Bin ich traumatisiert? - Verena König - E-Book + Hörbuch

Bin ich traumatisiert? Hörbuch

Verena König

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Beschreibung

Der Begriff "Trauma" erlebt gerade einen "Trend". Meinungen wie "alle Menschen sind traumatisiert" oder Versprechungen wie "mit dieser speziellen spirituellen Technik verschwindet ein Trauma über Nacht" sind für Betroffene oft verunsichernd und frustrierend. Die Traumatherapeutin Verena König hat in ihrer Praxis zahlreiche KlientInnen begleitet, die nach oft jahrelanger Odyssee durch verschiedene Therapiemethoden endlich in der Traumatherapie Entlastung fanden. Mit konkreten Übungen, zahlreichen Fallbeispielen und wissenschaftlichen Erklärungen aus Psychologie und Neurobiologie hilft Verena König, Ursprünge und Wirkungen von Traumatisierungen zu verstehen und sich diesem Thema achtsam und klar anzunähern.

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© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Ariane Hug

Lektorat: Anne Nordmann

Bildredaktion: Simone Hoffmann

Covergestaltung: ki 36 Editorial Design, Daniela Hofner

eBook-Herstellung: Lea Stroetmann

ISBN 978-3-8338-7881-7

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Illustrationen: Verena Mayer-Kolbinger

Syndication: www.seasons.agency

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Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Endlich selbstbestimmt leben!

Es gibt traumatische Erfahrungen, die wir leicht als solche erkennen. Ein Unfall, der Verlust eines geliebten Menschen, körperliche Misshandlung. Doch das Traumaspektrum umfasst noch viel mehr. Die frühkindliche Erfahrung, dass die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen werden, der Verlust von Vertrauen in eine Bindungsperson, das Unterdrücken unseres Selbstausdrucks.

Die Auswirkungen auf unser Leben und Fühlen sind oft so fundamental, dass sie uns daran hindern, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Nicht selten signalisiert uns unsere Umwelt, dass wir uns nur ein wenig mehr zusammenreißen müssten, um wie gewünscht zu funktionieren.

Verena König räumt mit solchen destruktiven und falschen Erwartungshaltungen auf. Klar, präzise und dabei voller Wärme und Empathie beschreibt sie in ihrem Buch die theoretischen und neurobiologischen Grundlagen von Traumata und ihre Auswirkungen: Was genau ein Trauma überhaupt ist, wie es entsteht und auf wie vielfältige und unerbittliche Weise sich Traumafolgen in unserem Leben und unserer Gesellschaft unerkannt auswirken. Schnell wird deutlich: Was wir brauchen, um zu selbstbestimmten, ausgeglichenen Menschen zu werden, sind nicht Zwang oder Druck, sondern zuerst einmal ein tiefes Verständnis für unsere eigene Innenwelt. Damit wird es möglich, uns selbst anzunehmen, wie wir sind und uns mit Wohlwollen und (Selbst-)Mitgefühl zu begegnen.

Das Buch liefert praxiserprobte Übungen, die helfen, in herausfordernden Situationen gelassen zu bleiben und unser Nervensystem zu regulieren. Wenn wir uns den Schatten der Vergangenheit liebevoll und achtsam zuwenden, können sie unser Glück nicht länger aus dem Verborgenen heraus torpedieren und wir sind in der Lage, endlich Selbstbestimmtheit und echte Verbundenheit zu erfahren.

Geleitworte

»Da die Symptome sehr vielschichtig und vielfältig sein können, ist Traumaheilung tatsächlich ein Weg wahrer Transformation und Bewusstwerdung, der unglaublich wertvolle Geschenke bereithalten kann.« Was Verena König in ihrem so reichen und liebevoll geschriebenen Buch beschreibt, ist tatsächlich ein wertvolles Geschenk. Die Autorin schildert nämlich nicht nur die Entstehung und Folgen einer Traumatisierung auf behutsame Weise, sondern auch einen Heilungsweg, der sorgsam und vorsichtig gegangen werden kann.

Die im Titel gestellte Frage »Bin ich traumatisiert?« kann man sich im Laufe der Lektüre selbst beantworten. Denn die Erläuterungen der zahlreichen Folgen, die entstehen können, wenn eine Belastung sich in ein Trauma verwandelt, sind einleuchtend erklärt. Auch die langfristigen Folgen unbearbeiteter Traumata wie ein Leben auf der Flucht vor sich selbst, im Kampf-Modus, in Erstarrung oder der Wiederholung traumatisierender Beziehungserfahrungen, und die transgenerationale Übermittlung von Schweigen und Einsamkeit werden einfühlsam beschrieben.

Wer sich dann fragt: »Das kenne ich ja alles von mir und meiner Familie – aber wie kann es sich denn ändern?«, bekommt in diesem Buch einen Weg aufgezeigt, der in einfachen und einleuchtenden Worten theoretisch erklärt und praktisch viele Übungsvorschläge und Inspirationen zur Innenarbeit enthält. Der Heilungsweg nach einer traumatischen Erfahrung oder gar zahlreicher Traumata in der Kindheit ist manchmal lang und gewunden. Da ist es wichtig, an Wegbiegungen oder wenn gar nichts mehr zu gehen scheint nachschauen zu können, was man selbst schon an guten Möglichkeiten zur Verfügung hat, wozu dieses Buch inspiriert. Auch die Verzagten können sich Ermutigung sowie Trost und Anregungen für einen (noch) achtsameren Umgang mit sich selbst holen.

