Bis hierher war's ein weiter Weg - Jami Attenberg - E-Book

Bis hierher war's ein weiter Weg E-Book

Jami Attenberg

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Tochter eines Handelsreisenden aus dem Mittleren Westen der USA scheint Jami Attenberg prädestiniert für ein Leben auf der Durchreise. Was allerdings in ihrem Fall bedeutet, dass sie sich zunächst auf selbstfinanzierten Buchtouren von Lesung zu Lesung hangelt, frustriert von wechselnden Gelegenheitsjobs und dem ständigen Fliegen, das nur noch mit Beruhigungsmitteln zu ertragen ist. Bis sie sich irgendwann fragen muss: Reise ich oder laufe ich weg? In ihrem brillanten und witzigen neuen Buch erzählt New York Times-Bestsellerautorin Jami Attenberg in ihrem unnachahmlichen Ton vom Schreiben als Beruf und vom (Über-)Leben als Autorin. Was ist nötig, um sich in Vollzeit der Kunst zu widmen? Was bedeutet es, sich den eigenen Ideen zu verschreiben? Und wie sieht die Welt für eine Frauaus, die sich allein in ihr bewegt? Die »Meisterin der modernen Erzählliteratur« (Entertainment Weekly) beschreibt ihren Weg zu einer eigenen Stimme als Autorin aufrichtig und mit all seinen Aufs und Abs. Bis hierhin war's ein weiter Weg erzählt inspirierend davon, wie man den Weg nach Hause findet, und ist eine wunderbare Liebeserklärung an die Kunst und das Schreiben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 358

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

[Cover]

Titel

ERSTER TEILDIE LANGE, KURVENREICHE STARTBAHN

1 Bestandteile

2 Steig in den Van

3 Die Betten anderer Leute

4 Narben

ZWEITER TEIL TURBULENZEN, KURZ UND HEFTIG

5 Drei Körper

6 Zusätzliches Leben

7 Luft und Rauch

8 Eine Verkaufsgeschichte

9 Keine Lämmer

10 Die falsche Seite des Flusses

DRITTER TEIL EINE ART LANDUNG

11 Risikofaktoren

12 Die Knochenkapelle

13 Gleiswechsel

14 Eine Reise ans »Ende der Welt«

15 Hongkong

16 Besuch

17 Der blaue Eimer

Danksagung

Nachweise

Autor:innenporträt

Übersetzer:innenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Sehr lange habe ich Geld mit Jobs verdient, die ganz anders waren als mein jetziger.

Zwanzig Jahre lang habe ich alles Mögliche gemacht. Ich habe in einer Apotheke kassiert. Ich habe Tabletten abgezählt. Lotterielose verkauft. Bei der Monatsinventur auf dem Boden gehockt und kistenweise Klistiere gezählt. Ich habe in einer Collegebibliothek Bücher einsortiert. Ich habe gekellnert. Ich habe Theken gewischt. Ich habe nach der Schicht den Müll rausgebracht und mich auch den Ketchupflaschen gewidmet, die angetrocknete rote Kruste vom oberen Rand gekratzt, was einen lebenslangen Abscheu vor Ketchup nach sich zog, vor dem Geruch, dem Geschmack, der Konsistenz. Ich habe für Trinkgeld geflirtet. Mit fremden Leuten Shots getrunken. Spätabends mein Geld gezählt. Ich habe in einem Billardsalon gejobbt. In einer Strandbar. Als Türsteherin bei Warehouse-Partys. Ich habe Listen abgehakt. Auf dem Klo Drogen genommen. Leute weggeschickt.

Ich habe Zeitarbeit erledigt. Akten abgelegt. Anrufe entgegengenommen. Briefe abgetippt und dann durch die Gegend gefaxt. Ich habe Leuten gezeigt, wo sie hinmüssen. Den Gang entlang. Eine Etage höher. Sie haben ihn gerade verpasst. Ich habe in fünfzig verschiedenen Büros gejobbt. So viele Leben. Ich habe mir Essen aus dem Konferenzraum genommen, ohne zu fragen. Ich habe Frauen in Elternzeit vertreten. (Männer nie.) Ich habe ausgeholfen, wenn das Personal knapp war. Es gab eine große Versandaktion. Ich, allein, in einem leeren Raum, eintüten. Nach jedem Tag brennende Finger, kleine Schnitte vom Papier. Ein Job mit Option auf Festanstellung, man erwartete Dankbarkeit. Wenn du deine Trümpfe richtig ausspielst, Kleine. Ich schaffte es nie in die Festanstellung.

Ich jobbte in einer Einrichtung für betreutes Wohnen, wo täglich ein Bewohner namens George in mein Büro kam und sich immer wieder vorstellte, als würden wir uns zum ersten Mal begegnen. Er trug eine Hacke mit sich herum, von seinem Großvater, der sie Jahrzehnte zuvor aus Norwegen mitgebracht hatte, und George benutzte sie, wenn er die Rosen im Garten vor der Einrichtung pflegte. Manchmal erzählte er mir die Geschichte der Hacke auch noch einmal neu. George war lieb und er war ein Gentleman.

Ich habe viel über Menschen gelernt und darüber, wie es läuft auf der Welt.

Ich habe für ein Start-up gejobbt, bei dem es meine Hauptaufgabe war, den ganzen Tag sehr schnell zu tippen; monatelang sprach ich mit niemandem, ich tippte nur. Im nächsten Job teilte ich Leuten Konferenzräume zu und assistierte ihnen bei ihren Meetings und hörte zu, wie sie über ihre wichtigen Jobs sprachen, während sie meine Anwesenheit ignorierten. Ich lächelte, auch wenn mir nicht danach war. Ich versuchte es mit noch einem Job und noch einem und noch einem und war dabei immer auf der Suche nach so etwas wie einem Zuhause. Ich war kreativ und ich war neugierig und es gab Antrieb in meinem Leben – in erster Linie wollte ich voran –, nur eben ohne bestimmte Richtung. Das war mein Problem. Die Richtung zu finden.

Ich habe Korrektur gelesen. Ich habe E-Mails verschickt. Gerechnet. Redigiert. Als auffiel, dass ich schreiben konnte, sollte ich etwas schreiben, nur ein, zwei Absätze, aber ich fühlte mich dadurch wichtig und besonders und gewollt, als würde ich mein Leben nicht komplett verschwenden, auch wenn das, was ich schrieb, überhaupt nicht interessant war, eine flüchtige Aneinanderreihung von Worten, Staffage, ein Hauch von amerikanischer Businesswelt.

Ich lernte, im Internet zu arbeiten, damals, als es noch Neuland war. Ich schrieb, ich produzierte, auch eine Menge Müll. Ich lernte, was Code war. Ich lernte, was Schlagwörter waren. Ich lernte, wie man eine Website strukturiert. Informationsarchitektur. Diese Vorstellung gefiel mir: das Organisieren von Information. Ich lernte, kurz und knackig zu schreiben. Ich arbeitete für Werbeagenturen, und zwar für viele – gefühlt für jede Agentur in der Stadt. Ich sah zu, wie das, was ich schrieb, auf einmal in der Welt war – nur würde niemand je erfahren, dass es von mir kam, so viel war klar. Ich war losgelöst von dem, was ich machte. Nichts davon gehörte wirklich mir.

