Bleeding Edge - Thomas Pynchon - E-Book

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Thomas Pynchon

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Beschreibung

«Es ist 2001 in New York. Wir befinden uns in der Flaute zwischen dem Platzen der Dotcom-Blase und den schrecklichen Ereignissen des 11. September. Das Web 1.0 leidet unter pubertären Angstzuständen, Googles Börsengang steht noch bevor, aber es herrscht kein Mangel an Schwindlern, die darauf aus sind, sich ein Stück vom Rest des Kuchens abzuschneiden. Maxine Tarnow hat eine nette kleine Betrugsermittlungsagentur auf der Upper West Side, früher mal mit staatlicher Lizenz, doch die ist ihr entzogen worden. Was sich als Segen erwies, denn nun kann sie eine Beretta mit sich herumtragen, Kontakte mit zwielichtigen Gestalten pflegen und sich in fremde Bankkonten hacken. Im Übrigen führt sie das Leben einer typischen berufstätigen Mutter – zwei Jungen in der Grundschule, ungeklärter Beziehungsstatus mit ihrem Quasi-Semi-Exmann Horst, alles ganz normal –, bis sie sich für die Finanzen einer Computer-Sicherheitsfirma sowie deren nerdigen, milliardenschweren Vorstandsvorsitzenden interessiert, worauf die Ereignisse sich in die U-Bahn stürzen und unter Auslassung mehrerer Haltestellen ins Zentrum des Geschehens rasen. Bald macht Maxine die Bekanntschaft eines Drogenschmugglers mit einer Art-déco-Yacht, eines professionellen, von Adolf Hitlers Aftershave besessenen Riechers sowie eines neoliberalen Geldeintreibers mit Schuhproblemen. Und mit anderen Schurken, von denen einige seltsamerweise mit einem Mal tot sind. Werden die Übeltäter entlarvt oder gar – unvorstellbar! – verknackt? Wird Maxine die Pistole aus der Handtasche nehmen müssen? Werden sie und Horst wieder zusammenfinden? Wird Jerry Seinfeld einen Gastauftritt haben? Werden die irdischen und die karmischen Konten ausgeglichen? Tja, wer will das schon wissen?» Thomas Pynchon

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Thomas Pynchon

Bleeding Edge

Roman

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Es ist 2001 in New York. Wir befinden uns in der Flaute zwischen dem Platzen der Dotcom-Blase und den schrecklichen Ereignissen des 11. September. Das Web 1.0 leidet unter pubertären Angstzuständen, Googles Börsengang steht noch bevor, aber es herrscht kein Mangel an Schwindlern, die darauf aus sind, sich ein Stück vom Rest des Kuchens abzuschneiden.

Maxine Tarnow hat eine nette kleine Betrugsermittlungsagentur auf der Upper West Side, früher mal mit staatlicher Lizenz, doch die ist ihr entzogen worden. Was sich als Segen erwies, denn nun kann sie eine Beretta mit sich herumtragen, Kontakte mit zwielichtigen Gestalten pflegen und sich in fremde Bankkonten hacken. Im Übrigen führt sie das Leben einer typischen berufstätigen Mutter – zwei Jungen in der Grundschule, ungeklärter Beziehungsstatus mit ihrem Quasi-Semi-Exmann Horst, alles ganz normal –, bis sie sich für die Finanzen einer Computer-Sicherheitsfirma sowie deren nerdigen, milliardenschweren Vorstandsvorsitzenden interessiert, worauf die Ereignisse sich in die U-Bahn stürzen und unter Auslassung mehrerer Haltestellen ins Zentrum des Geschehens rasen. Bald macht Maxine die Bekanntschaft eines Drogenschmugglers mit einer Art-déco-Yacht, eines professionellen, von Adolf Hitlers Aftershave besessenen Riechers sowie eines neoliberalen Geldeintreibers mit Schuhproblemen. Und mit anderen Schurken, von denen einige seltsamerweise mit einem Mal tot sind.

 

Werden die Übeltäter entlarvt oder gar – unvorstellbar! – verknackt? Wird Maxine die Pistole aus der Handtasche nehmen müssen? Werden sie und Horst wieder zusammenfinden? Wird Jerry Seinfeld einen Gastauftritt haben? Werden die irdischen und die karmischen Konten ausgeglichen?

Über Thomas Pynchon

Inhaltsübersicht

Motto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel

Wäre New York eine Figur

in einem Kriminalroman, dann wäre sie weder

der Detektiv noch der Mörder, sondern vielmehr

der geheimnisvolle Verdächtige,

der die wahre Geschichte kennt, aber nicht

vorhat, sie zu erzählen.

Donald E. Westlake

1

Es ist der erste Frühlingstag des Jahres 2001, und Maxine Tarnow, in manchen Systemen noch als Loeffler gespeichert, bringt ihre Jungen zur Schule. Ja, ja, sie sind vielleicht schon ein bisschen zu alt, um noch dorthin begleitet zu werden, und vielleicht will Maxine sie einfach noch nicht loslassen, aber die Schule ist ja nur ein paar Blocks entfernt und liegt auf ihrem Weg zur Arbeit, und es macht ihr Freude, also was soll’s?

Heute Morgen sieht es so aus, als hätten sich an den Straßen der Upper West Side sämtliche Chinesischen Wildbirnbäume über Nacht in weiße Blütenwolken verwandelt. Während Maxine diesen Anblick in sich aufnimmt, findet ein Sonnenstrahl seinen Weg an Dachsimsen und Wassertanks vorbei und fällt auf einen einzelnen Baum, der sogleich aufleuchtet.

«Mom?» Ziggy ist wie immer in Eile. «Yo.»

«Seht ihr das, Jungs? Den Baum da?»

Otis wendet kurz den Kopf. «Toll, Mom.»

«Nicht schlecht», findet auch Zig. Die Jungs gehen weiter, Maxine betrachtet den Baum noch eine halbe Minute und holt sie dann ein. An der Ecke nimmt sie reflexhaft die Außenkurve, um zwischen ihnen und jedem Fahrer zu sein, dessen Vorstellung von Sport es ist, die Kurve zu schneiden und jemand über den Haufen zu fahren.

Das von den Fenstern der nach Osten gehenden Wohnungen reflektierte Sonnenlicht bildet jetzt verschwommene Muster auf den Fassaden der gegenüberliegenden Gebäude. Neu eingesetzte Gelenkbusse kriechen wie gigantische Insekten auf den Crosstown-Routen dahin. Stahlrollläden werden hochgezogen, frühe Lieferwagen parken in zweiter Reihe, Männer laufen mit Schläuchen herum und spritzen ihr Stück Bürgersteig ab. In Hauseingängen schlafen Obdachlose, Sammler mit riesigen Plastiksäcken voll leerer Bier- und Limodosen sind unterwegs zu Supermärkten, um das Pfand zu kassieren, und vor den Portalen mancher Gebäude warten Arbeitskolonnen darauf, dass der Hausmeister auftaucht. Am Bordstein traben Jogger auf der Stelle, bis die Ampel umspringt, und in Coffeeshops bekämpfen Polizisten ihren Bagelmangel. Kinder, Eltern und Kindermädchen sind zu Fuß und auf Rädern in alle möglichen Richtungen zu allen möglichen Schulen in der Gegend unterwegs. Die Hälfte der Schulkinder ist mit den neuen Razor-Rollern ausgestattet, sodass man der Liste von Dingen, vor denen man auf der Hut zu sein hat, auch noch hinterrücks heranrasendes Aluminium hinzufügen muss.

Die Otto-Kugelblitz-Schule nimmt drei nebeneinanderstehende Brownstone-Gebäude zwischen Amsterdam und Columbus Avenue ein, in einer Querstraße, auf der bis jetzt noch keine einzige Szene von Law & Order gedreht worden ist. Die Schule ist nach einem frühen Psychoanalytiker benannt, der wegen der von ihm entwickelten Rekapitulationstheorie aus Freuds engstem Kreis ausgeschlossen wurde. Für ihn war es offensichtlich, dass der Mensch im Laufe seines Lebens die verschiedenen seinerzeit klassifizierten Geistesstörungen durchmacht: den Solipsismus des Kleinkindes, die sexuelle Hysterie der Adoleszenz und der frühen Erwachsenenzeit, die Paranoia der mittleren Lebensjahre, die Demenz des Alters … und das alles läuft auf den Tod zu, der sich dann endlich als «geistige Gesundheit» erweist.

«Großartiger Zeitpunkt für diese Erkenntnis.» Freud schnippte Zigarrenasche nach Kugelblitz, schmiss ihn aus der Berggasse 19 und riet ihm, sich nie wieder sehen zu lassen. Kugelblitz zuckte die Schultern, emigrierte nach Amerika, ließ sich auf der Upper West Side nieder und eröffnete eine Praxis. Bald war er bestens verbunden mit den Reichen und Einflussreichen, die in einem Augenblick des Schmerzes oder der Krise seine Hilfe in Anspruch genommen hatten. Wenn er sie bei den Schickimicki-Veranstaltungen, an denen teilzunehmen er sich immer häufiger genötigt sah, einander als «Freunde» vorstellte, erkannte einer im anderen die geheilte Seele.

Was immer die Kugelblitz’sche Analyse mit ihren Gehirnen anstellte – einige dieser Patienten gingen aus der Wirtschaftskrise jedenfalls reich genug hervor, um nach einer Weile das Startkapital für die Schule zu stellen, Kugelblitz an den Gewinnen zu beteiligen und einen Lehrplan zu formulieren, nach dem jede Jahrgangsstufe mit einer anderen Geisteskrankheit gleichgesetzt und entsprechend behandelt wurde. Im Grunde also eine Klapsmühle mit Hausaufgaben.

Wie immer wimmelt es auf dem überbreiten Vorplatz auch heute von Schülern und zum Dompteurdienst eingeteilten Lehrern, von Eltern und Kindermädchen und jüngeren Geschwistern in Kinderwagen. Bruce Winterslow, der Direktor, schreitet, zur Feier der Tagundnachtgleiche in weißem Anzug und Strohhut, durch die Menge der Schüler, deren Namen und Kurzbiographien er allesamt im Kopf hat, klopft liebenswürdig und zugewandt auf Schultern und lobt oder droht, je nachdem.

