V. - Thomas Pynchon - E-Book

V. E-Book

Thomas Pynchon

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Beschreibung

In den Notizen des verstorbenen Vaters entdeckt Herbert Stencil das rätselhafte Symbol V. Er und Benny Profane, der andere Held des Romans, begeben sich auf die Suche nach ihm, die sich zu einer burlesken, aktionsreichen «tour de force» entwickelt. Die Handlung spielt in einem von der ehemaligen Afrikakolonie Deutsch-Südwest über Malta, Florenz und Paris bis nach Venezuela reichenden totalitären Weltstaat, in dem Begebenheiten aus der Geschichte und Vergangenheit dreier Kontinente vorsätzlich als geheimnisvolle, dunkle Machenschaften, als eine Verschwörung von globalem Ausmaß dargestellt werden. «Für diesen Autor gibt es nur zwei Möglichkeiten: Paranoia oder Anti-Paranoia. Entweder alles ist verknüpft oder gar nichts. Entweder alles strahlt vom Zentrum weg, oder es gibt gar kein Zentrum. Entweder ist alles an Geschichte determiniert, oder Geschichte ist völlig bedeutungslos, eine Ansammlung von Anekdoten.» (Elfriede Jelinek) «Pynchon kalkuliert genau die Akzente des Trivialromans – dessen Tonfall er geschickt imitiert – und der literarischen Prosa. Dem entspricht die Balance zwischen realistischem und phantastischem Erzählen.» (Gabriele Wohmann)

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Thomas Pynchon

V.

Roman

Aus dem Englischen von Dietrich Stössel und Wulf Teichmann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In den Notizen des verstorbenen Vaters entdeckt Herbert Stencil das rätselhafte Symbol V. Er und Benny Profane, der andere Held des Romans, begeben sich auf die Suche nach ihm, die sich zu einer burlesken, aktionsreichen «tour de force» entwickelt. Die Handlung spielt in einem von der ehemaligen Afrikakolonie Deutsch-Südwest über Malta, Florenz und Paris bis nach Venezuela reichenden totalitären Weltstaat, in dem Begebenheiten aus der Geschichte und Vergangenheit dreier Kontinente vorsätzlich als geheimnisvolle, dunkle Machenschaften, als eine Verschwörung von globalem Ausmaß dargestellt werden.

 

«Für diesen Autor gibt es nur zwei Möglichkeiten: Paranoia oder Anti-Paranoia. Entweder alles ist verknüpft oder gar nichts. Entweder alles strahlt vom Zentrum weg, oder es gibt gar kein Zentrum. Entweder ist alles an Geschichte determiniert, oder Geschichte ist völlig bedeutungslos, eine Ansammlung von Anekdoten.» (Elfriede Jelinek)

 

Über Thomas Pynchon

Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University, später schrieb er für Boeing technische Handbücher und verschwand. Seit Erscheinen seines Romans «Die Enden der Parabel» gilt Thomas Pynchon als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Die Enden der Parabel

Die Versteigerung von No. 49

Mason & Dixon

Spätzünder

Inhaltsübersicht

Er hatte allerdings …Kapitel 1 Benny Profane, Schlemihl und bierbäuchiges Jo-Jo, trifft viele alte Bekannte wiederIIIIIIIVVKapitel 2 Die »ganze kaputte Bande« feiert, und Herbert Stencil, Sidneys Sohn hat eine fixe IdeeIIIKapitel 3 Eine Bahnfahrt von Alexandria nach Kairo, ein Attentat im Theater und vieles andere mehrIIIIIIIVVVIVIIVIIIKapitel 4 Esther Harvitz bekommt eine Stupsnase, und was ihr danach geschieht, tut auch nicht sehr wehIIIIIIKapitel 5 Benny Profane jagt einen Alligator, und Herbert Stencil wird mit Schrot beschossenIIIKapitel 6 Ein Jahrmarkt, drei Mädchen, ein Billardtisch, viele Bop Kings, Playboys und FinaIIIKapitel 7 Wie in Florenz ein Kunstraub und eine venezolanische Revolution furchtbar mißlingenIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIKapitel 8 Im April findet Rachel Owlglass ihr Jo-Jo wieder, und Benny Profane wird NachtwächterIIIIIIIVKapitel 9 Kurt Mondaugen aus Leipzig erlebt in Foppls Landhaus einen Aufstand der EingeborenenIIIIIIIVKapitel 10 McClintic Sphere, Fu, Stramo, Schomo, Roony, Rachel, Slab, Esther, Charisma, Melvin, RubyIIIIIIIVVKapitel 11 Das Tagebuch des Fausto Maijstral: Herbert Stencil findet eine neue SpurKapitel 12 Esther soll nach Kuba reisen, und Roony Winsome will aus dem Fenster springenIIIIIIIVVVIKapitel 13 Pig Bodine ist wirklich ein Ferkel, und Benny Profane schliddert in eine Sache hineinIIIKapitel 14 Die »Entführung der chinesischen Jungfrauen«; Liebe und Tod der Mélanie L’Heure-MauditIIIKapitel 15 Roony ist betrunken, drei fahren nach Washington, und Benny Profane sieht Rachel zum letztenmalIIIIIIKapitel 16 Die »Scaffold« muß ins Trockendock. Herbert Stencil stößt auf eine weitere SpurIIIIIIEpilog Sidney Stencil wird vom Foreign Office nach Malta geschickt: Das Mittelmeer spielt mitIIIIII

ER HATTE ALLERDINGS ETWAS entdeckt, das ihm weiterhalf: sie war – vielleicht auch nur oberflächlich – in eine jener großen Verschwörungen verwickelt, die dem Großen Krieg vorausgingen und die in jener Zeit offensichtlich alles diplomatische Geschick in Anspruch nahmen. V. und eine Verschwörung.

Kapitel 1Benny Profane, Schlemihl und bierbäuchiges Jo-Jo, trifft viele alte Bekannte wieder

I

Heiligabend 1955 verschlug es Benny Profane – schwarze Jeans, Lederjacke, Segeltuchschuhe, großer Cowboyhut – nach Norfolk, Virginia. Einer sentimentalen Laune ausgeliefert, meinte er, er sollte wieder einmal ins »Sailor’s Grave« hineinschauen, seine alte Stammkneipe in der East Main Street, damals, als er auf dem Zerstörer fuhr. Sein Weg dorthin führte ihn durch die Arkaden, an deren Ende, kurz vor der East Main, ein alter Straßensänger saß, mit einer Gitarre und einer Blechdose für die Münzen. Draußen auf der Straße versuchte ein Schreibstubenhengst in den Tankstutzen eines vierundfünfziger Packard Patrician zu pissen; fünf oder sechs Matrosen standen dabei und feuerten ihn an. Der alte Mann sang mit klarer, fester Baritonstimme:

Auf der alten East Main ist Heiligabend jede Nacht,

Matrosen wie Matrosenliebchen stimmen darin überein.

Neonlichter, rote, grüne,

Zwinkern auf die frohe Szene

Und winken dich von See herein.

Mit seinem Sack der Weihnachtsmann hat deine Träume wahrgemacht:

Billige Biere, schäumend wie Champagnerwein,

Barmädchen, die gerne bumsen

Und dir ins Gedächtnis sumsen:

Auf der alten East Main ist Heiligabend heute nacht.

»Hau ab, Chef«, krähte ein Seemann böse. Profane ging um die Ecke. Urplötzlich wie immer hatte ihn East Main aufgesogen.

Seit seiner Entlassung aus der Navy hatte Profane von Gelegenheitsarbeiten gelebt, und wenn er keinen Job fand, trieb er sich an der Ostküste herum, zog hinauf und hinunter wie ein Jo-Jo. Das ging schon so seit vielleicht anderthalb Jahren. In dieser langen Zeit, in der er mehr Pflaster gesehen hatte, als er zählen konnte, war Profane Straßen gegenüber ein wenig mißtrauisch geworden, besonders solchen Straßen gegenüber wie dieser hier. Sie alle hatten sich ihm zu einer einzigen, imaginären Straße verwoben, die in Vollmondnächten zum Alptraum wurde. East Main, Getto betrunkener Seeleute, mit denen niemand wußte wohin, überrumpelte einen mit derselben Plötzlichkeit, mit der ein Traum in einen Alptraum umschlägt. Hund wird Wolf, Licht Zwielicht, Leere verwandelt sich in allgegenwärtige Drohung; junge Matrosen, die auf die Straße reihern, Barmädchen, auf jede Arschbacke eine Schiffsschraube tätowiert, ein Gernegroß in Gedanken über die beste Methode, wie er durch eine Glasscheibe springen könnte (wann sollte er »Hurra!« schreien, vor oder nach dem Zerbersten des Glases?), ein betrunkener Matrose am Ende einer Gasse, der flennt, weil ihm die Shore Patrol eine Zwangsjacke verpaßt hatte, als er das letzte Mal besoffen war. Dann und wann ein Vibrieren des Gehwegs, wenn ein SP-Mann ein paar Laternen weiter mit dem Gummiknüppel den Takt schlägt, und über allem die Bogenlampen, die jedem das Gesicht grün und häßlich werden lassen und deren Kette sich gegen Osten, wo es dunkel ist und wo es keine Kneipen mehr gibt, in ein asymmetrisches »V« verliert.

Als Profane ins »Sailor’s Grave« kam, war gerade eine Schlägerei zwischen Schippern und Ledernacken im Gange. Einen Augenblick lang blieb er in der Tür stehen und sah zu; als ihm bewußt wurde, daß er sowieso schon halb drin war, tauchte er durch das Gewühl nach vorn und flezte sich an die Theke. Er war ziemlich groggy.

