte sich, dass er sich für diese Zusammenkünfte keinen Ort gesucht hatte, der nicht nur eine Straße von seinem eigenen Zuhause entfernt lag. Aber wie hatte Rudolph Lischka – Julius’ Arbeitgeber, Vermieter und Freund in einem – ihn gefunden?

Er seufzte und öffnete die Augen. Durch die gelben Vorhänge fiel das Sonnenlicht in Käthes Zimmer und beleuchtete jedes einzelne Staubflöckchen in der schweren Luft. Was wunderst du dich?, dachte er. Der Mann ist ehemaliger Polizeiinspektor.

»Julius!«, schallte es wieder von der Straße hoch. »Ich weiß, dass du da bist! Wir haben Kundschaft!«

Julius drehte sich um und schaute entschuldigend zu Käthe, die unentschlossen am anderen Ende des Zimmers stand. Wenn er ehrlich war, hatte er dieses Treffen gar nicht gewollt. Es war … nur eine Zerstreuung, nichts weiter.

»Wird wohl heute nichts mehr, was?«, maulte Käthe.

»Nein, tut mir leid«, murmelte er und knöpfte sich die Hose zu.

Und von der Straße tönte es: »Wenn du dich nicht in einer Viertelstunde einfindest, kündige ich dir!«

Julius verdrehte die Augen. Er fischte ein paar Münzen aus der Hosentasche und legte sie aufs Bett. Sein Inneres schwankte zwischen Ärger und Erleichterung.

Er trat ans Fenster und spähte hinter dem Vorhang vorsichtig auf die Straße. Eben sah er den Freund über das Pflaster gehen, kopfschüttelnd und energisch. Die Sonne verschwand im gleichen Moment hinter einem staubgrauen Wolkenberg.

»Ein anderes Mal, ja?«, meinte Julius und strich Käthe einmal über die Wange. Sie lächelte schief. Er mochte das Mädchen. Sie war unkompliziert und einfallsreich, wenn auch ein wenig zu routiniert. Er verabschiedete sich und ließ sich Zeit, die hölzerne Stiege hinabzusteigen. Er war Rudolph Lischka ein loyaler Partner. Was aber nicht hieß, dass er sich übermäßig beeilen musste.

Als er an der Tür zum Hof stand, holte er das silberne Zigarettenetui aus der Hosentasche und strich im Windschatten ein Streichholz an. Eine Zeitungsseite raschelte über das Pflaster. Julius hob den Kopf und sah den plötzlich verhangenen Himmel. Sekunden später war es so duster wie in den Truhen, in denen die Wintergarderobe auf bessere Zeiten wartete.

Der Gedanke, sich nicht übermäßig zu beeilen, verkehrte sich schlagartig ins Gegenteil. Er hastete über den Hof in den dunklen Zugang zur Straße und sah einen Schatten, der von ebendieser Seite in den Korridor hereintrat. An der linken Wand des dunklen Durchgangs war das schmale Schaufenster eines extravaganten Handschuhmachers eingelassen, der im Erdgeschoss zur Straße hin einen Laden hatte. Der Ankömmling fühlte sich ertappt, denn er trat übertrieben interessiert vor die Auslagen und betrachtete die dunkelgrünen, burgunderroten und schwarzen Lederhandschuhe, die dort in kleinen Holzschachteln ausgestellt waren. Julius nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und lächelte belustigt. Der Mann wollte ganz sicher zu Käthe. Und das kleine Schaufenster des Handschuhladens war für ihn und viele andere verlegene Gäste dieses Hauses wahrscheinlich eine willkommene kleine Insel der Unverfänglichkeit.

Als Julius weiterlief, löste der Mann sich eilig vom Schaufenster und trat mit eingezogenen Schultern in die Tür des Geschäfts und verschwand im Innern. Es war ihm wohl zu peinlich, einem anderen im Hofdurchgang zu begegnen.

Julius trat auf die Straße und schlug den Kragen seines Jacketts hoch. Dann nahm er einen letzten tiefen Zug von der Zigarette, warf sie in den Rinnstein und ging los. In dem Moment, als er in die Lenaugasse einbog, löste sich der Straßenstaub in einem Geprassel kirschgroßer Tropfen auf. Schlagartig kam ein kühler Wind auf, Julius zog den Kopf ein und begann zu rennen. In seinem Unterleib hatte sich die Aufregung inzwischen gelegt.

Der dichte Regen stand wie eine graue Wand zwischen den Häusern, auf der Straße gurgelte das Wasser und ergoss sich in Dutzenden kleinen Bächen in die Kanalgitter.

Als er endlich den Hausschlüssel hervorzog, fühlte er sich, als wäre er eben aus dem Donau-Bad gestiegen. Oben angekommen, wollte er unbemerkt in sein Zimmer entkommen, aber die Tür zum Besucherzimmer stand offen.

Die Frau, die dort saß, sah aus, als brauchte sie eher einen Sauerstoffballon als einen guten Detektiv.

