Blickrichtungswechsel - Brigitta Schröder - E-Book

Blickrichtungswechsel E-Book

Brigitta Schröder

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Beschreibung

Accompanying people with dementia is a tremendous challenge. Can there still be any rays of hope? This book provides motivation for all those caring for and accompanying people with dementia, showing how to attend the affected individuals with imaginativeness and creativity, learning from them and appreciating them. The author succeeds in encouraging hard-pressed relatives to find rays of hope and fresh insights in stressful situations.

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Die Autorin

 

Die Schweizer Diakonisse Brigitta Schröder ist 1935 in Winterthur geboren und lebt seit 1971 in Deutschland. Sie ist Supervisorin DGSv, Lebens- und Trauerbegleiterin und Absolventin des Seniorenstudiums in Dortmund mit Schwerpunkt Geragogik und Gerontologie. Sie verbrachte ihre Berufszeit als Krankenschwester im Gesundheitswesen vorwiegend in leitender Position.

Brigitta Schröder

Blickrichtungswechsel

Lernen mit und von Menschen mit Demenz

4., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

In dankbarem Gedenken an Martha Soltek.Sie hat mir die Tür zu Menschen mit Demenz geöffnet.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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4., aktualisierte Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037154-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-037155-2

epub:   ISBN 978-3-17-037156-9

mobi:   ISBN 978-3-17-037157-6

Dieses Werk erschien in der 1. Auflage Pfingsten 2010 mit der ISBN 978-3-00-031094-2 unter dem gleichen Titel im Selbstverlag der Autorin (www.demenz-entdecken.de).

Inhalt

 

 

 

Geleitworte

Vorwort

Vorwort zur 4. Auflage

1       Wissenswertes über Demenz

1.1    Demografische Entwicklung

1.2    Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft

1.3    Diagnose und Verlauf

1.4    Bildhafte Darstellung

2       Miteinander auf dem Weg sein

2.1    Herausfordernder Rollenwechsel

2.2    Selbstfürsorge und Selbstschutz

2.3    Wünsche der Begleitenden

2.4    Ritualisierte Spiritualität

2.5    Ideen zur Aktivierung

3       Voneinander lernen

3.1    Lernen, zu geben und zu nehmen

3.2    Lernen, Neues zu entdecken

3.3    Lernen, sich abzugrenzen

3.4    Lernen, gemeinsam zu gehen

3.5    Impulse

4       Gemeinsames Erleben

4.1    Sinnliche Erfahrungen

4.2    Begegnungen und Berührungen

4.3    Rituale

4.4    Führen

4.5    Nonverbale Kommunikation

4.6    Konfliktsituationen

4.7    Szenen aus der häuslichen Pflege

5       Sexualität in neuer Sicht

5.1    Enttabuisierung

5.2    Begleitung in der Körperlichkeit

5.3    Haltung und Abgrenzung

6       Aus dem Leben gegriffen

7       Persönliche Worte

8       Material für Aktivitäten

9       Diagnostische Tests

10    Therapien und ganzheitliche Methoden

11    Sprichwörter und Redewendungen

12    Miteinander auf dem Weg sein – eine Weiterbildung

13    Adressen

14    Ein letzter Impuls

15    Literatur zum Weiterlesen

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen,

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegensenden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

Geleitworte

 

 

 

Demenz ist eines der zentralen Themen unserer Gesellschaft. Ein extremes Thema. Demenz löscht im schwersten Stadium bei den Betroffenen auf der kognitiven Ebene viele, vielleicht sogar alle anderen Themen aus, ersetzt sie mit »Leere«. Es widerspricht unseren Lebenserfahrungen, einen Menschen als »Leere« wahrzunehmen. Wir suchen auch in der Begegnung mit Menschen mit Demenz nach einem Anknüpfungspunkt für das »Du«. Vielleicht suchen wir auf der falschen, auf der kognitiven Ebene.

Kann man mit kognitiver Leere kommunizieren? Oberflächlich, materialistisch gesehen, wohl kaum, aus emotionaler, spiritueller, mystischer Sicht vielleicht schon. Die Begegnung mit Menschen mit schwerster Demenz wirft uns zurück auf uns selbst.