»Ist es denn nicht möglich, Frieden zu halten?« fragte eine Stimme hinter Profanes linkem Ohr. Es war das Barmädchen Beatrice, die Traumfee der 22. Zerstörerflottille, ganz zu schweigen von Profanes altem Schiff, dem Zerstörer USS »Scaffold«. »Benny!« rief sie. Ein zärtliches Wiedersehen nach so langer Trennung. Profane fing an, in das Sägemehl auf dem Fußboden Herzen zu malen, Möwen mit einem Transparent in den Schnäbeln, auf dem stand: »Beatrice, meinem Liebling.«

Die Leute von der »Scaffold« waren nicht da; vor zwei Abenden war ihr Kahn nach dem Mittelmeer abgedampft, und es wird erzählt, die Flüche der Mannschaft, die wie von einem Geisterschiff durch den Nebel herüberklangen, hätte man bis Little Creek hören können. Darum arbeiteten heute auch ein paar Mädchen mehr als sonst an der East Main. Kaum hätte nämlich ein Schiff wie die »Scaffold« die Anker gelichtet, so sagt man (und man weiß, was man sagt), würden gewisse Schipperfrauen ihre Küchenschürze mit der Barmädchenkluft vertauschen, Bier austragen und ein zuckersüßes Nuttenlächeln aufsetzen. Und das, während noch die Standortkapelle das »Auld Lang Syne« spielt und aus den Schornsteinen der Zerstörer dicke Rauchfahnen über die Männer flocken, denen bald Hörner aufgesetzt werden und die jetzt, traurig und mit einem unsicheren Lächeln, in strammer Haltung Abschied nehmen.

Beatrice brachte Bier. Von einem der hinteren Tische erklang ein schreckliches Gebrüll. Beatrice fuhr zusammen. Bier schwappte über.

»O Gott«, sagte sie. »Schon wieder Ploy.« Ploy war jetzt Maschinist auf dem Minensucher »Impulsive« und eine Blamage für die ganze East Main. Einsfünfzig und keinen Zentimeter mehr stellte er in seine Stiefel, aber immer suchte er Ärger mit den größten Leuten auf dem Schiff, obwohl er wußte, daß sie ihn gar nicht ernst nehmen würden. Vor zehn Monaten (kurz bevor er von der »Scaffold« abkommandiert wurde) hatte die Navy beschlossen, ihm alle seine Zähne zu rupfen. Außer sich vor Wut hatte Ploy einen Sanitätsgefreiten und zwei Zahnärzte seine Fäuste spüren lassen, bis man merkte, daß es ihm ernst darum war, sein Gebiß behalten zu dürfen. »Seien Sie doch vernünftig«, ermahnten ihn die Ärzte, die sich ein Lachen verkneifen mußten, und wichen seinen kleinen Fäusten aus. »Wurzelkanalvereiterung, Zahnabszeß …« »Nein«, zeterte Ploy. Es endete damit, daß sie ihm eine Pentothalspritze verpassen mußten. Als Ploy wieder zu sich kam, sah er rot; er fluchte ganz fürchterlich. Zwei Monate lang strich er wie ein Gespenst auf der »Scaffold« herum oder schwang sich unvermittelt, wie ein Orang-Utan, von den Aufbauten und versuchte dabei, seinen Vorgesetzten in die Zähne zu treten.

Oft stand er auch am Heck und hielt lange Reden vor allen, die ihm zuhören wollten, obwohl ihm sein lädierter Mund weh tat. Als sein Zahnfleisch verheilt war, gab man ihm eine blitzblanke vorschriftsmäßige Prothese. »Verdammt«, rief er und versuchte, über Bord zu springen. Aber Dahoud, ein Riese von Neger, hielt ihn fest. »He, Würmchen«, sagte Dahoud, zog Ploy am Kopf in die Höhe und betrachtete sich dieses Bündel aus Kattun und Verzweiflung, dessen Füße einen Meter über dem Deck strampelten. »Was willst du machen, und warum?«

»Mann, ich will sterben«, brüllte Ploy.

»Weißt du nicht«, sagte Dahoud, »daß das Leben dein kostbarster Besitz ist?«

»Ho, ho«, sagte Ploy durch seine Tränen. »Warum?«

»Weil«, sagte Dahoud, »ohne es wärst du ja tot.«

»Oh«, sagte Ploy. Eine Woche lang dachte er darüber nach. Allmählich beruhigte er sich, begann auch wieder, an Land zu gehen. Bald darauf, immer nach Zapfenstreich, hörten die anderen Maschinisten seltsam kratzende Geräusche aus der Richtung von Ploys Koje.

Das ging so ungefähr drei Wochen, bis einer nachts gegen zwei Uhr einmal das Licht anknipste; da saß Ploy im Schneidersitz auf seiner Decke und spitzte mit einer kleinen Feile seine Zähne an. Am Abend des nächsten Zahltags saß Ploy mit seinem Haufen im »Sailor’s Grave«; er war stiller als sonst. Gegen elf war es, als Beatrice mit einem Tablett voller Biergläser vorbeiwallte. Da reckte Ploy grinsend seinen Kopf hoch, klappte die Kiefer weit auseinander und grub seine frisch gespitzten Zähne in ihre rechte Arschbacke. Beatrice schrie auf, Gläser flogen in hohem Bogen vom Tablett, Bier schäumte auf den Boden der Kneipe.

Es wurde Ploys liebste Unterhaltung. Die Sache verbreitete sich durch die Flottille, das Geschwader, fast die ganze Atlantikflotte. Auch Leute, die nicht auf der »Scaffold« oder der »Impulsive« waren, kamen, um es zu sehen. Das war der Grund für viele Schlägereien; auch für die, die gerade lief.

»Wen hat er erwischt?« fragte Profane. »Ich habe es nicht gesehen.«

»Beatrice«, sagte Beatrice. Ein anderes Barmädchen, das auch Beatrice genannt wurde. Wie alle kleinen Kinder alle weiblichen Wesen Mutter nennen, so müßten alle Schipper, auf ihre Weise ebenso hilflos wie kleine Kinder, alle Barmädchen Beatrice nennen. Das war die Ansicht von Mrs. Buffo, der Besitzerin des »Sailor’s Grave«, die auch Beatrice hieß. In konsequenter Weiterführung dieser maternen Politik hatte sie sich aus Schaumgummi Bierhähne in Form großer Brüste anfertigen lassen. An Zahltagen, abends zwischen acht und neun, fand etwas statt, das sie »Nuckelstunde« nannte. Sie eröffnete sie damit, daß sie, angetan mit einem drachenbestickten Kimono, den ihr ein Verehrer von der 7. Flotte geschenkt hatte, aus ihrem Hinterzimmer auftauchte und mit einer Seemannspfeife das Signal zum Backen und Banken gab. Auf dieses Zeichen hin stürzte jeder nach vorn, und wer das Glück hatte, einen Bierhahn zu erwischen, durfte davon trinken. Gewöhnlich waren so ungefähr zweihundertfünfzig Schipper da, und es gab sieben von diesen Bierhähnen.

An einer Biegung der Theke tauchte jetzt Ploys Kopf auf. Er schnappte mit seinen Zähnen nach Profane. »Der da, das ist mein Freund Dewey Gland«, sagte er. »Er ist neu auf dem Schiff.«

Er zeigte auf einen langen, traurig dreinschauenden Südstaatler mit einem gewaltigen Riechkolben, der Ploy gefolgt war und eine Gitarre hinter sich her durch das Sägemehl zog.

»N’abend«, sagte Dewey Gland. »Ich sing euch jetzt ein kleines Lied vor.«

»Um deine Beförderung zum Gefreiten zu feiern«, sagte Ploy. »Dewey singt es jedem vor.«

»Das war im letzten Jahr«, sagte Profane.

Aber Dewey Gland hob einen Fuß auf die Messingstange, legte die Gitarre über das Knie und fing an zu klimpern. Nach acht Schrumms sang er dann, im Dreivierteltakt:

Verlorner, armer Zivilist,

Es geht uns an die Nieren,

Daß dir nicht mehr zu helfen ist.

Sie weinen im Kadettenloch

Und bei den Offizieren –

Der miese Zweite sogar!

Du machst’n Riesenfehler,

Und verdroschen gehörst du doch –

Trotz deinen tausend Papieren!

Laßt mich schippern zwanzig Jahr’,

Damit nie Zivilist ich war.

»Ganz hübsch«, sagte Profane in sein Bierglas.

»Es geht aber noch weiter«, sagte Dewey Gland.

»Oh«, sagte Profane.

Auf einmal hüllte Profane von hinten ein ganz übler Geruch ein, auf seine Schulter fiel wie ein Kartoffelsack ein Arm, und in sein Blickfeld schob sich ein Bierglas mit einer großen Pfote drumrum, die aussah, als gehörte sie einem eingegangenen Gorilla.

»Benny, du alter Zuhälter, was macht das Geschäft? Tjachz, tjachz.«

Dieses Lachen konnte nur von seinem alten Kumpel kommen, von Pig Bodine. Profane drehte sich um: es kam. Tjachz, tjachz, ein Lachen, das entsteht, wenn man die Zungenspitze zwischen die mittleren oberen Schneidezähne klemmt und Kehllaute aus der Gurgel quetscht. Es klang furchtbar obszön, und nichts anderes wollte Pig damit erreichen.

