Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen - Emily Henry - E-Book
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Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen E-Book

Emily Henry

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Beschreibung

Der neue New-York-Times-Nr.-1-Bestseller von Emily Henry! »Eine meiner Lieblingsautorinnen.« Colleen Hoover Ein moderner Liebesroman voller unvergesslicher Momente und charmanter Charaktere Ein Sommer. Zwei Rivalen. Eine Begegnung, mit der sie nicht gerechnet haben... Die New Yorker Literaturagentin Nora Stephens ist das Gegenteil jeder romantischen Romanheldin. Sie ist tough, scharfzüngig und nicht auf der Suche nach der großen Liebe. Einzig für ihre Schwester Libby würde sie alles tun – sogar einen Sommer in der idyllischen Kleinstadt Sunshine Falls verbringen, dem Schauplatz von Libbys Lieblingsromanen. Von Picknicks auf Blumenwiesen und Dates mit attraktiven Landärzten jedoch keine Spur! Ausgerechnet dem arroganten und unnahbaren New Yorker Lektor Charlie Lastra begegnet Nora in Sunshine Falls wieder. Nach und nach muss sie jedoch erkennen, dass nicht nur in Büchern, sondern auch im wahren Leben manches anders ist, als es auf den ersten Blick scheint. Enemies to Lovers – sexy, lustig und clever Eine idyllische Kleinstadt, wie sie im Buche steht, unzertrennliche Schwestern und eine »Enemies to Lovers«-Geschichte, die jedes Leser*innenherz dahinschmelzen lässt. Bestsellerautorin und Tik-Tok-Sensation Emily Henry hat einen unkonventionellen und humorvollen Liebesroman geschrieben. Eine perfekte Urlaubs-Rom-Com mit Suchtpotential.  Emily Henry schreibt romantische Komödien mit Witz und einem charmanten Augenzwinkern. Außerdem von ihr erhältlich: - Verliebt in deine schönsten Seiten - Kein Sommer ohne dich - Happy Place - Urlaub mit dem Ex Eine Heldin wider Willen und eine »Enemies to Lovers«-Geschichte, die jedes Leser*innenherz dahinschmelzen lässt. »Ich hab jedes ihrer Bücher noch mehr geliebt als vorherige. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, was ihr nächster Roman mit mir anstellen wird!« Ali Hazelwood »Niemand kann es so gut wie Emily Henry.« Casey McQuiston

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Seitenzahl: 562

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Sammlungen



Emily Henry

Book Lovers

Die Liebe steckt zwischen den Zeilen

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Naumann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eine »Enemies to Lovers«-Geschichte, die jedes Leser*innenherz dahinschmelzen lässt

 

Die New Yorker Literaturagentin Nora Stephens ist das Gegenteil jeder romantischen Romanheldin. Sie ist tough, scharfzüngig und nicht auf der Suche nach der großen Liebe. Einzig für ihre Schwester Libby würde sie alles tun – sogar einen Sommer in der idyllischen Kleinstadt Sunshine Falls verbringen, dem Schauplatz von Libbys Lieblingsromanen. Von Picknicks auf Blumenwiesen und Dates mit attraktiven Landärzten jedoch keine Spur! Ausgerechnet dem arroganten und unnahbaren New Yorker Lektor Charlie Lastra begegnet Nora in Sunshine Falls wieder. Nach und nach muss sie jedoch erkennen, dass nicht nur in Büchern, sondern auch im wahren Leben manches anders ist, als es auf den ersten Blick scheint.

 

»Emily Henry liefert immer ab … dies könnte ihr bisher bestes Werk sein.« – Taylor Jenkins Reid

Inhaltsübersicht

Widmung

PROLOG

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

EPILOG

DANKSAGUNG

Leseprobe »Funny Story«

Noosha, dieses Buch ist nicht für dich.

Ich weiß schon, welches deins wird, du musst also noch warten.

 

Dieses Buch ist für Amanda, Dache, Danielle, Jessica, Sareer und Taylor. Ohne euch gäbe es dieses Buch nicht, und wenn doch, würde es niemand lesen.

Danke, danke, danke.

PROLOG

Wenn Bücher dein Leben sind – oder, wie in meinem Fall, sogar dein Job –, wirst du irgendwann ziemlich gut darin, vorab zu erraten, wohin eine Geschichte führt. Die Klischees, die Tropen, die üblichen Wendungen in der Handlung fangen an, sich im Gehirn zu einer Art Verzeichnis zu organisieren, säuberlich geordnet nach Kategorie und Genre.

Der Ehemann ist der Mörder.

Die nerdige Frau bekommt ein Umstyling, und ohne Brille ist sie superheiß.

Der Junge bekommt das Mädchen – oder das andere Mädchen bekommt ihn.

Jemand erklärt ein kompliziertes wissenschaftliches Konzept, und jemand anders sagt: »Ähm, noch mal auf Englisch, bitte?«

Die Einzelheiten mögen sich vielleicht von Buch zu Buch unterscheiden, aber auf dieser Welt gibt es nichts wirklich Neues.

Nehmen wir zum Beispiel eine Liebesgeschichte, die in einer Kleinstadt spielt.

Die Sorte, in der ein zynischer Supertyp aus New York oder Los Angeles nach Hintertupfingen kommt – um, sagen wir, die Weihnachtsbaumschule abzuwickeln, die schon seit Generationen einer Familie gehört und einer seelenlosen Firma Platz machen soll.

Aber während sich besagter Stadtmensch in der Kleinstadt aufhält, laufen die Dinge nicht nach Plan. Denn natürlich ist diese Baumschule – oder Bäckerei, oder was auch immer unser Held zerstören soll – im Besitz einer Frau, die geradezu lächerlich attraktiv und praktischerweise auch gerade zu haben ist.

In der großen Stadt hat er natürlich eine Freundin. Eine rücksichtslose Person, die ihn bei dem unterstützt, was er im Begriff ist zu tun, und die ohne ein Wimpernzucken Leben ruiniert, um die große Beförderung zu ergattern. Er ruft sie vom Land aus an, sie unterbricht ihn mitten im Satz und bellt vom Sattel ihres Peloton-Bikes herzlose Ratschläge durch die Leitung.

Man weiß sofort, dass sie böse ist, weil ihr Haar unnatürlich blond und wie bei Sharon Stone in Basic Instinct zurückgegelt ist, außerdem hasst sie Weihnachtsschmuck.

Der Held verbringt immer mehr Zeit mit der charmanten Bäckerin/Schneiderin/Baumschulenchefin, und es ändert sich alles für ihn. Er erkennt den wahren Sinn des Lebens!

Er kehrt nach Hause zurück, verwandelt von der Liebe einer guten Frau. Dort bittet er seine Eiskönigin-Freundin, mit ihm spazieren zu gehen. Sie gähnt gelangweilt und sagt etwas wie: In diesen Manolos?

Es macht bestimmt Spaß, sagt er zu ihr. Auf dem Spaziergang bittet er sie vielleicht, hinauf zu den Sternen zu schauen.

Sie fährt ihn an: Du weißt doch, dass ich nicht nach oben schauen kann! Ich habe gerade erst Botox bekommen!