Nebenbei fing ich an, im Internet Persönliches zu schreiben. Blogbeiträge, kleine Essays hier und da. Ich begann, den Klang meiner Stimme zu justieren.

Ich debattierte mit Kolleginnen und Kollegen über Dinge, die damals wichtig schienen. Ich bat um mehr Geld und bekam es. Ich kündigte. Ich wurde gefeuert. Einige Male entging mir ein Job, weil jemand etwas von mir im ­Internet gelesen hatte. Ich machte Jobs, bei denen man mich weniger ernst nahm oder meine Meinung gar nicht erst hören wollte, weil ich eine Frau war. Ich hörte, ich sei schwierig. Ich bin schwierig insofern, als ich nicht einfach bin, aber scheiß drauf, was ist schon einfach?

Ich wurde auf der Arbeit belästigt, aber mal ernsthaft: wer nicht?

Ich arbeitete für einen Kabelsender an Websites zu Fernsehsendungen, die von der Kritik gefeiert wurden und allesamt von Männern gemacht worden waren. Das war der beste Job, den ich je hatte, abgesehen von meinem jetzigen. Ich konnte dabei zusehen, wie alle durch die Gegend rannten und diese Sendungen verwirklichten – was für eine Unmenge Arbeit in ihrer Produktion steckte, was für begabte Menschen dafür arbeiteten! –, doch alle Anerkennung bekamen die Schöpfer der Sendung für ihre Kreativität, ihr Genie. Sie hatten die Ideen gehabt. All das war ihr Besitz. Wir anderen waren dazu da, ihrer Vision Leben einzuhauchen. Wir dienten ihren Ideen.

Irgendwann dachte ich: Was ist mit meinen Ideen? Wann besitze ich die?

Und als ich das begriffen hatte, konnte ich nicht aufhören, daran zu denken. Ich konnte nicht länger bleiben, wo ich war.

Die Lösung war, mich aus dem Problem herauszuschreiben. Das hieß, frühmorgens schreiben, spätabends und am Wochenende. Es hieß, Zeit freischaufeln, mir die Zeit einfach nehmen. Ich dachte: Ich werde dieses erste Buch schreiben, und danach vielleicht noch eins. Genau das will ich machen.

Dieser Wunsch hat Lebensentscheidungen geprägt, die ich getroffen habe, hat geprägt, welche Wege ich einschlug und welche ich verwarf. Irgendwie war alles leichter, nachdem ich begriffen hatte, dass ich genau das wollte – selbst als alles viel, viel schwerer wurde. Ich hatte beschlossen, im Dienste meiner eigenen Ideen zu handeln.

Es gibt eine Menge Gründe, aus denen ich schreibe. Das hier ist nur einer davon. Mein Empfinden, dass ich etwas besitzen will, meine Arbeit, meine Kreativität, meinen Namen besitzen. Vielleicht ist das nicht der lauterste Grund, keiner aus tiefstem Herzen, denn er hat auch mit meinem Ego zu tun. Aber er ist echt.

Ich besitze diese Worte. Ich besitze diese Ideen. Und hier ist mein Buch.

ERSTER TEILDIE LANGE, KURVENREICHE STARTBAHN

1Bestandteile

1.

Ich bin die Tochter einer mutterlosen Mutter. Das klingt dramatischer, als es eigentlich ist, auch wenn es für mich als Kind wohl etwas von Schauerromantik hatte. Es war traurig, dass die Mutter meiner Mutter so jung gestorben war, aber es war auch mysteriös, und was mysteriös war, war interessant. Ich wusste sehr wenig über die Frau, die mir eine Großmutter gewesen wäre – sie starb, als meine Mutter elf war, und hatte vor ihrem Tod fünf Jahre an einer Krankheit gelitten, also hatte meine Mutter sie nur auf eine bestimmte Weise erlebt und nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es gab eine spürbare Leerstelle in unserem Leben: dass wir von diesem Menschen nichts wussten, dass es so wenig Geschichten gab, die wir uns liebevoll erzählen konnten. Sie wurde erwähnt, hin und wieder sprach man natürlich von ihr, aber in erster Linie gab es im Hintergrund diese blasse Vorstellung von ihr.

Auch eine Traurigkeit, die man nicht benennt, kann natürlich tief empfunden sein. »Ein Schleier der Traurigkeit« war das in meiner Vorstellung gewesen, und so hatte ich es anderen beschrieben, als ich älter wurde. Meine Mutter war nach außen hin kein unglücklicher Mensch – bis heute ist sie fröhlich, energisch und umgänglich. Sie hat einen trockenen Humor. Große braune Augen, ein ironisches Lächeln. Sie mag Mannschaftssport, sogar jetzt im Ruhestand. Vom Pickleball-Platz muss man sie wegzerren. Die Leute mögen sie. Und ich werde ständig gefragt, wie ich über dermaßen kaputte Familien schreiben kann, wo meine Mutter doch offensichtlich ein so netter Mensch ist.

Trotzdem hatte ich in meiner Jugend stets ein Bewusstsein von Tragödie und Verlust – auch wenn ich selbst gar nichts verloren hatte. Eine Affinität zu dem, was da fehlte. Eine Skizze, ein Umriss, nie ganz ausgeformt und als Vorstellung doch existent. Gedachte Lücken, ausgefüllt mit Informationen, die ich nicht hatte, aber, wie ich merkte, mühelos erfinden konnte. Etwas, das wir tun als Autorinnen und Autoren. Wenn wir es uns nur zugestehen. Aber es hatte auch etwas, diese Leere einfach nur zu empfinden. Es ging nicht einfach um eine Oma weniger, die mir hätte ­sagen können, dass sie mich lieb hatte, obwohl – wäre es nicht auch schön gewesen, das zu hören? Tragödie und Verlust hatten mit mir nichts zu tun – dass sie fehlte, betraf ausdrücklich das Leben meiner Mutter. Eine Frau, die abwesend war. Und damit all das, was sie von ihrer Mutter niemals lernen durfte.

Vieles davon drehte sich um das Dasein als Mädchen. Ich spreche von der traditionellen, altmodischen Vorstellung von Mädchenzeit und Weiblichkeit, einer, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vorherrschte und sogar noch während der Achtziger, als ich am nordwestlichen Stadtrand von Chicago aufwuchs. Ein Mädchen zu sein, hat heute eine andere Bedeutung, flexibler, voll neuer Möglichkeiten, und für wen all das zugänglich ist, hat sich auch verändert. Doch im Moment denke ich an eine Zeit, in der Mädchen Make-up und Kleider tragen, irgendwann heiraten und Kinder kriegen sollten. Kochen und putzen und so weiter. Das scheint ewig her zu sein. Klar, all diese Erwartungen gibt es noch immer in unserer Kultur, aber inzwischen ist Raum für mehr – für viel mehr als diese Endlosliste weiblicher Eigenschaften, die man erwartet.