Ja, es stimmt: Die Arbeit am Verstehen und Heilen der eigenen Verwundungen »hat den Status einer Priorität in unserem Leben verdient«. Verena König macht zahlreiche Vorschläge, um die eigenen seltsamen Gefühle und teils unverständlichen körperlichen Reaktionen nach einer Traumatisierung geduldig und behutsam zu untersuchen und in eine gesündere Richtung zu verändern. Diese Vorschläge sind liebevoll eingebettet, wie es für sie als erfahrene »Reisebegleiterin« auf dem Heilungsweg typisch ist.

So wünsche ich Ihnen, dass Sie – unabhängig davon, wie Sie die Titel-Frage für sich selbst beantworten – eine Fülle von Anregungen finden, die Ihnen und den Menschen in Ihrem Umfeld, die von Trauma betroffen sind, weiterhelfen können.

Michaela Huber, Psychotraumatologin

Endlich! Ein erfrischender und klarer Blick auf die Theorie von Trauma und Bindung. Dieses Buch ist weit mehr als eine weitere Aufbereitung bereits bekannter Informationen über Traumata und ihre Folgen. Es ist eine behutsame Erinnerung daran, was wir als Menschen wirklich zum Überleben brauchen: Bindung, Liebe und Geborgenheit.

Es kultiviert nicht nur ein Wiedererwachen dessen, was wir sind – unser Selbst –, sondern zeigt auch, dass dieses Selbst zahlreiche Facetten hat, die alle zu unserer Einzigartigkeit beitragen.

Verena König bietet damit einen dringend benötigten konkreten Fahrplan sowohl für Kliniker, die mit Traumata arbeiten, als auch für diejenigen, die unter Traumata leiden.

Woltemade Hartman, Ph.D., klinischer Psychologe und Psychotherapeut, Direktor des Milton H. Erickson-Instituts Südafrika

Einleitung

Das Wissen über Trauma hat die Kraft, die Welt zu verändern.1

Mit diesem Buch hältst du eine Einladung in den Händen. Ich möchte dich einladen, den Blick auf dich und die Menschheit zu weiten und dich der Annahme zu öffnen, dass es nie zu spät ist für ein glückliches Leben und eine friedliche Welt. Ich lade dich ein, dich zu erinnern. An deine Würde und die Würde aller Wesen. Ich will dich ermutigen, zuversichtlich zu sein, auch wenn es in dir und um dich oft düster aussieht.

Auf dieser Welt geschehen tagtäglich unbegreifliche Grausamkeiten, die intelligente Lebewesen sich und anderen Geschöpfen antun. Sich das zu vergegenwärtigen, kann fassungslos machen. Wie kann es sein, dass wir als verstandesbegabte Spezies in der Lage sind, unsere Welt wider besseres Wissen zu zerstören? Wie kommt es dazu, dass trotz unserer technischen Möglichkeiten und ethischen und moralischen Werte so viele Menschen auf der Flucht sind wie noch niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte? Wieso müssen unsere Kinder uns mit lauten Parolen und weltweiten Demonstrationen vor Augen führen, dass wir jetzt etwas tun müssen, damit sie nicht von einer menschengemachten Katastrophe ihre Zukunft gestohlen bekommen?

Wieso befindet sich die Menschheit in einem Zustand, der angesichts ihrer Potenziale beschämend unmenschlich ist?

Wie innen, so außen

Ein ähnlich trostloser Zustand herrscht häufig auch in unserer Innenwelt. In ihr ist es oft nicht viel friedvoller als in der Welt da draußen. Im Gegenteil, manchmal geht es im Innern sogar noch wilder und roher zu. Wenn wir uns gegenseitig bei unseren inneren Dialogen zuhören könnten, wären wir erschüttert, wie rau und unfreundlich der Ton oftmals ist. Die meisten Menschen würden mit niemandem sonst so sprechen wie mit sich selbst. Wieso ist in vielen Menschen so viel Selbstabwertung und Selbstverurteilung, ja manchmal sogar Selbsthass? Wieso gibt es in unserer Welt so viele Minderwertigkeitsgefühle und Einsamkeit, so viel Angst und Leid, das sich scheinbar nicht lösen lässt? Menschen können blind und sogar grausam sein, gänzlich abgeschnitten von ihrer Güte und Empathie.

Trotz aller Schatten unserer Gegenwart, die uns oft ohnmächtig, klein und hilflos zurücklassen, bin ich zuversichtlich. Denn so unbegreiflich all das auch scheinen mag – durch die traumatherapeutische Brille betrachtet, ist es das nicht. Ungelöste, nicht verarbeitete traumatische Erfahrungen haben Folgen, die häufig nicht einfach nachvollziehbar sind. Wenn wir die Auswirkungen von Trauma auf die menschliche Psyche verstehen, halten wir einen Schlüssel in den Händen, der uns die Tür zu einer Welt öffnet, in der Menschlichkeit und Verbundenheit die Basis für unsere Entscheidungen bilden. Wenn dieses Wissen zu Bewusstsein wird, also vom Kopf auch ins Herz rutscht, haben wir die Chance, unseren Kindern eine Zukunft zu schenken, die ihrer würdig ist.

Frieden in der Welt beginnt im Innern eines jeden Einzelnen.