»Alter Pig, bist du immer noch beim Haufen?«

»Ich bin desertiert. Pappy Hod, der Oberbootsmann, ist daran schuld, daß es mit mir bergab geht. Wenn man nichts mit der SP zu tun haben will, muß man nüchtern bleiben, und allein. Darum jetzt das ›Sailor’s Grave‹.«

»Wie geht’s Pappy?«

Pig erzählte ihm, wie die Sache mit Pappy und dem Barmädchen, das er geheiratet hatte, auseinandergegangen war. Sie hatte ihn verlassen und arbeitete jetzt im »Sailor’s Grave«. Die junge Frau da, Paola. Sie hat gesagt, sechzehn, aber keine Rede davon, weil sie erst kurz vor dem Krieg geboren ist, und das Haus ist verbrannt mit ihren Papieren, wie die meisten Häuser auf Malta.

Profane war dabei, als sie sich trafen: »Metro-Bar«, Strait Street. Altstadt. La Valetta, Malta.

»Chicago«, Pappy Hod mit seiner Gangsterstimme, »schon mal was von Chicago gehört?«, und seine Hand fährt unter die Achsel – gefährlich. Es war Pappy Hods Standardnummer, überall am Mittelmeer. Aus seiner Tasche zieht er jedoch nur ein Taschentuch, keine Kanone oder gar Zimmerflak, schneuzt sich dann einfach die Nase, grinst eines von den Mädchen an, die am Tisch gegenüber sitzen. Der amerikanische Film hatte ihnen allen Verhaltensschablonen geliefert, allen – außer Paola Maijstral, die ihn weiter beobachtete.

Es endete damit, daß Pappy sich aus Kombüsenmacs Geheimkasse fünfhundert mit vierzig Prozent Zinsen pumpte, um Paola in die Staaten bringen zu können.

Möglich, daß es für sie nur ein Mittel war, nach Amerika zu kommen – der Traum aller Barmädchen am Mittelmeer –, wo es genug zu essen gab, warme Kleider, Heizung, unzerstörte Häuser. Pappy Hod mußte ein falsches Geburtsdatum angeben, damit er sie über die Grenze bringen konnte. Man hätte auch nicht genau sagen können, woher sie kam, denn sie schien von jeder Sprache ein paar Brocken zu kennen.

»Zucker, die Kleine«, sagte Pig zur Seite. Profane schaute nach hinten und sah, wie sie durch die nächtlichen Rauchschwaden herkam. Sie sah nicht anders aus als andere Barmädchen an der East Main auch. Dieselbe Sache wie die Geschichte von den Steppenhasen im Schnee und von den Tigern im Gras und in der Sonne.

Sie lächelte Profane an: melancholisch, angestrengt.

»Du willst wieder aufs Schiff?«

»Ich bin nur kurz hier«, sagte Profane.

»Du gehst mit mir an die Westküste«, sagte Pig. »Die SP hat keinen Streifenwagen, der es mit meiner Harley-Davidson aufnehmen kann.«

»Stop, stop«, rief da der kleine Ploy und hüpfte auf einem Bein herum. Er hob den Zeigefinger. »Noch nicht, Kumpels. Bleibt noch.« Mrs. Buffo war erschienen, in ihrem Kimono. Alles wurde still. Schipper und Ledernacken, die den Eingang blockierten, ließen sofort voneinander ab.

»Jungs«, ließ sich Mrs. Buffo vernehmen, »es ist Heiligabend.« Sie nahm ihre Bootsmannspfeife und begann zu spielen. Die ersten Töne – sanft, wie von einer Flöte – gingen über weit offene Münder, aufgerissene Augen. Alle im »Sailor’s Grave« hörten ehrfürchtig zu; einer nach dem anderen erkannte das »It Came Upon a Midnight Clear« wieder, wenn es auch auf der Seemannspfeife gespielt etwas seltsam klang. Irgendwo im Hintergrund fiel ein junger Reservist, der vorher in der Gegend von Philadelphia als Showsänger aufgetreten war, in die Melodie ein. Ploys Augen glänzten. »Es ist die Stimme eines Engels«, sagte er.

Sie hatten gerade die Stelle erreicht, wo es heißt »Peace on the earth, good will to men, From Heav’n’s all-gracious king«, als Pig, ein militanter Atheist, es nicht länger aushalten zu können glaubte. »Das klingt«, verkündete er mit lauter Stimme, »wie Backen und Banken.«

Mrs. Buffo und der Reservist verstummten. Eine Sekunde später hatten alle kapiert.

»Nuckelstunde!« jubelte Ploy.

Der Zauber war gebrochen. In dem plötzlich entstehenden Gewühl schien es, als würden die gewieften »Impulsive«-Leute zu einer kompakten Masse verschmelzen; mit Ploy an der Spitze drängten sie zum nächsten Bierhahn.

Die ganze Wucht des ersten Angriffs prallte gegen Mrs. Buffo; als die Woge über die Theke raste, fiel sie rückwärts in einen Eiskübel. Ploy wurde, die Hände weit ausgestreckt, hinübergeschubst. Als er einen der Hähne zu fassen bekam, ließen ihn seine Kumpel los; Bier ergoß sich aus der Schaumgummibrust in einer weißen Kaskade, floß über Ploy, Mrs. Buffo und zwei Dutzend Schipper, die in einer flankierenden Aktion die Theke umgangen hatten und sich nun gegenseitig vom Bierhahn wegzudrängen versuchten. Die Gruppe, die Ploy über die Theke gehoben hatte, schwärmte aus und versuchte, noch mehr Bierhähne zu erobern. Hinter Ploy kniete sein Obermaat, hielt ihn an den Füßen fest, bereit, sie ihm unter dem Leib wegzuziehen, wenn er genug hatte, um selbst zum Zuge zu kommen. Die Leute von der »Impulsive« hatten sich zu einem Stoßkeil formiert. In seinem Kielwasser kletterten mindestens noch sechzig geifernde Blaujacken durch die Bresche, tretend, kratzend, rempelnd, laut brüllend; manche hieben sich mit Bierflaschen einen Pfad durch das Gedränge.

Profane saß am Thekenende: er sah handgenähte Seestiefel, Hosenbeine, hochgerollte Jeans, ab und zu ein sabberndes Gesicht am Ende eines hingefallenen Körpers; zerbrochene Bierflaschen, aufwirbelndes Sägemehl.

Bald sah er weg; Paola war da, ihre Arme um seine Beine gelegt, ihr Gesicht an seinen schwarzen Drillich geschmiegt.

»Das ist häßlich«, sagte sie.

»Oh«, sagte Profane. Er streichelte ihren Kopf.

»Frieden«, sagte sie leise. »Ist es nicht das, was wir alle suchen, Benny? Nur ein bißchen Frieden. Niemand, der hochspringt und einen in den Hintern beißt …«

»Guck«, sagte Profane, »da hat einer Dewey Gland seine eigene Gitarre in den Wanst gerannt.«

Paola flüsterte gegen sein Bein. Sie saßen still da, schauten nicht einmal mehr hoch, um sich das Gemetzel zu betrachten, das über sie hinwegbrauste. Mrs. Buffo war in Tränen ausgebrochen. Unmenschliches Röcheln schlug gegen die Theke, fetzte herüber.

Pig hatte zwei Dutzend Biergläser beiseitegeschoben und sich auf ein Bord hinter der Theke gesetzt. In Krisenzeiten zog er die Rolle eines Beobachters vor. Aufmerksam sah er seinen Kumpels zu, die wie ein Wurf junger Ferkel auf die sieben Bierhähne unter ihm zukrabbelten. Das meiste Sägemehl hinter der Theke war vom Bier aufgeweicht: die Rauferei kritzelte ihre unverständlichen Hieroglyphen hinein.

Draußen näherten sich Sirenen, Pfiffe, Fußgetrappel. »Oh, oh«, sagte Pig. Er sprang vom Bord, lief um die Theke herum zu Profane und Paola. »He, Bester«, sagte er, und seine Augen waren kalt und zusammengekniffen, als bliese der Wind hinein. »Der Sheriff kommt.«

»Hinten raus«, sagte Profane.

»Nimm den Zahn mit«, sagte Pig.

Die drei liefen im Zickzack durch das Gewühl der Körper. Unterwegs fischten sie Dewey Gland auf. Und als die Shore Patrol in das »Sailor’s Grave« platzte, während Gummiknüppel losdroschen, liefen die vier schon auf einer Parallelgasse der East Main davon.

»Wohin gehen wir?« fragte Profane.

»Immer gradaus«, sagte Pig. »Beweg deine müden Knochen.«

II

Sie landeten schließlich in Newport News, in der Wohnung von vier Damen der Women Accepted for Volunteer Emergency Service (WAVES) und einem Weichensteller im Kohlendock (einem Freund Pigs), der Morris Teflon hieß und so eine Art Familienvater war. Die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr waren sie betrunken genug, um zu wissen, was los war. Niemand im Haus schien etwas dagegen zu haben, daß sie kamen.

Eine unangenehme Angewohnheit Teflons trieb Profane und Paola zusammen, obwohl keiner von beiden es gewollt hatte. Teflon besaß eine Kamera: eine Leica, die ihm ein Freund von der Navy halb legal in Übersee beschafft hatte. Wenn es an Wochenenden hoch herging und der Rotwein sprühte wie die Bugwelle eines großen Handelsschiffes, hängte sich Teflon den Apparat um den Hals, schlich sich von Bett zu Bett und machte Aufnahmen. Diese verkaufte er dann an scharfe Schipper an der unteren East Main.

Paola Hod, geborene Maijstral, die aus eigenem Entschluß und zu früh die Sicherheit von Pappy Hods Bett verlassen hatte und zu spät den Zuhause-Ersatz des »Sailor’s Grave«, war jetzt in einem Schockzustand, in dem Profane sie hätte heilen und trösten können; allerdings war er dazu untalentiert.