Meine Mutter lernte all das jedoch nie, nicht so, wie eine Mutter es an die Tochter weitergibt, und entsprechend lernte ich als Kind auch nichts darüber. (Und wieso sollte es auch allein ihre Sache gewesen sein, mir das beizubringen?) Ich war ziemlich burschikos, und irgendwann hörte das auf. Doch überbrücken ließ es sich nicht.

Immerhin gab es den Kapitalismus. Als ich zwölf Jahre alt war, fuhr meine Mutter mit mir zur Mall, Schminke ausprobieren. Madonnas erstes Album war gerade erschienen, und alle wollten so aussehen wie sie, insbesondere und ­offensichtlich die junge Frau am Make-up-Tresen. Ihr Haar fiel in schicken, sicherlich morgens vor dem Spiegel geduldig ondulierten Wellen. Mit meinem Gesicht ging sie auch geduldig um, diszipliniert, fixiert auf eine Vision: die kunstvolle, geometrische Betonung meiner Augen durch pinke und lila Dreiecke, dick aufgetragene Mascara und Eyeliner. Bei jeder neuen Schicht überkam mich Panik. Dieser Look war etwas für deutlich ältere Mädchen, und außerdem hätte ich ihn niemals selbst nachschminken können. Ich war noch nie gut im Ausmalen gewesen, und bei Augen­lidern schon gar nicht. Das kann ich nicht, dachte ich. So kann ich nicht sein.

Auf der Heimfahrt von der Mall betrachtete ich mich im Spiegel der Sonnenblende, und dann heulte ich los. »Ich sehe aus wie eine Prostituierte«, sagte ich, ohne je Sexarbeiterinnen gesehen oder kennengelernt zu haben oder irgendetwas von ihrem Erleben zu wissen. »Du musst das ja nicht wieder tragen«, sagte meine Mutter in einem Ton, der ahnen ließ, dass Make-up ohnehin überflüssig war.

Was war das überhaupt, Make-up? Ein Weg, die Wahrnehmung zu verändern, wo mein Gesicht doch eigentlich ganz von selbst jung und rein und gesund aussah. Lippen­stift bewirkte dies, Mascara jenes. So braute man etwas zusammen, wie nach einem Rezept. Damals kam mir das falsch vor. Behälter für Make-up hatte ich schon gesehen, im Bad, das ich mit meinem Bruder und meinen Eltern teilte, wo sie oft in einer Schublade verstaubten. Werbe­geschenke vom Clinique-Tresen, wenn meine Mutter dort Hand- oder Feuchtigkeitscreme kaufte. Lidschatten-Pröbchen, bald vergessen.

Make-up schien verbindlich zu sein, es aufzutragen eine Pflicht. Das musste ich tun, wenn ich als normal gelten wollte, was immer »normal« bedeutet, was immer »Mädchen sein« bedeutet, was immer das alles bedeutet. Diese Regeln hatte man lange vor meiner Geburt gemacht, und ich wusste noch nicht, dass ich sie brechen oder neu definieren oder komplett ignorieren durfte. Jedenfalls – ich fuhr zur Mall, um zu lernen, wie man als Mädchen ist. In einem Alter, in dem ich mir nicht einmal sicher war, was ich an mir mochte, was ich zur Geltung bringen oder betonen wollte – wenn überhaupt. Konnten wir uns nicht einfach lieber unterhalten? Nachdenken fand ich super. Konnte ich nicht einfach den ganzen Tag träumen? Aber nein – es war an der Zeit, anders auszusehen, anders zu fühlen, in die nächste Spielart meiner selbst hineinzuwachsen.

Durch das Make-up begriff ich, dass eine Uhr tickte, die ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte.

Als ich meine Mutter heute per E-Mail nach diesem ­katastrophalen Vorstoß ins Frausein frage, damals in der Mall, schreibt sie nur: »Meiner Erinnerung nach war das keine gute Erfahrung! Es ist schwierig, Mutter zu sein.« Ich erzähle ihr, dass ich über Make-up schreibe. »Ist nicht so dein Ding, hm«, sage ich. »Ich glaube, ich sehe auch ohne ganz schön aus«, sagt sie. Und sie hat recht.

Eine ungelernte Lektion also, doch dafür lernte ich eine andere, wenn auch durch Zufall. Wen interessiert schon die Oberfläche? Zudem gab mir meine Mutter stattdessen die Freuden des Lesens und der Kreativität mit, Respekt vor meiner Bildung und den Glauben, dass ich alles erreichen konnte, was ich wollte, unabhängig von meinem Geschlecht – all das nahm ich sehr gern an, statt die Herausforderung, Flüssig-Eyeliner zu bezwingen. (Die ich, ehrlich gesagt, auch im Alter von neunundvierzig noch nicht bezwungen habe.)

Die einzige Form von Make-up, die ich schon immer liebend gern nutze, ist Lippenstift. Ich liebe die vielen leuch­tenden Farben, wildes, hysterisches Pink, das ein langwei­liges Outfit aufpeppt, Löcher in graue Tage bohrt, oder leuchtendes, sexy, sinnliches Rot, das Stunden auf meinen Lippen haftet und sie auf bestimmte Weise markiert. Ich mag es, wie Lippenstift manchmal mit meinen Augen zusammenwirkt, bei denen ich meist finde, sie sind glücklicher für sich, unbekleidet. Ich denke gern an meinen Mund, nach vielen Jahren, in denen er gar kein Thema war. Etwas, das ich mag an meinem Gesicht – das kann ich so sagen. Meinen Mund. Ihn werde ich schmücken. Ich habe viele Jahre gebraucht, um dort anzukommen. Etwas zu finden, das ich betonen will.

2.

Eine weitere, nicht von meiner Mutter gelernte Lebens­lektion: Kochen. Klar, sie hatte Cousinen und Tanten gehabt, die hier und da etwas Wissen weitergaben, und im Rahmen der Schulbildung kam auch das Kochen vor. Wasser konnte sie erhitzen. Anweisungen konnte sie befolgen. Eine Schachtel mit handgeschriebenen Rezepten auf Karteikarten, verstaut in einem Küchenschrank. Honigkuchen für die hohen Feiertage. Doch bei einem alleinstehenden Vater, der zwei kleine Mädchen aufzog, entgingen meiner Mutter ein paar Fertigkeiten. Entsprechend lernte auch ich nie viel mehr als die Grundlagen.