Meine Zuversicht entspringt nicht einer blühenden Fantasie oder gar Naivität, sondern sie basiert auf meiner jahrelangen Erfahrung als Traumatherapeutin. Mir wird das große Privileg zuteil, dass sich mir unzählige Menschen mit ihren teilweise erschütternden Lebensgeschichten anvertrauen. Und so erlebe ich mit meinen Klientinnen und Klienten jeden Tag aufs Neue, welche Macht tiefe Verletzungen über die Gegenwart haben können und wie erlösend es ist, wenn sich der Klammergriff der Vergangenheit langsam löst und das Hier und Jetzt zu atmen beginnt.

Den inneren Kampf beenden

In der Rolle der Therapeutin werde ich nicht nur Zeugin von Lebensgeschichten, die ich mir nicht hätte vorstellen können, sondern ich bezeuge auch ein enormes Ausmaß an Kraft, Lebenswillen und Mut. Es ist mir klar geworden, dass es etwas in uns geben muss, das größer und stärker ist als all die Belastungen der Vergangenheit und Gegenwart zusammen. In den Heilungs- und Entwicklungsprozessen meiner Klienten erlebe ich immer wieder, dass das Begreifen von Traumadynamiken eine große Wirkung hat. Wenn wir Verständnis für unsere eigene Innenwelt, für das eigene »So-Sein« und für unsere scheinbar destruktiven Muster entwickeln, endet der Kampf gegen uns selbst. Was für ein wichtiger Schritt. Solange wir Symptome bekämpfen und uns selbst verurteilen und abwerten, bekämpfen wir unser eigenes Inneres und das Leben ist unendlich anstrengend.

Menschen beginnen in dem Augenblick zu heilen, in dem sie sich gesehen fühlen.

Verstehen und Erkenntnis allein bringen noch keine Heilung, aber sie öffnen eine Tür zu Wohlwollen und Selbstachtung und damit zu Frieden im Innern und Frieden in der Welt.

ALLES, WAS DU FÜHLST, ERGIBT SINN

So verrückt und irrational viele unserer Taten, Gewohnheiten, Muster und Symptome auch erscheinen mögen, in Wahrheit sind sie allesamt logisch. Die menschliche Psyche folgt immerzu und enorm zuverlässig einem übergeordneten Prinzip: dem Überleben. Sowohl unser Körper als auch unser Geist sind vollkommen darauf ausgerichtet, dass wir möglichst unversehrt durchs Leben kommen.

Um wirklich zu verstehen und zu begreifen, wieso wir zutiefst sinnhaft agieren, auch wenn es anders aussieht, werde ich dir einiges über unsere Biologie und Neurobiologie erzählen und dich mitnehmen in das Leben einiger Klientinnen und Klienten. Außerdem möchte ich dich einladen auf eine Reise zu dir selbst, bei der ich dich immer wieder inspirieren werde, dich dir zuzuwenden und dich zu reflektieren. Denn ich habe große Achtung vor den Selbstheilungskräften, die uns Menschen innewohnen und die wir so erwecken.

Ein positiver Ausblick

Je nachdem, um was für eine Traumatisierung es sich handelt, erholen sich ein bis zwei Drittel der Menschen davon, ohne Folgestörungen zu entwickeln. Die anderen und jene, die sehr früh oder besonders schwer traumatisiert wurden, brauchen Unterstützung, um ihre Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Das ist kein Makel und keine Schande. Im Gegenteil, diesen Bedarf an Unterstützung zu erkennen und die Folgen von Traumatisierungen anzuerkennen, würdigt den Menschen in seiner fühlenden Natur. In jedem Fall ist es lohnenswert, sich auf den Weg zu machen, denn es gibt Wertvolles zu entdecken, einiges loszulassen und viele Potenziale zu entfalten.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch für dich ein Wegbegleiter sein darf, der, treu an deiner Seite, die Fragen stellt, die dein Herz und deinen Geist öffnen. Möge es dir auch die Antworten anbieten, die dir helfen, mehr Frieden und Lebendigkeit in deinem Inneren zu finden.

ZUM UMGANG MIT DIESEM BUCH

In Teil eins werde ich dir theoretische Grundlagen zum Verständnis von Traumata an die Hand geben. In Teil zwei tauchen wir in die oft unerkannten Folgen von Traumatisierungen ein, während du in Teil drei erfährst, was auf einem Heilungsweg unterstützend wirkt. Teil vier beinhaltet konkrete Übungen und Inspirationen.

Möglicherweise wirst du beim Lesen einige Erkenntnisse über dich und deine Geschichte gewinnen und beginnen, so manches in einem anderen Licht zu sehen. Vielleicht wird dir das eine oder andere aus deinem Leben erst beim Lesen bewusst. Erkenntnisse sind oft befreiend, aber manchmal auch ernüchternd und hart. Gönne dir Zeiten der Integration zwischen den Kapiteln und gehe achtsam mit dir um. Lass dir Zeit, dich mit den Fragen zu beschäftigen, und schenke dir Ruhe und Raum für die Übungen. Erlaube deinem Körper, dem Verstand und deinen Erkenntnissen zu folgen, und übergehe seine Signale bitte nicht. Konkret heißt das, dass genau in den Momenten, wenn du einen Sog beim Lesen spürst und nicht aufhören magst, eine Pause guttut. Es kann auch hilfreich und bereichernd sein, wenn du Erkenntnisse und Fragen, die unterwegs auftauchen, mit einem vertrauten Menschen reflektierst. Vielleicht magst du sie in einem Notizbuch festhalten. Unser Gehirn neigt dazu, Informationen auszusortieren, die nicht in vertraute Muster passen. Ich bin sicher, wenn du Teile dieses Buches ein zweites Mal liest, wirst du Dinge entdecken, die dir vorher entgangen sind.