Der Schweizer Schriftendesigner Adrian Frutiger sagte einmal, bei der Gestaltung einer neuen Schrift achte er weniger auf die schwarzen Flächen der Buchstaben, sondern mehr auf die weiße Leere dazwischen. Die Leere wird zu einem sinnvollen, konstitutiven Teil des Ganzen.

Die Literatur zum Thema Demenz ist unübersichtlich groß. Sie erstreckt sich von Autobiografien im frühen Stadium der Demenz bis zu Publikationen im Bereich der neurobiologischen Grundlagenforschung. Das vorliegende Buch von Brigitta Schröder liegt irgendwo dazwischen. Die Diakonisse, die zur Schwesternschaft des Diakoniewerkes Neumünster gehört, lässt uns teilhaben an ihren reichen Erfahrungen in der Begleitung von Menschen mit Demenz und am Wissen, das sie sich in diesem Zusammenhang erworben hat. Sie bietet praktische Ermunterungen für Angehörige, für zivilgesellschaftlich Engagierte und professionell Betreuende, die mit Menschen mit Demenz zu tun haben. Noch mehr aber regt der Text zum Nachdenken über zentrale Themen des Lebens an und über die Leere zwischen ihnen, die vielleicht doch zum Leben als Ganzem dazugehört.

Neujahr 2010Dr. Werner WidmerDirektor der Stiftung Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule, Zollikerberg, Schweiz

 

Brigitta Schröder hat ihre Erfahrungen, die sie im Umgang mit Menschen mit Demenz über lange Zeit erworben hat, in dieser Schrift zusammengefasst. Der Text atmet, er ist lebendig und man kann eine Menge aus der Lektüre lernen. Im Kern lenkt Brigitta Schröder den Blick auf das, was wichtig ist, wenn man mit der Demenz zu tun hat: Es sind nicht zuerst oder allein die medizinisch-pflegerischen Handlungen, sondern es sind die sozialen, einfühlsamen Aspekte, die zählen. »Jeder Mensch ist wertvoll in seinem Dasein und in jeder Lebensphase« lautet die Devise der Autorin.

Ich wünsche diesem Text »Blickrichtungswechsel« viele Leserinnen und Leser.

Gießen, im Februar 2010Prof. Dr. Dr. Reimer GronemeyerTheologe und Soziologe Universität Gießen

Vorwort

 

 

 

Diese Texte zu schreiben, hat sich nach meiner Teilnahme an einem Workshop mit dem Titel »Ich nehme dich wahr – Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz« ergeben. Gemeinsam mit einer Diplom-Sozialpädagogin, die mich motiviert hat, meine Gedanken und Erfahrungen in Worte zu fassen, sind die ersten Schritte zu diesem Buch entstanden. Unter anderem haben mir Alltagsbegleiter Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Die gewählte »Ichform« gibt dem Text Lebendigkeit.

Meine zusammengestellten Aufzeichnungen sind an Begleitende, Angehörige und vielseitig Interessierte gerichtet, die mit Fragen und Herausforderungen der Demenz in Berührung kommen oder in ihrem Alltag in aller Härte damit konfrontiert werden. Meine Gedanken öffnen Wege, entfalten Kreativität und Fantasie, um eine eigene, individuelle Haltung zu suchen, zu überprüfen und zu finden. Dies ermöglicht, Menschen mit Demenz im Alltag wertschätzend zu begleiten, zu fördern und zu unterstützen.

Menschen mit Demenz unterliegen gravierenden Einschränkungen. Zwischenmenschliche Kontakte sind anders zu gestalten, dadurch entwickelt sich gegenseitige Bereicherung.

Begleitende Menschen sollen durch meine Aufzeichnungen ermutigt werden, für sich selbst gut zu sorgen, damit sie den Herausforderungen gewachsen sind und bleiben. Neben allem Belastenden kann sich durchaus ein persönlicher Gewinn ergeben. »Lernen mit und von Menschen mit Demenz« ist für die heutige, oft kopflastige und nach Profit und Erfolg strebende Gesellschaft kaum denkbar. Einen Blickrichtungswechsel vorzunehmen, um dem Sein statt dem Tun, dem Immateriellen statt dem Materiellen Raum zu geben, ist eine Voraussetzung für diese neue Sichtweise, die zu einer persönlich bereichernden Haltung führen kann und die des steten Einübens bedarf.