»Du bist alles, was ich habe«, warnte sie ihn. »Sei gut zu mir.« Sie saßen an Teflons Küchentisch: Pig Bodine und Dewey Gland einander gegenüber wie Bridgespieler, zwischen ihnen stand eine Wodkaflasche. Niemand sprach etwas, es sei denn, sie überlegten sich, womit sie den Wodka das nächste Mal mischen würden, wenn das, was sie jetzt hatten, alle wäre. In dieser Woche hatten sie es mit Milch versucht, mit Gemüsesuppe in Dosen, schließlich mit dem Saft einer halbvergammelten Wassermelonenscheibe, das letzte, was sie in Teflons Kühlschrank finden konnten. Versuch mal, ein Stück Wassermelone in ein kleines Wasserglas zu quetschen, wenn du nicht mehr ganz da bist. Es ist fast unmöglich. Ein anderes Problem war, wie man die Kerne aus dem Wodka fischen sollte; es war der Grund einer wachsenden, allgemeinen schlechten Laune.

Mit zum Ärger trug bei, daß Pig und Dewey beide hinter Paola her waren. Jeden Abend baten sie Profane, die Rolle eines Schiedsrichters zu übernehmen.

»Sie möchte gerade von den Männern loskommen«, versuchte Profane einzuwenden. Doch Pig wies das zurück, oder er betrachtete es als Beleidigung Pappy Hods, seines früheren Vorgesetzten.

Es wurde schwierig, zu sagen, was Paola wirklich wollte. »Was meinst du damit«, fragte er sie, »gut zu dir sein?«

»Das, was Pappy Hod nicht war«, sagte sie. Er gab den Versuch bald auf, ihre verschiedenen Sehnsüchte zu dechiffrieren. Gelegentlich kam sie mit allen möglichen Geschichten: Treulosigkeit, Schläge in den Unterleib, Quälereien im Suff. Profane, der unter Pappy Hods Befehl vier Jahre lang das Deck geschrubbt, gescheuert, mit der Drahtbürste bearbeitet, gestrichen und wieder geschrubbt hatte, war bereit, die Hälfte zu glauben. Die Hälfte, weil eine Frau nur die eine Hälfte einer Sache ist, die gewöhnlich aus zwei Seiten besteht.

Sie brachte ihnen allen ein Lied bei. Sie hatte es von einem Fallschirmjäger gelernt, der vom Algerienkrieg nach Frankreich in Urlaub fuhr:

Demain le noir matin,

Je fermerai la porte

Au nez des années mortes;

J’irai par les chemins.

Je mendierai ma vie

Sur la terre et sur l’onde

Du vieux au nouveau monde …

Er war klein und gebaut wie die Insel Malta: Fels, ein unergründliches Herz. Sie hatte nur eine einzige Nacht mit ihm verbracht. Dann war er nach Griechenland weitergefahren.

Sie brachte Dewey Gland die Gitarrengriffe bei, und alle setzten sich um den Tisch in Teflons frostiger Küche, während vier Gasflammen auf dem Herd den Sauerstoff verbrauchten; und sangen und sangen. Als Profane ihre Augen betrachtete, dachte er, sie träumte von ihrem Para – wahrscheinlich ein unpolitischer Mann wie irgendein anderer Soldat: aber müde, das war es, müde, Eingeborenendörfer wiederzufinden und sich morgens ebenso brutale Grausamkeiten auszudenken wie die der FLN in der Nacht zuvor. Am Hals trug sie ein Amulett (ein Geschenk eines vagabundierenden Seemanns vielleicht, den sie an ein gut katholisches Mädchen in den Staaten erinnert hatte, wo die Liebe tabu ist – oder für die Ehe reserviert?). Was für eine Katholikin war sie? Profane, der nur halb Katholik war (jüdische Mutter), dessen Moralität nur fragmentarisch war (da sie auf seinen wenigen Erfahrungen beruhte), fragte sich, welche jesuitischen Argumente sie dazu gebracht hatten, mit ihm zu gehen, ihm zu verweigern, mit ihr das Bett zu teilen, und ihn dennoch zu bitten, »gut zu sein«.

Am Abend vor der Neujahrsnacht verließen sie die Küche und gingen in einen jüdischen Delikatessenladen ein paar Straßen weiter. Als sie in Teflons Wohnung zurückkamen, waren Pig und Dewey nicht da. »Ausgegangen, uns zu betrinken«, stand auf einem Zettel. Das Wohnzimmer war weihnachtlich erleuchtet, aus dem einen Schlafzimmer hörte man Radiomusik, Pat Boone, aus dem anderen den Lärm geworfener Gegenstände. Irgendwie kam das junge Paar in einen dunklen Raum, in dem ein Bett stand.

»Nein«, sagte sie.

»Das heißt: ja.«

Ächz, machte das Bett. Und bevor einer von ihnen etwas merkte:

Klick, machte Teflons Kamera.

Profane tat, was man von ihm erwarten mußte: er sprang schimpfend aus dem Bett, die Hand zur Faust geballt. Teflon wich ihm mühelos aus. »Na, na«, gluckste er.

Das Sich-Einmischen in ihr Alleinsein an sich war nicht so schlimm; aber die Unterbrechung kam genau vor dem großen Augenblick.

»Mach dir nichts draus«, sagte Teflon. Paola sprang in ihre Kleider.

»Du mit deiner Kamera treibst uns hinaus in den Schnee«, sagte Profane.

»Da« – öffnete die Kamera, gab Profane den Film –, »du wirst doch nicht gleich weinen.«

Profane nahm den Film, aber der Faden war gerissen. Er zog sich also an, stülpte sich seinen Cowboyhut auf. Paola hatte einen viel zu großen Navy-Mantel übergezogen.

»Hinaus«, schrie Profane, »in den Schnee.« Es schneite tatsächlich. Sie fuhren mit der Fähre hinüber nach Norfolk, tranken auf dem Oberdeck schwarzen Kaffee aus Pappbechern und sahen den Schneeflocken zu, wie sie leise gegen die großen Fensterscheiben klatschten. Es gab nichts, was sie hätten betrachten können, außer einem Penner, der auf der Bank ihnen gegenüber saß, oder sich selbst. Die Maschine stampfte und rumorte tief unten, sie konnten es spüren, aber niemandem fiel etwas ein, was er sagen könnte.

»Wärst du lieber geblieben?« fragte er.

»Nein, nein«, bibberte sie; zwei Handbreit Holz trennten sie. Es drängte ihn nicht, sie an sich zu ziehen. »Wenn du es so willst.«

Madonna, dachte er. Ich habe jemanden, der von mir abhängig ist.

Sie schüttelte ihren Kopf (es war unklar, was das bedeuten sollte), schaute auf die Laschen ihrer Überschuhe. Nach einer Weile stand Profane auf und ging hinaus an die Reling.

Schneeflocken trudelten langsam auf das Wasser; jetzt, um elf Uhr abends, sah es aus wie Zwielicht, oder Sonnenfinsternis. Über ihm ertönte alle paar Sekunden ein Nebelhorn, das alles, was auf ihrer Route war, warnte. Und es schien, als gäbe es auf diesem Stück Wasser nur Schiffe, unbewohnt, unbeseelt, die sich gegenseitig anlärmten, und dieser Lärm wäre nichts mehr als das Wirbeln ihrer Schrauben oder das Zischen des Schnees über dem Wasser. Und Profane ganz allein darin.

Manche von uns haben Angst vor dem Sterben, andere vor dem Alleinsein. Profane hatte Angst vor Gegenden wie dieser, wo nichts anderes lebte als er selbst. Und es schien, als ginge er immer in eine dieser Gegenden: um eine Ecke in eine Straße einbiegen, eine Tür zum Freideck öffnen, und er war dort, in einem fremden Land.

Doch die Tür hinter ihm öffnete sich wieder. Bald fühlte er Paolas nackte Hand unter seine Arme gleiten, ihre Wange an seinem Rücken. Aber auch mit ihr wurde die Szene nicht weniger fremd. Sie blieben so stehen, bis sie die andere Seite erreichten, bis das Schiff anlegte, Ketten rasselten, Autohupen aufheulten, Motoren anliefen.

Mit dem Bus fuhren sie in die Stadt, ohne ein Wort zu sagen, stiegen in der Nähe des »Monticello-Hotels« aus und gingen in Richtung East Main, wo sie Pig und Dewey suchen wollten. Das »Sailor’s Grave« war dunkel, das erste Mal, solange sich Profane erinnern konnte. Wahrscheinlich hatte es die Polizei geschlossen.

Sie fanden Pig nebenan in »Chester’s Hillbilly Heaven«. Dewey saß bei der Band. »Party, Party«, rief Pig.

Ein paar Dutzend ehemaliger »Scaffold«-Leute wollten ein Fest feiern. Pig, der sich selbst zum Maître de plaisir ernannt hatte, entschloß sich für die »Susanna Squaducci«, einen italienischen Luxusdampfer, der, kurz vor seiner Fertigstellung, im Hafen von Newport News lag.

»Zurück nach Newport News?« (Er wollte Pig nichts über den Ärger mit Teflon erzählen.) Also: wieder Jo-Jo sein.

»Das muß endlich aufhören«, sagte er, aber niemand verstand es. Pig und Paola legten gerade einen scharfen Boogie aufs Parkett.

III

Profane schlief in dieser Nacht in Pigs Wohnung, unten am alten Fährendock, und er schlief allein. Paola hatte eine von diesen Beatricen getroffen und war über Nacht zu ihr gegangen, doch hatte sie Profane vorher vage versprochen, gemeinsam mit ihm Neujahr zu feiern.