»The slower you go, the faster you grow.« Indem du bewusst und achtsam mit dir umgehst, schaffst du Raum für heilsame Veränderung.

Ich werde in meinem Text sowohl von Klientinnen als auch von Klienten, von Kolleginnen und von Kollegen sprechen und sowohl Männer als auch Frauen damit meinen. Direkte Zitate von Kolleginnen und Kollegen sind als solche gekennzeichnet. Nicht immer kenne ich die Urheber gewisser Begriffe oder Sätze. Sollte daher an irgendeiner Stelle ein Quellenhinweis fehlen, bitte ich das zu verzeihen und den Verlag darüber zu informieren.

Nun wünsche ich dir ein inspirierendes Leseerlebnis mit wohltuenden und heilsamen Begegnungen mit dir selbst.

ESSENZ: DAS, WAS DU AN DIR AM MEISTEN ABLEHNST, WAR VERMUTLICH EINMAL LEBENSRETTEND

Alles an dir hat dein Wohlwollen verdient. Fast jedes Verhaltensmuster, das dir heute Schwierigkeiten macht und das du »loswerden« möchtest, war früher einmal eine lebensrettende Strategie. Um die Wunden der Vergangenheit zu heilen, geht es nicht darum, dass du dich veränderst. Es geht nicht darum, dass du ein Leben führst wie jeder andere Mensch oder dass du etwas leistest. Sondern es geht darum, dass das, was in dir versehrt wurde, endlich einen Platz in Sicherheit und Wohlwollen bekommt. Dann wird es friedlich, dann wird es freundlich, dann wird es lebendig in dir. Dann wird der Schmerz milder und schwächer. Um dem Versehrten Platz geben zu können, ist es wichtig, dass du begreifst und wirklich anerkennst, dass mit DIR alles in Ordnung ist. Höre auf, dich mit Selbstablehnung zu verletzen. Auch das, was heute dysfunktional und hinderlich wirkt, hat seine Berechtigung, weil es früher wichtig war.

Indem du in dir selbst Wohlwollen und Geborgenheit findest (Schritt für Schritt), können diese Muster sich verändern und das, was hinter ihnen an Licht und Einzigartigkeit liegt, beginnt zu strahlen.

1 Wenn das Leben zu viel von dir will

Unsere Welt wird immer komplexer. Während der Mensch lernt, den Weltraum zu erkunden, scheint er zu verlernen, sich selbst zu verstehen. Viele Probleme dieser Zeit entstammen der Entfremdung von unserer verletzlichen und zugleich so kraftvollen Natur. Trauma ist eine Hauptursache für diese Entfremdung. Die Dynamik von Trauma zu verstehen und die Weisheit unseres Körpers zurückzugewinnen, kann die Welt zu einem besseren Ort werden lassen.

WAS IST NUR LOS MIT MIR?

Jolanda hatte sich schon sehr auf ihr Meditationsretreat gefreut. Eine Woche mit ihrer besten Freundin und anderen netten Menschen in einer schönen Umgebung. Den ganzen Tag Meditation und Yoga, leckeres Essen und kein Handy. Endlich etwas für sich selbst tun! Da Jolanda einen recht stressigen Alltag zu bewältigen hat, war dieses Meditationsretreat genau das Richtige, dachte sie. Ihre Freundin hatte ihr schon Monate zuvor schwärmend in den Ohren gelegen, wie erfrischt und geerdet sie immer von diesen Reisen zurückgekehrt sei. Bisher hatte Jolanda Meditation nur in ihrem Yogastudio erlebt, und da konnte sie sich nie so recht entspannen, da sie immer abgehetzt von der Arbeit ins Studio kam und noch »auf Betriebstemperatur« lief. In diesem abgeschiedenen Hotel in den Bergen sollte das anders werden und sie freute sich darauf, endlich wirklich meditieren zu lernen.

Was Jolanda dann erlebte, war leider nicht das, was sie sich erhofft und erwartet hatte. Während ihre Freundin sich von Tag eins an zu entspannen schien, wich Jolandas Vorfreude in den ersten Tagen einer stetig anwachsenden Unruhe, die sich bis in die Nächte hineinzog. Etwas in ihr konnte einfach nicht loslassen. Am dritten Tag schließlich, als die Meditationslehrerin die Teilnehmerinnen anleitete, sich in ihr Herz zu begeben, um ihrem inneren Kind zu begegnen, fand sich Jolanda in einer heftigen Panikattacke wieder. Da sie sich nicht erklären konnte, wieso es ihr so schlecht ging, bemühte sich Jolanda in den weiteren Tagen, ihre Gefühle zu kontrollieren, und strengte sich sehr an, alle Übungen und Aufgaben zu erfüllen. Weil Jolanda in ihrer Kindheit sehr gut gelernt hatte zu funktionieren, bemerkte niemand, nicht einmal ihre Freundin, wie es in ihrem Innern aussah. Am Ende der Woche hatte sie rasende Kopfschmerzen, war völlig übernächtigt, am ganzen Körper verspannt und mit sich selbst aufs Äußerste unzufrieden. »Was ist nur los mit mir? Wieso klappt es bei allen anderen und nur bei mir nicht?«

Wie oft habe ich Sätze wie diesen gehört! Es ist ein großer Schmerz, der in vielen Menschen aufsteigt, wenn sie sich mit »den anderen« vergleichen. Die Überzeugung, dass wir mit unseren Schwierigkeiten allein sind und eine einsame Ausnahme darstellen, ist weit verbreitet und weit gefehlt. Am Beispiel von Jolanda kannst du sehen, dass bei den anderen auch nicht alles klappt (manche Menschen sind einfach gut darin, nach außen eine stabile Fassade aufrechtzuerhalten, während es ihnen innerlich schlecht geht).