Und in diesem Augenblick begreift er: Er kann nicht in sein altes Leben zurückkehren. Er will es auch gar nicht! Er beendet seine kalte, unbefriedigende Beziehung und macht seinem neuen Schatz einen Heiratsantrag. (Wer braucht schon eine Dating-Phase?)

An dieser Stelle schreist du vielleicht das Buch an: Du kennst sie doch gar nicht! Weißt du überhaupt, wie sie mit Nachnamen heißt, du Arsch? Aus der anderen Ecke des Zimmers versucht dich deine Schwester Libby zum Schweigen zu bringen und wirft dir Popcorn an den Kopf, ohne den Blick von den Seiten ihres eigenen zerfledderten Buches aus der Bibliothek zu heben.

Und genau deshalb komme ich zu spät zu diesem Mittagessen.

Denn das ist mein Leben. Das Klischee, das meine Tage beherrscht. Die Trope, die meine Erfahrungen überlagert.

Ich bin die Frau in der großen Stadt. Nicht diejenige, die der heiße Großstädter auf dem Land kennenlernt, und auch nicht der heiße Großstädter. Ich bin die andere.

Ich bin die verspannte, manikürte Literaturagentin, die auf ihrem Peloton Manuskripte liest, während eine ruhige Strandlandschaft als Desktop-Schoner unbeachtet über ihren Bildschirm schwebt.

Ich bin diejenige, die verlassen wird.

Ich habe diese Geschichte gelesen, ich habe sie gelebt, und ich weiß, dass sie jetzt wieder passieren wird, jetzt, da ich mich am späten Nachmittag durch die Menschenmassen in Midtown schlängele, das Handy immer am Ohr.

Er hat es noch nicht ausgesprochen, aber die Härchen an meinem Nacken stellen sich auf, und mein Magen zieht sich zusammen, denn er manövriert unsere Unterhaltung zu einer Klippe, die so steil aussieht wie in einem Comic.

Grant sollte nur zwei Wochen lang in Texas bleiben, nur so lange, bis der Deal zwischen seinem Unternehmen und dem Boutiquehotel außerhalb von San Antonio fix war, das sie zu erwerben versuchten. Weil ich schon zwei Trennungen nach Dienstreisen erlebt hatte, reagierte ich auf die Ankündigung dieser Reise so, als wäre er zur Navy gegangen und müsste am nächsten Morgen für Jahre an Bord gehen.

Libby versuchte, mich davon zu überzeugen, dass ich überreagierte, aber ich war nicht überrascht, als Grant dreimal hintereinander die Verabredung zum Gute-Nacht-Telefonat vergaß und die anderen Anrufe kurz hielt. Ich wusste, wie das hier enden würde.

Und dann, vor drei Tagen, nur wenige Stunden vor seinem Rückflug, geschah es.

Höhere Gewalt hielt ihn länger in San Antonio als geplant. Sein Blinddarm platzte.

Theoretisch hätte ich in diesem Moment einen Flug dorthin gebucht und ihn im Krankenhaus besucht. Aber ich steckte gerade mitten in einem riesigen Deal und brauchte stabiles WLAN für meine Telefonate. Meine Klientin verließ sich auf mich. Es war die Chance ihres Lebens. Und außerdem wies Grant darauf hin, dass eine Blinddarm-OP ein Routineeingriff sei. »Keine große Sache« – das waren seine genauen Worte.

Also blieb ich, wo ich war, und tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich Grant damit den Kleinstadt-Liebesroman-Gottheiten überließ, damit sie aus der Situation machten, was sie am besten konnten.

Jetzt, drei Tage später, sprinte ich praktisch in meinen Glücksschuhen zu diesem Mittagessen. Die Fingerknöchel der Hand, die das Handy halten, sind schon ganz weiß, und ich kann förmlich die Erschütterung spüren, als Grants Stimme den letzten Nagel in den Sarg meiner Beziehung treibt.

»Sag das noch mal.« Es sollte eigentlich eine Frage sein. Es klingt aber wie ein Befehl.

Grant seufzt. »Ich komme nicht zurück, Nora. Es hat sich in der letzten Woche für mich einiges geändert.« Er kichert. »Ich habe mich verändert.«

Mein kaltes Stadtmenschenherz erzittert. »Ist sie Bäckerin?«, frage ich.

Einen Herzschlag lang schweigt er. »Was?«

»Ist sie Bäckerin?«, frage ich, als wäre das die erste Frage, die jedem zuerst einfällt, wenn der Freund übers Telefon mit einem Schluss macht. »Die Frau, für die du mich verlässt.«

Nach kurzem Schweigen gibt er nach: »Sie ist die Tochter des Ehepaares, dem das Hotel gehört. Sie haben beschlossen, es doch nicht zu verkaufen. Und ich werde dort bleiben und ihnen dabei helfen, es zu führen.«

Ich kann nicht anders: Ich lache. Das war schon immer meine Reaktion auf schlechte Nachrichten. So habe ich vermutlich auch die Rolle der bösen Schurkin in meinem eigenen Leben bekommen, aber was soll ich auch sonst tun? Heulend auf diesem überfüllten Bürgersteig zusammenbrechen? Was würde das nützen?

Ich bleibe vor dem Restaurant stehen und massiere mir sanft die Augen. »Nur damit ich das richtig verstehe«, sage ich, »du gibst deinen großartigen Job, deine großartige Wohnung und mich auf, um nach Texas zu ziehen. Um mit jemandem zusammen zu sein, dessen Karriere man am besten als Tochter des Ehepaars, dem das Hotel gehört beschreiben kann?«

»Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Geld und eine tolle Karriere, Nora«, sagt er verächtlich.

Ich lache erneut. »Ich weiß nicht recht, ob du nicht vielleicht einen Witz machst.«

Grant ist der Sohn eines milliardenschweren Hotel-Moguls. ›Mit dem goldenen Löffel im Mund geboren‹ trifft es nicht einmal ansatzweise. Er hatte vermutlich auch goldenes Klopapier.

Für Grant war das College nur eine Formsache. Praktika waren eine Formsache. Herrgott, überhaupt Hosen zu tragen, war eine Formsache! Er hat seinen Job durch reine Vetternwirtschaft bekommen.

Und exakt das macht seinen letzten Satz so absurd, und zwar in jeder Hinsicht.

Den letzten Teil muss ich wohl laut gesagt haben, denn er will wissen: »Was soll das denn schon wieder heißen?«

Ich spähe durchs Fenster des Restaurants und werfe dann einen Blick auf mein Handy. Ich komme zu spät – ich komme nie zu spät. Das war nicht der erste Eindruck, den ich hinterlassen wollte.

»Grant, du bist ein vierunddreißig Jahre alter Erbe. Die meisten von uns haben einen Job, um sich von dem Geld Essen kaufen zu können.«

»Siehst du?«, sagt er. »Genau mit diesen Ansichten bin ich fertig. Du kannst manchmal so kalt sein, Nora. Chastity und ich wollen …«

Es ist nicht absichtlich – ich will gar nicht fies sein –, aber ich muss über ihren Namen lachen. Es ist nur so, dass ich praktisch meinen Körper verlasse, wenn lächerlich schlimme Dinge geschehen. Und dann sehe ich mir von oben zu und denke: Echt jetzt? Das meint das Universum wirklich ernst? Das ist jetzt aber schon ein bisschen übertrieben, oder?