«Maxi, hi.» Vyrva McElmo gleitet durch das Gewusel und braucht dafür viel länger als nötig – ein West-Coast-Ding, wie es Maxine scheint. Vyrva ist ein Schatz, aber nicht annähernd zeitorientiert genug – sie kommt mit Sachen durch, für die man anderen Frauen längst den Upper-West-Side-Mom-Ausweis entzogen hätte.

«Heute Nachmittag ist mal wieder ein einziger Terminalbtraum», ruft sie, noch ein paar Kinderwagen entfernt. «Nichts wirklich Ernstes, jedenfalls noch nicht, aber ich wollte dich trotzdem –»

«Kein Problem», nur um die Sache ein bisschen abzukürzen, «ich nehme Fiona mit zu uns, dann kannst du sie irgendwann abholen.»

«Tausend Dank. Ich sehe zu, dass es nicht so spät wird.»

«Sie kann auch jederzeit bei uns übernachten.»

Als sie einander noch nicht so gut kannten, hatte Maxine, wenn sie sich einen Kaffee aufsetzte, immer auch eine Kanne Kräutertee für Vyrva gemacht, bis diese eines Tages mit mildem Vorwurf fragte: «Hab ich eigentlich ein kalifornisches Nummernschild auf dem Hintern oder was?»

Heute Morgen, bemerkt Maxine, ist Vyrvas gewohntes Erscheinungsbild ein wenig verändert – zum Beispiel trägt sie anstelle des Jeans-Overalls etwas, das Barbie als Business-Lunch-Kostüm bezeichnen würde, das blonde Haar ist nicht zu den üblichen Zöpfen geflochten, sondern aufgesteckt, und die Plastikohrringe in Form von Monarchfaltern sind ersetzt durch schlichte Ohrstecker mit … was? Brillanten? Zirkonen? Sie hat irgendwann heute noch einen Termin, zweifellos geschäftlich, wegen eines neuen Jobs vielleicht oder um weitere Mittel lockerzumachen.

Vyrva hat ihren Magister in Pomona gemacht, aber keinen Job. Sie und Justin sind Transplantate: vom Silicon Valley in die Silicon Alley. Justin und ein Freund aus Stanford haben ein kleines Start-up-Unternehmen, das die Dotcom-Katastrophe vom vergangenen Jahr irgendwie, wenn auch nicht gerade vernunftwidrig ausgelassen, überstanden hat. Bis jetzt haben sie es noch immer geschafft, das Schulgeld zu bezahlen, ganz zu schweigen von der Miete für Souterrain und Hochparterre eines Brownstone-Hauses nicht weit vom Riverside Drive, wo Maxine bei ihrem ersten Besuch einen Anfall von Immobilienneid hatte. «Tolle Wohnung», heuchelte sie aufrichtige Bewunderung. «Vielleicht bin ich in der falschen Branche.»

«Sprich mit Bill Gates hier», Vyrva ganz nonchalant, «ich sitze nur rum und warte drauf, dass meine Optionen was abwerfen. Stimmt’s, Schatz?»

Kalifornische Sonne, das Meer ein Schorchelparadies, meistens jedenfalls. Hin und wieder aber … Maxine ist lange genug im Geschäft, um Antennen für das Ungesagte entwickelt zu haben. «Viel Glück, Vyrva», sagt sie und denkt: Bei was auch immer, während sie ein verzögertes kalifornisches Stutzen registriert, sich vom Schulportal abwendet, im Vorbeigehen ihre Söhne auf den Kopf küsst und den Weg zur Arbeit fortsetzt.

Ein Stück weiter unten an der Straße ist Maxines kleine Betrugsermittlungsagentur «Ertappt – Geschnappt» (sie hat kurz erwogen, «Verknackt» hinzuzufügen, aber schnell erkannt, wie traumverloren, wenn nicht gar wahnhaft das wäre), und zwar in einem ehemaligen Bankgebäude, dessen Eingangshalle so hoch ist, dass man in Zeiten, als das Rauchen noch erlaubt war, manchmal die Decke nicht sehen konnte. Das Ganze ist als Geldtempel kurz vor dem Börsencrash von 1929 in einem blinden Delirium, nicht unähnlich der gerade geplatzten Dotcomblase, errichtet und im Lauf der Jahre immer wieder umgebaut worden, sodass es nun ein Trockenbaupalimpsest ist, das schwänzende Schüler, träumende Kiffer, Talentagenten, Chiropraktiker, Akkordarbeiter in illegalen Fertigungsstätten, Lagerräume für irgendwelche Konterbande und inzwischen, auf Maxines Etage, auch die Partnerschaftsvermittlung Yenta Espresso, das Reisebüro In ’n’ Out, die duftende Praxis des Akupunkteurs und Kräuterspezialisten Dr. Ying sowie, am Ende des Korridors, die leeren Räumlichkeiten beherbergt, die früher von Packages Unlimited genutzt wurden, einer Firma, die schon damals wenig Publikumsverkehr hatte. Die augenblicklichen Mieter erinnern sich noch an Zeiten, als an diesen jetzt mit Ketten und Vorhängeschlössern gesicherten Türen uzitragende Gorillas in Uniform standen, die mysteriöse Lieferungen in Empfang nahmen oder auf den Weg brachten. Die stets gegebene Möglichkeit eines Feuergefechts mit automatischen Waffen sorgte täglich für eine Art Motivationsschub, doch jetzt sind da einfach nur noch diese leeren Räumlichkeiten und warten. Kaum tritt Maxine aus dem Fahrstuhl, da hört sie durch die Tür und den ganzen Korridor Daytona Lorrain, die wieder mal in voll aktiviertem Dramamodus ins Telefon brüllt. Auf Zehenspitzen huscht Maxine vorbei, gerade als Daytona schreit: «Ich unterschreib deine Scheißpapiere, aber das war’s dann – wenn du ein echter Dad sein willst, dann bring gefälligst diesen Mist in Ordnung», und den Hörer auf die Gabel knallt.

«Morgen», flötet Maxine in einer absteigenden Terz, wobei sie den zweiten Ton vielleicht eine Spur erhöht.

«Allerletzte Warnung für diesen Arsch.»

Manchmal scheint es, als hätte jeder Abgestürzte in der Stadt Ertappt – Geschnappt auf einem speckigen Kärtchen in seinem Rolodex stehen. Auf dem Anrufbeantworter sind Schnaufer, Angebote von Telefonmarketingfirmen und sogar ein paar Nachrichten, die etwas mit den aktiven Fällen zu tun haben. Nach einer ersten Triage ruft Maxine einen ängstlich klingenden Tippgeber in einer Snackfabrik in New Jersey zurück, der Geheimverhandlungen mit Exmitarbeitern von Krispy Kreme geführt hat, bei denen es nicht nur um den illegalen Ankauf von Informationen über die streng geheimen Temperatur- und Feuchtigkeitseinstellungen der Teigreifekammern des Donutherstellers geht, sondern auch um gleichermaßen geheime Fotos der Donutstanzer, die allerdings eher aussehen wie Polaroids von vor Jahren in Queens geklauten Autoteilen, mit Photoshop bearbeitet, und das auch noch dilettantisch. «Ich hab langsam das Gefühl, dass mit diesem Geschäft irgendwas nicht stimmt», sagt ihr Kontaktmann mit leicht bebender Stimme, «dass da vielleicht irgendwas faul ist.»

«Vielleicht, weil es eine strafbare Handlung darstellt, Trevor?»

«Es ist eine Undercoveraktion des FBI!», schreit Trevor.

«Aber warum sollte das FBI –»

«Mensch! Krispy Kreme! Die tun das für die Bruderschaft der Verbrechensbekämpfer!»

«Okay, ich rede mal mit der Staatsanwaltschaft von Bergen County – vielleicht haben die ja was gehört.»

«Moment, da kommt jemand, o nein, die haben mich gesehen, vielleicht sollte ich lieber –» Die Leitung ist tot. Passiert andauernd.

Widerwillig nimmt sie sich den neuesten von Gott weiß wie vielen Fällen von Inventarbetrug vor, in die der Neuheitenhändler Dwayne Z. («Dizzy») Cubitts verwickelt ist. In der Metropolitan Area kennt man ihn wegen seiner «Uncle Dizzy»-Fernsehwerbung, bei der er sich auf einer Art Plattenteller mit hoher Geschwindigkeit herumwirbeln lässt wie ein kleiner Junge, der mal was erleben will («Uncle Dizzy! Bei diesen Preisen wird Ihnen schwindlig!»), und dabei praktische Kleiderschrankunterteilungen, Kiwischäler, lasergesteuerte Korkenzieher, Entfernungsmesser im Taschenformat zur Bestimmung der Länge von Kassenschlangen und Berechnung der kürzesten Wartezeit sowie akustische Signalgeber anpreist, die man an der Fernbedienung für den Fernseher befestigen kann, sodass man die nie mehr suchen muss, es sei denn, auch die Fernbedienung für den Signalgeber ist unauffindbar. Nichts davon kann man in irgendeinem Laden kaufen, aber alles wird spätnachts im Fernsehen vorgeführt.

Obwohl sich die Pforten von Danbury mehr als einmal hinter ihm geschlossen haben, hat Dizzy nach wie vor einen fatalen Hang zu sublegalen Aktionen, und das wiederum zwingt Maxine auf Ab- und Seitenwege der Moral, bei denen selbst ein Grand-Canyon-Esel Bedenken hätte. Das Problem ist Dizzys Charme oder jedenfalls eine vielleicht plattentellerinduzierte Naivität, die für gespielt zu halten sie nicht ganz über sich bringt. Für den normalen Betrüger sind Familienkrisen, öffentliche Schande und Gefängnisaufenthalte Grund genug, wenn schon nicht ehrliche Arbeit, so doch wenigstens einen legalen Gelderwerb anzustreben, aber im Gegensatz zu all den anderen kleinen Ganoven, mit denen sie sich befassen muss, ist Dizzys Lernkurve unverändert flach.