Mein Anliegen ist, mich mit den Lesern in einen inneren Dialog und durch ein verständnisvolles Miteinander auf einen gegenseitig befruchtenden Weg zu begeben. Ich bin Schweizerin, lebe seit 1971 in Deutschland und gehöre der Diakonissen-Schwesternschaft Neumünster an. Sie ist der Ursprung der heute renommierten Stiftung »Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule«, Zollikerberg/Zürich, die sich mit Fragen des Alterns und der Demenz in ethischer, wissenschaftlicher und spiritueller Sicht beschäftigt sowie sich in Fortbildung und Praxis auseinandersetzt und einen interdisziplinären Dialog fördert.

Altersfragen haben mich schon immer fasziniert. In den 1970er-Jahren habe ich das Altenheim »Ruhrgarten« in Mülheim an der Ruhr eröffnet und die ersten Spuren in der Altenarbeit hinterlassen. Meine langjährige Freundin Martha Soltek, von Beruf Prokuristin in einem metallverarbeitenden Unternehmen, hat mich nach ihrer Pensionierung über Jahre in meinem Berufsleben nachhaltig begleitet und unterstützt. Sie bekam um die Jahrtausendwende eine Demenz. Wir wohnten und lebten miteinander in ihrer Stadtwohnung. Ich habe sie auf ihrer letzten Wegstrecke begleiten können. Die Konfrontation mit ihrer Persönlichkeitsveränderung hat mich veranlasst, mich mit dem Thema Demenz intensiver auseinanderzusetzen. Martha Soltek hat mir durch ihre Erkrankung die Tür zur Residenz »Nova Vita« in Essen geöffnet. Hatte ich Termine in der Schweiz wahrzunehmen, verbrachte sie ihre Kurzzeit- und Verhinderungspflege in dieser Institution. Dieser Kontakt zur Residenz »Nova Vita« war mein Einstieg in die Begleitung von Menschen mit Demenz. Regelmäßig besuche ich die Bewohner dieser Institution.

Meine Aufzeichnungen sollen nicht in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Demenz« oder die oft beschriebene, sozialtherapeutischen Konzepte und autobiografischen Erfahrungen eingereiht werden, sondern finden ihren Platz beim Schwerpunkt Ethik, Individualität und Kreativität. Meine Gedanken und Aussagen sind aus der Praxis für die Praxis. Sie dienen, Menschen mit Demenz in ihrem Sosein und Verhalten vorurteilsfrei zu begegnen. Ich lade jeden ein, Mut und Neugier aufzubringen, hinter dem befremdlichen Verhalten dementer Menschen ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu erlernen, sich in ihrer Seins-Ebene frei und ungewohnt zu bewegen. Das ist der Blickrichtungswechsel, der mir wichtig ist. Jedem einzelnen Gesprächspartner danke ich persönlich für die Unterstützung beim Lesen, beim Strukturieren, bei Korrekturen, für kritische Nachfragen und für alle erhaltenen Anregungen.

Eine chinesische Legende

Es gab einmal einen Bauern, dessen Pferd davonlief. Dabei handelte es sich um eine herrliche, preisgekrönte Stute. Sofort kamen die Nachbarn, um dem Bauern ihr Mitleid über den herben Verlust auszusprechen: »Du bist sicher sehr traurig?«, sagten sie, doch der Bauer antwortete nur: »Vielleicht.«

Und eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wieder kamen die Nachbarn, diesmal zur Gratulation. »Du bist jetzt sicher sehr glücklich?«, sagten sie und wieder antwortete der Bauer: »Vielleicht.«

Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, auf einem der Wildpferde zu reiten. Er wurde abgeworfen und brach sich ein Bein. »So ein Pech!«, sagten die Nachbarn. »Vielleicht«, antwortete der Bauer.