Gegen drei Uhr wachte Profane auf dem Küchenboden auf, er hatte Kopfschmerzen. Nachtluft, bitter kalt, strich unter der Tür herein, und von irgendwo draußen konnte er ein leises anhaltendes Brummen hören. »Pig«, krächzte Profane, »wo hast du dein Aspirin?« Keine Antwort. Profane stolperte ins Nebenzimmer. Pig war nicht da. Das Brummen draußen wurde immer geheimnisvoller. Profane ging ans Fenster und sah draußen im Hof Pig auf einem Motorrad sitzen, die Maschine lief. Schnee fiel in dünnen glitzernden Flocken, der Hof hatte sein eigenes Winterlicht: es machte aus Pig einen schwarz-weiß-gekleideten Clown und färbte die alten, schneeüberstäubten Backsteinmauern grau. Pig hatte sich über sein Gesicht und bis in den Nacken eine Pudelmütze gezogen, die seinen Kopf aussehen ließ wie eine tiefschwarze Kugel. Wolken von Abgasqualm umhüllten ihn. Profane fröstelte. »Was machst du denn da, Pig?« rief er. Pig antwortete nicht. Pig und diese Harley-Davidson um drei Uhr morgens – dieses geheimnisvolle oder drohende Bild erinnerte Profane plötzlich an Rachel, an die er nicht denken wollte, nicht heute nacht in dieser schneidenden Kälte, nicht mit Kopfschmerzen, nicht, wenn der Schnee ins Zimmer rieselte.

Rachel hatte damals, 54, diesen MG gefahren. Ein Geschenk ihres Vaters. Nach der Jungfernfahrt in der Grand-Central-Gegend (wo Papas Büro lag), während der sie ihn an Telefonmasten, Feuerhydranten und vereinzelte Fußgänger gewöhnt hatte, brachte sie den Wagen den Sommer über in die Catskills. Hier ließ Rachel – klein, mißmutig, lüstern – den MG durch die blutrünstigen Kurven hetzen, durch Serpentinen, hier schob sie sein arrogantes Heck vor Heuwagen, vor brummende Lastwagen, vor alte Fordroadster, die vollgestopft waren mit bürstenhaarigen Studentengnomen.

Profane war gerade von der Navy entlassen worden und arbeitete in diesem Sommer als Hilfssalatier in »Schlozhauer’s Trocadero«, fünfzehn Kilometer vor Liberty, New York. Sein Vorgesetzter war ein gewisser Da Conho, ein verrückter Brasilianer, der in Israel gegen die Araber kämpfen wollte. Eines Abends, am Anfang der Saison, war in der »Fiesta Lounge«, der Bar des »Trocadero«, ein betrunkener Navy-Mann mit einem 7,62 mm-Maschinengewehr aufgetaucht. Er wußte selbst nicht so genau, wie er zu der Waffe gekommen war: vielleicht glaubte Da Conho wirklich, sie sei Stück für Stück von Parris Island heruntergeschmuggelt worden; so jedenfalls hätte es die Haganah getan. Nach einer längeren Auseinandersetzung mit dem Barmixer, der sie auch haben wollte, machte Da Conho schließlich das Geschäft: drei Artischocken und eine Aubergine tauschte er dagegen ein. Es war seine dritte Trophäe; außerdem besaß er schon ein Mesusah, das er über der Kühltruhe angenagelt hatte, und ein Zionistenbanner, das über der Salatanrichte hing. Während der folgenden Wochen, wenn der Oberboß seine Augen einmal anderswo hatte, tarnte er das Maschinengewehr mit Huflattich, Wasserkresse und belgischen Endivien und verulkte die Gäste im Speiseraum. »Jibbel, jibbel, jibbel«, machte er dann und betrachtete sie bösartig, »hab dich im Visier, Abdul Sahib. Jibbel, jibbel, du Muslimschwein.« Da Conhos Maschinengewehr war das einzige auf der Welt, das »jibbel, jibbel« machte. Oft blieb er bis nach vier Uhr morgens wach, reinigte es, träumte von Wüsten, die Mondlandschaften glichen, vom Singsang orientalischer Musik, von jemenitischen Mädchen, deren Gesichter so empfindlich waren, daß sie sie mit weißen Tüchern schützen mußten, deren Hüften nach Liebe verlangten. Er fragte sich, wie hier, in diesem Restaurant, amerikanische Juden Mahlzeit für Mahlzeit großmäulig herumlungern konnten, während am anderen Ende der Welt gnadenloser Wüstensand die Leichen der Ihren bedeckte. Wie könnte er diese seelenlosen Wänste aufwecken? Auf sie einreden mit Öl und Essig, sie mit Palmenherzen beschwören? Die einzige Stimme, über die er verfügte, war die des Maschinengewehrs. Doch können sie sie hören, können Mägen verstehen: nein. Man hört niemals die Kugel, die einen erwischt. Gerichtet vielleicht auf irgendeinen Verdauungskanal in einem Hart Schaffner & Marx-Anzug, der lüstern gluckst, wenn die Serviererin vorbeigeht, war diese Waffe nur ein Objekt, dorthin gezielt, wohin sie irgendeine aus dem Gleichgewicht gebrachte Kraft drückte: Doch auf welche Gürtelschnalle hatte Da Conho gezielt: Abdul Sahid, einen Verdauungskanal, auf sich selbst? Warum fragen. Er wußte nicht mehr, als daß er ein Zionist war, daß er litt, verrückt war, verrückt danach, sich in den Lehm eines Kibbuzes eine Hemisphäre weit weg zu wühlen.

Profane hatte sich damals gefragt, welche Bewandtnis es mit Da Conho und seinem MG haben könnte. Liebe zu einem Objekt, das war ihm neu. Als er nicht lange danach dieselbe Sache bei Rachel und ihrem MG entdeckte, begriff er zum ersten Male, daß insgeheim etwas im Gange war, und vielleicht hatte es schon länger gedauert, vielleicht waren mehr Leute in die Sache verwickelt, als er sich überhaupt vorstellen konnte.

Ihr MG war die Ursache, daß er sie kennenlernte, und jeder andere hatte sie auf dieselbe Art kennengelernt. Der MG hätte ihn fast überfahren. Es war Mittag, er kam gerade mit einem Eimer voller Lattichblätter, die Da Conho als ungenießbar aussortiert hatte, aus der hinteren Küchentür, als er von irgendwo rechts das drohende Brummen eines Wagens hörte. Profane ging weiter, in dem festen Vertrauen darauf, daß schwerbepackte Fußgänger Vorfahrt haben. Das nächste, was er wußte, war, daß ihn die rechte vordere Stoßstange des MG im Kreuz erwischte. Glücklicherweise hatte der Wagen nur knappe zehn Sachen drauf, nicht genug, um etwas wirklich kaputtzumachen, aber es reichte doch, Profane samt Mülleimer und Lattichblättern in einem dichten grünen Regen, den Hintern über der Rübe, fliegen zu lassen.

Er und Rachel, beide von Lattichblättern bedeckt, sahen sich mißtrauisch an. »Wie romantisch«, sagte sie. »Denn alles, was ich weiß, ist, daß Sie vielleicht der Mann meiner Träume sind. Tun Sie den Lattich aus Ihrem Gesicht, ich möchte Sie sehen.« Ehrerbietig, als zöge er seinen Hut, nahm er die Blätter weg.

»Nein«, sagte sie, »Sie sind es nicht.«

»Vielleicht«, sagte Profane, »sollten wir es beim nächsten Mal mit einem Feigenblatt versuchen.«

»Ha, ha«, sagte sie und röhrte davon. Er suchte sich einen Rechen und begann den Abfall zusammenzuharken. Er dachte daran, daß ihn wieder ein seelenloses Ding fast getötet hätte. Er war nicht sicher, ob er damit Rachel oder den Wagen meinte. Er gab die Lattichblätter in den Mülleimer und leerte ihn dann in einen kleinen Graben hinter dem Parkplatz, der dem »Trocadero« als Abfallhaufen diente. Als er zur Küche zurückging, kam Rachel noch einmal vorbei. Den verschnupften Auspuff hätte man wohl bis Liberty hören können. »He, Dicker«, rief sie. »Fahr ein Stück mit!« Profane überlegte, ob er könnte. Er hatte noch ein paar Stunden Zeit, bis er die Tische decken mußte.

Nach fünf Minuten Fahrt über die Route 17 beschloß er, Rachel zu vergessen und sich nur noch für stille Fußgängerinnen zu interessieren, sollte er je wieder unverstümmelt und lebend zum »Trocadero« zurückkommen. Sie fuhr, als wäre sie auf Urlaub aus der Hölle hier. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihre Fähigkeiten und die des Wagens kannte, aber wie konnte sie etwa wissen, wenn sie in einer unübersichtlichen Kurve dieser schmalen Straße überholte, ob der entgegenkommende Milchwagen noch so weit entfernt war, daß sie sich mit wenigstens einem Millimeter Abstand wieder einfädeln konnte?

Er hatte zuviel Angst um sein Leben, um – wie sonst – schüchtern zu sein. Er griff hinüber zu ihrer Handtasche, nahm sich eine Zigarette, zündete sie an. Rachel achtete nicht darauf. Sie konzentrierte sich nur noch auf das Fahren und dachte gar nicht mehr daran, daß noch jemand neben ihr saß. Sie sprach nur einmal etwas, sagte ihm, hinten im Wagen wäre ein Kasten mit kaltem Bier. Er sog an ihrer Zigarette und fragte sich, ob er wohl zum Selbstmord verurteilt sei. Manchmal, so schien es, begab er sich vorsätzlich in die Bahn feindlicher Objekte, als suchte er, aus dem Sein hinausschlamasselt zu werden. Warum überhaupt war er hier? Weil Rachel einen hübschen Hintern hatte? Er schielte zur Seite, sah ihn im Rhythmus des Wagens mitschwingen, sah die weder natürliche noch harmonische Bewegung ihrer Brüste unter dem schwarzen Pullover. Schließlich bogen sie in einen verlassenen Steinbruch ein. Unförmige Quader lagen über den Boden verstreut. Er wußte nicht, was das für Steine sein könnten, aber alle waren sie unbeseelt. Über einen schmalen Pfad fuhren sie zu einem ebenen Vorsprung ungefähr fünfzehn Meter über dem Grund.