Offensichtlich war die Dame sehr aufgewühlt, denn Lischka saß nahe bei ihr, reichte ihr ein Glas Wasser und tätschelte ihre Hand. Der Anblick des völlig durchnässten Julius riss die neue Klientin allerdings aus ihrem atemlosen Keuchen. Überrascht starrte sie hinaus in den Flur, und Julius murmelte rasch, dass er sich beeilen würde. Auf dem Weg in sein Zimmer gab er sich ganz der spontanen Verachtung für die dicke Frau hin. Bei ihrem Aussehen sollte sie sich doch nicht wundern, dass ihr Mann sich ein anderes Weibsbild suchte. Wozu noch Geld für Detektive bezahlen?

In seinem Zimmer schlüpfte er in bequeme Kleidung. Er trat vor den Spiegel, um die feuchten, abstehenden Haare zurückzukämmen. Vor einem Dreivierteljahr war er noch ein blasser, abgemagerter Mann gewesen, der ebenso selten vor dem Spiegel stand, wie er Gelegenheiten bekam, anständig zu essen. Ohne festen Wohnsitz, im ständigen Klammergriff von Hunger und Armut. Und dann hatten sich diese quälenden Sorgen mit einem Schlag aufgelöst. Nun waren seine Wangen voller und das dunkle Haar dichter, und seine größte Sorge bestand darin, bei der Beschattung von verdächtigen Personen entdeckt zu werden. Julius seufzte. Fühlte sich so Undankbarkeit an?

In diesem Moment klopfte es sacht an seiner Tür. Lischka trat ein und betrachtete seinen Mitbewohner und Kollegen mit nachdenklichem Blick.

»Was?«, fragte Julius unwirsch.

»Du bist nicht in Stimmung«, stellte Rudolph fest. »Kann ich verstehen. Ich wäre es auch nicht, wenn man mich aus dem warmen Bett einer Hure aufgescheucht hätte. Wenn du keine Lust hast, mein Freund, dann ist es wohl besser, du bleibst hier. Ich schaffe das auch allein.«

Aber das ließ Julius sich nicht sagen. Kopfschüttelnd schob er Rudolph auf den Flur und schlug den Weg zum Büro ein. Niemals hätte er aus Faulheit seinem Partner die Arbeit zugeschoben. Wenn die Klientin ihnen den üblichen Auftrag erteilte wie erwartet, würde es zumindest schnell gehen, und es würde ein ruhiger Abend werden. Lischka öffnete die Tür zum Besucherzimmer und bat die Frau nach nebenan. An die Fenster trommelten die nassen Knöchel des Regens.

Die Frau schien sich ein wenig erholt zu haben. Lischka setzte sich hinter den Schreibtisch und wies der Klientin einen in Form und Bequemlichkeit exakt gleichen Sessel zu wie nebenan. Mit gequältem Gesicht presste sie sich zwischen die harten Kanten. Julius setzte sich neben sie.

»Das ist mein Partner Julius Pawalet«, stellte Lischka ihn vor. »Und das ist Elfriede Sutter. Sie hat ein …« Ihm schienen die Worte zu fehlen. Er schob rasch einen großen Briefumschlag über den Tisch und bedeutete Julius hineinzuschauen. Dann vollendete er den Satz: »… nun, ein Problem etwas pikanter Natur.«

Julius war für einen Moment sprachlos, als er die ordinäre Fotografie sah. Elfriede Sutter knetete ihr Taschentuch und wagte kaum, den Kopf zu heben.

»Können Sie sich das erklären, gnädige Frau?«, fragte Lischka mit seinem sanften, warmherzigen Tonfall, den Julius niemals würde imitieren können.

Frau Sutter schüttelte den Kopf. »Wie denn? Denken Sie, mein Mann erzählt mir, was er da treibt?« Dann brach sie erneut in hemmungsloses Schluchzen aus. »Ich weiß nicht, was ich tun kann!«, weinte sie. »Es hat mich wie ein Schlag getroffen … was soll ich denn jetzt machen?«

Julius schenkte der schluchzenden Frau ein Glas Wasser ein und drückte es ihr einfach in die Hand, die sich die ganze Zeit krampfhaft öffnete und schloss. Und Lischka tat das, was er immer tat, wenn die Klienten sich von Wut und eingebildeten Szenarien davontragen ließen. Er sprach einfach in das Weinen und Schluchzen hinein und zwang Elfriede Sutter, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

»Was wir Ihnen anbieten können, gnädige Frau, ist Folgendes. Wir können versuchen nachzuforschen, wo diese Fotografie aufgenommen wurde. Und selbstverständlich werden wir Sie am Samstag zum Grienzinger Friedhof begleiten. Dann werden wir ja sehen, wer kommt.«

Frau Sutter hob den Kopf. »Das würden Sie für mich tun?«

»Na, irgendwo müssen wir ja anfangen, nicht?«, versuchte Julius sich an einer Aufmunterung. »Aber machen Sie sich nicht allzu große Hoffnungen. Selbst wenn es uns gelingt herauszufinden, wer Sie erpresst, können wir natürlich trotzdem nicht dafür garantieren, dass dieses Foto nicht doch an die Öffentlichkeit gelangt. Man kann so etwas ja beliebig oft vervielfältigen. Und wer weiß? Vielleicht hat sich Ihr Gatte ja noch zu anderen Motiven hinreißen lassen.« Er schnippte gegen das Bild. Elfriede Sutter zuckte zusammen, wie erwartet.