Drei Tage später kamen Offiziere ins Dorf, um Soldaten zu rekrutieren. Sie nahmen alle jungen Männer mit, eben nur den Sohn des Bauern nicht, weil er für den Kriegsdienst untauglich war.

Vorwort zur 4. Auflage

 

 

 

Mit der 4. Auflage dieses Buches ist es sicher sinnvoll, ein neues Vorwort zu schreiben. Seit seinem ersten Erscheinen in 2010 hat sich in der Zwischenzeit vieles sehr zum Positiven verändert. Die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz werden immer besser wahrgenommen und berücksichtigt.

Damals wurde der Titel belächtet und bewertet, denn seine Perspektive, dass Menschen mit Demenz Kompetenzen haben und wir von ihnen lernen können, war eine Herausforderung. Die damalige Sichtweise ist gewesen, dass diese Menschen nur eine Belastung sind und von der Gesellschaft marginalisiert werden. Demenz wird auch heute noch als Schreckgespenst angesehen.

Heute ist Demenz – die häufigste Form ist Alzheimer – in aller Munde. Unzählige Bücher, Filme, Tagungen, aber auch praxisnahe kulturelle Angebote stehen heute zur Verfügung. Durch Museums-, Konzertbesuche und unterschiedlichste Projekte wird versucht, diese Menschengruppe und deren Angehörigen durch Teilhabe zu integrieren.

Auch die Forschung, die Digitalisierung, ist glücklicherweise an Menschen mit Demenz interessiert. Die Eigenständigkeit dieser Menschen wird gefördert, um besser auf ihre Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Mithilfe digitaler Bildschirmmedien können diese Menschen z. B. spielerisch durch eigene Bewegung Fahrradfahren oder gemeinsam kegeln. Durch Knopfdruck können Lieder, Erzählungen u. v. a.m. abgerufen werden. Diese Aktivitäten werden den Teilnehmenden angepasst, somit gibt es nur Gewinner, denn diese Menschen haben schon genug verloren.

In der Pflege sind aktuell kleine, ansprechende Roboter in der Erprobungsphase. Sie werden nie den menschlichen Kontakt ersetzen, dafür entlasten sie gestresstes, ungeduldiges, wertendes Personal. Menschen mit Demenz verlieben sich in diese künstlichen Wesen, denn Wertung und Beurteilung entfallen. Die Roboter warten geduldig, bis auf die gestellten Fragen Antwort gegeben wird. Die oft zurückgezogenen Menschen mit Demenz werden durch diese künstliche Intelligenz ernst- und wahrgenommen, denn sie sagen niemals, sie hätten keine Zeit noch sie wären gestresst.

Am Kirchentag in Wittenberg bin ich von einem solchen Roboter gesegnet worden. Seine erhobenen Handflächen leuchteten hell. Beindruckend war, dass ich die Sprache und die Stimme selbst bestimmen konnte. Auch Inhalte des Segens konnte ich beeinflussen. Nach dem gesprochenen Segen kam die Frage des Roboters, ob ich den Segen ausgedruckt nach Hause nehmen möchte. Ein Knopfdruck, und ich hatte den Segen in der Hand. Sicher ist es befremdlich, dennoch gibt es positive Aspekte. Ich bin mitbeteiligt und der Segensgebende steht stets zur Verfügung.

Wie erleben die Angehörigen und die Betroffenen all diese Aktivitäten? Sind sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen und ist Scham verblasst? Ist das Selbstwertgefühl der Menschen mit Demenz gewachsen? Können sie zu ihrer Behinderung stehen und nehmen sie die veränderte Situation an? Sind Angehörige bereit, gut für sich selbst zu sorgen, und nehmen sie Unterstützung an? Verblassen die Leidensstrukturen und die Aufopferungstendenzen bei den Begleitenden? Wird heute über Menschen mit Demenz nur gesprochen oder sind sie in ihrem So-Sein in Vereinen, Senioren-Clubs, Kirchgemeinden, in der Familie, im Quartier willkommen und integriert? Ist die Haltung dieser Gruppen wertend oder wurde entdeckt, welche Kompetenzen Menschen mit Demenz haben? Besteht die Bereitschaft, von ihnen zu lernen – etwa Aspekte wie z. B. Entschleunigung, Authentizität und die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, sich zu befreien von allem Materiellen und sich nicht mehr um die Vergangenheit und Zukunft zu sorgen?