Indem du dich mit anderen vergleichst, verkennst du sowohl deine Einzigartigkeit als auch ihre.

Mit dieser Fassade durchs Leben zu gehen und sie Tag für Tag aufrechtzuerhalten, kostet viel Kraft, weil dahinter oft der alte Schmerz verborgen liegt.

Dass Meditation und Entspannung für Jolanda so stressig sind, hat etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun. Im Verlauf dieses Buches wird immer klarer werden, wie unsere Empfindungen von heute mit unserer Vergangenheit verknüpft sind. In jedem Falle ist sicher, dass alles, was Jolanda erlebt, sich erklären lässt und letztlich Sinn ergibt.

Ein Kunstwerk aus vielen Teilen

Ein Bewusstsein für unsere inneren Anteile zu entwickeln, bringt uns die Fähigkeit zurück, unser Leben im Hier und Jetzt bewusst zu gestalten.

Bevor wir tiefer eintauchen in das Verständnis von Trauma und seinen Folgen, möchte ich dir ein Modell vorstellen, das deinen Blick auf dich und die Menschheit ein wenig oder sogar grundlegend verändern kann.

Vielleicht kennst du diese Momente, in denen du dich ärgerst, weil du dich nicht so verhalten hast, wie du es gerne getan hättest. Zum Beispiel in einer Situation, in der du dich abgrenzen wolltest und dann trotzdem Ja gesagt hast. Oder hast du dich schon einmal so etwas sagen hören wie: »Ich habe kein Wort mehr herausgebracht, ich habe mich gefühlt wie ein kleines Kind!«? Möglicherweise hast du auch erlebt, dass eine Person, die du auf der Arbeit kennengelernt hast, im privaten Umfeld ein ganz anderes Gesicht zeigte.

Dass unsere Persönlichkeit aus verschiedenen Anteilen besteht, erklärt innere Ambivalenzen und widersprüchliches Verhalten.

Wir sind vielschichtige Geschöpfe, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise ausdrücken können. Diese Vielschichtigkeit kann ganz stimmig und lebendig sein, sie kann jedoch unter Umständen auch inkohärent und belastend wirken. Manchmal ist es erstaunlich, wie widersprüchlich sich Menschen verhalten und auch selbst empfinden können. So kann es widerstreitende innere Impulse, konträre innere Stimmen oder gegensätzliche Bedürfnisse und Empfindungen geben. Das alles lässt sich mit Hilfe des Anteilemodells erklären.

DAS ANTEILEMODELL

Der Begriff »innerer Anteil« ist seit einiger Zeit vor allem über das »innere Kind« recht populär geworden, er umfasst jedoch weit mehr als das. Es gibt verschiedene Ansätze zu inneren Anteilen in Psychotherapie und Coaching. All diese Ansätze ermöglichen es, gezielt mit Facetten unserer Persönlichkeit zu arbeiten. Ich selbst schätze den Ansatz der »Ego-State-Therapie« sehr, da er traumatherapeutisch ausgerichtet ist und damit dem Menschen, meiner Ansicht nach, am ehesten gerecht wird.

Die Bausteine unserer Persönlichkeit

Nach diesem Ansatz besteht ein Mensch aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen (auch Ego-States genannt), die zusammen das Gesamtbild der Persönlichkeit ergeben. Die Anteile wirken wie Bausteine der Persönlichkeit. Darüber hinaus und ganz grundlegend sehe ich in jeder Persönlichkeit etwas, was man Kernselbst, innere Mitte oder wahres Wesen nennen kann. Dieses »wahre Wesen« ist eine Instanz, die uns im Innersten ausmacht, und sie ist von Natur aus gut, einzigartig und unversehrt, ganz gleich, was im Leben eines Menschen geschehen sein mag. In Momenten, in denen wir mit dieser Instanz in Kontakt sind, erleben wir uns selbst als ganz, präsent und verbunden. Sie ist ein Seinszustand, in dem wir Zugang haben zu unseren Ressourcen, Potenzialen und auch Selbstheilungskräften. Dieser Seinszustand ist etwas ganz Ursprüngliches. Wenn wir uns sicher, geborgen und verbunden mit dem gegenwärtigen Moment fühlen, erleben wir uns unserer Mitte automatisch näher, als wenn wir abgelenkt, geängstigt oder gedanklich weit von uns weg sind.

Was ist ein Persönlichkeitsanteil?

Während der frühen Kindheit entwickelt sich in einem komplexen Prozess die Grundlage der Persönlichkeit eines Menschen. Sie wird im Wesentlichen geprägt durch das, was das Kind in der Interaktion mit Bezugspersonen erfährt und sie entwickelt sich zeitlebens fort. Viele essenzielle Persönlichkeitsanteile werden in der Kindheit gebildet, was einen natürlichen und physiologischen Vorgang darstellt.