»Er scheint ja auch geeignet zu sein für dieses … ähm, Genre.«

»Was … erlauben Sie sich?«, hauchte die Frau.

Lischka räusperte sich. Doch Julius warf einen verärgerten Blick über den Schreibtisch.

»Frau Sutter«, sagte er. »Sie sollten vor allem realistisch sein. Ich will damit nur sagen: Wir werden alles Erdenkliche tun, um Ihnen zu helfen. Nur hoffe ich, Sie sind sich darüber im Klaren, dass es ein ziemlicher Aufwand ist, diese Dummheit wieder vollständig auszubügeln. Bitte erwarten Sie das nicht von uns. Wir können nicht am Rad der Zeit drehen.«

Lischka blieb wie immer diplomatisch und sagte: »Ich muss meinem Kollegen leider recht geben.«

Frau Sutter nickte. Man einigte sich darauf, sich so bald wie möglich wieder bei ihr zu melden, bevor es am Samstag in Richtung Grienzing ging. Lischka reichte ihr eines seiner eigenen, frischen Taschentücher und geleitete sie dann zur Tür. Julius hörte die Wohnungstür schlagen. Rudolph ging, wie bei jedem Klienten, der etwas aufgewühlt war, mit hinunter auf die Straße und half dabei, einen Fiaker zu finden.

Als er in die Wohnung zurückkehrte, dämmerte es bereits. Julius saß immer noch auf seinem Stuhl im Büro.

»Was denn? Keine Tagesordnung?«, fragte Lischka mit gerunzelter Stirn. »Kein Abendessen? Keine Schallplatte auf dem Grammophon? Hängt der Haussegen etwa schief?«

Seine Stimme war kälter als der Neujahrsmorgen, an dem sie gemeinsam mit knapper Not den Angriff des wahnsinnigen Bildermörders überlebt hatten.

Julius hob die Hände. »Ich habe unsere Klientin vergrault.«

»Nein, das hast du nicht. Glaub mir, Julius, diese Macht hast du zum Glück noch nicht über das Geschäft. Ich werde diesen Fall aufklären, und du darfst dich gerne heraushalten. Ich überlege mir gerade, ob es nicht besser wäre, derlei Dinge allein zu erledigen.«

Julius seufzte und sah seinen Freund an. »Es tut mir leid, Rudolph. Ich weiß, dass ich Frau Sutter gegenüber sehr respektlos war.«

»Nicht nur ihr gegenüber!«, zischte der ehemalige Inspektor. »Auch allen anderen, und das eigentlich, seit wir diese Detektei zusammen führen. Was ist los mit dir? Verachtest du diese Menschen so sehr, weil sie ein Eheleben führen, das in die Brüche geht?«

»Ich verachte sie nicht …«, druckste Julius herum.

»Wie nennst du es dann, wie du dich aufführst? Oder verachtest du mich, weil ich dir keine besseren Fälle bieten kann? Es tut mir leid, dass wir keinen Serienmörder mehr jagen oder eine international operierende Kunstfälscherbande.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Und es tut mir leid, dass dich dieses Leben so anödet, dass du Zerstreuung bei einer Hure suchen musst.«

»Zerstreuung?«, echote Julius. »Wenn du dich schon in meine Angelegenheiten mischst, dann gib wenigstens zu, dass du selbst keinerlei Ahnung davon hast. Sonst würdest du es nicht Zerstreuung nennen.« Er ärgerte sich über Rudolphs gleichgültiges Gesicht. »Und du würdest mir nicht nachlaufen wie ein gestrenger Vater, wenn du dich nicht in deinem Witwertum so herrlich gemütlich eingerichtet hättest. Glaub mir, deine Charlotte sieht es schon nicht, wenn du dich auch einmal vergnügen würdest. Und dann wärst du vielleicht nicht so unerträglich korrekt!«

Im gleichen Moment bereute er seine Worte.

Ein lauter Streit, Aggressionen, Vorwürfe – das war nicht die Art von Rudolph Lischka. Er begnügte sich damit, auf dem Absatz umzudrehen und in seinem Zimmer zu verschwinden. Wo er vielleicht weinte, dachte Julius und biss sich hart auf die Innenseite der Wange. Du bist ein Idiot, dachte er.

Rudolph Lischka hatte seine große Liebe im Kindbett verloren und seit ihrem Todestag vor drei Jahren keine Frau mehr angesehen geschweige denn angerührt. Julius respektierte das heilige Andenken, das Lischka an seine Frau bewahrte. Aber manchmal hatte er das Gefühl, dass seit Charlottes Tod weibliche Wesen in Rudolphs Augen nur Nichtigkeiten waren.

Er wartete eine Stunde und hoffte, dass sein Freund ihm vergeben würde. Dann ging er in die Küche und bereitete ein kaltes Abendessen zu. Als Aufschnitt, Käse, Brot und Bier auf dem Tisch im kleinen Wintergarten standen, klopfte er an Rudolphs Tür.

»Hast du Lust, mit einem gefühllosen Trottel zu Abend zu essen?«, seufzte er gegen das Holz. Die Tür wurde von innen aufgerissen, und er begegnete dem eindringlichen Blick seines Freundes.