In diesem Fall hat es beschlossen, meinen Freund in die Arme einer Frau zu treiben, deren Name die Fähigkeit beschreibt, das Jungfernhäutchen intakt zu halten. Ich meine, das ist doch wirklich lustig.

Er schnaubt am anderen Ende der Leitung. »Es sind gute Menschen, Nora. Sie sind das Salz der Erde. So ein Mensch will ich auch sein. Hör mal, Nora, jetzt reg dich nicht auf …«

»Wer regt sich auf?«

»Du hast mich nie gebraucht …«

»Natürlich brauche ich dich nicht!« Ich habe schließlich hart dafür gearbeitet, mir ein eigenes Leben aufzubauen, damit mir niemand den Stöpsel ziehen und mich durch den kosmischen Abfluss schicken kann.

»Du hast nicht einmal bei mir übernachtet …«, sagt er.

»Meine Matratze ist ganz objektiv die bessere!« Ich habe neuneinhalb Monate nach der richtigen Matratze gesucht, bevor ich sie gekauft habe. Natürlich lege ich beim Dating die gleiche Sorgfalt an den Tag, und trotzdem bin ich jetzt an diesem Punkt angelangt.

»… tu also nicht so, als hätte ich dir das Herz gebrochen«, sagt Grant. »Ich weiß nicht einmal, ob man dir überhaupt das Herz brechen kann.«

Wieder muss ich lachen.

Denn hier liegt er falsch. Es ist nur so, wenn einem das Herz wirklich einmal in tausend Stücke zersprungen ist, ist ein Anruf wie dieser gar nichts. Vielleicht kneift es ein wenig im Herzen, oder es macht ein paar knackende Nebengeräusche. Aber es bricht nicht.

Grant ist jetzt voll in Fahrt: »Ich habe dich nie weinen sehen.«

Gern geschehen, will ich schon sagen. Wie oft hat uns Mom unter Tränen gesagt, dass ihr neuester Verehrer sie für zu emotional hielt?

So ist das nämlich mit Frauen. Man kann es einfach nicht richtig machen, wenn man eine ist. Trage dein Herz auf der Zunge, dann bist du hysterisch. Behalte deine Gefühle für dich, damit sich dein Freund nicht darum kümmern muss, und du bist eine herzlose Schlampe.

»Ich muss jetzt aufhören, Grant«, sage ich.

»Natürlich musst du das«, erwidert er.

Offenbar ist der Umstand, dass ich meine Termine wahrnehme, nur noch ein weiterer Beweis dafür, dass ich eine gefühlskalte, böse Roboterfrau bin, die in einem Bett aus Hundertdollarscheinen und Rohdiamanten schläft. (Wenn das nur so wäre.)

Ich beende den Anruf, ohne mich zu verabschieden, und stelle mich unter das Vordach des Restaurants. Ich atme durch und warte ab, ob Tränen kommen. Aber sie kommen nicht. Das tun sie nie. Und mir ist es nur recht.

Ich muss einen Job erledigen, und anders als Grant werde ich das auch tun, für mich selbst und für die anderen in der Nguyen Literary Agency.

Ich streiche mein Haar glatt, straffe die Schultern und gehe hinein. Von der Klimaanlage bekomme ich sofort Gänsehaut.

Für ein Mittagessen ist es schon ziemlich spät, daher ist hier nicht viel los, und ich sehe, dass Charlie Lastra weiter hinten sitzt, ganz in Schwarz gekleidet wie der Großstadtvampir der Buchbranche.

Wir haben uns noch nicht persönlich kennengelernt, aber ich habe den Artikel im Publishers Weekly über ihn und seine Beförderung zum Cheflektor bei Wharton House Books noch einmal überprüft und mir sein Foto eingeprägt: die strengen, dunklen Brauen; die hellbraunen Augen; das kleine Grübchen am Kinn unter den vollen Lippen. Er hat einen schwarzen Leberfleck auf einer Wange, der, wenn er eine Frau wäre, definitiv als Schönheitsfleck durchgehen könnte.

Er kann nicht viel älter als Mitte dreißig sein. Sein Gesicht würde man vielleicht als jungenhaft bezeichnen, wenn er nicht so müde aussähe – und dann sind da noch die grauen Strähnen, die sein schwarzes Haar durchsetzen.

Außerdem schaut er mürrisch drein. Oder er schmollt. Ja, er hat einen Schmollmund. Seine Stirn ist missmutig gerunzelt. Er schrunzelt.

Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.

Kein gutes Zeichen. Kurz bevor ich das Büro verließ, hat mich meine Chefin Amy gewarnt, dass Charlie leicht gereizt ist, aber ich habe mir keine Sorgen gemacht. Ich bin immer pünktlich.

Es sei denn, es wird telefonisch mit mir Schluss gemacht. Dann komme ich offenbar sechseinhalb Minuten zu spät.

»Hallo!« Ich strecke meine Hand aus, um seine zu schütteln, als ich nah genug heran bin. »Nora Stephens. Wie schön, dass wir uns endlich einmal persönlich kennenlernen.«

Er steht auf, wobei sein Stuhl über den Boden schrappt. Seine schwarze Kleidung, die dunklen Züge und sein ganzes Auftreten haben ungefähr die Wirkung eines schwarzen Loches, das alles Licht aus dem Raum saugt und es verschluckt.

Die meisten Menschen tragen Schwarz als Ausdruck einer gewissen entspannten Professionalität, aber er lässt es wie eine Entscheidung mit einem großen E wirken. Die Kombination aus einem lässigen Merinopulli, Hosen und Schnürschuhen verleiht ihm die Ausstrahlung eines Promis, der von einem Paparazzo auf der Straße erwischt wird. Ich ertappe mich dabei, auszurechnen, wie viele US-Dollar er insgesamt am Leib trägt. Libby nennt das meinen »verstörenden Mittelklasse-Partytrick«, aber eigentlich liegt das nur daran, dass ich eine Schwäche für schöne Dinge habe und oft Schaufensterbummel unternehme, um mich nach einem stressigen Tag zu entspannen.

Ich würde Charlies Outfit irgendwo zwischen achthundert und tausend Dollar ansetzen. Das ist genau mein Bereich, ehrlich gesagt, obwohl ich alles, was ich jetzt trage – abgesehen von den Schuhen –, secondhand gekauft habe.

Er betrachtet meine ausgestreckte Hand für zwei lange Sekunden, bevor er sie ergreift und schüttelt. »Sie kommen zu spät.« Er setzt sich, ohne sich die Mühe zu machen, mich direkt anzusehen.

Gibt es etwas Schlimmeres als einen Mann, der glaubt, über den sozialen Gesetzen zu stehen, nur weil er mit einem anständigen Gesicht und einer dicken Geldbörse geboren wurde? Grant hat meine heutige Toleranz für selbstgefällige Arschgeigen schon aufgebraucht. Trotzdem muss ich hier mitspielen, für meine Autorin.

»Ich weiß«, sage ich und strahle entschuldigend, ohne mich wirklich zu entschuldigen. »Danke, dass Sie auf mich gewartet haben. Mein Zug ist auf dem Gleis stehen geblieben. Sie wissen sicher, wie das ist.«

Sein Blick hebt sich, nun sieht er mich an. Seine Augen wirken jetzt dunkler, so dunkel, dass ich die Iriden nicht erkennen kann. Sein Gesichtsausdruck sagt, dass er nicht weiß, wie das ist: Er weiß nicht, dass Züge einfach aus grässlichen wie auch banalen Gründen stehen bleiben können.