Der »innere Anteil« ist mehr als eine Metapher. Anteile sind neurophysiologische Repräsentanzen gemachter Erfahrungen. In anderen Worten: Ein innerer Anteil stellt ein neuronales Netzwerk, also ein Netzwerk aus Nervenzellen dar, das sich aus wiederholten Erfahrungen gebildet hat. Ein solches Netzwerk enthält Erinnerungen und daran gekoppelt eine eigene Geschichte, bestehend aus Körperempfindungen, Emotionen und Gedanken. Somit haben innere Anteile ihre eigenen Ansichten, Überzeugungen, Weltanschauungen, Körperzustände, Bedürfnisse, ein eigenes Alter, eine eigene Funktion, eigene Symptome, Fähigkeiten, Affekte und Befindlichkeiten.

Wenn die Bedingungen gut sind

Anteile, die sich unter entspannten Bedingungen entwickeln, erleben wir als integriert in unsere Persönlichkeit, wir können uns mit ihnen identifizieren und fühlen uns wohl damit. Sie sind echte Ressourcen. So entsteht etwa eine kleine Ballerina oder ein kleiner Handballspieler, die Lebensfreude, Teamgeist und Selbstbewusstsein in sich tragen.

Die meisten dieser Anteile entwickeln sich im Laufe des Heranwachsens weiter. Sie wachsen quasi mit. Die kleine Ballerina behält auch später noch ihre Spielfreude, lebt sie als Erwachsene aber mit Disziplin und Achtsamkeit aus. Solche Anteile sind dem Wesenskern nah und mit ihm verbunden.

Wenn die Bedingungen schlecht sind

Nicht alle Anteile entstehen unter guten Bedingungen. So bildet sich unter toxischem Stress in der Kindheit etwa ein braver, angepasster Anteil, der die Angst, Traurigkeit, Einsamkeit, das Leid und all die daran geknüpften Gedanken, Glaubenssätze und Körperempfindungen ganz lebendig in sich trägt. Jene Anteile, die unter toxischem, traumatischem Stress entstehen, sind dem wahren Wesen nicht so nah und erzeugen in der Gesamtpersönlichkeit Spannung und Druck. Je mehr solcher Anteile im Inneren vorhanden sind, desto inkohärenter erlebt sich ein Mensch in seiner Persönlichkeitsstruktur. Er ist nicht eins mit sich, fühlt sich wiederholt von sich selbst enttäuscht oder im inneren Konflikt.

Anteile, die unter hohem Stress entstehen, brauchen einen Platz im Bewusstsein, um zu heilen.

So ist Jolanda mit sich enorm unzufrieden, weil sie sich im Meditationsretreat nicht entspannen konnte. Ihr innerer Anteil, der das Funktionieren zur Perfektion gebracht hat, wurde unvermittelt aktiviert und trieb sie durch die Woche. Ein anderer innerer Anteil von Jolanda ist in dieser Woche dem Bewusstsein ein Stückchen nähergekommen – etwas Kindliches, Ängstliches, Alarmiertes, das sich in Form von innerer Unruhe und Schlaflosigkeit bemerkbar gemacht hat. Vermutlich wird sich Meditation für Jolanda erst dann gut anfühlen, wenn sie sich diesem Anteil und dem, was er an Spannung, Energie und Überzeugungen trägt, zugewandt hat.

Jene Anteile, die unter traumatischem Stress entstanden sind, bleiben in ihrer Struktur oftmals rigide und entwickeln sich weniger weiter. Das hat damit zu tun, dass traumaassoziierte Anteile eher isoliert im Innern präsent und weit weniger in die Gesamtpersönlichkeit integriert sind.

Über die Kindheit hinaus

Im Laufe des Lebens kommen weitere Anteile hinzu, wenn wir Neues lernen und uns in neuen Kontexten bewegen. So zum Beispiel, wenn wir einen neuen Beruf erlernen oder Eltern werden. Dann entwickeln sich durch neue Erfahrungen neue Anteile, die zuvor noch nicht existierten und die sich immer weiter verfeinern, je mehr wir in die neuen Aufgaben hineinwachsen. Ein Mensch, der eine solche innere Struktur entwickelt, erlebt sich als integrierte Persönlichkeit, also in sich stimmig. Er kennt sich in sich aus und hat ein Gefühl von Ich, Selbst und Identität.

So bin ich in diesem Augenblick, wo ich dies hier schreibe, in meinem »Autorinnen-Selbst«. Ich denke in meiner Expertinnenwelt und schreibe in diesem Bewusstsein. Die Lebensgeschichten vieler Klientinnen sind mir in diesem Anteil zugänglich sowie auch mein theoretisches Wissen, und ich befinde mich in einem energetischen Zustand der Konzentration und Sammlung. Ich bin mit diesem Persönlichkeitsanteil »identifiziert«, was bedeutet, dass sein neuronales Netzwerk aktiv ist und ich ganz darin aufgehe. Ich bin gerade die Autorin.

Wenn wir mit einem inneren Anteil identifiziert sind, bedeutet das, dass das neuronale Netzwerk, das ihn ausmacht, aktiv ist und wir uns entsprechend erleben.

Wenn ich heute Abend einer Freundin erzähle, wie sich der Schreibprozess angefühlt hat und was ich in letzter Zeit erlebt habe, schwinge ich in einem anderen Anteil, nehme mich anders wahr, verwende vermutlich andere Wörter und bin innerlich nicht in Kontakt mit den Lebensgeschichten meiner Klienten.

Diese beiden unterschiedlichen Anteile erfüllen unterschiedliche Aufgaben und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Dennoch existieren sie friedlich und fließend neben- und miteinander und sind beide, gemeinsam mit einigen weiteren, Teil meiner vielfältigen Persönlichkeit.