Der sagte: »Das Schlimmste an diesem gefühllosen Trottel ist, dass er im Großen und Ganzen recht hat.«

Mit der Erleichterung kehrte auch Julius’ Hunger zurück. Doch bevor er nach einem Stück Wurst griff, murmelte er eine Entschuldigung in Lischkas Richtung. Der nickte sacht und sagte: »Tja, mein Freund. In meiner Ehe war es genauso. Ständig mischt man sich in den Lebensbereich des anderen ein. Das kann nicht gut gehen.«

»Das würde ja auch hervorragend zu dem Gewäsch unserer Nachbarn passen«, sagte Julius grinsend. »Die denken ohnehin, dass wir beide ein Attentat auf die bürgerliche, heterosexuelle Ehe darstellen.«

Eine Weile aßen sie schweigend. Die Fenster im Wintergarten waren geöffnet. Draußen sang eine Amsel. Ab und an erklang leichtes Platschen, wenn von dem Kastanienbaum im Hinterhof Wasser auf die Pflastersteine tropfte. Das Gewitter hatte sich verzogen. Da zerriss das Schrillen der Türklingel die abendliche Ruhe.

Lischka ging zum Fenster und sah hinaus. Dann drehte er sich mit einem Gesichtsausdruck um, in dem sich Verwunderung und Belustigung die Waage hielten. »Rate mal, wer unten steht.«

»Ein Fotograf auf der Suche nach neuen Talenten?«, vermutete Julius.

»Es ist Leutnant Tscherba. Und er ist so nervös wie jemand, der dringend wohin muss.«

In Lischkas Stimme lag unüberhörbar Verachtung für Leutnant Tscherba, ehemaliger Vorsteher der k. k. Schlosspolizei, nun leitender Kriminalinspektor im ersten Bezirk. Eine Position, die Lischka in 20 Jahren Dienst und mit einer ansehnlichen Aufklärungsrate niemals erreicht hatte. Julius hatte Tscherba zum letzten Mal an seinem Krankenhausbett gesehen, als der ihm gesagt hatte, dass im Kunsthistorischen Museum ein Untersuchungskomitee eingerichtet werden würde, nachdem herausgekommen war, dass dort dutzendweise Bilder gefälscht und die Originale verkauft worden waren. Das war Anfang Januar gewesen. Seit diesem Tag fragte er sich ununterbrochen, was aus den 28 gefälschten Gemälden werden würde, die im Museum hingen, ohne dass die Besucher davon wussten.

Bis das Untersuchungskomitee, das sich mittlerweile auf ganz Europa ausgeweitet hatte, die Originale ausfindig machen würde, durfte niemand erfahren, dass diese Gemälde Hunderte Jahre zu jung waren. Männer wie Julius Pawalet oder auch Lischka, der Mann, der gerade an ihrer Tür geklingelt hatte, der Kunstkenner Blauenstein und diverse Leute vom Hof bis hin zum Kaiser selbst waren nun Geheimnisträger und mussten abwarten, bis die 28 Gemälde wieder nach Wien zurückfanden. Und dann war da noch der Hauptschuldige an diesem Fall. Der ehemalige Hofrat Viktor von Schattenbach, der im Gefängnis saß und sich an seinem eigenen Schweigen berauschte. Er war der Einzige, der wusste, auf welchen Wegen die Gemälde verschwunden waren. Er und seine Frau Luise.

Julius dachte mit einer Mischung aus bitterer Wehmut und kitzelndem Abenteuerdrang an diese Geschichte. Was würde er dafür geben, bei der Auffindung der gestohlenen Meisterwerke mithelfen zu dürfen!  

Kapitel 2

Donnerstag, 21. Juni 1906, 20.07 Uhr, Lenaugasse

»Immer noch hinter Serienmördern und Kunstfälschern her?«, feixte Tscherba, als er die Detektei betrat und die beiden Männer betrachtete.

Rudolph Lischka hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte den Leutnant erwartungsvoll an. »Was verschafft uns diese unverhoffte Ehre?«, fragte er. Es klang nicht ganz so respektvoll, wie er sich noch in alten Zeiten angehört hätte. Sein Bruch mit der Wiener Polizei war einhergegangen mit der Geringschätzung aller, die Uniform trugen. Und besonders gegenüber Tscherba empfand er eine Verachtung, die weit zurückreichte. Aber im Gesicht des Leutnants zuckte eine schlecht verhohlene Unruhe, und das war etwas, das Rudolph dem Mann nicht zugetraut hätte.

»Was denn, hoffen Sie, dass mein Anliegen so kurz ist, dass Sie mir keinen Stuhl anbieten müssen?«, fragte Tscherba gespielt gekränkt.

Julius winkte Tscherba ins Besucherzimmer und bot ihm einen Stuhl an.

Tscherba ließ sich geschmeidig in den harten Sessel sinken und legte seine gepflegten Finger aneinander.