Seit gestern hinterlässt einer von Uncle Dizzys Filialleitern, der draußen in Long Island an irgendeinem Haltepunkt der Ronkonkoma Line sitzt, zunehmend desorientiert wirkende Nachrichten. Eine Lagerhauskrise, Unregelmäßigkeiten hinsichtlich des Lagerbestands – verdammt, Dizzy, bitte, zieh doch mal was anderes auf! Wann wird Maxine sich endlich mal zurücklehnen und Angela Lansbury sein dürfen, wann wird sie nur noch erstklassige Fälle annehmen, anstatt sich hier draußen im Exil mit Unterbelichteten und Überschuldeten herumzuschlagen …

Bei ihrer letzten Uncle-Dizzy-Tatortbesichtigung bog Maxine um die Ecke eines hoch aufragenden Turms aus Kartons und wäre um ein Haar mit Dizzy persönlich zusammengestoßen, der ein Crazy-Eddie-T-Shirt in leuchtendem Gelb trug und hinter ein paar Buchprüfern herschlich, gefühltes Durchschnittsalter zwölf Jahre – die Firma war dafür berüchtigt, Lösungsmittelschnüffler, Videospielsüchtige und Personen mit diagnostizierten Defiziten im Bereich des kritischen Denkens einzustellen und umgehend bei Inventuren einzusetzen.

«Dizzy, was zum Teufel.»

«Ups, ich hab’s schon wieder getan, wie Britney immer sagt.»

«Seht euch das an» – sie stapfte durch den Gang und hob mal hier, mal da versiegelte Kartons hoch. Einige davon – und das mochte andere überraschen, nicht aber Maxine – waren, wie es schien, zwar versiegelt, aber offenbar leer. Stell dir vor. «Entweder bin ich Wonder Woman, oder wir erleben hier gerade eine kleine Inventarinflation … Sie sollten die leeren Dinger nicht so hoch stapeln, Dizzy – ein Blick auf die unterste Reihe, und schon sieht man, dass sich die Pappe unter dem bisschen Gewicht, das darauf steht, gar nicht ausbeult. Das ist schon mal ein ziemlich klarer Hinweis, und außerdem sollten Sie wenigstens warten, bis diese Nachwuchsbuchprüfer wieder hier draußen sind, bevor Sie Ihren Laster an die Laderampe fahren lassen, damit er dieselben Kartons zu Ihrer nächsten verdammten Filiale verfrachtet, verstehen Sie?»

«Aber», mit Augen, so groß wie Rummelplatz-Lollies, «bei Crazy Eddie hat’s doch auch funktioniert.»

«Crazy Eddie ist dafür in den Knast gekommen, Diz. Sie steuern gerade auf die nächste Anklage in Ihrer Sammlung zu.»

«Hey, keine Sorge, wir sind in New York, hier würde sogar eine Klage gegen eine Salami zugelassen.»

«Tja, und was machen wir jetzt? Soll ich vielleicht ein SWAT-Team anrollen lassen?»

Dizzy lächelte und zuckte die Schultern. Sie standen in den nach Pappe und Kunststoff riechenden Schatten, und Maxine pfiff «Help Me Rhonda» durch die Zähne und widerstand dem Verlangen, ihn mit einem Gabelstapler über den Haufen zu fahren.

Jetzt starrt sie Dizzys Akte an, solange sie kann, ohne sie aufzuschlagen. Eine spirituelle Übung. Die Gegensprechanlage summt. «Hier ist ein Reg soundso und hat keinen Termin.»

Gerettet. Sie legt die Akte beiseite. Sie hätte ihr, wie einem guten Koan, ohnehin keinen Sinn entlocken können. «Okay, Reg. Dann mal rein mit dir. Lange her.»

2

Genauer gesagt: ein paar Jahre. Reg Despard sieht aus, als hätte er inzwischen einiges mitgemacht. Er ist ein Dokumentarfilmer, der in den Neunzigern als raubkopierender Filmpirat angefangen hat. Damals ging er mit einem geliehenen Camcorder in Frühvorstellungen, filmte gerade angelaufene Streifen von der Leinwand ab, kopierte sie auf Kassetten, die er für einen Dollar auf der Straße verkaufte, manchmal auch für zwei, wenn er glaubte, so viel kriegen zu können, und war oft schon in der Gewinnzone, noch bevor der Film ein Wochenende gelaufen war. An den Rändern ließ die Qualität zu wünschen übrig, lärmende Zuschauer brachten ihr Essen in knisternden Papiertüten mit oder standen mitten im Film auf und verdeckten, oft minutenlang, die Leinwand. Reg hielt den Camcorder nicht immer besonders ruhig, die Leinwand wackelte und wanderte, mal langsam und träumerisch, dann wieder verblüffend abrupt, durchs Bild. Als Reg die entsprechende Funktion der Kamera entdeckte, gab es eine Menge Zoomen um, wie man wohl sagen muss, des Zoomens willen: Details der menschlichen Anatomie, einzelne Personen in einer Menschenmenge, hip aussehende Wagen im Hintergrund und so weiter. An einem schicksalhaften Tag verkaufte Reg am Washington Square eine seiner Kassetten an einen Professor, der an der NYU Film unterrichtete und Reg am Tag darauf nachrannte, um ihn, ganz außer Atem zu fragen, ob er eigentlich wisse, wie weit er mit seiner «neo-brechtianischen Subversion der Diegese» der Avantgarde dieser post-postmodernen Kunstform voraus sei.

Irgendwie klang das wie der Eröffnungsspruch eines Trommlers für ein christliches Diätprogramm, und Regs Aufmerksamkeit erlahmte, doch der eifrige Akademiker ließ nicht locker, und bald schon führte Reg seine Bänder in Doktorandenseminaren vor. Von da war es nur noch ein kurzer Schritt zu eigenen Produktionen. Industriefilme, Musikvideos für vertragslose Bands, Infomercials fürs Nachtprogramm, soviel Maxine weiß. Arbeit eben.

«Sieht so aus, als wärst du gerade sehr beschäftigt.»

«Hochsaison. Passah, Osterwoche, die NCAA-Playoffs, St. Patrick’s Day fällt auf einen Samstag – das Übliche, kein Problem, Reg. Also, um was geht’s? Irgendwas Eheliches?» Manche würden das brüsk nennen, und es hat Maxine einige Aufträge gekostet. Andererseits hält es einem die billige Laufkundschaft vom Hals.

Er neigt wehmütig den Kopf. «Kein Thema seit ’98 … nein, warte, ’99.»

«Aha. Den Korridor runter zu Yenta Espresso, schau mal rein. Ihre Spezialität sind Kaffeerendezvous, und wenn du dir von Edith den Coupon geben lässt, ist der erste Latte grosso umsonst. Tja, Reg, wenn sonst nichts ist …»

«Es geht um eine Firma, für die ich eine Doku mache. Ich hab da ständig das Gefühl …» Einer dieser seltsamen Blicke, die Maxine aus Erfahrung lieber nicht ignoriert.

«Die lassen dich auflaufen.»

«Die lassen mich nicht richtig rein. Da gibt’s zu viel, von dem mir keiner was erzählt.»

«Reden wir von Sachen, die kürzlich passiert sind, oder von Zeug, für das man im Firmenarchiv recherchieren muss, inklusive inkompatibler Software und verstrichenen Fristen?»

«Nein, es ist eine von diesen Dotcoms, die bei dem Technocrash letztes Jahr nicht untergegangen sind. Keine alte Software» – ein halbes Dezibel zu leise –, «und möglicherweise geht’s um was, das nicht verjährt.»

O-oh. «Denn wenn du bloß wissen willst, wie flüssig die sind, brauchst du keine forensische Ermittlerin – du gehst einfach ins Internet und checkst LexisNexis, HotBot, AltaVista, und wenn du ein Berufsgeheimnis bewahren kannst: Ich würde auch die Gelben Seiten nicht ausschließen.»

«Was ich eigentlich wissen will» – mehr ernst als ungeduldig –, «ist wahrscheinlich nicht da, wo eine Suchmaschine es finden könnte.»

«Denn … was du eigentlich wissen willst, ist …»

«Ich will bloß das übliche Firmenarchiv sehen: Journale, Hauptbücher, Protokolle, Steuerunterlagen. Aber wenn man da Einblick nehmen will, wird’s ganz komisch: Alles ist da gespeichert, wo LexisNexis nie hinkommt.»

«Wie das?»

«Deep Web? Schon mal gehört? Für die Surfacecrawler unerreichbar, mal ganz abgesehen von den Verschlüsselungen und seltsamen Weiterleitungen …»

Oh. «Vielleicht solltest du lieber einen IT-Samurai bitten, sich das mal anzusehen. Ich bin eigentlich eher –»

«Ich hab schon einen darauf angesetzt. Eric Outfield, Computergenie von der Stuyvesant High School, amtlich registrierter Bösewicht, wurde schon in zartem Alter bei Computermanipulationen ertappt, ich vertraue ihm total.»

«Und wer sind diese Leute?»

«Eine Computer-Sicherheitsfirma downtown namens hashslingrz.»

«Von denen hab ich gehört. Ja, denen geht’s ziemlich gut, ihr Kurs-Gewinn-Verhältnis hat was von Science-Fiction, und sie stellen haufenweise Leute ein.»

«Das ist genau der Ansatz, den ich verfolgen wollte: die Firma, die überlebt hat und floriert. Grundstimmung heiter bis beschwingt, okay?»

«Aber … warte mal … ein Film über hashslingrz? Was sieht man da – Nerds, die auf Bildschirme starren?»

«Im ursprünglichen Skript gab’s eine Menge Verfolgungsjagden und Explosionen, aber irgendwie ist das Budget … Ich hab einen winzigen Vorschuss gekriegt und die Zusage, dass ich überall Zutritt habe. Bis gestern jedenfalls, und da dachte ich dann, ich sollte lieber mal mit dir reden.»

«Irgendwas mit der Buchhaltung.»

«Ich will wissen, für wen ich arbeite. Noch hab ich meine Seele nicht verkauft – höchstens hier und da mal ein Scheibchen –, aber ich dachte, ich bitte Eric, sich das mal anzusehen. Weißt du irgendwas über Gabriel Ice, den Chef von hashslingrz?»