Vermutlich fährt er einfach nicht U-Bahn.

Vermutlich fährt er in einer glänzenden schwarzen Limousine überallhin. Oder in einer Grufti-Kutsche, gezogen von Kaltblütern.

Ich ziehe den Blazer aus (Fischgrätmuster, Isabel Marant) und setze mich ihm gegenüber. »Haben Sie schon bestellt?«

»Nein«, sagt er. Sonst nichts.

Meine Hoffnungen fallen in sich zusammen.

Wir hatten dieses Treffen zum Mittagessen schon vor Wochen ausgemacht. Aber letzten Freitag habe ich ihm ein neues Manuskript von einer meiner ersten Klientinnen zugeschickt, Dusty Fielding. Jetzt überlege ich, ob ich diesem Mann überhaupt einen meiner Schützlinge anvertrauen kann.

Ich nehme die Speisekarte in die Hand. »Sie haben hier einen phänomenalen Ziegenkäsesalat.«

Charlie schlägt seine Speisekarte zu und sieht mich an. »Bevor wir hier weitermachen«, sagt er mit tiefer, von Natur aus heiserer Stimme, und seine dicken schwarzen Augenbrauen ziehen sich dabei zusammen, »sollte ich Ihnen sagen, dass ich Fieldings neues Buch für unlesbar halte.«

Mir klappt die Kinnlade herunter. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Erstens hatte ich das Buch gar nicht erwähnen wollen. Wenn Charlie es ablehnen wollte, hätte er das auch in einer E-Mail tun können. Und ohne das Wort unlesbar zu benutzen.

Aber auch abgesehen davon hätte jeder anständige Mensch zumindest gewartet, bis Brot auf dem Tisch steht, bevor er mit den Beleidigungen beginnt.

Ich schließe meine Speisekarte ebenfalls und falte die Hände auf dem Tisch. »Ich glaube, es ist ihr bislang bestes.«

Dusty hat bereits drei andere Bücher veröffentlicht. Jedes davon war fantastisch, obwohl sie sich schlecht verkauft haben. Ihr letzter Verleger wollte das Risiko nicht erneut eingehen, also ist sie wieder auf dem Markt und sucht nach einem neuen Zuhause für ihren nächsten Roman.

Und okay, vielleicht ist es nicht mein Liebling unter ihren Büchern, aber es hat immenses kommerzielles Potenzial. Mit einem guten Lektorat kann es wirklich etwas werden, das weiß ich.

Charlie lehnt sich zurück, und sein schwerer, scharfer Blick jagt mir einen Schauder über den Rücken. Es fühlt sich an, als schaute er durch mich hindurch, an der polierten Höflichkeit vorbei zu den zerklüfteten Kanten darunter. Sein Blick sagt: Wisch dir endlich dieses starre Lächeln aus dem Gesicht. So nett bist du gar nicht.

Er dreht sein Wasserglas auf dem Tisch. »Ihr bestes Buch ist Die Pracht der kleinen Dinge«, sagt er, als hätten drei Sekunden Augenkontakt ausgereicht, um meine geheimsten Gedanken zu lesen. Denn er weiß, dass er für uns beide spricht.

Um ehrlich zu sein, ist die Pracht eins meiner Lieblingsbücher der letzten zehn Jahre, aber das bedeutet nicht, dass dieses hier Mist ist.

Ich sage: »Dieses Buch ist mindestens genauso gut. Es ist nur anders – weniger dezent, vielleicht, aber dafür mit einer geradezu filmischen Wucht.«

»Weniger dezent?« Charlie blinzelt. Immerhin ist das Goldbraun wieder in seine Augen zurückgekehrt. So fühlt es sich nicht so an, als würde er mit seinem Blick Löcher in mich brennen. »Das ist ungefähr so, als sagte man, Charles Manson sei ein Lifestyle-Guru gewesen. Vielleicht stimmt das, aber das ist nicht der Punkt. Dieses Buch kommt mir vor, als hätte jemand diesen Sarah-McLachlan-Spot gegen Tierquälerei geschaut und gedacht: Aber was, wenn all die kleinen Hunde vor der Kamera sterben?«

Ich lache gereizt auf. »Gut. Das Buch ist nicht Ihr Fall. Aber vielleicht wäre es hilfreich«, sage ich verärgert, »wenn Sie mir sagen würden, was Sie an dem Buch mochten. Dann weiß ich, was ich Ihnen in Zukunft schicken soll.«

Lügnerin, sagt mein Hirn. Du schickst ihm garantiert nie wieder Manuskripte.

Lügnerin, sagt der Blick aus Charlies beunruhigenden, eulenhaften Augen. Du schickst mir garantiert nie wieder Manuskripte.

Dieses Mittagessen – diese potenzielle Arbeitsbeziehung – ist jetzt schon mausetot.

Charlie will nicht mit mir arbeiten, und ich will nicht mit ihm arbeiten, aber offenbar hat er die sozialen Regeln noch nicht ganz hinter sich gelassen, denn er denkt über meinen Vorschlag nach.

»Dieses Buch ist für meinen Geschmack viel zu sentimental«, sagt er schließlich. »Und die Figuren sind wie Karikaturen …«

»Skurril«, verbessere ich ihn. »Wir könnten das ein wenig zurückfahren, aber die Zahl der Figuren ist natürlich ziemlich groß – ihre Schrullen helfen, sie auseinanderzuhalten.«

»Und das Setting …«

»Was ist falsch am Setting?« Das Setting in Einmal im Leben ist praktisch das Verkaufsargument. »Sunshine Falls ist doch sehr charmant.«

Charlie schnaubt höhnisch und verdreht doch tatsächlich die Augen. »Das ist völlig unrealistisch.«

»Den Ort gibt es wirklich«, versetze ich. Dusty hat das kleine Bergstädtchen so idyllisch beschrieben, dass ich es tatsächlich gegoogelt habe. Sunshine Falls, North Carolina, liegt ganz in der Nähe von Asheville.

Charlie schüttelt den Kopf. Er wirkt jetzt genervt. Na ja, da sind wir schon zu zweit.

Ich mag ihn nicht. Wenn ich der typische Stadtmensch bin, dann ist er der mürrische, niemals zufriedenzustellende Muffel. Er ist der knurrige Menschenfeind, Oskar aus der Mülltonne, Heathcliff für Arme, nur die schlechten Teile von Mr Knightley.

Was wirklich schade ist, weil er auch den Ruf hat, ein goldenes Händchen zu besitzen. Einige meiner Agenturkontakte nennen ihn deshalb sogar Midas. So wie in »Alles, was er anfasst, wird zu Gold«. (Wobei ich hinzufügen muss, dass ihn andere auch als Gewitterwolke bezeichnen. So wie in »Er lässt Geld regnen, aber zu welchem Preis?«.)