Es war ein ungemütlicher Nachmittag. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen, keinen Schutz gewährenden Himmel herab. Der dicke Profane schwitzte. Rachel ließ Profane die wenigen Bekannten raten, die an ihrer High School waren, aber er wußte niemanden. Sie sprachen über alle Verabredungen, die sie in diesem Sommer gehabt hatte; anscheinend waren es alle dolle Kerle. Von Zeit zu Zeit nickte Profane zustimmend, wie herrlich es gewesen wäre. Sie redete über Bennington, ihre Uni, und sie redete über sich selbst.

Rachel kam aus den Five Towns am Südufer von Long Island, einem Gebiet, zu dem man Malverne, Lawrence, Cedarhurst, Hewlett und Woodmere und manchmal auch Long Beach und Atlantic Beach rechnet; allerdings war noch niemand auf den Gedanken gekommen, es Seven Towns zu nennen. Obwohl seine Bewohner keine Sephardim sind, scheint es einer Art geographischem Inzest verfallen zu sein. Die Töchter sind angehalten, ebenso sittsam und dunkeläugig zu sein wie so viele andere Rapunzeln innerhalb der magischen Grenzen dieses Landes, dessen märchenhafte Architektur der chinesischen Restaurants, seiner Fischmarkthallen und verspielten Synagogen ebenso bezaubernd ist wie das Meer, bis sie eines Tages erwachsen genug sind, in die Gebirge und Colleges des Nordostens geschickt zu werden. Nicht um sich einen Mann zu angeln (da in den Five Towns immer ein gewisses Gleichgewicht der Geschlechter bestand, wodurch ein netter Junge schon mit sechzehn oder siebzehn Jahren als Ehemann bestimmt werden kann), sondern um ihnen wenigstens die Illusion zu geben, sich »die Hörner abgestoßen« zu haben – was für die seelische Entwicklung eines Mädchens so notwendig ist.

Nur die Mutigen entkommen. Bricht der Sonntagabend an – die Golfpartie ist absolviert, die Negermädchen haben die Unordnung, die das Fest des vergangenen Abends hinterlassen hat, bewältigt und sind zu Besuch bei ihren Verwandten in Lawrence, und bis zur Ed Sullivan-Show im Fernsehen sind es noch Stunden –, verläßt der Adel dieses Königreiches seine gewaltigen Wohnsitze, man besteigt das Automobil und begibt sich ins Geschäftsviertel. Um sich dort zu vergnügen vor schier endlosen Reihen von Garnelen und Egg Foo Yung; Orientalen, die sich verbeugen, die lächeln, die durch das sommerliche Zwielicht huschen, durch deren Stimmen die Vögel des Sommers klingen. Und wenn die Dunkelheit hereinbricht eine kurze Promenade auf der Straße: der Torso des Vaters fest und vertrauenerweckend in seinem J. Press-Anzug, die Augen der Töchter geheimnisvoll hinter den in Rheinkiesel gefaßten Sonnengläsern. Und wie der Jaguar seinen Namen dem Wagen der Mutter gegeben hat, so gab er sein Fellmuster den Hosen, die ihre geschmeidigen Hüften umfassen. Wer könnte entkommen? Wer konnte entkommen wollen?

Rachel wollte es. Profane, der die Straßen in der Gegend von Five Towns ausgebessert hatte, konnte verstehen, warum.

Als die Sonne unterging, hatten sie den Kasten Bier zwischen sich fast ausgetrunken. Profane war elend besoffen. Er stieg aus dem Wagen, ging hinter einen Baum und zielte westwärts, mit dem undeutlichen Wunsch, die Sonne anzupissen, um sie zu guter Letzt auszulöschen; irgendwie schien ihm das wichtig. (Unbelebte Dinge konnten tun, was sie wollten. Nicht, was sie wollten, weil Dinge nicht wollen können. Nur Menschen. Aber Dinge tun, was sie tun, und darum pißte Profane die Sonne an.)

Sie ging unter, als hätte er sie ausgelöscht, und blieb, unsterblicher Gott einer dunkel gewordenen Welt.

Rachel sah ihm neugierig zu. Er zog wieder los und torkelte zurück zum Bierkasten. Zwei Dosen waren noch da. Er öffnete sie und gab ihr eine. »Ich habe die Sonne ausgemacht«, sagte er, »trinken wir einen drauf.« Das meiste goß er sich über das Hemd.

Zwei weitere Dosen fielen auf den Grund des Steinbruchs, der leere Kasten folgte ihnen nach.

Sie hatte den Wagen nicht verlassen.

»Benny.« Ein Fingernagel berührte sein Gesicht.

»Emmh.«

»Willst du mein Freund sein?«

»Du siehst aus, als hättest du genug davon.«

Sie sah in den Steinbruch hinunter. »Warum tun wir nicht so, als wäre keiner von uns real«, sagte sie, »kein Bennington, kein ›Schlozhauer’s‹, keine Five Towns. Nur dieser Steinbruch: die toten Steine, die vor uns waren und die nach uns sein werden.«

»Warum?«

»Ist das nicht die Welt?«

»Bringen sie euch das in der ersten Geologie-Vorlesung bei?«

Sie schien verletzt. »Es ist eben etwas, das ich weiß.«

»Benny« – ein kleiner Schrei –, »sei mein Freund, nichts sonst.«

Er zuckte die Achseln.

»Schreib mal.«

»Du darfst nicht damit rechnen …«

»Daß du in der Gegend bleibst. Auf den Straßen hier. Auf den Straßen dieses kleinen Jungen, mit all ihren Lastwagen, ihrem Staub, ihren Rasthäusern, mit den Absteigen an den Kreuzungen. Das ist’s. So wie es westlich Ithaca und südlich Princeton ist. Orte, die ich nicht kennenlernen werde.«

Er kratzte sich am Bauch. »Bestimmt.«

Profane traf sie an all den Tagen, die noch von diesem Sommer blieben, wenigstens einmal. Sie redeten immer in ihrem Wagen; er versuchte, hinter ihren unergründlichen Augen den Zündschlüssel ihrer selbst zu finden, und sie saß zurückgelehnt hinter dem Lenkrad ihres rechtsgesteuerten MG und redete, redete, nichts als MG-Worte, unbelebte Worte, auf die er keine vernünftigen Antworten wußte.

Bald genug trat auch das ein, was er befürchtet hatte – er mogelte sich selbst in eine Liebesbeziehung zu Rachel hinein, und es wunderte ihn nur, daß dies so lange gedauert hatte. Nachts lag er in der Schlafbaracke und schaute in Gedanken auf das glimmende Ende seines Zigarettenstummels. Gegen zwei Uhr früh kam der Besitzer der oberen Liege des Stockbettes von der Nachtschicht zurück – ein gewisser Duke Wedge, ein pickliger Typ aus dem Chelsea District, der immer erzählen wollte, wieviel er verdiente, und es war tatsächlich eine ganze Menge. Sein Geschwätz lullte Profane in den Schlaf.

An einem Abend entdeckte er Rachel und diesen Schurken von Wedge in ihrem MG, den sie vor ihrem Bungalow geparkt hatte. Er schlich sich zurück in sein Bett, fühlte sich nicht wirklich betrogen, denn er wußte, daß Wedge nichts erreichen würde. Er blieb sogar wach und ließ sich von Wedge, als dieser gekommen war, haarklein erzählen, wie er es fast, aber nicht ganz geschafft hatte. Wie gewöhnlich schlief er mittendrin ein.

Es gelang ihm nie, über oder hinter die Barriere ihres Geschwätzes zu gelangen, in ihre Welt, in der man nach Dingen strebte oder die ihren Wert durch Dinge erhielt, eine Atmosphäre, in der Profane nicht atmen konnte. Am Abend des Labor Day sah er sie zum letztenmal.

An diesem Abend hatte irgend jemand Da Conhos Maschinengewehr gestohlen. Da Conho tobte, suchte es mit Tränen in den Augen. Der Oberboß sagte Profane, er sollte den Salat anrichten. Er schüttete gefrorene Erdbeeren in die Salatsoße, schnitzelte Leber in den Waldorfsalat, ließ aus Versehen so an die zwei Dutzend Radieschen ins siedende Öl fallen (und erntete Lob von den Gästen, als er sie dennoch servierte, weil er zu faul war, neue zu holen). Von Zeit zu Zeit kam der weinende Brasilianer in die Küche, um ihm Anweisungen zu geben.

Er fand sein geliebtes Maschinengewehr nie wieder. Einsam, verloren und nervös wurde er am nächsten Tag gefeuert. Die Saison war ohnehin zu Ende, und Profane erfuhr nie, ob es Da Conho eines Tages wirklich gelungen war, nach Israel abzudampfen, um dort in den Innereien irgendeines Traktors herumzufummeln, um dort ein verlassenes Mädchen weit weg in den Staaten zu vergessen zu versuchen wie so viele müde Arbeiter von Übersee.