«Nicht viel.» Titelgeschichten in den Fachzeitschriften. Einer der jungen Milliardäre, die das jähe Ende des Dotcomfiebers heil überstanden haben. Sie erinnert sich an Fotos: Armanianzug in gebrochenem Weiß, maßgefertigter Fedora aus Biberfilz, nicht tatsächlich rechts und links päpstlichen Segen erteilend, aber bereit, es nötigenfalls zu tun … und anstelle von Taschengeld eine schriftliche Erlaubnis seiner Eltern. «Ich hab das Zeug gelesen, bis ich’s nicht mehr ausgehalten hab, und kann nicht behaupten, dass ich, wie soll ich sagen, gepackt bin. Gegen den ist Bill Gates ein Charismatiker.»

«Das ist bloß das, was die Öffentlichkeit sehen soll. Er schöpft aus tiefen Quellen.»

«Und damit willst du sagen … Mafia? Verdeckte Operationen?»

«Laut Eric ist sein Lebenszweck in einem Code formuliert, mit dem keiner von uns was anfangen kann. Außer vielleicht mit der Ziffernfolge 666, die relativ häufig auftritt. Wobei mir einfällt: Du darfst doch noch immer eine verdeckte Waffe tragen?»

«Ich darf, und ich tue es, m-hm … warum?»

Ausweichend jetzt: «Diese Leute sind nicht so …, wie man sich Leute aus der Techwelt vorstellt.»

«Zum Beispiel?»

«Nicht annähernd nerdig genug zum Beispiel.»

«Und das … ist alles? Reg, nach meiner reichen Erfahrung braucht man auf Betrüger eigentlich nicht sehr oft zu schießen. Ein bisschen öffentliche Demütigung reicht vollkommen.»

«Ja» – beinahe entschuldigend –, «aber mal angenommen, hier geht’s gar nicht um Betrug. Oder jedenfalls nicht nur. Mal angenommen, da ist noch was anderes.»

«Tief und finster. Und sie stecken alle unter einer Decke.»

«Zu paranoid?»

«Nicht für mich. Paranoia ist der Knoblauch in der Küche des Lebens – man kann nie genug davon haben.»

«Na, dann sollte es wohl keine Probleme geben.»

«Ich hasse diesen Satz. Aber gut, ich werde mir die mal ansehen, und dann sage ich dir Bescheid.»

«O-kay! Ich komme mir vor wie Erin Brockovich!»

«Hm. Na ja, da wäre noch eine delikate Frage. Ich schätze, du willst mich nicht formell engagieren oder so, stimmt’s? Nicht, dass es mir was ausmachen würde, mich auf bloße Spekulation hin an die Arbeit zu machen, aber da gibt’s ja auch noch gewisse ethische Gesichtspunkte, zum Beispiel die Frage der Auftragserschleichung.»

«Müsst ihr nicht so eine Art Eid ablegen? Dass ihr, wenn ihr zufällig einen Betrug entdeckt –»

«Das war bei Fraudbusters, aber das haben sie absetzen müssen, weil es zu viele Leute auf Ideen gebracht hat. Rachel Weisz war allerdings nicht schlecht.»

«Das sagst du nur, weil ihr euch so ähnlich seht.» Lächelnd und mit Daumen und Zeigefingern eine Kameraeinstellung simulierend.

«Ach, Reg.»

Das war der Punkt, an dem man mit Reg immer irgendwann landete. Zum ersten Mal waren sie sich auf einer Kreuzfahrt begegnet, einer Kreuzfahrt der besonderen Art. In den Nachwehen der Trennung von ihrem damaligen Mann Horst Loeffler, in jener Zeit, die noch immer nicht ganz Vergangenheit ist, hatte Maxine sich – nachdem sie zu viele Stunden hinter heruntergelassenen Jalousien damit verbracht hatte, Stevie Nicks’ «Landslide» in endloser Wiederholung von einer Kompilationskassette zu hören, deren Rest sie ignorierte, grässliche, mit Crown Royal gemixte Shirley Temples zu trinken, die sie mit Schlucken aus der Grenadineflasche hinunterspülte, und einen Scheffel Kleenex am Tag zu verbrauchen – von ihrer Freundin Heidi einreden lassen, eine Kreuzfahrt durch die Karibik würde die Prognose hinsichtlich ihrer seelischen Gesundheit irgendwie verbessern. Eines Tages war sie schniefend und schnüffelnd zu In ’n’ Out gegangen, wo sie staubige Oberflächen, verkratztes Mobiliar und das beschädigte Modell eines Ozeandampfers vorfand, der einige Gemeinsamkeiten mit der RMSTitanic aufwies.

«Sie haben Glück – wir haben gerade …» Lange Pause, kein Blickkontakt.

«Eine Stornierung?», schlug Maxine vor.

«Könnte man sagen.» Der Preis war unwiderstehlich. Für jeden normalen Menschen vielleicht zu unwiderstehlich.

Ihre Eltern waren nur zu froh, sich um die Jungen kümmern zu dürfen. Eines Tages saß Maxine dann, noch immer verrotzt, mit Heidi, die zum Abschied winken wollte, in einem Taxi und fuhr zu einem Hafenkai in Newark oder möglicherweise auch Elizabeth, wo hauptsächlich Frachter abgefertigt wurden. Tatsächlich handelte es sich bei Maxines «Kreuzfahrtschiff» um das ungarische Container-Trampschiff M/V Aristide Olt, das unter der Flagge der Marshallinseln fuhr. Erst an ihrem ersten Abend auf See erfuhr sie, dass sie die «AMBOPEST Frolix ’98» gebucht hatte, eine jährliche Veranstaltung der Amerikaner mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Spaß ohne Ende – wer hätte so etwas auch nur im Traum stornieren wollen? Es sei denn … aaahh! Sie sah Heidi, die möglicherweise eine gewisse Schadenfreude empfand, auf dem Pier stehen und vor der industriellen Hafenkulisse, schon zu weit entfernt, um sie schwimmend erreichen zu können, immer kleiner werden.

Beim ersten Dinner an jenem Abend stellte sie fest, dass die ganze unter einem Banner mit der Aufschrift WILLKOMMEN BORDERLINER! versammelte Meute in Partylaune war. Der Kapitän schien nervös und fand wiederholt Anlass, sich unter dem Tischtuch zu verstecken. Ungefähr alle eineinhalb Minuten legte ein DJ die halboffizielle AMBOPEST-Hymne auf: Madonnas «Borderline» (1984), und bei der Zeile «O-verthe bor-derlinnne!!!» stimmten alle ein, mit eigenartiger Betonung des finalen N. Eine Art Tradition, nahm Maxine an.

Später am Abend fiel ihr eine ruhig umhergehende Gestalt auf, die, das Auge an ein Okular gedrückt, mit einem Sony VX2000 filmenswerte Momente einfing, von einem Gast zum anderen spazierte und die Leute erzählen oder eben nicht erzählen ließ, und diese Gestalt erwies sich als Reg Despard.

In dem Glauben, hier eröffne sich vielleicht ein Ausweg aus der entsetzlichen Bredouille, in die sie sich gebracht hatte, folgte sie ihm zwischen den feiernden Gästen hindurch. Nach einer Weile: «Hui, eine Stalkerin – ich hab’s endlich geschafft.»

«Ich wollte nicht –»

«Nein, Sie könnten mir sogar helfen, indem Sie sie ein bisschen ablenken, dann sind sie nicht so befangen.»

«Das wär aber nicht gut für Ihre Glaubwürdigkeit – es ist nämlich Wochen her, dass ich mir die Haare hab tönen lassen, und der ganze Fummel hier hat in Filene’s Basement nicht mal hundert Dollar gekostet.»

«Ich glaube, das ist nicht das, worauf die achten werden.»

Tja. Wann hatte das letzte Mal jemand, wenn auch derart versteckt, angedeutet, sie sei durchaus qualifiziert als schmückendes Beiwerk … nicht von Tiffany vielleicht, aber von Swarovski? Soll sie Anstoß nehmen? Und wenn ja, wie wenig?

Er geht von einer Gruppe zur anderen. Alsbald erspäht er einen vergleichsweise normal wirkenden Bürger mit ausgeprägtem Interesse für Zugvogel-Jagd-und-Schutz-Marken, unter Sammlern als «Entenmarken» bekannt, der in Begleitung seiner vielleicht nicht ganz so involvierten Frau Gladys hier ist.

«… und mein Traum ist, der Bill Gross der Entenmarken zu sein.»

Und damit sind wohlgemerkt nicht nur die von Bundesbehörden ausgegebenen Entenmarken gemeint, sondern auch die sämtlicher Bundesstaaten – nachdem er im Lauf der Jahre immer weiter in die verführerischen Marschen philatelistischer Sammelleidenschaft vorgestoßen ist, muss dieser mittlerweile schamlose Komplettist sie nun alle haben: Jäger- und Sammler-Versionen, von Künstlerhand signierte Sätze, Remarquedrucke, Varietäten, Abarten, Gouverneurseditionen … «New Mexico! New Mexico hat nur von 1991 bis 1994 Entenmarken ausgegeben, und der Satz endete mit dem Kronjuwel aller Entenmarken, Robert Steiners überirdisch schöner Darstellung zweier Krickenten im Flug, von der ich zufällig einen Block besitze …»

«Den ich eines Tages», verkündet Gladys zwitschernd, «aus seiner Klarsichthülle ziehen, mit meiner sabbernden Zunge ablecken und auf den Umschlag mit dem Scheck für die Gasrechnung kleben werde.»

«Nicht gültig für die postalische Beförderung, mein Schatz.»

«Interessiert Sie mein Ring?» Eine Frau in einem beigen Achtziger-Jahre-Hosenanzug tritt ins Bild.

«Schönes Stück. Kommt mir irgendwie … bekannt vor …»

«Ich weiß nicht, ob Sie ein Denver-Clan-Fan sind, aber die Folge, in der Krystle ihren Ring versetzen muss? Das hier ist eine Kopie mit einem kubisch geschliffenen Zirkon, 560 Dollar, Ladenpreis natürlich. Irwin zahlt immer den Ladenpreis, denn schließlich ist er ja der 301.83er in der Beziehung – ich bin bloß die Partnerin, die seinen Fimmel unterstützt. Jedes Jahr schleppt er mich zu diesen Veranstaltungen, und ich fresse mich in die Vierziger-Kleidergrößen vor, weil es da nie jemanden gibt, mit dem man sich unterhalten kann.»