Dass mehrere Anteile gleichzeitig aktiv sind, ist völlig natürlich und im Alltag ständig der Fall. Es ist sehr sinnvoll, wenn die verhandelnde Anwältin vor Gericht konzentriert ihr Plädoyer halten kann, ohne dabei von ihrem bedürftigen Kindanteil, der Angst hat, etwas falsch zu machen, abgelenkt zu werden.

Wer eine kohärente, integrierte Persönlichkeit hat und seine Anteile weitgehend bewusst wahrnimmt, dem ist es möglich, sich zu regulieren und willentlich zu entscheiden, in welchen Anteil er oder sie sich gerade hineinbegeben will. Dann ist es auch möglich, zwischen Anteilen fließend zu wechseln, da ihre neuronalen Netzwerke untereinander verbunden sind.

Wesentlich schwieriger ist es, wenn wir mit einem inneren Anteil identifiziert sind, der in seiner Entwicklung noch nicht so wirklich im Hier und Jetzt angekommen ist. Innere Anteile, die unter traumatischem Stress entstanden sind, bilden häufig neuronale Netzwerke, die für sich allein wie Inseln, unverbunden mit anderen Anteilen, bestehen. Einmal dort hineingeraten ist es schwer, wieder rauszukommen, also sich zu »desidentifizieren«.

WAS FÜR ARTEN VON ANTEILEN GIBT ES?

Natürlich kann es eine Fülle unterschiedlichster Anteile geben. In der Ego-State-Therapie unterscheidet man einige Kategorien von Anteilen. Diese Einordnung (nach Dr. Woltemade Hartman) finde ich sehr hilfreich, da sie es möglich macht zu umreißen, was die jeweiligen Anteile im Gesamtsystem Persönlichkeit für eine Wirkung haben. Und selbst in dieser Kategorisierung ist Raum für eine unendliche Komplexität und Vielfalt. Man unterscheidet grob:

grundsätzlich ressourcenreiche Anteile

verletzte Anteile

verletzende/destruktiv wirkende Anteile

Ressourcenreiche Anteile

Grundsätzlich ressourcenreiche Anteile entstehen durch wiederholte gute Erfahrungen. Diese neuronalen Netzwerke entwickeln sich im Laufe des Lebens stetig weiter und sind mit dem Lebensfluss verbunden. Ressourcenreiche Anteile sind lebendige Aspekte unserer Persönlichkeit, wie etwa die innere Stärke oder ein zuversichtlicher, optimistischer Anteil, der auch in dunklere Tage Licht bringen kann. Auch kreative Anteile, wie etwa eine innere Poetin, gehören zu den ressourcenreichen Anteilen. Sie zeigen sich, wenn wir beispielsweise ein liebevoll komponiertes Gedicht auf einer Geburtstagsfeier vortragen, um einen geschätzten Menschen zu ehren und zu erfreuen.

Verletzte Anteile

Verletzte Anteile sind Repräsentanten von wiederholten negativen Erfahrungen. Sie tragen häufig Symptome und Muster in sich, die ihren Erfahrungen entsprechen. So sind verletzte Anteile oft innerlich erstarrt und wehrlos oder sie sind in einem Muster der Flucht oder Unterwerfung gefangen.

Selbst die destruktiv wirkenden Anteile sind in ihrer Natur dem Überleben verbunden und ursprünglich entstanden, um zu helfen.

Beispiele hierfür wären etwa »das brave Mädchen« oder »der Es-allen-recht-Macher«. Diese Anteile sind oft traumaassoziiert oder traumatisiert.

Ein verletzter innerer Anteil kann die ängstliche »innere Stimme« sein, die uns davor warnt, uns zu zeigen und das Gedicht auch wirklich vorzutragen. »Tu das besser nicht, die anderen werden dich auslachen und es wird furchtbar peinlich! So etwas zu tun ist gefährlich und wird sicher wehtun. Steck das Gedicht lieber in einen Umschlag und lege es heimlich auf den Geschenketisch.«

Verletzende Anteile

Verletzende Ego-States sind Anteile, die ebenso durch wiederholte negative Erfahrungen entstanden sind. Diese Anteile tragen eine hohe Spannung, starke Emotionen und häufig schwere Symptome. Sie tragen Muster, die sehr dysfunktional oder gar destruktiv wirken können, was zu viel Schmerz und Leid führt. Zu den verletzenden beziehungsweise destruktiv wirkenden Anteilen gehören beispielsweise innere Richter und Miesmacher. So würde der innere Richter vielleicht sagen, dass man ein so dilettantisches und albernes Gedicht niemandem zumuten könne und dass es anmaßend sei, überhaupt auf die Idee zu kommen, dass irgendjemand so etwas hören wolle.

Zur Kategorie der verletzenden oder destruktiv wirkenden Anteile gehören zwei weitere wichtige Anteile, die uns hier und da in diesem Buch wiederbegegnen werden: täterimitierende und täterloyale Anteile. Erstere verfolgen die Absicht, sich ähnlich zu verhalten wie die Menschen, die damals bedrohlich waren. Letztere vollziehen Muster, die das Verhalten der Täter oder bedrohlichen Personen von damals schützen oder entschuldigen.

ALLE ANTEILE SIND FÜR UNS

Vielleicht spürst du bereits beim Lesen in dir die Frage aufsteigen: Warum um alles in der Welt verhalten sich diese Anteile auf eine so schädliche Weise? Die Antwort darauf ist so logisch wie die menschliche Psyche selbst:

Diese Anteile sind lebendige Überlebensstrategien, die versuchen, unser wahres Wesen zu schützen. Anteile zu bilden ist eine hochintelligente Anpassungsleistung. Je destruktiver die Außenwelt, desto destruktiver ist das, woran sich ein Kind innerlich und äußerlich anpassen muss, um emotional und physisch zu überleben. Diese Dynamik zu verstehen ist ein Gamechanger für unsere Bewertungssysteme.