»Also, Tscherba, ich muss Sie enttäuschen«, preschte Lischka vor. »Wir jagen Ehebrecher, und manchmal klären wir auch Fälle von Diebstahl und Veruntreuung auf.« Er warf einen amüsierten Blick auf Julius, der fast sprungbereit auf der Kante seines Stuhls saß. »Mein geschätzter Kollege ist mitunter sehr traurig, dass keine Serienmörder mehr unseren Weg kreuzen. Ich persönlich bin froh, wenn es in dieser Hinsicht nichts zu tun gibt. Was also können Sie von uns wollen?«

Tscherba lächelte dünn und richtete den Blick auf Julius. »Herr Pawalet, sagen Sie – denken Sie noch oft an die Fälscheraffäre im Kunsthistorischen Museum?«

Lischka schüttelte ungläubig den Kopf, als er das Glänzen in Julius’ Augen sah.

»Natürlich tun Sie das«, sagte Tscherba. »Sie fragen sich wahrscheinlich, ob es in der Sache Fortschritte gibt. Es muss sehr frustrierend sein, außen vor zu sein. Wo Sie doch den Stein ins Rollen gebracht haben.«

»Sind Sie hergekommen, um mich zu quälen?«, erwiderte Julius überraschend gelassen.

»O nein, im Gegenteil. Ich bin hier, um Ihnen meine Hilflosigkeit zu gestehen.«

Lischka hob den Kopf. »Sie? Hilflos?«

Tscherba nickte. »Ich will gleich zur Sache kommen. Ich habe keine Neuigkeiten zum Kunsthistorischen Museum. Aber es gibt eine andere Geschichte. Eine grässliche Sache.«

»Moment!« Lischka hob die Hände. »Ich sagte doch, dass unsere Ehebrecher genug Aufregung in unser Dasein bringen.«

»Ich habe mich wohl in Ihnen getäuscht, Lischka. Ich habe angenommen, dass es Ihnen eine Ehre ist, wenn man Sie von höchster Stelle um Hilfe bittet. Kitzelt das nicht an Ihrem Ermittlerherz?«

»Und Sie?«, erwiderte Lischka. »Kitzelt es Sie in Ihrer Hand, dass Sie mir unbedingt Honig ums Maul schmieren wollen? Warum klären Sie Ihren Kriminalfall nicht selbst auf?«

»Sprechen Sie jetzt von der Ehre oder vom Herzen?«, mischte sich nun auch Julius ein. »Meinen Freund kann man mit Ehre nicht mehr hinterm Ofen hervorlocken. Die Zeiten sind vorbei. Sie brauchen also ein stärkeres Argument.«

Tscherba legte wieder seine Finger aneinander und senkte den Kopf. »Wie wäre es mit dem Argument, dass Ihre Hilfe unschuldiges Leben retten könnte. Haben Sie in den letzten Wochen die Zeitung gelesen?«

»Haben wir«, sagte Julius. »Aber wir wissen doch nur zu gut, dass die Presse ihre ganz eigene Wahrheit verbreitet. Es dürfte also unwesentlich sein, ob wir die Zeitung gelesen haben oder nicht.«

Lischka musste seinem Freund recht geben. Selbst wenn in der Presse etwas über eine schreckliche Mordserie stand – wenn Tscherba sie um Hilfe bat, dann musste es um die Ermittlungsarbeiten weit schlimmer stehen, als es die Wiener jemals erfahren würden. In diesem Moment erhob sich Tscherba aus seinem Sessel und faltete die Hände hinter dem Rücken.

»Es ist mir leider nicht gestattet, allzu sehr ins Detail zu gehen, meine Herren. Das, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, muss reichen. Wenn ich Sie nicht überzeugen konnte, dann belästige ich Sie nicht länger. Wenn doch, dann sollten wir heute Abend noch einen kleinen Ausflug unternehmen.«

Donnerstag, 21. Juni 1906, 22 Uhr, Sensengasse

Eine halbe Stunde später standen sie an einem Ort, den Rudolph Lischka in seinem alten Beruf fast täglich, Julius jedoch noch nie betreten hatte: der Sektionssaal in der Sensengasse. Auf der Straße war es nach dem Gewitter immer noch angenehm warm. Doch davon war im Pathologischen Saal im Keller des Gebäudes nichts mehr zu spüren. Die seifig gelben Kacheln, die chemisch stinkende Kälte, das Hallen ihrer Schritte auf der Steintreppe – all das war eine feindliche Welt, die Julius frösteln ließ. Er hielt sich dicht neben Rudolph, als könnte etwas von dessen Ruhe auf ihn übergehen. Auch für Tscherba schienen diese Hallen ein vertrautes Übel zu sein. Routiniert öffnete er Türen und führte sie durch geflieste Gänge und Treppen in den Keller. Aus der Tiefe des Gebäudes schallte eine verzerrte Melodie zu ihnen.

»Hört Dr. Precher immer noch Bach, wenn er seziert?«, fragte Lischka.

Tscherba öffnete eine letzte Tür. Sofort sah Julius die Stahltische, auf denen die Konturen der Toten unter Tüchern lagen, körperlose weiße Dünen. Am hinteren Ende des Raumes stand ein Grammophon auf einem kleinen Tisch. Dr. Precher war offensichtlich der Meinung, dass die Präludien von Bach eine belebende und beruhigende Wirkung auf diejenigen ausübten, die dem Tod so nahe kamen. Die kühle, abgezirkelte Melodie passte auf seltsame Art und Weise in diesen Sektionssaal, als sei sie eigens für diese Sphären komponiert worden.