«Hören Sie nicht auf sie – sie ist diejenige, die alle zweihundertsoundsoviel Folgen auf Betamax hat. Fixiert? Sie machen sich keine Vorstellung – irgendwann Mitte der Achtziger hat sie sogar ihren Namen in Krystle geändert. Ein weniger verständnisvoller Mann hätte das vielleicht unnatürlich gefunden.»

Schließlich finden Reg und Maxine das Bordcasino, wo Leute in schlecht sitzenden Smokings und Abendkleidern Roulette und Baccarat spielen, ununterbrochen rauchen, einander anzügliche Blicke zuwerfen und grimmig mit Spielgeldbündeln fuchteln. «Gujabs», klärt man sie auf, «Generisches undiagnostiziertes James-Bond-Syndrom, vollkommen andere Selbsthilfegruppe. Die haben’s noch nicht ins DSM geschafft, arbeiten aber daran – vielleicht in der fünften Ausgabe … Sind bei diesen Veranstaltungen immer gern gesehen, hauptsächlich wegen der Stabilität, verstehen Sie?» Eigentlich nicht, aber Maxine lässt sich einen «5 Dollar»-Chip geben, und als sie wieder vom Tisch aufsteht, hätte sie, wäre es echtes Geld gewesen, genug für einen kleinen Einkauf bei Saks gehabt, allerdings nur, wenn sie auch das Glück hätte, heil aus dieser Sache hier rauszukommen.

Irgendwann erscheint ein vom Alkohol gerötetes Gesicht im Sucher, schicksalhafterweise das eines gewissen Joel Wiener. «Ja, ich versteh schon, Sie kennen mich aus den Nachrichten, und jetzt bin ich einfach Kamerafutter, stimmt’s? Obwohl ich von allen diesbezüglichen Vorwürfen freigesprochen worden bin, nebenbei gesagt zum dritten Mal.» Und spult in epischer Breite eine lange Geschichte von erlittenem Unrecht ab, die irgendwie mit Immobilien in Manhattan zu tun hat und der Maxine nicht in allen Einzelheiten folgen kann. Hätte sie sich besser konzentriert, dann hätte ihr das später vielleicht einigen Ärger erspart.

Eine Schiffsladung Borderliner. Irgendwann finden Maxine und Reg ein paar ruhige Minuten an Deck und sehen zu, wie die Karibik vorübergleitet. Rings um sie her ragen Türme aus vier, fünf aufeinandergestapelten Containern auf. Wie in bestimmten Gegenden in Queens. Maxine, die mental noch nicht ganz an Bord angekommen ist, fragt sich, wie viele dieser Container wohl leer sind und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass hier gerade ein transmaritimer Inventarbetrug stattfindet.

Ihr fällt auf, dass Reg nicht versucht hat, sie zu filmen. «Sie kamen mir nicht wie ein Borper vor, ich dachte eher, Sie gehören zum Personal, so was wie eine Sozialarbeiterin vielleicht.» Überrascht stellt Maxine fest, dass sie seit, holla, über einer Stunde nicht mehr an diese Horstsache gedacht hat, und ihr ist klar, dass Reg, wenn sie auch nur ansatzweise auf dieses Thema einsteigt, sogleich wieder die Kamera zücken wird.

Die bewährte Praxis bei diesen AMBOPEST-Ausflügen besteht darin, geographische Borderlines aufzusuchen, jedes Jahr eine andere. Einkaufsreisen zu mexikanischen Maquiladora-Fabriken. Hemmungslose Spielsucht in den Casinos von Stateline, Kalifornien. Ländliche Fressorgien bei Pennsylvaniadeutschen entlang der Mason-Dixon-Line. Dieses Jahr ist das Ziel die Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik, eine unruhige Gegend, über der ein melancholisches Karma aus den Tagen des Perejil-Massakers liegt, das in der Broschüre allerdings kaum Erwähnung findet. Während die Aristide Olt in die malerische Manzanillo-Bucht einfährt, gerät die ganze Veranstaltung rasch aus der Fasson. Kaum hat das Schiff in Pepillo Salcedo am Pier festgemacht, da chartern die auf große Fische erpichten Passagiere bereits aufgeregt Motorboote, um Tarpune zu angeln. Andere, wie Joel Wiener, für den Immobilien nicht mehr Gegenstand bloßer Neugier, sondern ungezügelter Obsession sind, streifen wenig später durch örtliche Makleragenturen und lauschen den Phantasien von Menschen, aus deren Motivpalette man Gier – ganz zu schweigen von Bescheiß-den-Yankee – wohl nicht restlos ausschließen darf.

Die Menschen an Land sprechen eine Mischung aus Kreyòl und Cibaeño. Im Handumdrehen sind am Ende des Piers Souvenirstände aufgebaut, man verkauft Yaniquequebrot und Chimichurrosoße, Voodoo- und Santeríapriester bieten Flüche und Verwünschungen feil, und auch Mamajuana ist zu haben, eine dominikanische Spezialität, dargeboten in riesigen Glasflaschen, in denen etwas, das wie ein Zweig von einem Baum aussieht, in Rotwein und Rum eingelegt ist. Als Borderline-Kirsche auf dem Ganzen ist jede Flasche zusätzlich mit einem authentischen haitianischen Voodoo-Liebeszauber belegt. «Jetzt wird’s interessant!», ruft Reg. Er und Maxine gesellen sich zu einer kleinen Gruppe von Passagieren, die eine Flasche von dem Zeug herumgehen lassen, und finden sich binnen kurzem ein paar Kilometer außerhalb der Stadt wieder, in El Sueño Tropical, einem halb fertigen und gegenwärtig verlassenen Luxushotel, in dem Joel Wiener umherspaziert und Videoaufnahmen macht, während die anderen schreiend durch die Korridore rennen, an herabrankenden Lianen durch den Innenhof schwingen, Eidechsen und Flamingos – ganz zu schweigen von einander – jagen und sich auf den schimmelnden Kingsize-Betten danebenbenehmen.

Liebe, aufregend und neu, wie es im Titelsong von Love Boat heißt. Heidi hatte recht, das hier ist Genau-das-Richtige, auch wenn Maxine sich der Einzelheiten später nur verschwommen entsinnt.

Jetzt greift sie zur Erinnerungsfernbedienung, drückt erst PAUSE, dann STOP und schließlich OFF. Sie lächelt ohne sichtliche Anstrengung. «Eigenartige Kreuzfahrt, Reg.»

«Hast du von denen noch mal was gehört?»

«Ab und zu kriege ich eine E-Mail, und in der Vorweihnachtszeit bittet AMBOPEST natürlich immer um Spenden.» Sie sieht ihn über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg an. «Reg, haben wir eigentlich wirklich, äh …»

«Ich glaube nicht. Ich war die meiste Zeit mit Leptandra aus Indianapolis beschäftigt, und du bist andauernd mit diesem Immobilienbekloppten verschwunden.»

«Joel Wiener.» Maxines in semientsetzter Peinlichkeit geweitete Augen suchen die Decke ab.

«Ich wollte das Thema nicht anschneiden, tut mir leid.»

«Du weißt ja, dass sie mir das Zertifikat entzogen haben. Das war indirekt Joel. Der mir damit, ohne es zu wollen, so geholfen hat, dass ich’s mir tatsächlich leisten kann, Aufträge abzulehnen. Als ich noch eine schlichte ZBE war, fanden mich alle süß – aber eine verstoßene ZBE? Unwiderstehlich. Für bestimmte Typen jedenfalls. Du kannst dir sicher vorstellen, was hier alles zur Tür reinkommt – Anwesende natürlich ausgenommen.»

Ein starkes Argument dafür, einer auf Abwege geratenen Zertifizierten Betrugsermittlerin einen Auftrag zu geben, ist, wie sie vermutet, die allgemeine Aura verblasster Moral, die sie umgibt, die erwiesene Bereitschaft, vom Gesetz gezogene Grenzen zu überschreiten und Berufsgeheimnisse der Buch- und Steuerprüfer auszuplaudern. Maxine hatte Kultanhänger kennengelernt, die von ihren jeweiligen Kulten ausgeschlossen worden waren, und machte sich für eine Weile Sorgen, sie könnte in dieser Spielart gesellschaftlicher Ödnis landen, doch die Sache sprach sich herum, und bald hatte Ertappt – Geschnappt mehr Klienten denn je, mehr, als sie bewältigen konnte. Allerdings waren diese jetzt nicht immer so respektabel wie zu Maxines lizenzierten Zeiten. Möchtegerne von der dunklen Seite sickerten geradezu aus der verdammten Tapete, unter anderem auch Joel Wiener, dem sie, wie sie fand und später bestätigt sah, viel zu viel durchgehen ließ.

Leider hatte Joel bei seiner ausführlichen Klage über das erlittene Immobilien-Unrecht gewisse entscheidende Details ausgelassen, zum Beispiel seine Gewohnheit, sich in den Vorstand zahlreicher Genossenschaften wählen zu lassen, die heftigen Auseinandersetzungen über Gelder, die man ihm – gewöhnlich als Kassenwart der Genossenschaft – anvertraut hatte, die anhängige Klage unter dem RICO Act zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens vor einem Zivilgericht in Brooklyn sowie seine Frau, die ebenfalls im Immobiliengeschäft tätig war. «Und so geht es immer weiter. Nicht leicht zu erklären.» Sie wedelt mit allen zehn Fingern über ihrem Kopf. «Antennen. Ich fand Joel in Ordnung genug, um ihm ein paar Tricks zu verraten. In meinen Augen nicht schlimmer als ein Finanzbeamter, der sich ein paar Extrakröten als Steuerberater verdient.»

Aber ein krasser Verstoß gegen den Verhaltenskodex des ZBE, dessen mit Pfosten markierte äußerste Grenzen Maxine schon seit Jahren auf flinken Kufen erkundete. Diesmal hatte das Eis ohne Knistern oder sichtbares Dunkeln unter ihr nachgegeben. Die Mehrheit des Prüfkomitees sah einen nicht bloß einmaligen, sondern systematischen Verstoß gegen das Verbot von Interessenkonflikten, während es für Maxine um die kinderleichte Wahl zwischen Freundschaft und superpenibler Einhaltung der Vorschriften ging und übrigens noch immer geht.

«Freundschaft?» Reg ist verwirrt. «Du mochtest ihn doch nicht mal besonders.»