Dafür ist aus mir ein begnadeter Dinnergast geworden. Es ist wunderbar, mich beim Kochen dabeizuhaben, vor ­allem, wenn ich ein Glas Wein bekomme, und auch, mich mit am Tisch sitzen zu haben, denn ich werde das Essen auf tiefe, emotionale Weise zu schätzen wissen und das auch sehr deutlich verbalisieren, nicht zuletzt, weil ich diese Form des Kochens aus meiner Jugend nicht kenne. Ich lege immer höchste Wertschätzung an den Tag, wenn ich eine köstliche, frisch zubereitete Mahlzeit bekomme, bestaune ehrlich und mit Hundeblick das Essen, das man mir vorsetzt. Ladet mich ein und gebt mir zu essen. Ich werde eure beste Gefährtin sein.

Trotzdem – meine Mutter versorgt mich auf ihre Weise mit Essen. Einmal ist sie von Chicago nach New York geflogen, weil sie sich um mich kümmern wollte, als ich mich von einer kleinen Operation erholte. Der Eingriff verlief glatt, die Schmerzmittel waren herrlich. Später, in meinem Apartment, reichte ich ihr eine Einkaufsliste mit Trostfutter. Auf dieser Liste stand auch Campbell’s Hühnersuppe mit Nudeln.

»Ich sollte dir besser Hühnersuppe mit Nudeln machen«, sagte sie.

»Mom, du hast mir noch nie im Leben Hühnersuppe mit Nudeln gemacht – höchstens aus der Dose«, sagte ich.

»Das stimmt nicht«, sagte sie.

»Klar stimmt das«, sagte ich.

Wir diskutierten kurz weiter. Bald wurde das Handy aus der Handtasche gefischt, und aus der Ferne drang die Stimme meines Vaters.

»Habe ich etwa keine Hühnersuppe mit Nudeln gemacht, als sie klein waren?«, fragte meine Mutter.

»Lass mich mit ihm reden«, sagte ich.

»Deine Mutter hat viel Wunderbares für dich getan«, sagte mein Vater. »Sie hat deine Liebe zu Büchern gefördert, sie hat dir beigebracht, dass du im Leben alles werden kannst, was du willst.«

»Ja, das weiß ich!«, sagte ich. »Ich behaupte ja gar nicht, dass sie keine tolle Mutter war. Aber Hühnersuppe mit Nudeln gab es nicht, stimmt’s?«

»An Hühnersuppe mit Nudeln kann ich mich nicht erinnern«, sagte mein Vater.

Ich sah meine Mutter an und schüttelte den Kopf. »Dad sagt Nein.«

»Also, jetzt mache ich definitiv Suppe für dich«, sagte meine Mutter, denn sie nimmt jeden Fehdehandschuh mit Freuden auf.

»Sag ihr, sie soll sich im Supermarkt unbedingt erkundigen«, sagte mein Vater.

Ich mailte einer Freundin, die eine wunderbare Köchin ist. Ich schrieb, meine Mutter wolle jetzt Hühnersuppe mit Nudeln kochen und das sei womöglich gefährliches Terrain. »Schick uns ein Rezept«, sagte ich. »Aber ein wasserdichtes.«

Sie schickte ein Rezept, und schon marschierte meine Mutter davon zum Supermarkt, um anständige Hähnchenschenkel zu ergattern. Inzwischen ließen die Schmerzmittel nach. Hoffentlich wird die Suppe gut, dachte ich.

Nach drei Stunden und einem Dutzend E-Mails mit der Freundin hatte meine Mutter erfolgreich die Hühnerbrühe gemacht.

Zwischenzeitlich gab es Meinungsverschiedenheiten. Zum Beispiel hatte sie natriumarme Brühe gekauft, und ich drängte darauf, sie zu salzen. »Ich erhole mich von einer Operation«, sagte ich. »Ich brauche mein Salz!« Aber die Brühe sah gut aus und roch gut. Das war definitiv Hühnersuppe, und sie war mit Liebe gemacht.

Jetzt fehlten nur noch die Nudeln.

Ich sah zu, wie meine Mutter eine ganze Pfundpackung Nudeln in die Suppe kippte. Etwas machte Klick in meinem Kopf. In genau diesem Moment schickte meine Freundin eine Mail. Betreffzeile: Nudeln. »Ich habe vergessen zu ­sagen, wie viele«, schrieb sie. »Hat sie die ganze Packung reingetan? Eigentlich sollte es etwa … eine Tasse sein.«

»Sie hat alle reingetan«, schrieb ich zurück.

»Aber die Nudeln sind doch das Beste«, sagte meine Mutter.

»Die Brühe ist nur ein Vorwand für die Nudeln«, bestätigte meine Freundin. »Aber trotzdem …«

Entsetzt sahen wir zu, wie die Nudeln die ganze Suppe aufsaugten. Wir wollten mehr Wasser dazugeben, aber es war zu spät. Meine Mutter und ich standen in der Küche und löffelten hektisch die verbleibende Brühe in unsere Schalen.

»Das ist meine Schuld!«, schrieb meine Freundin.

»Das ist meine Schuld!«, sagte meine Mutter.

Aha, die letzte Zutat: Schuld.

Aber eins kann ich sagen: Diese Schale Nudelsuppe war köstlich. Wir dachten beim Essen nicht an den Bottich suppengetränkter Nudeln, der in der Küche stand, und wir dachten auch nicht an die Unvollkommenheiten des Lebens. Ich war der beste Dinnergast meiner Mutter, und sie war meine Lieblingsköchin. Es war egal, was sie mir beigebracht hatte und was nicht – wichtig war, dass sie seinerzeit da war, für mich, in Brooklyn, in einem Loft aus Beton, und für mein Überleben sorgte.

3.

Aber noch einmal zurück zu dieser Frau, der abwesenden Mutter meiner Mutter. Ich wusste nicht viel über sie, konnte aber nicht sagen, ob ich einfach nie etwas erfahren oder in den Neunzigern nur zu viele Drogen genommen hatte, also rief ich meine Mutter an, um Auskunft einzuholen.

»Oje, wird das jetzt eine Therapiesitzung?« Meine Mutter seufzte. Gespräche darüber, was sie im Hinblick auf Vergangenes empfand, waren nicht gerade ihr liebstes Hobby. Sie überlegte eine Weile. »Ich habe viel verdrängt«, sagte sie. »Ich weiß noch, dass ich in der Schule nicht über sie reden wollte. Niemand sollte wissen, dass sie krank war. Auf jeden Fall klaffte ein Loch in meinem Leben, während dieser prägenden Jahre. Kannst du dich an unbeschwerte Geburtstage erinnern?«, sagte sie.

»Tja, ich weiß nicht, wie unbeschwert sie waren.« Ich lachte. »Aber das ist wahrscheinlich mein Problem.«

»Und ich kann mich an gar keinen Geburtstag erinnern«, sagte sie.

Trauer kann ewig anhalten. In diesem Land lernen wir, ­einen Schlussstrich anzustreben, man ermutigt uns, rasch zur Tagesordnung überzugehen. Womöglich verurteilt man uns, wenn wir nicht schnell genug über etwas hinwegkommen. Doch Trauer kann ein ganzes Leben lang anhalten.