Der Punkt ist, dass Charlie Lastra mit sicherem Griff Titel mit Erfolgspotenzial herausfischt. Und er fischt nicht Einmal im Leben. Entschlossen, mein Selbstbewusstsein zu stärken, verschränke ich die Arme vor der Brust. »Ich sage Ihnen, egal, wie konstruiert Sie es finden, Sunshine Falls ist real.«

»Es existiert vielleicht«, sagt Charlie. »Aber ich sage Ihnen, Dusty Fielding ist niemals dort gewesen.«

»Warum ist das überhaupt wichtig?«, frage ich und gebe mir keine Mühe mehr, höflich zu sein.

Charlies Mund zuckt bei meinem Ausbruch etwas. »Sie wollten wissen, was mir an dem Buch nicht gefällt …«

»Was Ihnen gefällt«, verbessere ich ihn.

»… und mir gefällt das Setting nicht.«

Wut schießt meine Luftröhre hinunter und in meine Lunge. »Wie wäre es dann, dass Sie mir einfach mal erzählen, welche Sorte Bücher Sie denn wollen, Mr Lastra?«

Er entspannt sich und lehnt sich zurück, träge und sich ausbreitend wie eine Wildkatze, die mit ihrer Beute spielt. Dann dreht er erneut sein Wasserglas.

Ich hatte gedacht, das sei ein nervöser Tick, aber vielleicht ist das nur eine Art Foltertaktik. Ich würde das Glas am liebsten vom Tisch schlagen.

»Ich will«, sagt Charlie, »die frühe Fielding. Die Pracht der kleinen Dinge.«

»Das Buch hat sich nicht verkauft.«

»Weil der Verlag keine Ahnung gehabt hat, wie man so etwas verkauft«, sagt Charlie. »Wharton House kann das. Ich kann das.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und gebe mir alle Mühe, sie sofort wieder zu entspannen.

In diesem Moment tritt die Kellnerin an unseren Tisch. »Kann ich Ihnen etwas bringen, während Sie sich die Speisekarte anschauen?«, fragt sie lieb und nett.

»Ziegenkäsesalat für mich«, sagt Charlie, ohne eine von uns anzusehen.

Vermutlich freut er sich schon darauf, meinen Lieblingssalat in der ganzen Stadt als ungenießbar zu bezeichnen.

»Und für die Dame?«, fragt die Kellnerin.

Ich unterdrücke den Schauder, der mich jedes Mal überläuft, wenn mich jemand in seinen Zwanzigern Dame nennt. Genauso fühlen sich bestimmt auch Geister, wenn die Leute über ihre Gräber laufen.

»Den nehme ich auch«, sage ich, und dann, weil es wirklich ein schrecklicher Tag war und ich ohnehin niemanden beeindrucken muss – und weil ich hier mindestens noch vierzig Minuten mit einem Mann zusammensitzen muss, mit dem ich auf keinen Fall jemals zusammenarbeiten will –, sage ich: »Und einen Gin-Martini. Dirty.«

Charlie hebt die Brauen nur ganz wenig. Es ist Donnerstag, drei Uhr nachmittags, nicht wirklich Happy Hour, aber da in den Verlagen im Sommer kaum etwas los ist und die meisten Leute deshalb freitags freinehmen, ist praktisch schon Wochenende.

»Schlimmer Tag«, murmele ich leise, als die Kellnerin mit unserer Bestellung abzieht.

»Nicht so schlimm wie meiner«, erwidert Charlie. Der Rest liegt ungesagt in der Luft: Ich habe achtzig Seiten von Einmal im Leben lesen und mich dann mit dir treffen müssen.

Ich schnaube. »Sie mochten das Setting wirklich nicht?«

»Ich kann mir kaum einen Ort vorstellen, an dem ich weniger gern vierhundert Seiten verbringen würde.«

»Wissen Sie«, sage ich, »Sie sind ganz genau so angenehm, wie man mir gesagt hat.«

»Ich kann meine Empfindungen nicht kontrollieren«, versetzt er kühl.

Langsam werde ich wütend. »Das ist ja, als würde Charles Manson sagen, dass er nicht derjenige sei, der die Morde begangen hat. Das ist rein theoretisch vielleicht wahr, aber leider nicht der Punkt.«

Die Kellnerin stellt den Martini vor mich hin, und Charlie knurrt: »Kann ich auch einen haben?«

* * *

Später an jenem Abend macht mein Handy ping! Ich habe eine E-Mail bekommen.

Hallo Nora,

halten Sie mich über Dustys künftige Projekte gern auf dem Laufenden.

Charlie

Ich kann nicht anders, ich muss die Augen verdrehen. Kein Schön, Sie kennengelernt zu haben. Kein Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Er verschwendet wirklich keine Zeit mit Nettigkeiten. Ich beiße die Zähne zusammen und tippe im selben Stil zurück:

Charlie,

wenn sie etwas über den Lifestyle-Guru Charlie Manson schreibt, wissen Sie es als Erster.

Nora

Ich stecke das Handy in die Tasche meiner Jogginghose und öffne die Badezimmertür, um meine zehnstufige Hautpflegeroutine (auch bekannt als die beste Dreiviertelstunde meines Tages) zu beginnen. Mein Handy vibriert, und ich hole es heraus.

N,

da haben Sie sich jetzt selbst ins Knie geschossen: Das will ich auf jeden Fall lesen.

C

Ganz versessen darauf, das letzte Wort zu behalten, schreibe ich: Nacht.

(Gute Nacht ist ganz entschieden nicht das, was ich meine.)

Grüße, schreibt Charlie zurück, als unterschreibe er eine nicht existente E-Mail.

Wenn es etwas gibt, was ich noch mehr hasse als Schuhe ohne Absätze, dann ist das Verlieren. Ich schreibe zurück, x.

Keine Antwort. Schachmatt. Nach einem Höllentag gibt mir dieser kleine Sieg das Gefühl, dass auf der Welt doch alles in Ordnung ist. Ich beende meine Hautpflegeroutine. Ich lese fünf herrliche Kapitel eines gruseligen Krimis, und ich nicke auf meiner perfekten Matratze ein, ohne auch nur einen Gedanken an Grant und sein neues Leben in Texas zu verschwenden. Ich schlafe wie ein Baby.

Oder wie eine Eiskönigin.

1

ZWEI JAHRE SPÄTER

In der Stadt ist es heiß wie in einem Backofen. Der Asphalt schlägt Blasen. Der Müll auf den Bürgersteigen stinkt. Die Familien, an denen wir vorbeikommen, haben Wassereis in den Händen, das mit jedem Schritt schrumpft und an ihren Fingern hinuntertropft. Die Sonne wird wie ein Lasersicherheitssystem aus einem alten Banküberfall-Film von den Gebäuden reflektiert, und ich fühle mich wie ein mit Zuckerguss überzogener Donut, der seit vier Tagen in der Hitze liegt.

Libby unterdessen, obwohl sie im fünften Monat ist, wirkt trotz der Hitze wie die Hauptdarstellerin in einem Shampoo-Werbespot.

»Dreimal.« Sie sagt es voller Ehrfurcht. »Wie kann es sein, dass jemand dreimal in seinem Leben verlassen wird?«

»Da hab ich wohl das Glückslos gezogen«, sage ich. In Wirklichkeit sind es viermal, aber ich habe es einfach nicht über mich gebracht, ihr die ganze Wahrheit über Jakob zu erzählen. Es ist schon Jahre her, und ich schaffe es kaum, mir selbst die Geschichte zu erzählen.