«Ein Fachbegriff.»

Das Briefpapier, auf dem ihr die Dezertifizierung mitgeteilt wurde, war ziemlich nobel und mehr wert als die Nachricht, die im Grunde lautete: Verpiss dich – dazu die Kündigung ihrer Mitgliedschaft im Eighth Circle, einem exklusiven ZBE-Club drüben an der Park Avenue, verbunden mit der Aufforderung, den Mitgliedsausweis zu übersenden und für den Ausgleich ihres Kontos zu sorgen. Dann kam noch ein PS, in dem sie auf ihr Einspruchsrecht hingewiesen wurde. Man hatte Formulare beigefügt. Das war interessant und landete nicht im Shredder, jedenfalls nicht gleich. Verstört nahm sie das Emblem der Vereinigung zum ersten Mal bewusst wahr: eine lodernde Fackel vor und zum Teil über einem aufgeschlagenen Buch. Was ist das? Jeden Augenblick kann dieses Buch (vielleicht eine Allegorie des Gesetzes?) von dieser Fackel (möglicherweise das Licht der Wahrheit?) in Brand gesetzt werden. Will ihr jemand damit etwas sagen? Das Gesetz in Flammen, der schreckliche, nicht verhandelbare Preis der Wahrheit … Das ist es! Geheime anarchistische Codenachrichten!

«Interessanter Gedanke, Maxine», versucht Reg, sie wieder runterzubringen. «Und? Hast du Einspruch eingelegt?»

Ehrlich gesagt, nein – die Tage vergingen, und es gab immer irgendwelche Gründe, es nicht zu tun: Sie konnte sich die Gebühren und Anwaltskosten nicht leisten, das dann folgende Verfahren war möglicherweise eine reine Schauveranstaltung, und es blieb die Tatsache, dass Kollegen, die sie respektiert hatte, sie einfach so rausgeschmissen hatten – wollte sie wirklich zurück in ein derart kleinkariertes Milieu? So was eben.

«Ein bisschen überempfindlich, diese Typen», findet Reg.

«Kann man ihnen nicht vorwerfen. Die wollen, dass wir der eine unbestechliche Fixpunkt in diesem ganzen flimmernden Durcheinander sind, die Atomuhr, auf die sich alle verlassen.»

«Du hast ‹wir› gesagt.»

«Mein Zertifikat ist vielleicht kassiert worden, aber an der Bürowand meiner Seele hängt es noch immer.»

«Und da reden die von Abwegen.»

«Bin gerade dabei, eine neue Serie zu entwickeln, Bad Accountant – ich hab das Drehbuch für den Pilotfilm hier, willst du mal sehen?»

3

Die Vergangenheit ist eine offene Einladung zum Weinmissbrauch. Sobald sie hört, dass sich die Lifttür hinter Reg schließt, geht Maxine zum Kühlschrank. Wo ist in diesem gekühlten Chaos der Pinot E-Grigio? «Daytona, haben wir schon wieder keinen Wein mehr?»

«Ich trink diesen Scheiß ja nicht.»

«Natürlich nicht, Sie sind mehr so der Night-Train-Typ.»

«Huu, Weinismus – muss ich mir das wirklich anhören?»

«Ich weiß, dass Sie das nicht mehr machen. War nur Spaß.»

«Und jetzt auch noch Therapismus.»

«Bitte?»

«Sie denken, Zwölfschrittleute sind eine niedrigere Klasse als Sie, das haben Sie schon immer gedacht. Sie machen irgendein Wellnessprogramm und liegen mit Algen im Gesicht und dem ganzen Scheiß irgendwo rum und haben keine Ahnung, wie das ist – und ich kann Ihnen sagen …» Dramatische Pause.

«Sie werden nicht …», gibt Maxine das Stichwort.

«Ich kann Ihnen sagen, das ist harte Arbeit.»

«Ach, Daytona, was es auch ist – es tut mir leid.»

Und dann bricht alles aus Daytona hervor, die übliche emotionale Kapitalflussrechnung voller Außenstände und nicht beitreibbarer Schulden. Fazit: «Lassen Sie sich nie, unter keinen Umständen, mit irgendeinem aus Jamaika ein. Der denkt nämlich, geteiltes Sorgerecht heißt, Sie besorgen jetzt das Ganja.»

«Mit Horst hatte ich Glück», erinnert sich Maxine. «Gras hat bei ihm nie gewirkt.»

«Kann ich mir vorstellen. Das liegt an all dem Weißenfraß, den ihr esst, Weißbrot und diese» – eine Hendrix-Paraphrase – «Mayonnaise! all in your brain – ihr seid eben allesamt hoffnungslose Weißbacken.» Das Telefon hat geduldig geblinkt, Daytona macht sich wieder an die Arbeit, und Maxine fragt sich, warum der Drogenkonsum von Rastafaris etwas mit Horst zu tun haben sollte. Es sei denn, Horst ginge ihr durch den Kopf, was er, wie sie findet, seit einer Weile nicht mehr getan hat, jedenfalls nicht mehr so oft.

Horst. In vierter Generation ein Produkt des Mittleren Westens, so emotional wie ein Getreidesilo, so unwiderstehlich wie ein Harley-Rocker und (Gott steh ihr bei) so unersetzlich wie ein Schnellimbiss, wenn der Hunger kommt, blickt Horst Loeffler heute auf eine lange Geschichte beinahe fehlerfreier Voraussagen darüber zurück, wie sich gewisse Güter rund um den Globus verhalten werden, und zwar zu einem Zeitpunkt, da sie selbst das noch gar nicht wissen, weswegen er bereits ein Vermögen zusammenhatte, als Maxine ins Bild trat, und seither hat er zugesehen, wie dieses Vermögen immer größer wurde, und sich bemüht, ein Gelübde zu erfüllen, das er offenbar mit dreißig abgelegt hat, nämlich das Geld so schnell auszugeben, wie es hereinkommt, und so lange Partys zu feiern, wie er nur kann.

«Und? Jede Menge Unterhalt?», fragte Daytona an ihrem zweiten Tag im Büro

«Überhaupt keiner.»

«Was?» Ein langer, durchdringender Blick.

«Sonst noch was, womit ich Ihnen helfen kann?»

«Das ist die bekloppteste Bekloppte-Weiße-Tussi-Geschichte, die ich je gehört hab.»

«Dann gehen Sie mal öfter vor die Tür.»

«Haben Sie ein Problem damit, dass ein Mann Partys feiert?»

«Natürlich nicht, das Leben ist ja schließlich eine einzige Party, oder, Daytona? Ja, und Horst sah das auch so, aber als er anfing zu denken, dass die Ehe auch bloß eine Party ist, tja, da haben wir dann festgestellt, dass wir verschiedene Auffassungen hatten.»

«Sie hieß bestimmt Jennifer oder so.»

«Nein, eigentlich Muriel.»

An diesem Punkt – die Tendenz, nach verborgenen Mustern zu suchen, gehört zur Grundausstattung einer zertifizierten Betrugsermittlerin – begann Maxine sich zu fragen, ob Horst vielleicht tatsächlich eine Vorliebe für Frauen hatte, die nach billigen Zigarren benannt waren. Gab es in London vielleicht eine Philippa «Philly» Blunt, mit der er auf dem FTSE 100 Index von Höhepunkt zu Höhepunkt eilte, oder eine verführerische asiatische Maklerin namens Roi-Tan, mit Cheongsam und einer dieser hübschen kleinen Frisuren …? «Reden wir lieber von was anderem – Horst ist Vergangenheit.»

«M-hm.»

«Ich hab die Wohnung, aber er hat natürlich den 59er Impala in Topzustand gekriegt – ach, da fange ich schon wieder an zu jammern.»

«Oh, und ich dachte, das wäre der Kühlschrank.»

Daytona ist natürlich ein Engel an Verständnis und kommt darin gleich nach Maxines Freundin Heidi, an jenem Tag, als sie zum ersten Mal zusammensaßen, um alles durchzureden, nachdem Maxine sich in einer Länge und Ausführlichkeit ausgeheult hatte, die sogar ihr selbst peinlich war.

«Er hat mich angerufen», sagte Heidi, als wäre es ihr rausgerutscht.

Ach ja. «Was, Horst? Angerufen …»

«Und wollte sich mit mir verabreden.» Die Augen zu groß für totale Unschuld.

«Und was hast du gesagt?»

Ein perfektes Innehalten für eineinhalb Augenblicke, und dann: «O Gott, Maxi … es tut mir ja so leid.»

«Du? Und Horst?» Es kam ihr seltsam vor, aber nicht mehr als das, also wertete sie es als Zeichen der Hoffnung.

Doch Heidi schien ganz aufgelöst. «Möge Gott mir verzeihen! Und er hat die ganze Zeit nur von dir geredet.»

«M-hm. Aber?»

«Er schien gar nicht wirklich dabei zu sein.»

«Drei Monate LIBOR vermutlich.»

Obwohl dieses Gespräch noch lange fortgesetzt wurde, und zwar bis ziemlich spät in die Nacht, wenn man bedenkt, dass am nächsten Tag wieder Schule war, wiegt Heidis Fehltritt nicht so schwer wie manch andere Missetat in ihrer gemeinsamen Highschool-Zeit, über die Maxine immer wieder finster brütet: das Ausleihen und Nie-Zurückgeben von Kleidern, Einladungen zu nicht stattfindenden Partys, Verkupplungsversuche mit Typen, die, wie Heidi genau wusste, klinische Psychopathen waren. So was eben. Als sie die Sache erschöpft vertagten, war Heidi vielleicht ein wenig enttäuscht, dass ihre verrückte Eskapade irgendwie bloß an dem ihr bestimmten Platz zwischen all den anderen Episoden dieser Familienserie angelangt war, die vor langer Zeit in Chicago, wo Horst und Maxine sich begegnet waren, ihren Anfang genommen hatte.