Beim Überprüfen des Geschrieben für die 4. Auflage des Buches habe ich erkennen können, dass der Inhalt an Aktualität nicht verloren hat. Die Gleichwertigkeit, die gelebte Wertschätzung wird in diesem Buch praxisnah betont und unterstützt die gegenseitige Ermutigung. Die angeführten Beispiele, die eingefügten Texte regen die eigene Kreativität und Phantasie weiterhin an: für sich selbst gut zu sorgen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, um mit Menschen mit Demenz auf Augenhöhe im Geben und Empfangen den Weg gemeinsam zu gehen.

Die Bewohner des Festlandes und die Insulaner

Unsere Gesellschaft lebt wie auf dem Festland. Sie hegt und pflegt die Umgebung und lebt in den festgelegten Systemen, Strukturen und Konventionen. Menschen mit Demenz verlassen fast unbemerkt das gewohnte Festland und lassen sich auf einer Insel nieder. Die Leute vom Festland bemühen sich, dass sie zurückkommen, geben Anweisungen, beurteilen die Insel von der Ferne und sind überfordert in ihrer Hilflosigkeit. Sie bewegen sich nicht und bleiben auf dem Festland sitzen. Die Insulaner können nicht mehr auf das Festland zurück.

Wer jedoch flexibel ist und den Weg auf die Insel wagt, wird erstaunt sein, was entdeckt werden kann. Die Besonderheit und Kompetenz der Insulaner weckt Neugierde. Die Fähigkeit, einfach da zu sein, sich zu entschleunigen, die Echtheit, das Spontane und die Befreiung von allem Materiellen kann bei den Insulanern gelernt werden. Auf dieser Insel sind Kleinigkeiten zu entdecken, Schönheiten, die uns zum Staunen bringen könnten.

1          Wissenswertes über Demenz

 

 

 

In diesem Abschnitt werden theoretische und wissenschaftliche Kenntnisse nur kurz skizziert, um Zusammenhänge aufzuzeigen, die zu einem besseren Verständnis von Menschen mit Demenz und Verhaltensweisen ihnen gegenüber führen können. Theorie und Praxis ergänzen sich.

1.1       Demografische Entwicklung

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. hat die Epidemiologie der Demenz im Internet veröffentlicht und auf Folgendes hingewiesen: In Deutschland leben über eine Million Menschen mit Demenz und jährlich kommen etwa 250.000 Neuerkrankungen hinzu. Einer neuesten Studie zufolge wird sich die Zahl der Menschen mit Demenz in Deutschland bis zum Jahre 2050 nahezu verdoppeln.

Bei den über 90-Jährigen hat schon mehr als jeder Dritte mit Demenz zu leben. Geschlechts- oder geografische Unterschiede sind nicht zu erkennen. Es ist nicht zwangsläufig so, dass jeder, der betagt ist, an Demenz erkrankt. Die Altersweltrekordlerin, die Französin Jeanne Calment, erfreute sich zu ihrem 116. Geburtstag bei bester Gesundheit an einem Glas Sherry. Die Dame ist 122 Jahre alt geworden. Diese Ausnahme ist ein Beispiel dafür, dass es nicht unabwendbar dazu kommt, im Alter eine Demenz zu entwickeln.

Die Überalterung unserer Bevölkerung sowie die Zunahme von Demenzerkrankungen geht alle an. Eine Haltung mit neuer Sichtweise ist zu entwickeln. Menschen mit Demenz gehören zur Gesellschaft, haben Rechte, brauchen Unterstützung in ihrem Sosein und benötigen eine akzeptierende, wertschätzende Haltung mit entsprechendem Umfeld.

1.2       Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft

»Alzheimer lässt grüßen!« Dieser Ausspruch wird oft leichtfertig eingesetzt. Wird etwas vergessen, ist ein Gegenstand nicht auffindbar oder wird ein Wort nicht umgehend gefunden, kommt es schnell zu dieser Äußerung. Alzheimer ist eine Form von Demenz.