Hinter einer Schale mit Mardi-Gras-Perlen und derzeit eingeklemmt zwischen einer Lampe mit ananasförmigem Fuß aus Messingimitat und Laura van den Bergs Buch I Hold a Wolf by the Ears steht auf einem schönen Einbauregal aus Zypressenholz in meinem Wohnzimmer das Bild der Mutter meiner Mutter.

Sie ist wunderschön, meine Großmutter, und so feminin – gut zurechtgemacht, heiter, fraulich. Sie wirkt klein auf diesem Bild, schmale Schultern, zierliche, vor der Brust verschränkte Arme. Ihr Lächeln sieht echt aus, unbefangen, und sie wirkt froh und entspannt, doch das Porträt ist eindeutig gestellt, sie steht leicht schräg, blickt frontal in die Kamera, vor einem weißen Hintergrund. Jemand hat ihr gesagt, stell dich so hin, schau hierher, lächle. Ich glaube nicht, dass sie eitel war. Ganz bestimmt war sie liebenswert. Ihre Augenbrauen sind gepflegt, nicht unbedingt schmal, aber gar nicht buschig, und die Augen sind dunkel und schauen direkt in die Kamera. Offenbar trägt sie kaum Augen-Make-up. Ihr Haar ist dicht und braun und lockig. Es sieht aus wie an den Seiten zurückgebunden, als hätte sie alles Haar zurückgestrichen und mit einer Spange festgesteckt. Die Frisur wirkt durchaus gepflegt, hat aber auch etwas Wildes. Hier herrscht am wenigsten Ordnung auf diesem Foto, bei der Frisur. Wenn ich genau hinschaue, sehe ich hier und da etwas Krause. Kenne ich, denke ich. Ja, kenne ich.

Aber ansonsten hat sie sich dem Anlass entsprechend zurechtgemacht. Die Ärmel ihrer Bluse – oder vielleicht auch ihres Kleides – sind bauschig, mit kleinen Schulterpolstern, und anscheinend irgendwie bestickt. Der Stil des Oberteils zusammen mit der Frisur legt nahe, dass das Foto aus den Vierzigerjahren stammt, und das heißt, dass sie Ende zwanzig oder Anfang dreißig war. Ihre Nägel sind mahagonibraun lackiert, mit einem Stich ins Rot. Sie trägt eine schmale, elegante Uhr und einen Ehering, breit und entweder aus Diamanten oder aus Gold, schwer zu ­sagen. Einen großen Diamanten erkenne ich in der Mitte.

Der Star dieser Show ist aber nicht der Diamant, sondern ihr Mund. Ein strahlendes Lächeln – man sieht die gesamte Zahnreihe oben und die meisten unteren Zähne auch. Sie sind gerade und weiß. Ein gesund wirkendes Lächeln. Ihre Lippen sind rot, leuchtend rot, fröhlich. Der obere Lippenbogen ist ein bisschen schief, eine Seite tiefer als die andere, und ich kann nicht erkennen, ob sie den Lippenstift nachlässig aufgetragen hat oder ob das die natürliche Form ihrer Lippen ist. Es kommt mir bekannt vor, dieses Schiefe.

Meine Mutter sieht nicht genauso aus wie sie, aber dies ist eindeutig die Mutter meiner Mutter.

Ist es seltsam, dass das Foto einer Frau, die ich gar nicht gekannt habe und über die ich nur wenig weiß, bei mir zu Hause so prominent aufgestellt ist? Das Foto steht auf ­Augenhöhe – wenn ich also auf der Couch sitze, wacht sie aus nächster Nähe über mich. Eine historische Persönlichkeit ist sie nicht, wohl aber eine Persönlichkeit in meinem Leben. Natürlich werde ich eines Tages sterben, und dann landet dieses Foto vielleicht im Müll. Das ist mir klar. Gut möglich, dass niemand da sein wird, der meine Sachen durchsieht. Ich bin das jüngere von zwei Kindern und bewusst kinderlos. Das Foto wird niemandem außer mir ­etwas bedeuten. Das Ende der Großmutter. Also sitze ich jetzt da, mit der Bedeutung, die es für mich hat. Ich sitze da mit ihrem Gesicht und den Geschichten, die ich mir über sie ausgemalt habe.

Was also weiß ich von ihr? Was kenne ich für Geschichten? Faye Sudack Schwartz wurde als Kind russischer ­Immigranten aus dem Gebiet der heutigen Ukraine in Fall River, Massachusetts geboren. Sie verstarb 1957. Mit neununddreißig Jahren, zu früh. »Ich weiß noch, wie mein Vater uns sagte, wir sollten immer bei Vollmond daran denken, dass sie über uns wacht«, sagte meine Mutter.

Mein liebstes Detail über sie, eins, an das ich mich klammere, wenn ich mich frage, woher ich komme und warum ich so bin, wie ich bin, ist dieses hier: Berichten zufolge hat sie wunderbare Briefe geschrieben. Daher habe ich das – so dachte ich immer. Ich fragte mich, was wohl passiert wäre, hätte sie noch gelebt, was für Briefe ich von ihr bekommen, welche Weisheiten sie an mich weitergegeben hätte. Vielleicht hätte sie mir erklärt, ich solle als Gast immer wertschätzend und dankbar sein. Vielleicht hätte sie gesagt, ich solle mich immer noch etwas mehr anstrengen, um meine Träume umzusetzen. Vielleicht hätte sie mir so wie meine Mutter erklärt, dass die Erscheinung einer Frau weniger wichtig ist als das, was sie mit Hirn und Mumm erreicht. Aber vielleicht hätte sie auch gesagt: Und weißt du was? Ein bisschen Lippenstift würde dir nicht schaden.

Im Badezimmerspiegel begutachte ich mein Gesicht. ­Irgendwie ist es sicherer, durch die Augen einer Ahnin über meine äußere Erscheinung zu sinnieren, eher als die Be­gutachtung meiner augenblicklichen Realität. Das Ver­langen, ein anderes Narrativ zu erschaffen als nur mich, nur dieses Gesicht. Es gehört zum Prozess, als Mensch wie als Autorin, es gehört dazu, wenn man Künstlerin ist, dieses ständige Bewerten, dass man Dinge auf ihre ursprünglichen Bestandteile herunterbricht und dann neu wieder zusammensetzt. Jene Details, die wir erben – ­können wir sie beanspruchen, können wir sie anerkennen? Nicht immer ein angenehmes Gefühl. Doch wenn wir das mit Liebe tun können oder Humor oder Nachsicht oder zumindest Großzügigkeit, mit gegenseitigem Verständnis, dann stärkt es die Arbeit nur. Dann stärkt es das Selbst.