Libby seufzt und hakt sich bei mir ein. Meine Haut fühlt sich von der Hitze und der Feuchtigkeit des Hochsommers ganz klebrig an, aber meine kleine Schwester ist wundersamerweise ganz trocken und seidig.

Ich habe vielleicht die eins achtzig meiner Mutter geerbt, aber der Rest ihres Aussehens ist direkt in meine Schwester geflossen, von dem rötlich blonden Haar bis zu den großen, mittelmeerblauen Augen und den Sommersprossen auf ihrer Nase. Ihre kleine, kurvige Figur muss aus Dads Genpool stammen – nicht dass wir das genau wüssten; er hat uns verlassen, als ich drei und Libby noch nicht einmal geboren war. Wenn ich nichts damit anstelle, ist mein Haar von einem öden Aschblond, und das Blau meiner Augen ist weniger Idyllische-Ferien-am-Meer als vielmehr Das-Letzte-was-du-siehst-bevor-das-Eis-überfriert-und-du-ertrinkst.

Sie ist die Marianne zu meiner Elinor, die Meg Ryan zu meiner Parker Posey.

Sie ist außerdem mein absoluter Lieblingsmensch auf der ganzen Welt.

»Oh, Nora.« Libby drückt mich an sich, als wir zu einer Kreuzung kommen, und ich genieße die Nähe. Egal, wie hektisch das Leben und die Arbeit manchmal sind, es hat sich immer so angefühlt, als hätten wir in uns ein Metronom, das uns synchron hielt. Wenn ich das Handy nahm, um sie anzurufen, klingelte es meist genau in diesem Moment, oder sie schrieb mir eine Textnachricht, um mit mir mittagessen zu gehen, und wir merkten, dass wir schon beinahe am selben Ort in der Stadt waren. Aber in den letzten Monaten waren wir eher wie Schiffe, die in der Nacht aneinander vorbeifahren. Eigentlich sogar eher wie ein U-Boot und ein Paddelboot, die in ganz verschiedenen Seen unterwegs sind.

Ich verpasse ihre Anrufe während meiner Meetings, und sie schläft meist schon, wenn ich zurückrufe. Sie lädt mich endlich zu einem Abendessen ein, aber ausgerechnet an einem Abend, den ich einem Klienten versprochen habe. Weit schlimmer als das ist das schwache, merkwürdige Gefühl, das entsteht, wenn wir dann doch zusammen sind. Es fühlt sich an, als wäre sie nur halb da. Als wären unsere Metronome in einen unterschiedlichen Takt geraten. Selbst wenn wir direkt nebeneinandersitzen, gleichen sie sich nicht an.

Zuerst schrieb ich es dem Stress mit dem Neugeborenen zu, aber im Lauf der Zeit hat sich meine Schwester eher mehr von mir entfernt, als dass sie sich wieder angenähert hätte. Wir sind ganz grundsätzlich nicht mehr im Gleichklang, auf eine Weise, die ich kaum beschreiben kann, und nicht einmal meine Traummatratze und eine Wolke des ätherischen Lavendels in der Luft schaffen es, mich einschlafen zu lassen. Stattdessen liege ich wach und denke über unsere letzten Unterhaltungen nach, immer auf der Suche nach kleinen Rissen.

Jetzt ist die Fußgängerampel auf Grün gesprungen, aber eine ganze Reihe Autos rast noch bei Rot hinüber. Als ein Typ in einem schicken Anzug auf die Straße tritt, zieht mich Libby hinter ihm her.

Es ist eine universell gültige Wahrheit, dass Leute, die aussehen wie dieser Typ, niemals von einem Taxi umgefahren werden. Sein ganzes Outfit schreit: Ich bin ein Mann mit Rechtsanwalt. Oder auch einfach nur: Ich bin Rechtsanwalt.

»Ich dachte, du und Andrew verstündet euch so gut«, sagt Libby, die sofort wieder ins Gespräch einsteigt – insofern man bereit ist hinzunehmen, dass der Name meines Ex Aaron ist, nicht Andrew. »Ich verstehe gar nicht, was da schiefgelaufen ist. Lag es an der Arbeit?«

Ihr Blick gleitet beim Wort Arbeit zu mir, und das weckt eine weitere Erinnerung: Ich, wie ich während Beas vierter Geburtstagsparty zurück in die Wohnung schlich, und Libby, wie sie mir den Blick eines verletzten Pixar-Welpen zuwarf, wobei sie fragte: Etwa ein Anruf von der Arbeit?

Als ich mich entschuldigte, winkte sie ab, aber jetzt frage ich mich, ob das vielleicht der Augenblick war, in dem ich sie zu verlieren begann, die exakte Sekunde, in der unsere Wege ein wenig zu weit auseinandergingen und die Verbindung einzureißen begann.

»Was schiefgelaufen ist«, sage ich, um auch zu Wort zu kommen, »ist, dass ich in einem meiner früheren Leben eine mächtige Hexe gekränkt habe, die jetzt einen Fluch auf mein Liebesleben gelegt hat. Er zieht auf die Prince-Edward-Insel.«

Wir bleiben an der nächsten Kreuzung stehen und warten, dass der Verkehr anhält. Es ist ein Samstag Mitte Juli, und absolut jeder ist draußen und trägt so wenig Kleidung, wie es gerade noch legal ist, isst tropfende Eiswaffeln von Big Gay oder handgemachtes Wassereis mit Zutaten, die nichts in der Nähe einer Süßspeise zu suchen haben.

»Weißt du, was auf der Prince-Edward-Insel ist?«, frage ich.

»Anne auf Green Gables?«, rät Libby.

»Anne auf Green Gables wäre inzwischen längst tot«, erwidere ich.

»Wow«, sagt sie. »Das ist aber jetzt ein Spoiler.«

»Wie kommt jemand, der hier wohnt, auf die Idee, an einen Ort zu ziehen, wo das aufregendste Ziel zum Ausgehen das Kanadische Kartoffelmuseum ist? Ich würde vor Langeweile umkommen.«

Libby seufzt. »Ich weiß nicht. Ich hätte gerade nichts gegen ein wenig Langeweile.«

Ich werfe ihr einen Seitenblick zu, und mein Herz setzt kurz aus. Ihr Haar ist immer noch perfekt, ihre Haut zart und hübsch gerötet, aber jetzt erkenne ich die Einzelheiten, Hinweise, die ich bisher übersehen habe.

Die herabgezogenen Mundwinkel. Die dünner gewordene Haut auf den Wangen. Sie sieht müde aus, älter als sonst.

»Tut mir leid«, sagt sie wie zu sich selbst. »Ich will eigentlich nicht die traurige, abgekämpfte Mami sein – ich brauche nur … ich brauche wirklich mehr Schlaf.«

Meine Gedanken rasen bereits, ich suche nach Möglichkeiten, ihr zu helfen. Brendans und Libbys ständige Sorge ist Geld, aber sie lehnen meine Angebote auf dieser Ebene schon seit Jahren ab, also musste ich kreativer werden, um ihnen zu helfen.