Dr. Precher selbst saß neben dem Grammophon und aß ein belegtes Brot.

»Ich wusste, dass Sie zu dritt zurückkommen werden, Tscherba!«, rief der Pathologe mit vollem Mund, legte das Brot weg und stand auf. Er eilte auf Julius zu, ergriff seine Hand und drückte sie mit festem Griff. Dr. Precher war ein großer, hagerer Mann mit vollem, grauem Haar, der sich wie viele der jüngeren Generation dem ausladenden Backenbart verweigerte. Julius’ Hand fühlte sich im Griff des Arztes an wie im Innern eines toten Tintenfischs. Er dachte an das Brot, das auf dem Tischchen lag, direkt auf der Schellackhülle, und ein kleiner Würgereiz kroch seinen Hals hoch.

»Sie sind das findige Kerlchen, das diese fabelhafte Theorie zu den armen Teufeln präsentiert hat, die vor einem Dreivierteljahr auf meinen Tischen lagen!«, donnerte er los und schlug Julius die andere Hand auf den Rücken. »Mal sehen, was Sie zu dieser hier sagen.«

Er wandte sich um, ergriff den Zipfel des Lakens und zog ihn zur Seite. Der flache Körper darunter bekam eine Gestalt, allerdings nur bis knapp unter den Rippenbogen. Julius wusste nicht, warum er etwas besonders Grauenhaftes erwartet hatte, aber die tote Frau, die auf der blank polierten Metallplatte lag, zeigte keinerlei Verstümmelungen. Er erschrak dennoch heftig. Das Gesicht … irgendetwas stimmte mit dem Gesicht nicht. Dabei war es unversehrt. Ein kleiner, etwas aufgeworfener Mund mit Resten von rotem Lippenstift, die breite Nase und die hohen Wangenknochen wurden eingerahmt von roten Locken. Ihre Brüste waren kaum mehr als weiche Erhebungen auf einem schmalen Brustkorb, an dem jede einzelne Rippe überdeutlich hervortrat. Für einen Moment glaubte Julius, dass er die Frau – eigentlich war sie mehr ein Mädchen – schon einmal gesehen hatte.

Dr. Precher trat neben die Leiche und strich eine rötliche Haarsträhne aus ihrer bleichen Stirn.

»Die Wievielte ist das jetzt?«, stieß Leutnant Tscherba hervor.

»Die Siebte.« Precher seufzte. »Und die Jüngste. Sie ist kaum älter als 16.«

»Tja, in diesem Gewerbe ist das Alter egal. Sie sterben, weil sie leichtsinnig sind.« Tscherbas Stimme war kälter als der desinfizierte Steinboden.

»Die Kleine war Prostituierte?«, fragte Rudolph Lischka.

Dr. Precher nickte. »Ihr Name ist Rosalie Mallnitz. Gefunden wurde sie in einer billigen Absteige im Alser Grund.«

Julius trat näher an den Sektionstisch. Er konnte keine tödlichen Verletzungen ausmachen. »Was ist die Todesursache? Wurde sie vergiftet?«

»Sie verblutete.« Dr. Precher zog wieder am Laken und enthüllte den Körper der Leiche nun ganz. Lischka zog gequält die Luft ein.

»Sehen Sie diesen strangförmigen Bluterguss unter den Brüsten?« Dr. Precher deutete mit seinem Gummihandschuh auf den violetten Streifen über den kindlichen Rippen. »Er hat sie festgebunden, und ich nehme mal an, dass er wollte, wie sie dabei zusah.« Dann hob er den verstümmelten rechten Unterarm des Mädchens an. »Wenn man jemandem die Hand abschneidet, tritt der Tod innerhalb von … sagen wir mal, höchstens zehn Minuten ein. Man verblutet langsam. Schneller würde es gehen, wenn man beide Hände gleichzeitig abtrennt, aber das war hier nicht der Fall.« Er hob nun auch den linken Unterarm an. Das Licht der riesigen Kugellampe über dem Seziertisch fiel auf einen blutleeren Stumpf. »Sehen Sie die leichten, dunklen Verfärbungen am Stumpf der Rechten? Die hat er zuerst abgeschnitten. Diese winzigen Schatten hier sind beginnende Blutergüsse, also eine Vitalfunktion. Am linken Handgelenk fehlen sie gänzlich. Die hat er entweder ganz kurz vor ihrem Tod abgetrennt oder post mortem.«

Julius gefiel die behutsame Geste, mit der Precher die beiden Armstümpfe auf den Metalltisch zurücksinken ließ.

Lischka räusperte sich. »Mit was wurden sie denn abgetrennt?«, fragte er.