Ich denke daran, dass der Lippenstift auf ihren Lippen genau so aussieht wie bei mir immer – eine Seite ist etwas voller als die andere. Und mein Gesicht hat dieselbe Form wie ihres, rechts ein bisschen breiter, etwas runder am Wangenknochen und oben neben dem Auge. Die Bestandteile ihres Gesichts, ihre Gene, ihre Zellen – unmittelbar präsent in meinem, so fühlt es sich an. Dass sie nicht da war, und wie meine Mutter dadurch beeinflusst wurde, das ist Bestandteil meiner Zusammensetzung. Dieses Mysteriöse, diese Traurigkeit, diese unbekannte Frau, alles Bestandteile meiner Blickrichtung, meines Verlangens, Geschichten zu erzählen, Wahrheiten über Familien aufzudecken. Als könnte ich das Mysterium meiner selbst dadurch lösen, dass ich andere verstehe.

Eine verlorene Mutter, rote Lippen, die Briefe, die wir schreiben.

2Steig in den Van

Anfangs habe ich die meisten Lesereisen allein gemacht, mit dem Auto quer durchs ganze Land. Alle hielten mich für verrückt. Da draußen unterwegs in meinem Kombi, dem mit den zweihunderttausend gefahrenen ­Meilen, der klapperte, wenn ich über den Highway raste. Sobald ich etwas schneller fuhr, hörte ich die Lautsprecher nicht mehr, nur ein Dauerdröhnen von Staat zu Staat. Freunde und Familie erklärten, dass sie sich jedes Mal Sorgen machten, wenn ich mich wieder auf Tour begab.

Aber ich bin die Tochter eines Geschäftsreisenden, mir gehen ganze Generationen von Geschäftsleuten voraus. Meine Urgroßeltern waren russische Einwanderer, und sie haben sich hier in Amerika ein Leben aufgebaut. Papa Joe und sein Lebensmittelgeschäft in Massachusetts. Es gab kein Innehalten. Unaufhörlich wurde verkauft. Und auf­gewachsen bin ich im Mittleren Westen, dort, wo malocht wird, in einer Kleinstadt, die wenige Jahre vor meiner ­Geburt aus dem Nichts erbaut worden war. Also war ich ständig von Tatendrang umgeben.

Ich war achtunddreißig, als ich für mein drittes Buch auf Lesereise ging, für das Buch, das meine Karriere beinahe zerstört hätte. Das war 2010. Ich war voller Hoffnung, was Bücher und Literatur und das Leben betraf, und wollte einfach nicht wahrhaben, dass die wenigen Kritiken, die ich bisher für das Buch bekommen hatten, nur so lala waren und wirklich nicht toll, und sehr viele würden es auch nicht mehr werden, und das bisschen Presse versandete schon komplett, und das Buch war erst vor einer Woche erschienen.

Hätte ich kurz innegehalten und mal überlegt, wäre mir vielleicht aufgefallen, wie die Last dieses beredten Schweigens mein Ego zu einem grämlichen, bangen, faserigen Staub zerrieb, und der dabei entstehende Grus wäre mir im Hals stecken geblieben, hätte jemand in aller Unschuld gefragt: »Und, was macht das Buch?« Aber es fragte niemand. Und ich hielt nicht inne.

Stattdessen dachte ich im Stillen: Wenn ich jetzt einfach losfahre, wird alles gut, das Buch wird prima laufen, ich werde ein Leben führen, das mich interessiert, und ich werde, so hart ich kann, an meiner Karriere arbeiten und mich für ein Buch einsetzen, an das ich glaube. Ist doch egal, wenn niemand darüber spricht. Man spricht noch nicht darüber, dachte ich. Was soll’s, wenn mein Verlag nicht in Werbung für das Buch investiert. Ich würde jetzt meine eigene Werbung machen. Ich würde meine eigene Werbung sein. Aufhören würde ich nur unter Zwang. Ich würde immer weiter durch ganz Amerika fahren, bis jemand mein gottverdammtes Buch kaufte. Ich lebte von dem, was ich als freie Werbetexterin verdiente, für Server oder schicke neue Handys, Technikprodukte, die ich mir nicht leisten konnte. Am anderen Ende würde mein Konto so gut wie leer sein. Aber ich würde von New York City durchs Landesinnere bis nach Kalifornien fahren und ­unterwegs Lesungen machen, wo immer man welche hören wollte. Ich war sicher, am Ende der Reise würde ich ein Wunder vollbracht haben. Wenn ich genügend Bücher verkaufte, würde man mich noch eins schreiben lassen.

Leider muss ich berichten: Niemand kaufte mein Buch.

Es war Winter, und auf meiner Reise war es kalt und nass. Morgens Schnee vom Auto kratzen. Mit den Stiefeln auf den Boden stampfen. Damals rauchte ich noch, und vor den Hotels, in denen ich wohnte, qualmte ich eine vor dem Schlafengehen. Whiskey als Absacker, um meine Knochen zu wärmen. In Portsmouth kamen nur acht Leute zu meiner Lesung. Tags drauf in Boston ein paar mehr. Am nächsten Abend machte ich halt in Buffalo, wo ich niemanden kannte, nur um kurz meine alten Knochen auszuruhen, und dort im Hotelzimmer fühlte ich mich gut und einsam, dieser Zustand, in dem der Schmerz so schön brennt, als wollte er einem etwas Wichtiges sagen, und am Morgen fuhr ich weiter nach Oberlin, um vor jungen Leuten zu sprechen, die Kreatives Schreiben studierten.

Für sie war ich irgendeine Frau, die zufällig in ihrem ­Seminarraum erschien, eine, von der sie noch nie gehört hatten. Fragt mich was über das Schreiben, fragt, was ihr wollt. Wie, Schreiben? Ich ließ mich nicht entmutigen. Das gehörte alles zur Strategie. Einfach weiter Leute treffen, allen von meinem Buch erzählen, dann würde das schon klappen. Gute Strategie. Klug.

Später traf ich ein paar Studierende auf dem Parkplatz des Restaurants, in dem ich zu Abend gegessen hatte, und tauschte Taschenbuchexemplare meiner früheren Bücher gegen Mix-CDs, die sie in ihren Wohnheimzimmern für mich brannten. Mein uraltes Auto, das nichts als CDs abspielte. Für den Rest der Reise hörte ich mir ihre Zusammen­stellungen an und schrieb im Kopf auf Grundlage ihres Musikgeschmacks Geschichten über die Kids. Ich fragte mich, ob jemand von ihnen später schreiben würde – oder ob ich sie nachhaltig abgeschreckt hatte. Diese Frau, die da draußen ganz allein unterwegs war, von Staat zu Staat. Bye-bye, winkte ich ins Leere, jeden Tag.

Von Oberlin nach Chicago, von Chicago nach Davenport, wo ich im Studierendenhaus einer kleinen Uni sprechen sollte, noch eine Veranstaltung, die nichts Besonderes war – wie alle anderen auch –, doch mir gefiel der Gedanke, so oft wie möglich zu Studierenden zu sprechen, und außerdem gefiel mir der Gedanke an Davenport.