DIE HEILSAME WIRKUNG DES ANTEILEMODELLS

Zu Beginn dieses Kapitels habe ich angekündigt, dass dieses Modell deine Sichtweise auf die Menschheit und dich selbst verändern könnte. Mit diesem Perspektivwechsel erkennen wir an, dass es nichts ursprünglich Destruktives im Menschen gibt und dass all das, was zerstörerisch wirkt, ursprünglich eine Überlebensstrategie darstellte.

Das Ego-State-Modell bewirkt, dass wir uns selbst und das Geschehen aus einer entlastenden Distanz betrachten können.

Das macht die Sache an sich nicht besser und entlässt auch keinen Menschen aus seiner (Selbst-) Verantwortung, aber es ermöglicht uns, auch diesen Aspekten der (eigenen) Persönlichkeit Achtung entgegenzubringen. Denn was brauchen verletzte und traumatisierte Menschen, Lebewesen, Anteile, um zu heilen? Eine achtungsvolle Zuwendung, die Begegnung und Interaktion erlaubt, damit sich etwas verändern kann.

Wir sind mehr als unser Schmerz

Ein weiteres und vielleicht das größte Geschenk dieser Sichtweise ist, dass deutlich wird: Ich bin nicht nur das. Häufig fühlen sich Menschen unzulänglich, jämmerlich oder festgefahren. Wie gut tut es dann, sich bewusst zu machen, dass das, was gerade spürbar ist und die Wahrnehmung der Realität formt, einem inneren Anteil entspringt und nicht die ganze Wahrheit ist. Diese Sichtweise erlaubt uns augenblicklich, uns von dem zu distanzieren, was unser Bewusstsein dominiert. Es macht einen Unterschied zu sagen: »Ich bin verloren« oder »Ein Teil von mir fühlt sich verloren«.

Integration durch das beobachtende Gewahrsein

In dem Moment, in dem wir anerkennen, dass ein Anteil von uns gerade etwas erlebt oder bewertet, sind wir schon nicht mehr vollkommen damit identifiziert. In diesem Augenblick wird etwas anderes in uns aktiv: unser innerer Beobachter, das beobachtende Gewahrsein. Damit entsteht eine Distanzierung, die gleichzeitig eine Verbindung bewirkt, denn wir können uns jetzt dem Anteil direkt unterstützend zuwenden. Genau das geschieht in der Ego-State-Therapie: Wir wenden uns eigenen Anteilen bewusst und mit einer wohlwollenden Absicht zu, um sie in ihrer heilsamen Veränderung zu unterstützen. Zudem ist dieser Perspektivwechsel eine Art Achtsamkeitspraxis, die es möglich macht, wohlwollender auf sich selbst zu blicken. Die Selbstkenntnis erhöht sich und die innere Verbundenheit steigt. Damit wird es auch leichter, echte Selbstfürsorge zu leben und die Zuversicht zu entwickeln, dass man aus alten, destruktiven Mustern endlich herausheilen wird, jetzt, wo man sich selbst die Hand reichen kann.

Nach und nach, mit wachsender Kohärenz, können sich unsere Potenziale entfalten, da ein innerer Konsens darüber entsteht, dass das möglich, erlaubt und erwünscht ist. Mit dieser Sichtweise und dem sich daraus ergebenden (Selbst-) Heilungsansatz gelingt es, immer mehr das authentische Selbst zu leben, dem eigenen wahren Wesen Ausdruck zu verleihen und freier von den Schatten der Vergangenheit zu sein.

ESSENZ: ES GIBT EINEN UNVERSEHRTEN KERN

Traumaüberlebende mussten viele (Schutz-) Strategien entwickeln, um zu überleben. Ihre inneren Anteile tragen diese Schutzstrategien und sind zuverlässig, treu und unermüdlich. Diese Anteile haben größte Anerkennung verdient für ihr rettendes Dasein. Denn nur durch ihre schützende Präsenz konnte etwas unversehrt bleiben.

Das Konzept des guten Grundes

»Die Probleme von heute sind die Lösungsversuche von gestern.«

(VERFASSER UNBEKANNT)

Ich habe schon erwähnt, dass die menschliche Psyche zwar komplex ist, aber immer logisch funktioniert. Man könnte auch sagen: Nichts geschieht ohne Grund. Kein einziges Symptom, kein Muster, keine Schwierigkeit, die du im Leben hast, und auch keine Fähigkeit, die du in dir trägst, existiert einfach so. Wir können uns selbst auf unserem Lebensweg sehr unterstützen, wenn wir uns immer wieder nach dem guten Grund fragen. Damit ist nicht die Frage gemeint, warum etwas passiert ist, denn darüber nachzusinnen ist müßig und hat keine sonderlich heilsame Kraft. Die Frage nach dem guten Grund bezieht sich auf die eigenen »Besonderheiten«: die Muster, Eigenheiten, Makel oder Symptome, die uns belasten, quälen und ratlos machen. Sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, sondern waren Anpassungsleistungen oder Überlebensstrategien, die es uns ermöglicht haben, trotz widriger Umstände heranzuwachsen.

DIE INNERE PERFEKTIONISTIN