»Nun, der Schnitt ist glatt und rasch durchgeführt worden«, sagte der Pathologe. »Ich würde sagen, mit einem kleinen Beil, wie es die Fleischer verwenden. Im Übrigen haben wir bei den anderen Leichen nicht die exakt gleichen Umstände. Zwei der Frauen wurde zuerst die Linke abgetrennt, und diese beiden waren Linkshänder, was ich am Muskelgewebe der linken Rumpfseite gut erkennen konnte. Dieses Detail ist sicher interessant für Ihre Ermittlungsarbeit.«

»Warum haben Sie uns gerufen?«, fragte Julius.

Tscherba wedelte ungeduldig mit den Händen über der Toten hin und her. »Na, jetzt gehen Sie nicht auf Lorbeerfang, Pawalet! Sie waren im letzten großen Mordfall, der diese Stadt erschüttert hat, der Held. Es ist ja nun nicht so abwegig, dass Sie auch ein zweites Mal … nun, den richtigen Riecher haben.«

Julius war fassungslos. »Sie wollen von mir wissen, ob diese Todesart mich an irgendein Gemälde erinnert?«

»Nein, ich will wissen, ob es Sie an überhaupt irgendwas erinnert. Dass wir keinen zweiten Bildermörder haben, ist mir auch klar. Lischka, was sagen Sie?«

Rudolph wandte sich von der Leiche ab und stellte sich neben das Grammophon. Er hob die Nadel von der Platte, und die augenblickliche Stille im Sektionssaal senkte sich wie eine geflüsterte Drohung auf die abgedeckten Toten ringsum. Julius hatte keinen größeren Wunsch, als wieder in die laue Sommernacht hinaufzusteigen. Er hob die Schultern und sah Hilfe suchend zu Dr. Precher.

»Ehrlich, ich weiß nicht, was Sie von uns wollen«, sagte er und versuchte hartnäckig, die aufkeimende Unruhe in sich zu unterdrücken. Irgendetwas war mit dieser Leiche, das in seinem Innersten einen Widerhaken ausgeworfen hatte.

Tscherbas Schritte hallten von den Wänden wider, als er begann, im Raum umherzugehen. Seine Hände führten ein nervöses Ballett auf. Julius hätte nie gedacht, dass die eisige Beherrschung des Leutnants einmal von einer derartigen Erregung durchbrochen werden könnte.

»Meine Herren, Sie sehen mich beschämt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen müsste, aber im Namen der Wiener Polizei muss ich leider gestehen: Wir wissen nicht mehr weiter. Dieses junge Ding ist nun das siebte Opfer in einer Mordserie, die seit Mitte April andauert. Das sind jetzt gut zwei Monate.« Tscherba trat an das vergitterte Kellerfenster. Oben auf der Straße liefen Passanten vorbei, ihre Schatten huschten bis in den Sektionskeller. »Sie können sich sicher denken, dass eine ermordete Hure nicht unbedingt das Mitgefühl der Bevölkerung weckt. Die Mordrate unter Prostituierten war und wird immer höher sein als in anderen Schichten der Gesellschaft. Aber wenn sich solche Fälle häufen … nun, dann entsteht Unruhe. Und eh man sichs versieht, werden diese toten Mädchen zum Beweis dafür, dass unsere Monarchie mal wieder versagt hat. Sie wissen ja, wie das ist. Treten Sie inmitten einer unzufriedenen Menge ein paar Tauben, und schon haben Sie einen Volksaufstand.«

Lischka suchte Julius’ Blick. Der senkte den Kopf. Warum beschlich ihn bei diesem Mädchen auf dem Stahltisch nur so ein seltsames Gefühl?

Er ließ den Tag, der hinter ihm lag, noch einmal Revue passieren. Ob Käthe die Kleine kannte? Die Prostituierten hatten doch eine Art Netzwerk, in dem sich alles herumsprach. Er beschloss, sie danach zu fragen. In seinem Kopf kam die Kette der vorbeiziehenden Bilder schlagartig zur Ruhe. Im selben Moment sagte Lischka seelenruhig: »Leutnant Tscherba, ich weiß ja, dass Sie erwarten, dass ich mich geehrt fühle, wenn Sie mich um Hilfe bitten. Aber … nein. Ich kann mich bei der Aufklärung dieses Falles nicht …«

»Wir sind dabei!«, platzte es aus Julius heraus. Seine Worte gerieten etwas zu schrill in dem gekachelten Gewölbe. »Wir helfen Ihnen bei der Ermittlung.«

»Julius!« Lischka drückte seine Enttäuschung durch ein Kopfschütteln aus.

Dr. Precher schob den Rest seines Brotes in den Mund und nickte erfreut.

Und Leutnant Tscherba, wieder ganz die Ruhe selbst, nickte ebenfalls. Auf seinem Gesicht breitete sich ein dünnes, wissendes Lächeln aus, als wäre er ein Jäger, der die Reaktion eines Beutetiers ganz genau vorhergesehen hatte.

»Schön«, sagte er. »Dann sprechen wir morgen in meinem Büro am Schottenring.«

Julius wandte sich zu Lischka um, der aussah wie ein geschlagener Faustkämpfer, der sich entscheidet, vor dem endgültigen K. o. aus dem Ring zu steigen. Julius ergriff den Ellbogen seines Freundes und zog ihn Richtung Tür.

Auf dem Weg durch das stille Gebäude schwieg Lischka. Erst vor der Tür, als sie wieder an der frischen Luft standen, ließ er sich gegen die Hauswand sinken und sah Julius resigniert an.