Die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, lag früher eine halbe Stunde vom Zentrum Chicagos entfernt, doch als dann die Einwohnerzahl in den Vorstädten in den nächsten Jahrzehnten explosionsartig anstieg und der Verkehr zunahm, fuhr man eine knappe Stunde. Diese Städtchen im Mittleren Westen fand ich toll. Ich fand es toll, wenn es dort zwei Pizzerien gab und einen Chinesen und einen Burgerladen und ein Steakrestaurant und ein kleines Kaufhaus und einen Park mit Spazierwegen und Grillplätzen und ein städtisches Schwimmbad und ein Rathaus und drei Kneipen, die alle Old Style vom Fass ausschenkten, und zwei Grundschulen und eine Junior Highschool und eine Highschool und eine Weight-Watchers-Dependance und eine öffentliche Bibliothek und mehrere religiöse Einrichtungen und eine Zeitarbeitsagentur und ein Gewässer in der Nähe und ganz flaches Land und eiskalte Winter und Tornadowarnungen und einen staubigen Schnapsladen, dem freitagabends die Fässchen ausgingen, und vielleicht, am Stadtrand, ein schreckliches Motel, das keiner beachtete und das trotzdem immer noch irgendwie in Betrieb war. Ich mochte Häuser, die mit der Zeit regellos gewachsen waren, statt dass man zum Siedlungsbau anrückte und Land umgrub und immer wieder das gleiche Haus errichtete, mit kleinen Variationen aufs Thema. Ich mochte Städte, die irgendwann nach 1900 entstanden waren. Ich mochte Stahlwerke in der Ferne. Ich mochte den Gedanken an ein funktionierendes Amerika, an eins, das auf ehrlicher, harter Arbeit und beständigen Traditionen fußte, auch wenn ich inzwischen als Erwachsene weiß, dass vieles davon ent­weder gestohlen oder auf dem Rücken anderer errichtet worden war, dass Rassismus in allen Ecken dieses Landes gedieh, und dass manches, was mir das amerikanische Bildungssystem vermittelt hatte, entweder irreführend oder unrichtig war. Doch hin und wieder ließ ich mich immer noch gern auf die Scheinwelt meiner jugendlichen Illusion von Amerika ein und flüsterte einem Städtchen zu: »Wie süß du bist!« Und wenn ich auf einer Lesereise eine Stadt im Mittleren Westen besuchen konnte, wenn ich die Augen zusammenkniff, dann konnte ich so tun, als gäbe es diese Spielart tatsächlich.

Das Problem liegt natürlich nicht in der Vorstellung. Eine Vorstellung kann gar nicht falsch sein. Solange wir vor Augen haben, dass sie nichts anderes ist. Denn das, wovon ich hier rede, ist eine halbwahre Spielart von Amerika. Sie funktioniert nur für einige Leute.

Doch damals hatte ich mich auf Davenport gefreut, dieses Städtchen in Iowa mit der wunderschönen alten Innenstadt, eine echte Quad City, derer es fünf gab: Bettendorf, ebenfalls in Iowa, und in Illinois die Städte Rock Island, Moline und East Moline. Es hatte geschneit, aber schon Tage vor meiner Ankunft, sodass sich der Schnee inzwischen verdichtet hatte und leicht vereiste, und es dämmerte schon, und in der ganzen Stadt stieg Rauch aus den Kaminen. Ich erreichte das Haus, in dem ich übernachten sollte, grünlichbraun, schmal, zwei Etagen, in einem Block gelegen, der viel kleiner war als die anderen in der Umgebung und dadurch eher wie eine Insel wirkte als wie ein Straßenzug. Es gab nur ein weiteres Haus in dem Block, und beide zusammen wirkten wie Kameraden, die ihr eigenes kleines Königreich behaupteten.

So, wie mir Amerika vorkam, als ich an jenem Abend in jener Straße in Davenport ankam, kommt es mir auch heute vor. Amerika ist groß und schön, und komisch gebaute Blocks darf es nach wie vor geben, und es ist an genügend Stellen immer noch völlig unberührt, und wir können quer hindurchfahren und uns das ansehen, und all das lässt mich hoffen, dass wir es noch nicht komplett versemmelt haben. Ich mache mir Sorgen, dass das, was einmal gestohlen wurde, immer und immer wieder gestohlen werden wird, aber ich halte trotzdem fest an diesem Gefühl. Ich versuche, in Hoffnung zu leben beim Gedanken an Amerika. Es läuft überall miserabel, andauernd, ich weiß, aber lasst mir trotzdem meine Hoffnung. Sie ändert nichts daran, wie ich durch die Welt gehe und was ich als Wahrheit erkenne. Und doch schöpfe ich Trost aus der Glut. Es gibt immer noch Glut! In der so viel Leben ist, dass sie brennt.

Ich parkte mein Auto vor der Mitte des Blocks und holte mein Gepäck aus dem Kofferraum. Ich trug nicht die richtigen Schuhe für Schnee. Ich trottete durch die letzten zentimetertiefen Verwehungen auf das Haus zu, zerrte halbherzig meine Tasche hinter mir her, und der Freund, bei dem ich wohnte, nahm mich vor dem Haus mit einem Klaps auf die Schulter und einem Handschlag in Empfang. Er war Kunstprofessor in Davenport, ein großer, bärtiger, freundlicher Mann mit ansehnlichem Haarschopf – er hatte organisiert, dass ich dort am College einen Vortrag hielt. Ich kannte ihn nicht gut, mochte ihn aber gern, wie seine Frau, eine Therapeutin. Zwei ausgeglichene, rücksichtsvolle Menschen, die leise sprachen, vielleicht zehn Jahre jünger als ich. Beide lasen viel. Ich fühlte mich sofort angenommen. Sie waren aus Chicago hergezogen und freuten sich in ihrer kleinen Stadt anscheinend über Gesellschaft aus einer großen. Wir hatten uns zwei Jahre zuvor kurz kennengelernt, nach einem Literaturfestival in Chicago, und nun sahen wir uns wieder. Eine Gefälligkeit von nahezu Fremden. Damals machte ich so etwas ständig. Leute kurz kennenlernen, eine Beziehung aufbauen, und dann bei ihnen zu Hause erscheinen, auf Einladung zwar, aber trotzdem, irgendwie, einfach … erscheinen. Ob das irgendwie seltsam war? Dass ich so schnell Freundschaft mit Leuten schloss und dann bei ihnen zu Hause erschien? In Wahrheit machte ich das schon seit Jahren so.

Er nahm mir das Gepäck ab, hievte es mühelos hoch und trug es den restlichen Weg. Wie es mich erleichterte, dass er mir mit meiner Tasche half. Nachdem ich sie so lange selbst getragen hatte.