Maxine war für einen zweitägigen ZBE-Auftrag abgestellt gewesen und saß in der Handelskammer an der Bar des Ceres Café, wo die schiere Größe der Drinks schon seit langem Stoff für Legenden abgab. Es war gerade Happy Hour. Happy? Du liebe Zeit. Ein irischer Laden, was für manche ja schon alles sagt. Wenn man ein «Mischgetränk» bestellte, kriegte man ein gigantisches Glas, randvoll gefüllt mit, sagen wir, Whiskey und vielleicht ein, zwei winzigen Eiswürfelchen, sowie eine Riesendose Mineralwasser und außerdem ein zweites Glas, in dem man das alles mischen konnte. Irgendwie geriet Maxine mit einem ortsansässigen Idioten in eine Diskussion über Deloitte & Touche, die der ortsansässige Idiot – bei dem es sich um Horst handelte – konsequent Louche & De Toilet nannte, und als sie dieses Thema durchhatten, war Maxine sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch stehen, geschweige denn zurück zu ihrem Hotel finden konnte, und so setzte Horst sie freundlicherweise in ein Taxi und steckte ihr offenbar auch seine Karte zu. Bevor sie noch Gelegenheit gefunden hatte, sich mit ihrem Kater zu befassen, hing er auch schon am Telefon und bequatschte sie, den ersten von vielen unglückseligen Aufträgen anzunehmen.

«Eine Schwester in Not und niemand, an den sie sich wenden kann», und so weiter. Maxine biss an, wie sie es auch weiterhin tun würde, und übernahm den Fall, eine ziemlich normale Vermögensermittlung, Routine im Grunde und beinahe vergessen, als sie eines Tages in der Post las: KA-WUMM! GOLDMARIE SCHLÄGT WIEDER ZU – EHEMANN VON DEN SOCKEN.

«Hier steht, es ist das sechste Mal, dass sie so abgesahnt hat», sagte Maxine nachdenklich.

«Sechs, von denen man weiß», nickte Horst. «Für dich aber kein Problem, oder?»

«Sie heiratet sie, und dann –»

«Manchen Leuten tut die Ehe eben gut. Für irgendwas muss sie ja gut sein.»

Oha.

Aber wozu die ganze Liste aufzählen? Von Scheckbetrügern und Kreditkünstlern bis hin zu Vergeltungsakten, bei denen die Nadel ihres Rachedurstdetektors bis zum äußersten, womöglich kriminellen Vergessen-vielleicht-aber-vergeben-niemals-Ende der Skala ausschlug, und doch machte sie weiter mit, jedes Mal. Weil es eben Horst war. Scheiß-Horst.

«Ich hab wieder einen für dich – du bist doch Jüdin, oder?»

«Und du nicht.»

«Ich? Lutheraner. Ich weiß gar nicht, was für einer eigentlich – die ändern ja ständig was.»

«Und mein religiöser Hintergrund kommt ins Spiel, weil …»

Kaschrutbetrug in Brooklyn. Wie es scheint, treiben dort falsche Maschgichim oder Speiseprüfer ihr Unwesen, nehmen unangemeldete «Inspektionen» in Läden und Restaurants vor und verkaufen offiziell wirkende Zertifikate, die der Inhaber sich ins Fenster hängen kann, während sie die Vorräte mit getürkten Hechscher-Siegeln bekleben und für koscher erklären. Abgefahren. «Klingt nach einer Schutzgeldsache», findet Maxine. «Ich bin nur für die Bücher zuständig.»

«Ich dachte, du hast da vielleicht einen Zugang.»

«Versuch’s doch mal bei Meyer Lanski – ach nein, der ist ja tot.»

Also … eine Art Lutheraner, hm? Viel zu früh natürlich für irgendwelche Überlegungen zum Thema Schegez, aber trotzdem, da war es, dieses Außerhalb-deines-Glaubens-Ding. Später, mitten im ersten romantischen Schub, hörte Maxine einiges für Horsts Verhältnissse wildes Gerede über eine mögliche Konvertierung zum Judentum. Wie ironisch, dass das Wort «Menetekel» erstmals von einem Juden übersetzt wurde. Schließlich wurde Horst bewusst, was er dafür würde tun müssen, nämlich Hebräisch lernen und sich beschneiden lassen, was dann den vorhersehbaren Sinneswandel einleitete. Für Maxine kein Problem. Wenn es eine ausgemachte Wahrheit ist, dass Juden nicht missionieren, dann war und ist Horst ein erstklassiger Grund dafür.

Irgendwann bot er ihr einen Beratervertrag an. «Ich könnte dich wirklich gebrauchen.»

«Klar, jederzeit.» Eine branchenübliche leichtherzige Antwort, die sich diesmal jedoch als schicksalhaft erweisen sollte. Später, nach der Hochzeit, wurde sie vorsichtiger mit derlei Unbedachtsamkeiten und bewegte sich damit praktisch schon auf das Ende zu, wo sie schließlich beinahe gar nichts mehr sagte, während Horst grimmig in Luvbux 6.9, einem Tabellenkalkulationsprogramm vom Software-Wühltisch, herumtippte und Summen in Größenordnungen von «heftig» bis «enorm» addierte, Summen, die er einzig und allein ausgegeben hatte, damit Maxine den Mund hielt. Um sich noch weiter zu quälen, wählte er eine Funktion, die ihm erlaubte zu berechnen, wie viel ihn das Schweigen pro Minute gekostet hatte. Ahhh! Der Horror!

«Als ich gemerkt habe», legte sie Heidi den Fall dar, «dass ich nur lange genug quengeln muss, und schon gibt er mir alles, was ich will, nur damit ich still bin …, tja, da hat sich die Romantik, ich weiß nicht, für mich irgendwie verflüchtigt.»

«Und weil du sowieso eine Nörgeltante bist, ist dir das Ganze zu leicht gefallen, ich verstehe», gurrte Heidi nachsichtig. «Horst ist ein solcher Waschlappen. Ein großer alexithymischer Klotz. Das hast du bei ihm nie bemerkt. Oder vielmehr: Du hast es –»

«– zu spät bemerkt», stimmte Maxine in den Refrain ein. «Ja, Heidi, und trotz all dem würde ich mir manchmal beinahe wünschen, dass es in meinem Leben wieder jemanden gäbe, der so entgegenkommend ist.»

«Willst du, äh, seine Nummer? Die von Horst?»

«Hast du sie?»

«Nein, mhm, ich wollte gerade dich fragen.»

Sie schütteln über einander den Kopf. Auch ohne Spiegel weiß Maxine, dass sie aussehen wie zwei verkommene Omas. Eine unumgängliche, aber untypische Korrektur des Selbstbilds, denn sonst sind ihre Rollen eher ein wenig glamouröser. An irgendeinem Punkt zu Beginn ihrer schon seit Ewigkeiten bestehenden Beziehung begriff Maxine, dass sie hier nicht die Prinzessin war. Heidi natürlich ebenfalls nicht, aber das wusste Heidi nicht – die dachte vielmehr, sie sei die Prinzessin, und ist im Lauf der Jahre zu der Überzeugung gelangt, dass Maxine die etwas weniger attraktive skurrile Freundin der Prinzessin ist. Was immer aktuell läuft – Prinzessin Heidiphobia hat immer die Hauptrolle, während Lady Maxipad die Soubrette mit dem flinken Mundwerk ist, die Frau fürs Grobe, die praktisch veranlagte Elfe, die kommt, wenn die Prinzessin schläft oder, typisch für sie, abgelenkt ist, und dann die eigentliche Arbeit der Prinzessipalität erledigt.

Es war wahrscheinlich hilfreich, dass beide osteuropäische Wurzeln hatten, denn in jenen Tagen konnte man es noch erleben, dass innerhalb der jüdischen Gemeinde der Upper West Side gewisse langlebige Unterscheidungen gemacht wurden, deren am wenigsten erfreuliche die zwischen Jeckes und Aschkenasim war. Es gab Mütter, die ihre kürzlich durchgebrannten Kinder nach Mexiko schleppten, wo diese dann im Schnellverfahren von jungen Männern mit vielversprechenden Karriereaussichten im Gesundheitswesen oder an der Börse geschieden wurden oder aber von hinreißenden jungen Frauen mit mehr Grips als der Bursche, den sie geheiratet zu haben glaubten, deren entscheidender Makel jedoch ein Nachname aus der falschen Ecke der Diaspora war. Etwas in dieser Art passierte auch Heidi, deren Nachname Czornak alle möglichen Alarmglocken schrillen ließ, obgleich die Sache nicht ganz bis zum Besteigen des Flugzeugs gedieh. Auch bei diesem Streich spielte die praktisch veranlagte Elfe die Rolle der Vermittlerin und Geldbotin und presste eine Summe heraus, die erfreulich weit über dem ursprünglichen Angebot lag, mit dem die Strubels ihre prospektive Schwiegertochter, diese kleine polnische Schnepfe, hatten abfinden wollen. «Galizische eigentlich», bemerkte Heidi. Für sie war es keine Herzensangelegenheit, wie Maxine befürchtet hatte, denn Evan Strubel erwies sich als nichtsnutziger Einfaltspinsel, der in reflexhafter Furcht vor seiner Mutter Helvetia lebte. Wie ernst es ihm mit Heidi war, sah man schon daran, dass nur das rechtzeitige Erscheinen seiner Mutter in strengem St.-John-Kostüm und grimmiger Stimmung ihn daran hinderte, Maxine weiter anzubaggern. Einzelheiten über die Unverfrorenheit des jungen Strubel teilte Maxine der Prinzessin nicht mit, sondern beließ es bei: «Ich glaube, er sieht in dir in erster Linie eine Gelegenheit, seinem Elternhaus zu entkommen.» Heidi war weit entfernt von Verzweiflung, weiter, als Maxine gedacht hatte. Sie saßen an ihrem riesigen Küchentisch, zählten das Geld der Strubels, aßen Eiscremesandwiches und gackerten. Später erlitt Heidi unter dem Einfluss diverser Substanzen hin und wieder einen von Schluchzern begleiteten Rückfall: «Er war die große Liebe meines Lebens, und diese böse, bigotte Frau hat es uns kaputt gemacht», doch dann war immer die Schräge Freundin zur Stelle und steuerte irgendwas Geistreiches bei wie: «Mach dir nichts vor, Baby – sie hat eben die größeren Titten.»

Gewisse Bereiche von Heidis Geist schienen aber doch beeinträchtigt: Weil Mrs. Strubel, vielleicht nur beiläufig, mit einer mexikanischen Scheidung gedroht hatte, stürzte sich Heidi beispielsweise in einen Kampf mit der spanischen Sprache, der den Vergleich mit dem eines Bob Barker bei der Wahl zur Miss Universe nicht zu scheuen brauchte. Der Einfluss dieser Sprache machte sich auch auf anderen Gebieten bemerkbar.