Tatsächlich war der Anruf, über den sie sich aufgeregt hat oder auch nicht, eigentlich ein trojanisches Pferd zum Geburtstag. Ein ›Kunde‹ hatte eine ›Reise‹ abgesagt, und ›das Zimmer im St. Regis‹ ließ sich ›nicht kostenlos canceln‹, daher war ›die einzig logische Konsequenz‹, dort mitten in der Woche eine Übernachtungsparty mit den Mädchen zu veranstalten.

»Du bist keine traurige, abgekämpfte Mami«, sage ich jetzt und drücke wieder ihren Arm. »Du bist eine Supermom. Du bist die heiße Mutter im Jumpsuit auf dem Flohmarkt von Brooklyn, die ihre fünfhundert wohlgeratenen Kinder, einen riesigen Wildblumenstrauß und einen Korb voller dicker Tomaten trägt. Es ist in Ordnung, manchmal müde zu sein, Lib.«

Sie blinzelt mich an. »Wann hast du zum letzten Mal meine Kinder gezählt, Sissy? Denn ich habe nur zwei.«

»Ich will jetzt nicht, dass du dich wie eine schlechte Mutter fühlst«, sage ich und pikse in ihren Bauch, »aber ich bin mir zu achtzig Prozent sicher, dass da drin noch eins ist.«

»Na gut, zweieinhalb.« Ihr vorsichtiger Blick fängt meinen auf. »Und wie geht es dir wirklich? Was diese Trennung angeht, meine ich.«

»Wir sind nur vier Monate zusammen gewesen. Es war nichts Ernstes.«

»Ernst ist die Art, wie du datest«, sagt sie. »Wenn jemand es mit dir zum dritten Abendessen schafft, dann hat er bereits vierhundertfünfzig unterschiedliche Kriterien erfüllt. Es ist keine lockere Beziehung, wenn man die Blutgruppe des anderen kennt.«

»Ich kenne die Blutgruppe meiner Dates nicht«, versetze ich. »Das Einzige, was ich von ihnen verlange, ist eine vollständige Schufa-Auskunft, ein Gutachten über ihre Psyche und ein Blutschwur.«

Libby wirft den Kopf zurück und gackert. Wie immer fühlt es sich wie eine Injektion Serotonin direkt in mein Herz an, wenn ich meine Schwester zum Lachen bringe. Oder in mein Hirn? Wahrscheinlich eher in mein Hirn. Serotonin im Herzen ist vermutlich nicht so gut. Die Sache ist die, dass ich das Gefühl habe, die Welt komplett im Griff zu haben, wenn Libby lacht.

Vielleicht macht mich das zu einer Narzisstin, oder auch nur zu einer zweiunddreißig Jahre alten Frau, die sich an die Wochen erinnert, in der sie ihre trauernde Schwester nicht davon überzeugen konnte, das Bett zu verlassen.

»Hey«, sagt Libby und wird langsamer, weil sie merkt, wo wir sind, wo wir uns unbewusst hinbewegt haben. »Sieh mal.«

Wenn man uns die Augen verbinden und in der Stadt aussetzen würde, würden wir vermutlich trotzdem hier enden: Wir stehen vor Freeman Books, dem Laden in der West Village, über dem wir früher wohnten, und schauen sehnsüchtig hinein. Darüber die winzige Wohnung, in der wir mit Mom in der Küche herumwirbelten und dabei alle drei »Baby Love« von den Supremes in Löffel und Kellen schmetterten. Der Ort, an dem wir unzählige Abende eingekuschelt auf dem rosa-weiß geblümten Sofa Katharine-Hepburn-Filme schauten, mit einem Tablett voller Leckereien auf dem Beistelltisch, den sie auf der Straße gefunden und dessen kaputtes Bein sie durch einen Stapel gebundener Bücher ersetzt hatte.

In Büchern und Filmen wohnen Leute wie ich aus unerklärlichen Gründen immer in Lofts mit Zementfußboden, öder moderner Kunst an den Wänden und riesigen Vasen mit dürren schwarzen Zweigen darin.

Aber in Wirklichkeit habe ich meine jetzige Wohnung ausgesucht, weil sie so sehr unserem damaligen Zuhause ähnelt: alte Holzdielen, weiche Tapeten, eine zischende Heizung in der Ecke und eingebaute Bücherregale, die bis zum Rand mit Secondhand-Taschenbüchern vollgestopft sind. Die Profilleiste oben unter der Decke ist schon so oft überstrichen worden, dass sie gar keine Kanten mehr hat, und die Zeit hat die hohen, schmalen Fenster verzogen.

Diese kleine Buchhandlung und die Wohnung darüber sind mein Lieblingsort auf der ganzen Welt.

Auch wenn dort unser Leben vor zwölf Jahren entzweigerissen wurde, liebe ich diesen Ort.

»Ach du meine Güte!« Libby packt meinen Unterarm und wedelt mit der Hand in Richtung der Schaufensterauslage: eine Pyramide von Dusty Fieldings Überraschungsbestseller Einmal im Leben, zusammen mit dem dazugehörigen Filmplakat.

Sie zieht ihr Handy heraus. »Wir müssen ein Foto machen!«

Es gibt niemanden, der Dustys Buch so sehr mag wie meine Schwester. Und das will was heißen, denn in nur einem halben Jahr wurden schon eine Million Exemplare davon verkauft. Die Leute nennen es das Buch des Jahres. Ein Mann namens Ove und Ein wenig Leben zusammengemixt.

Nimm dies, Charlie Lastra, denke ich. Das tue ich immer, wenn ich mich an jenes schicksalhafte Mittagessen erinnere. Oder immer, wenn ich an seiner verrammelten Bürotür vorbeikomme (was noch schöner ist, weil er jetzt in dem Verlag arbeitet, der Einmal im Leben herausgegeben hat, wo er ständig an meinen Erfolg erinnert wird).

Na gut, ich denke Nimm dies, Charlie Lastra ziemlich häufig. Man vergisst es eben nicht, wenn einen ein Kollege zum ersten Mal in eine extrem unprofessionelle Situation gebracht hat.

»Ich werde den Film bestimmt fünfhundertmal schauen«, sagt Libby zu mir. »Hintereinander.«

»Dann zieh dir am besten eine Windel an«, rate ich.

»Nicht nötig«, sagt sie. »Ich werde so viel weinen, dass keine Flüssigkeit mehr in meinem Körper ist.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so ein … umfassendes Wissen über die menschliche Physiologie besitzt.«

»Als ich es zum letzten Mal gelesen habe, musste ich so sehr weinen, dass ich mir einen Rückenmuskel gezerrt habe.«

»Du solltest vielleicht doch mehr Sport machen.«

»Wie unhöflich.« Sie deutet auf ihren Babybauch und geht dann in Richtung Saftbar. »Jedenfalls, zurück zu deinem Liebesleben. Du musst einfach wieder raus.«

»Libby«, sage ich. »Ich weiß, dass du die Liebe deines Lebens mit zwanzig kennengelernt hast und daher nie wirklich daten musstest. Aber stell dir doch bitte mal einen Moment lang eine Welt vor, in der dreißig Prozent deiner Dates in der Erkenntnis enden, dass der Mann, der dir am Tisch gegenübersitzt, einen Fuß-, Ellbogen- oder Kniescheiben-Fetisch hat.«

Es war der Schock meines Lebens, als sich meine schrullige, romantische kleine Schwester in einen neun Jahre älteren Sachbearbeiter verliebte, der sich sehr für Eisenbahnen interessiert. Brendan ist darüber hinaus der solideste Mann, den ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe, und ich habe schon lange akzeptiert, dass er und meine Schwester irgendwie und verblüffenderweise Seelenverwandte sind.