Beim nächsten Zusammentreffen mit dem Professor und seiner Frau sollten sie ein Kind bekommen haben, und ein weiteres sollte folgen. Ich war immer noch irgendjemand, die bei ihnen pennte. Dann sollten sie ein neues Haus beziehen. Er sollte befördert werden. Ihr Leben sollte anders aussehen. Die beiden hatten irgendwo angefangen und landeten schließlich woanders. Bei mir war noch immer alles beim Alten. Ich war unterwegs.

Ich hatte ein paar Veranstaltungen in Nebraska, wo die Luft klar war und frisch, knackig blaue Winterhimmel, und das Land noch trocken und eben und karg, sodass man sich kaum vorstellen konnte, dass dort schon bald alles wachsen würde. Zwei Tage später fuhr ich weiter nach Laramie. ­Irgendwo bei Cheyenne begann es zu schneien, rasch immer dichter, bis es zum Whiteout kam. Es hätte jede Tages- oder Nachtzeit sein können. Ich redete mir selbst gut zu. »Alles okay, alles in Ordnung«, sagte ich. Vor mir geriet ein Auto ins Schlingern – das geschah noch einige Male, und immer wich ich aus. Ich sah einen quer stehenden Laster und dann, ein paar Meilen weiter, noch einen. Nirgendwo war es sicher, ich traute mich nicht, rechts ranzufahren, und wer konnte absehen, wann es aufhören würde zu schneien? Ist das jetzt mein Abgang?, dachte ich. Ein Schneesturm in Wyoming. »Sie starb auf der Straße«, schrieb ich im Kopf. »Und kein Mensch hatte ihr Buch gekauft.« Aber irgendwie schaffte ich es wohlbehalten nach Laramie.

In der Stadt hatte das Schneetreiben nachgelassen. Ich fand ein billiges Hotel mit ein paar freien Zimmern. Laramie liegt fast 2200 Meter über dem Meeresspiegel. Mein Adrenalinschub vom Stress des Fahrens sackte irgendwann ab. Ich war ganz benommen, als ich durch die Straßen ging. Ich weiß noch, dass ich den größten, saftigsten Cheeseburger bestellte, den ich in der ganzen Stadt auftreiben konnte, mit gegrillten Zwiebeln und einer riesigen Scheibe Bacon. Beim Essen saß ich an der Bar des Restaurants. Ich trank ein Bier und einen Whiskey, und dann noch ein Bier, und dann noch einen Whiskey. Ich stiefelte auf vereisten Straßen durch die Stadt, von einer Bar zur anderen, dankbar, dass ich lebte und betrunken durch Laramie lief, auch wenn ich immer noch ziemlich durch den Wind war.

Ich trat auf ein glattes Stück Eis. Ich tastete mich vorsichtig darüber hinweg. Diese leeren und stillen und klirrend kalten Straßen der Stadt. Das Gegenteil einer Umarmung.

Und dann konnte ich mein Leben plötzlich aus einer ganz anderen Perspektive sehen: Was machte ich in Laramie? Ob es wohl irgendwo anders ein Zuhause für mich gab? Ein gemütliches. Ich konnte doch einen Bürojob ­haben, ein Zuhause in der Vorstadt. (Nicht, dass ich in der Vorstadt wohnen wollte, aber es gab sie nun mal, und sie kam mir sicher vor.) Eine stabile Existenz, statt um mein Leben zu fürchten, allein auf der Straße.

Aber ich wusste, mein Zuhause lag in den Büchern. Ich machte all das für die Bücher. In Laramie, in der schneidenden Abendluft, lachte ich mich selbst aus. Ich war verflucht, ich war verdammt. Aber ich war noch am Leben. Ich schaffte es zu einem Gehweg, wo der Schnee geräumt war. Weiter, dachte ich. Weiter. Für die Bücher.

Endlich erreichte ich die Westküste. Die Lesereise war dort nicht zu Ende, doch meine Erinnerung reicht nur bis nach Big Sur. Dort machte ich für zwei Tage Station, in einer ­Unterkunft, die du vielleicht kennst, wenn du die Westküste Kaliforniens schon einmal rauf- oder runtergefahren bist, ganz gemächlich, sodass eher die Fahrt der Urlaub ist als das Reiseziel selbst. Kompakte kleine Häuschen, ruhig, rustikal, kein Internet, nur Frieden.

Zur Zeit meiner Reise konnte man dort nur telefonisch reservieren. Ich hatte der Rezeptionistin gesagt, dass ich allein unterwegs war, mit dem Auto. »Ah, die Allein­reisende«, sagte sie. Schon von Weitem erkannt. Sie sagte es ganz sachlich, quasi zur Bestätigung meiner Identität. Nichts in mir reagierte in dem Moment emotional auf diese Bezeichnung. Doch diese Zeit sollte noch kommen.

Das Zimmer war klein und behaglich. Auf einem Schild an der Tür stand: La Petite Cuisine. Und in der Stille des Zimmers gab es dennoch Geräusche: knirschende Auto­reifen auf Kies, zirpende Insekten am Abend, das Rauschen des Winds in den Bäumen. Die Luft wehte vom Pazifik her nur über die Straße, drang schon in meine Lungen und rief dort ein frisches, gesundes Brennen hervor. Es erinnerte mich an einen Campingplatz in meiner Jugend: Die Zeit kam dort zum Stillstand, die Außenwelt verschwand hinter dem Vorhang namens Abstand. Niemand wusste, was irgendwo anders geschah. Wichtig war nur der Ort, an dem man sich gerade befand. Es gab Zugang zu allen Elementen der Natur. Und in der Nähe ein Bett zum Schlafen.

Ich bin vielleicht ein Dutzend Mal in Nordkalifornien gewesen, meistens in San Francisco – damals, als junge, schluffige Menschen dort noch billig leben konnten, als es noch machbar und realistisch schien, sich für ein paar Tage dorthin zu verdrücken. Und mein erstes Buch habe ich dort geschrieben, in Napa.

Dort war ich gelandet, weil sich eine Freundin von mir in einen Mann namens John verliebt hatte, einen Fernseh­autor. Sie hatte ihn im Internet kennengelernt und war an die Westküste gezogen, um bei ihm zu sein, zuerst in die Nähe von Los Angeles und dann nach Napa, wo er ein Anwesen mit Häusern, ein kleines Weingut und einige Morgen Land besaß. Im Sommer zuvor hatte ich meine Freundin und ihre Tochter dorthin gefahren, zu ihrem neuen Leben mit diesem Mann. Und im Sommer darauf wurde ich dann wieder eingeladen. Ich hatte ein kleines Chapbook und einige Zines und hier und da ein paar Essays veröffentlicht, und meine Freundin hatte zu mir gesagt: »Worauf wartest du noch? Es wird Zeit, dass du jetzt mal ein Buch schreibst.« Was für ein Glück, dass ich so eine Freundin hatte. Sie sagte, ich solle für ein paar Monate kommen, und John, der mich kaum kannte, war großzügigerweise einverstanden. Sie hatte recht, beschloss ich. Es wurde Zeit. Das war 2004.