Nach Feierabend machte Profane sich auf die Suche nach Rachel. Sie sei ausgegangen, sagte man ihm, mit dem Teamkapitän der Armbrustschützengruppe von Harvard. Profane schlenderte zurück zur Schlafbaracke und fand dort einen verdrossenen Wedge vor – erstaunlich allein für diesen Abend. Bis Mitternacht spielten sie Siebzehn und Vier um all die Präservative, die Wedge in diesem Sommer nicht gebraucht hatte. Es waren an die hundert. Profane lieh sich fünfzig und gewann. Als er Wedge alle abgenommen hatte, lief der fort, um sich neue zu leihen. Fünf Minuten später kam er zurück und schüttelte den Kopf. »Keiner wollte mir glauben.« Profane lieh ihm ein paar. Bald darauf sagte er Wedge, er sei mit dreißig im Rückstand. Wedge kommentierte das entsprechend. Profane nahm sich den Gummihaufen. Wedge lehnte seinen Kopf auf die Tischplatte. »Er wird sie nie gebrauchen«, sagte er zum Tisch. »Das ist ja die Sauerei: niemals in seinem Leben.«

Wieder schlenderte Profane zu Rachels Kabine. Er hörte Spritzen und Gurgeln aus dem Hof hinter dem Bungalow und ging hin, um nachzusehen. Da war sie und wusch ihren Wagen. Mitten in der Nacht! Und mehr noch: sie redete mit ihm.

»Du bist ein hübscher Kerl«, hörte er sie sagen. »Es ist so schön, dich zu berühren.« Hallo! dachte er. »Weißt du, was ich fühle, wenn wir auf der Straße sind? Ganz allein? Nur wir zwei?« Zärtlich wischte sie mit dem Schwamm über die vordere Stoßstange. »Deine lustigen Antworten, Liebster, die ich so gut kenne. Die Art, wie du beim Bremsen ein wenig nach links ausbrichst, oder wie du bei fünftausend Touren anfängst zu zittern, als wärest du erregt. Und du frißt zuviel Öl, wenn du auf mich böse bist, ich weiß es doch.« Ihre Stimme klang ganz und gar nicht verrückt; es hätte die Spielerei eines Schulmädchens sein können, aber, so dachte er, komisch genug war es schon. »Wir wollen immer zusammenbleiben« – sie fuhr mit dem Leder über die Kühlerhaube –, »und du brauchst dich nicht über den schwarzen Buick zu ärgern, den wir heute auf der Straße überholt haben. Uff: ein fettes, schwarzes Mafiaauto. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn aus der Hintertür eine Leiche geflogen wäre. Oder du etwa? Neben dem bist du so kantig und richtig englisch – und so vornehm, daß ich dich nie verlassen könnte.« Profane hatte Lust, sich zu übergeben. Öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen hatte bei ihm oft diese Wirkung. Sie war jetzt in den Wagen geklettert und hatte sich auf dem Fahrersitz zurückgelehnt, ihre Kehle den sommerlichen Sternen zugewandt. Er wollte gerade zu ihr gehen, als er sah, wie ihre blasse Hand den Schalthebel streichelte. Er sah ihr zu, beobachtete, wie sie ihn behandelte. Da er gerade mit Wedge zusammengewesen war, kam ihm die entsprechende Assoziation. Er wollte nicht noch mehr sehen. Er schlenderte den Hügel hinauf und in den Wald, und als er zum »Trocadero« zurückkam, hätte er nicht sagen können, wo er gewesen war. Alle Kabinen waren dunkel. Aber das Büro an der Vorderseite war noch offen. Der Hoteldiener war nicht da. Profane holte sich aus der Schreibtischschublade ein Kästchen Reißnägel, kehrte zu den Kabinen zurück, und bis drei Uhr früh ging er im Licht der Sterne von Kabinentür zu Kabinentür und heftete an jede eines von Wedges Präservativen. Er kam sich vor wie der Engel des Todes, der die Türen der Opfer des nächsten Tages mit Blut zeichnete.

Nach diesem Sommer dann: Briefe. Seine unfreundlich und voller falscher Worte, und ihre bald heiter, bald verzweifelt, bald leidenschaftlich. Ein Jahr später machte sie ihr Examen in Bennington und ging nach New York, wo sie als Sekretärin in einer Arbeitsvermittlungs-Agentur arbeitete. Er hatte sie ein- oder zweimal getroffen, als er durch New York kam, und obwohl einer an den anderen nur gelegentlich einmal dachte, obwohl ihre Jo-Jo-Hand sich meistens mit anderen Dingen beschäftigte, überfiel sie immer wieder dieses unvorhersehbare Zusammengehörigkeitsgefühl, mnemonisch und aus dem Schlaf weckend wie in dieser Nacht, und Profane fragte sich, wie sehr er sich selbst noch in der Gewalt hatte. Einer Sache wegen allerdings mußte er ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie hatte es nie ein »Verhältnis« genannt.

»Aber was ist es denn«, hatte er sie einmal gefragt.

»Ein Geheimnis«, mit ihrem Kinderlächeln, das ihn wie ein Dreivierteltakt von Rodgers und Hammerstein vibrieren, frösteln ließ.

Sie suchte ihn noch gelegentlich heim, wie jetzt, in der Nacht, wie ein Sukkubus, der mit dem Schnee hereinkam. Er wußte nicht, wie er beides draußenhalten könnte.

IV

Tatsächlich artete diese Neujahrsparty – zumindest für eine Weile – in pure Jo-Joerei aus. Die Gesellschaft enterte die »Susanna Squaducci«, bestach den Nachtwächter mit einer Flasche Wein und erlaubte einer Gruppe von einem Zerstörer, der im Trockendock lag, nach anfänglichem Gezänk, mit an Bord zu kommen.

Paola hielt sich zunächst in Profanes Nähe auf, der sich seinerseits nicht von einer sinnlich aussehenden Dame abwenden konnte, die eine Art Pelzmantel trug und behauptete, die Frau eines Admirals zu sein. Jemand hatte ein Kofferradio mitgebracht: Lärm, Wein, Wein … Dewey Gland kletterte einen Mast hoch. Der Mast war frisch gestrichen, doch Dewey kletterte weiter, und je höher er kam, desto mehr ähnelte er einem Zebra, während seine Gitarre unter ihm baumelte. Als er zum Querbaum kam, setzte er sich darauf, schlug ein paar Takte an und sang auf eine Hillbilly-Melodie:

Depuis que je suis né

J’ai vu mourir des pères,

J’ai vu partir des frères,

Et des enfants pleurer …

»Was bekümmert diesen Fallschirmjäger denn so?« hatte er sie gefragt, als sie es ihm das erste Mal übersetzte. »Wer hat denn so etwas noch nicht gesehen. Und es geschieht nicht nur im Krieg. Warum den Krieg schlechtmachen. Ich wurde in einer Baracke geboren, und das war vor dem Krieg.«

»Das ist es ja«, hatte Paola geantwortet. »Je suis né. Ich bin geboren. Das ist schon genug.«

Deweys Stimme klang gerade so, als sei sie ein Teil des unbeseelten Windes, so hoch oben. Wann kam Guy Lombardo und das »Auld Lang Syne«?

Als eine Minute des Jahres 1956 verstrichen war, stand Dewey wieder auf dem Deck, und Profane saß rittlings auf einem Mast, sah hinunter zu Pig und der Frau des Admirals, die sich genau unter ihm liebten. Eine Seemöve stieß aus dem Schneehimmel herab, kreiste und setzte sich neben Profanes Hand auf den Mast. »Hallo, Möwe«, sagte Profane. Möwe antwortete nicht.

»O Mann«, sagte Profane in die Nacht. »Ich sehe es so gern, wie junge Menschen zusammenkommen.« Er sah über das Hauptdeck. Paola war verschwunden. Plötzlich schien alles zu explodieren. Eine Sirene erklang, zwei, draußen auf der Straße. Autos fuhren aufheulend auf die Pier, graue Chevys, auf deren Türen »US Navy« geschrieben stand. Scheinwerfer flammten auf, kleine Männer mit weißen Mützen und schwarzgelben SP-Armbinden liefen auf der Pier durcheinander. Drei geistesgegenwärtige Betrunkene liefen das Backborddeck entlang und stießen die Laufplanken ins Wasser. Zu den Autos auf der Pier – mittlerweile schon ein richtiger Wagenpark – gesellte sich ein Lautsprecherwagen.

»In Ordnung, Leute«, begannen fünfzig Watt entkörperlichter Stimme zu bellen: »In Ordnung, Leute.« Das war so ungefähr alles, was er zu sagen wußte. Die Admiralsfrau fing an zu schreien, als wäre es ihr Mann, der sie ertappt hätte. Zwei oder drei Scheinwerfer nagelten sie dort fest, wo sie gerade lagen (in flagranti), Pig versuchte, die dreizehn Knöpfe seines Blauen in die richtigen Knopflöcher zu bekommen, was schier unmöglich ist, wenn man sich eilen muß. Anfeuerungsrufe und Gelächter vom Pier. Ein paar SP kamen wie Ratten über die Taue herüber. Frühere »Scaffold«-Leute, in den Zwischendecks aus dem Schlaf geschreckt, kletterten die Leitern hoch, während Dewey schrie: »Schlagt die Angreifer zurück!« und seine Gitarre wie ein Entermesser schwang.

Profane beobachtete dies alles und machte sich ein wenig Sorgen um Paola. Er sah sich nach ihr um, doch die Scheinwerfer blendeten ihn. Es fing wieder zu schneien an. »Nimm einmal an«, sagte er zu der Möwe, die ihn anblinzelte, »nimm einmal an, ich wäre Gott.« Er hievte sich auf die Kommandobrücke und legte sich auf den Bauch; Nase, Augen und Cowboyhut ragten über das Ende, so daß er aussah wie ein horizontaler Kilroy.