»Und das entscheidest du jetzt einfach so?« Er klang erschöpft und gereizt zugleich. »Warum? Weil dir langweilig ist? Tscherba ist nicht unser Freund, siehst du das denn nicht? Ich habe mir geschworen, dass ich derartige Fälle nicht mehr aufkläre, Julius. Aber noch mehr als das habe ich mir geschworen, dass ich nie wieder mit Leuten wie ihm zusammenarbeiten werde. Und ich für meinen Teil werde mich auch daran halten. Du kannst ja …«

»Rudolph!«, unterbrach Julius den Redeschwall. »Hast du sie denn nicht erkannt?«

»Wen soll ich erkannt haben?«

»Die Tote! Rosalie Mallnitz. Sie ist das Mädchen auf der Fotografie von Alfred Sutter.«

April 1906, Prater

Eines Tages, es war ein warmer Mittag Anfang April, geschah etwas, das Claras Mut unverhofft wieder aufkeimen ließ. Sie saß unter einem dicken Kastanienbaum am Rande des Praters, erschöpft vom Ausschauhalten, als vor ihr eine geschlossene Kutsche mit hellblauen Vorhängen hielt. Die Tür öffnete sich, und ein Mann beugte sich heraus. Und er sagte etwas, das für Clara völlig unerwartet kam.

»Na, Mädel. Bist du die schöne Kleine, in die jeder anspruchsvolle Künstler seine Hoffnung legen sollte?«

Sie verstand zuerst nicht, was der Mann meinte.

»Na, hier soll’s ein Mädel geben, das man bloß anschauen darf. Zu schön, dass es sich die armen Stümper leisten könnten, die eigentlich nach einer so außergewöhnlichen Muse suchen.« Er taxierte mit wohlwollendem Lächeln ihre Gestalt. »Bist du das?«

Clara nickte. Der Mann sah nett aus. Er trug einen feinen, braunen Anzug, dessen Farbe sie an Maikäfer denken ließ. Konnte es tatsächlich sein, dass ihre Schönheit sich herumgesprochen hatte? Dass da einer von außerhalb kam, um sie einem richtigen Künstler vorzustellen? Vor Aufregung wurde sie ganz unruhig.

»Magst dich ein bisschen zu mir in die Kutsche setzen?«, fragte der Mann. »Dann erklär ich dir, warum ich hier bin.«

Immer noch ein wenig zögerlich kletterte Clara in die Kutsche. Sie hatte Hemmungen, ganz allein mit einem Fremden auf so kleinem Raum zusammen zu sein. Aber der Mann war distanziert und überaus höflich und erzählte ihr von einem exzentrischen Künstler, der auf dem Land lebte und sehr menschenscheu war.

»Verstehst du, mein Freund ist ein Adeliger. Und er schämt sich ein bisschen für seine Ambitionen. Hat Angst, dass die anderen Adeligen ihn dann auslachen.« Ihr fiel auf, dass er bewusst in einer etwas kindlich angehauchten Sprache redete, als hätte er den Verdacht, dass sie ihm nicht folgen konnte.

»Er lebt auf einem wunderschönen Schloss, draußen vor Wien, im Wald. Und er sucht für seine Studien weibliche Modelle. Jetzt kann er natürlich nicht einfach durch Wien spazieren und eigenhändig junge Mädchen ansprechen. Du weißt ja, wie so was ausschaut, oder?«

Clara nickte. Der Mann sprach in vertrauensseligem Tonfall mit ihr, als würde er sie in ein großes Geheimnis einweihen.

»So, also wenn du magst, nehm ich dich jetzt mit in das Schloss von meinem Freund. Und dann lässt du dich von ihm malen. Mal schauen, entweder er lässt dich immer wieder kommen, oder er erlaubt dir, ein paar Tage in einem Zimmer im Schloss zu wohnen.«

Der Mann griff in die Innenseite seines Fracks und förderte eine kleine Lederbörse zutage, die er öffnete und Clara hinhielt. Im schattigen Licht der Kutsche sah sie darin einige Silbermünzen blinken und bekam große Augen.

»Da, nimm’s. Es gehört dir.«

Zögernd nahm Clara das Geld – so viel auf einmal hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen – in Empfang.

»Aber du musst mir was versprechen, hörst du?« Die Stimme des Mannes klang jetzt eindringlich und ernst, und er sah sie aus strengen, grauen Augen an.

»Du darfst niemandem davon erzählen, dass ich dich zu meinem Freund bringe und dass er dich gemalt hat. Er will nicht, dass das nach außen dringt. Es ist ein Geheimnis, verstehst du? Und es ist eine große Ehre für dich, dass du es bewahren darfst.«

Clara verstand. Sie drückte die kleine Börse an sich und sah den Mann abwartend an. Er lächelte und klopfte gegen das Dach der Kabine. Die Kutsche fuhr ruckelnd an, und schon zogen die Stämme der Kastanien vor den Fenstern vorbei.

»Jetzt gehen wir aber erst einmal etwas Anständiges essen, was meinst du? Du bist ein bisschen dünn, Mädel.«