Heidis Vorstellung von einer echten Latina war offenbar Natalie Wood in West Side Story (1961). Es hatte gar keinen Zweck, sie darauf hinzuweisen – wie Maxine es immer wieder und mit schwindender Geduld tat –, dass Natalie Wood eigentlich Natalia Nikolajewna Sacharenko hieß und irgendwie russischer Abstammung war, weswegen ihr Akzent in diesem Film vermutlich eher russisch als puerto-ricanisch ist.

Der Einfaltspinsel machte eine Ausbildung an der Wall Street und hat inzwischen wahrscheinlich diverse Frauen verschlissen. Erleichtert, wieder Single zu sein, schlug Heidi eine akademische Karriere ein und ist seit kurzem ordentliche Professorin für Popkultur am City College.

«Damals hast du mir echt den Falschen Hasen aus der Mikrowelle geholt», sagt sie leichthin. «Glaub bloß nicht, dass ich dir nicht ewig dankbar bin.»

«Was blieb mir denn übrig? Du hast doch immer gedacht, du bist Grace Kelly.»

«War ich ja auch. Ich meine: bin.»

«Aber nicht Grace Kelly insgesamt», präzisiert Maxine. «Eigentlich nur die aus Das Fenster zum Hof. Damals, als wir die Fenster auf der anderen Straßenseite beobachtet haben.»

«Bist du sicher? Du weißt ja, was du dann bist.»

«Thelma Ritter, ja – aber vielleicht auch nicht. Ich war eigentlich immer eher Wendell Corey.»

Teenagerstreiche. Wenn es Geisterhäuser gibt, dann gibt es auch karmisch belastete Apartmentblocks, und im Vergleich zum Deseret, das sie früher so gern beobachtet haben, wirkte das Dakota schon damals wie ein Holiday Inn. Solange sie zurückdenken kann, ist Maxine von diesem Kasten besessen. Sie ist gegenüber vom Deseret aufgewachsen, in der Straße, in der das Gebäude noch immer alle anderen in der Nachbarschaft überragt und so tut, als wäre es nichts weiter als eines dieser soliden Upper-West-Side-Häuser, zwölf Stockwerke, ein quadratischer Klotz, auf irgendwie sinistre Weise überladen: spiralförmige Feuertreppen an den Ecken, Türmchen, Balkone, Wasserspeier, geschuppte und mit Fangzähnen versehene gusseiserne Schlangenwesen über den Eingängen und zwischen den Fenstern. Im Innenhof steht ein reich verzierter Brunnen, eingefasst von einer kreisrunden Auffahrt, so groß, dass mehrere Stretchlimos mit laufenden Motoren dort warten können und noch immer Platz genug bleibt für ein, zwei Rolls-Royce. Filmleute waren hier und haben Szenen für Spielfilme, Werbeclips oder Serien gedreht, gewaltige Lichtmengen in das unersättlich aufgerissene Maul der Einfahrt geworfen und mehrere Blocks weit sämtliche Anwohner die ganze Nacht wach gehalten. Ziggy behauptet, dass einer aus seiner Klasse dort wohnt, doch den Kreisen, in denen Maxine sich bewegt, ist das Ding weit entrückt – ein bloßes Studio im Deseret kostet angeblich mehr als 300000 Dollar.

Irgendwann in Highschool-Zeiten kauften Maxine und Heidi sich in der Canal Street billige Ferngläser, spähten, manchmal bis in die frühen Morgenstunden, aus Maxines Fenster in die beleuchteten Fenster gegenüber und warteten darauf, dass etwas passierte. Jedes Erscheinen einer menschlichen Gestalt war ein Ereignis. Anfangs fand Maxine es romantisch, all diesen voneinander getrennten, aber parallel verlaufenden Leben zuzusehen, doch später verfolgte sie einen, man muss wohl sagen, schauerlicheren Ansatz. Andere Gebäude mochten von Geistern heimgesucht werden, doch dieses hier war selbst etwas Untotes, ein steinerner Zombie, der sich bei Einbruch der Nacht erhob, unsichtbar durch die Stadt schlich und seinen eigenen inneren Zwängen gehorchte.

Die Mädchen brüteten Pläne aus, wie sie sich hineinschleichen, wie sie sich, Schwänen oder vielleicht eher Tauben gleich, dem Eingang nähern würden, mit auf der Straße gekauften Chanel-Taschen versehen und verkleidet in Designerfummel aus Kommissionsläden auf der East Side, aber es kam dabei nie mehr heraus als der lange, taxierende Blick, mit dem der irische Portier sie von oben bis unten scannte, gefolgt von einer kurzen Konsultation seines Klemmbretts. «Keine Anweisungen.» Ein überdeutliches Schulterzucken. «Solange da nichts draufsteht … ihr wisst, was ich meine?» Er wünschte betont einen guten Tag und schloss krachend das Tor. Wenn irische Augen nicht lächeln, sollte man eine bessere Geschichte auf Lager oder wenigstens gute Laufschuhe haben.

Das ging so bis zur Fitnesswelle der achtziger Jahre, als dem Management des Deseret einfiel, der Pool in der obersten Etage könne doch das Kernstück eines auch für Gäste geöffneten Fitnessstudios sein und hübsche zusätzliche Einnahmen erwirtschaften, und so darf Maxine jetzt schließlich doch noch hinein – allerdings muss sie, als bloßes «Clubmitglied», außen herum zum Hintereingang gehen und den Lastenaufzug nehmen. Heidi lehnt es ab, noch irgendwas mit diesem Gebäude zu tun zu haben.

«Es ist verflucht. Ist dir mal aufgefallen, wie früh der Pool geschlossen wird? Nach Einbruch der Dunkelheit will da niemand mehr sein.»

«Vielleicht bezahlt das Management keine Überstunden.»

«Es gibt Gerüchte, dass es der Mafia gehört.»

«Welcher Mafia genau, Heidi? Und was macht das schon?»

Einiges, wie sich zeigen sollte.

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Später am Nachmittag hat Maxine einen Termin bei ihrem Emotherapeuten, der Stille als eines der unbezahlbaren Güter dieser Welt zufällig ebenso schätzt wie Horst, wenn auch vielleicht nicht auf dieselbe Weise. Shawns Praxis befindet sich in einem Haus ohne Aufzug nicht weit von der Zufahrt zum Holland Tunnel. In der Biographie auf seiner Website ist vage von politischem Exil und Wanderjahren im Himalaya die Rede, doch obgleich da auch steht, Shawn sei dort einer uralten, alle irdischen Grenzen übersteigenden Weisheit teilhaftig geworden, genügen fünf Minuten Recherche, um zu enthüllen, dass seine einzige nachweisbare Reise gen Osten ihn im Greyhound-Bus vom heimatlichen Südkalifornien nach New York geführt hat, und das auch erst vor einigen Jahren. Als Dropout der Leutzinger Highschool und zwanghafter Surfer, der an diversen Stränden neue Rekorde für die Anzahl spektakulärer Stürze in einer Saison gesetzt und dabei etliche von seinem Brett verabreichte Schläge an den Kopf eingesteckt hat, beschränkt sich Shawns Kenntnis von Tibet auf die Fernsehfassung von Martin Scorseses Kundun (1997). Dass er dennoch auch weiterhin imstande ist, die exorbitante Miete für diese Wohnung und den Wandschrank voll zwölf identischer schwarzer Armanianzüge zu zahlen, verdankt sich weniger seiner spirituellen Authentizität als vielmehr einer sonst selten beobachteten Leichtgläubigkeit in den New Yorker Kreisen, die sich seine Honorare leisten können.

Seit ein paar Wochen muss Maxine, wenn sie zu ihren Terminen erscheint, feststellen, dass ihr jugendlicher Guru angesichts der Nachrichten aus Afghanistan zunehmend die Fassung verliert. Trotz leidenschaftlicher Appelle aus aller Welt sind zwei kolossale Buddha-Statuen, die weltweit größten Darstellungen des aufrecht stehenden Buddha, im 5. Jahrhundert herausgearbeitet aus einer Sandsteinwand bei Bamiyan, von den Taliban einen Monat lang gesprengt und wiederholt mit Granaten beschossen worden, bis nichts mehr übrig war als Trümmer und Steine.

«Verdammte Kameltreiber», ist Shawns Sicht der Dinge. «‹Beleidigung des Islam› – also sprengen wir’s in die Luft, das ist ihre Patentlösung für alles.»

«War da nicht mal was», erinnert Maxine sich sanft, «wenn sich dir der Buddha auf deinem Weg zur Erleuchtung in den Weg stellt, ist es okay, ihn zu töten?»

«Ja, wenn du Buddhist bist. Aber das sind Wahabiten. Sie tun, als wäre es eine spirituelle Frage, aber in Wirklichkeit ist es eine politische. Sie kommen einfach nicht mit Konkurrenz klar.»

«Tut mir leid, Shawn, aber solltest du nicht eigentlich über solchen Dingen stehen?»

«Ach, ich hänge wohl noch zu sehr am Weltlichen. Aber überleg mal: Zwei kleine Tastenanschläge, und aus ‹Islam› wird ‹Pisslam›.»

«Echt tiefgründig, Shawn.»

Ein kurzer Blick auf die TAG Heuer an seinem Handgelenk. «Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn wir heute ein bisschen früher aufhören – nachher kommt eine halbe Staffel Drei Mädchen und drei Jungen, du verstehst schon …?» Shawns Begeisterung für Wiederholungen bekannter Serien aus den Siebzigern wird von all seinen Patienten kommentiert. Er kann einzelne Folgen mit Fußnoten versehen wie andere Lehrer die heiligen Sutren, wobei der sich über drei Folgen erstreckende Familienausflug nach Hawaii sein besonderer Liebling zu sein scheint: das Unglücks-Tiki, Gregs beinahe tödlicher Sturz vom Surfbrett, Vincent Prices Cameorolle als psychisch labiler Archäologe …

«Mir hat ‹Jan kriegt eine Perücke› eigentlich immer am besten gefallen», war Maxine eines Tages leichtsinnig genug zuzugeben.