»Wäre ich Gott …« Er deutete mit dem Zeigefinger auf einen SP. »Peng, SP, den hast du im Arsch.« Doch der SP tat das weiter, womit er sich gerade beschäftigte: mit einem Gummiknüppel einem zweihundertfünfzig Pfund schweren Feuerwehrmann namens Patsy Pagano in den Magen zu trommeln.

Zum Wagenpark auf dem Pier gesellte sich jetzt auch ein Viehwagen, eine Grüne Minna, ein Truppentransporter der Weißen Mäuse.

»Peng«, sagte Profane, »Viehwagen, fahr weiter und fahr über das Pierende hinaus.« Was dieser auch fast getan hätte, aber er bremste doch noch rechtzeitig. »Patsy Pagano, dir sollen Flügel wachsen, damit du hierherfliegen kannst.« Doch ein letzter Schlag schickte ihn für eine Weile zu Boden. Der SP-Mann ließ ihn liegen, wo er gerade war. Sechs Mann waren nötig, um ihn wegzutragen.

Was ist nur eigentlich los? fragte sich Profane. Die Möwe, die all das langweilte, flog weg. Vielleicht, so überlegte Profane, erwartet man von Gott, daß er positiver reagiert und nicht ununterbrochen seine Blitze schleudert. Vorsichtig streckte er wieder seinen Finger aus. »Dewey Gland, sing ihnen dieses algerische Pazifistenlied vor.« Dewey, der jetzt rittlings auf einem Haltetau saß, fuhr ein paarmal über die Baßsaiten und sang »Blue Suede Shoes«, nach einer Elvis-Presley-Melodie. Profane drehte sich auf den Rücken und blinzelte in den Schnee.

»Das war schon ganz nahe dran«, sagte er, zu der Möwe, die weggeflogen war, zum Schnee. Er zog seinen Hut über das Gesicht und schloß die Augen. Und sofort war er eingeschlafen.

Unten wurde es stiller. Leute wurden fortgetragen und in den Viehwagen gesteckt. Der Lautsprecherwagen wurde nach mehreren Explosionen von Rückkopplungsgepfeife abgeschaltet und fuhr ab. Die Scheinwerfer verloschen, die Sirenen verklangen in Richtung des Hauptquartiers der SP.

Profane erwachte am frühen Morgen, bedeckt von einer dünnen Schneeschicht und die ersten Anzeichen einer bösen Erkältung in den Knochen. Er stolperte die eisüberzogenen Sprossen der Leiter hinunter, rutschte bei jedem Schritt aus. Kein Mensch auf dem Schiff. Er eilte sich, unter Deck zu kommen, um warm zu werden.

Und wieder war er im Innern von etwas Unbelebtem. Geräusch ein paar Decks weiter unten: der Nachtwächter, höchstwahrscheinlich. »Nie kann man allein sein«, murmelte Profane und schlich auf den Zehenspitzen einen Gang entlang. Auf dem Boden fand er eine Mausefalle; er hob sie vorsichtig auf und warf sie über den Gang. Mit einem lauten SCHNAPP traf sie gegen eine Schottenwand. Das Geräusch der Schritte brach sofort ab. Begann dann wieder, noch leiser, unter Profane weg und eine Leiter hinauf, dorthin, wo die Mausefalle lag.

»Ha, ha«, sagte Profane. Er spähte um eine Ecke, fand noch eine Mausefalle und warf sie eine Kajütstreppe hinunter. SCHNAPP. Die Fußschritte klapperten die Leiter wieder zurück.

Vier Mausefallen später fand sich Profane in der Kombüse, wo sich der Nachtwächter eine primitive Kaffeemesse eingerichtet hatte. Da er sich ausrechnete, den Nachtwächter für ein paar Minuten verwirrt zu haben, stellte Profane einen Kessel mit Wasser auf die Kochplatte.

»Hallo!« rief der Nachtwächter, zwei Decks weiter oben.

»Oh, oh«, sagte Profane und spähte aus der Kombüse, um noch mehr Mausefallen zu suchen. Er fand eine auf dem nächsten Deck, schlich sich hin und warf sie in hohem, unsichtbarem Bogen weg. Zumindest rettete er so Mäuseleben. Ein dumpfes SCHNAPP und ein Schrei von oben.

»Mein Kaffee«, murmelte Profane und nahm auf dem Weg hinunter zwei Stufen auf einmal. Er warf eine Handvoll Pulver in das kochende Wasser und schlüpfte auf der anderen Seite zur Türe hinaus, wo er fast gegen den Nachtwächter geprallt wäre, der mit einer Mausefalle am linken Ärmel dahertrottete. Er war so nahe, daß Profane den geduldigen, gequälten Blick im Gesicht des Wachmanns sehen konnte. Wachmann rein in die Kombüse, Profane raus. Er war schon drei Decks hochgeklettert, als er es aus der Kombüse poltern hörte.

»Was nun?« Er kam in einen Gang, an dem rechts und links leere Passagierkabinen lagen. Fand ein Stück Kreide, das ein Schweißer hatte liegenlassen, schrieb FICKT DIE SUSANNA SQUADUCCI und NIEDER MIT ALLEN REICHEN BASTARDEN auf die Metallwand, unterzeichnete mit DAS PHANTOM und fühlte sich wohler. Wer würde in dieser Kiste nach Italien segeln? Aufsichtsratsvorsitzende, Filmstars, abgeschobene Gangsterbosse. Vielleicht. »Aber heute«, summte er, »aber heute nacht, Susanna, gehörst du mir.« Heute gehörte sie ihm, um von ihm sein Zeichen zu erhalten und daß er heute Mausefallen in ihr schnappen lassen konnte. Das war mehr, als jeder zahlende Gast für sie tun würde. Und weiter schlich er den Gang entlang und sammelte Mausefallen ein.

Vor der Kombüse begann er wieder, sie in alle Richtungen zu werfen.

»Ha, ha«, sagte der Nachtwächter, »mach nur weiter, mach Krach, soviel du willst. Ich trinke solange deinen Kaffee.«

Das stimmte. Profane spielte gedankenverloren mit seiner letzten Mausefalle. Sie schnappte zu, fing drei Finger zwischen dem ersten und dem zweiten Gelenk.

Was soll ich jetzt tun, fragte er sich. Schreien? Nein. Der Nachtwächter würde nur lachen. Er biß die Zähne aufeinander, löste die Falle von seiner Hand, spannte sie wieder, warf sie durch ein Bullauge zur Kombüse und riß aus. Er erreichte den Pier und erhielt einen Schneeball gegen den Hinterkopf, der ihm seinen Cowboyhut fortfliegen ließ. Er bückte sich, um den Hut wieder aufzuheben, und überlegte, ob er den Schuß erwidern sollte. Nein. Er lief weiter.

Paola stand an der Fähre; sie wartete. Als sie an Bord gingen, nahm sie seinen Arm. »Ob wir jemals von dieser Fähre freikommen?«

»Du bist voller Schnee.« Sie reckte sich hoch, um ihn abzuklopfen, und er hätte sie fast geküßt. Die Kälte ließ die Mausefallenwunde taub werden. Wind blies von Norfolk herüber. Auf dieser Überfahrt blieben sie drinnen.

 

Rachel fand ihn im Busbahnhof von Norfolk. Er saß zusammengesunken neben Paola auf einer Holzbank, die unter einer Generation von Hintern schmuddelig geworden war und ihre Farbe verloren hatte, mit zwei Fahrkarten nach New York (unter dem Hutband verborgen). Seine Augen waren geschlossen, er versuchte zu schlafen. Er trieb gerade hinüber, als sein Name über den Lautsprecher ausgerufen wurde.

Sofort, noch bevor er ganz wach war, wußte er, wer es sein mußte. Eine Ahnung. Er hatte gerade an sie gedacht.

»Lieber Benny«, sagte Rachel, »ich habe jede Busstation im ganzen Land angerufen.« Er konnte hören, wie im Hintergrund ein Fest gefeiert wurde, Neujahrsnacht. Dort, wo er war, gab es nur eine alte Uhr, die ihm die Zeit sagte. Und ein Dutzend Heimatlose, auf die Holzbänke gekrümmt, den Schlaf suchend. Die auf eine lange Reise warteten, doch nicht mit Greyhound und nicht mit Trailways. Sie sagte: »Komm heim.« Die einzige, der er das zu sagen erlaubte, außer einer inneren Stimme, die er eher ihrer Überheblichkeit wegen nicht anerkennen würde als auf sie zu hören.

»Du weißt doch …«, versuchte er zu sagen.

»Ich schicke dir das Fahrgeld.«

Sie würde es tun.

Ein hohler, scheppernder Klang kroch über den Fußboden auf ihn zu. Dewey Gland, mürrisch und nur noch Haut und Knochen, zog seine Gitarre hinter sich her. Profane unterbrach sie sanft. »Da kommt mein Freund Dewey Gland«, sagte er fast flüsternd. »Er will dir sicher ein kleines Lied vorsingen.«

Dewey sang ihr den »Old Depression Song« (Wanderin’ eels in the ocean, eels in the sea, a redheaded woman made a fool of me …). Rachels Haar war rot, mit Strähnen vorzeitigen Graus, und so lang, daß sie es mit einer Hand am Rücken zusammenfassen, es über den Kopf heben und vor ihre großen Augen fallen lassen konnte. Was für ein Mädchen von 1,52 Metern (ohne Schuhe) eine lächerliche Geste ist; oder doch wenigstens sein sollte.

Und wieder fühlte er diese unvorhersehbare Nabelschnur. Er dachte an lange Finger, durch die er vielleicht ab und zu den blauen Himmel sehen könnte.

Und es schien, als höre es nie mehr auf.