»Dreißig Prozent?!«, schreit sie auf. »Auf was für verdammten Dating-Apps bist du unterwegs, Nora?«

»Auf den ganz normalen!«, antworte ich.

Um ganz ehrlich zu sein, ja, ich frage gleich zu Anfang nach Fetischen. Es ist nicht so, dass dreißig Prozent der Männer ihre schrägen Neigungen schon zwanzig Minuten nach dem ersten Kennenlernen verkünden, aber das ist ja gerade das Problem. Als meine Chefin Amy das letzte Mal mit einer Frau nach Hause ging, die sie vorher nicht überprüft hatte, kam sie in ein Zimmer, das nur aus Puppen bestand. Vom Boden bis zur Decke war es voller Porzellanpuppen.

Wie unangenehm wäre es, sich in jemanden zu verlieben und dann entdecken zu müssen, dass er ein Puppenzimmer hat? Die Antwort lautet: sehr.

»Können wir uns kurz mal hinsetzen?«, fragt Libby. Sie ist ein wenig außer Atem. Wir weichen einem Grüppchen deutscher Touris aus, um uns auf das Fensterbrett eines Coffeeshops zu kauern.

»Geht es dir gut?«, frage ich. »Soll ich dir was bringen? Wasser?«

Sie schüttelt den Kopf und streicht sich die Haare hinter die Ohren. »Ich bin nur müde. Ich brauche eine Pause.«

»Vielleicht sollten wir einen Wellnesstag einlegen«, schlage ich vor. »Ich hätte da einen Gutschein …«

»Zuallererst«, sagt sie, »lügst du, das merke ich doch. Und zweitens …« Sie beißt sich auf die rosa geglosste Unterlippe. »Ich hatte da an etwas anderes gedacht.«

»An zwei Wellnesstage?«, rate ich.

Sie lächelt ein vorsichtiges Lächeln. »Du weißt doch, dass du dich immer darüber beschwerst, dass du im August nichts zu tun hast, weil in der Verlagswelt dann praktisch nichts los ist?«

»Ich habe eine Menge zu tun«, widerspreche ich.

»Nichts, was dich in der Stadt halten würde«, bemerkt sie. »Wäre es nicht völlig egal, wenn wir irgendwohin fahren würden? Ein paar Wochen woanders einfach entspannen? Ich hätte eine Zeit ohne die Körperflüssigkeiten von einem anderen Wesen auf meinem Körper, und du kannst vergessen, was mit Aaron war, und wir könnten einfach … eine Pause von unseren Rollen als müde Supermom und schicke Karrierefrau machen, die wir die restlichen elf Monate unseres Lebens ausfüllen müssen. Vielleicht kannst du ja sogar eine Seite aus den Büchern deines Ex-Freundes nachspielen und eine wilde Romanze mit einem … Hummerjäger anfangen?«

Ich starre sie an und versuche, herauszufinden, wie ernst sie es meint.

»Fischer? Hummerfischer?«, setzt sie nach. »Angler?«

»Aber wir fahren nie irgendwohin«, wende ich ein.

»Ganz genau«, sagt sie, und jetzt klingt ihre Stimme ein wenig rau. Sie greift nach meiner Hand, und ich sehe, wie abgekaut ihre Fingernägel sind. Ich versuche zu schlucken, aber meine Kehle fühlt sich an wie in einem Schraubstock. Denn plötzlich beschleicht mich der Verdacht, dass Libby noch ganz andere Probleme hat als Geld- und Schlafmangel und den Ärger über meine Arbeitsbelastung.

Vor sechs Monaten hätte ich genau gewusst, was los ist. Ich hätte nicht einmal fragen müssen. Sie wäre unangekündigt bei mir vorbeigekommen, hätte sich dramatisch auf mein Sofa fallen lassen und gesagt: »Weißt du, was mich in letzter Zeit so richtig nervt, Sissy?«, und ich hätte ihren Kopf auf meinen Schoß gezogen und mit ihrem Haar gespielt, während sie mir ihre Sorgen bei einem Glas Weißwein erzählt hätte. Aber jetzt ist alles anders.

»Das ist unsere Chance, Nora«, sagt sie leise und drängend. »Lass uns eine Reise machen. Nur wir beide. Das letzte Mal war Kalifornien.«

Mein Magen sackt ab und hebt sich dann wieder. Diese Reise – ähnlich wie meine Beziehung mit Jakob – gehört zu einer Zeit meines Lebens, an die ich lieber nicht denken will.

So ziemlich alles, was ich tue, hat eigentlich das Ziel, zu verhindern, dass Libby und ich wieder in die dunkle Zeit nach Moms Tod zurückkehren. Aber die unbestreitbare Wahrheit ist, dass ich sie seitdem noch nie so gesehen habe, so, als befände sie sich an einer Grenze.

Ich schlucke hart. »Kannst du dich denn gerade loseisen?«

»Brendans Eltern helfen ihm mit den Mädchen.« Sie drückt meine Hände, und in ihren großen blauen Augen glimmt Hoffnung. »Wenn dieses Baby kommt, werde ich eine Weile lang nur noch eine Hülle sein, und bevor das passiert, will ich wirklich, wirklich Zeit mit dir verbringen, so wie früher. Und außerdem braucht es nur noch drei schlaflose Nächte, bis ich durchdrehe und Wo steckst du, Bernadette spiele, wenn nicht gleich das ganze Gone Girl. Ich brauche es.«

Meine Brust zieht sich zusammen. Das Bild eines Herzens in einem viel zu kleinen Metallkäfig taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich konnte noch nie Nein zu ihr sagen. Schon damals nicht, als sie fünf Jahre alt war und den letzten Happen von Juniors Käsekuchen haben wollte, und auch nicht, als sie mit fünfzehn meine Lieblingsjeans ausleihen wollte (deren Hinterteil sich von ihren Kurven nie erholte), oder als sie mit sechzehn unter Tränen sagte: Ich will einfach nicht mehr hier sein, und ich mit ihr nach Los Angeles flog.

Sie bat mich nie um diese Dinge, aber jetzt bittet sie mich, die Handflächen aneinandergepresst, die Unterlippe vorgeschoben, und ich gerate sofort in Panik und kann kaum noch atmen, es fühlt sich noch unkontrollierbarer an als der Gedanke, die Stadt zu verlassen. »Bitte.«

Ihre Erschöpfung lässt sie zerbrechlich wirken, verblasst, und es kommt mir so vor, als ob meine Finger durch sie hindurchgreifen könnten, wenn ich versuchen würde, ihr eine Strähne aus der Stirn zu streichen. Ich wusste nicht, dass es möglich ist, jemanden so sehr zu vermissen, obwohl er neben einem sitzt, so schlimm, dass alles schmerzt.

Sie ist direkt hier bei dir, sage ich mir, und es geht ihr gut. Was auch immer es ist, du wirst es wieder geradebiegen.

Ich schlucke jede Entschuldigung, jede Beschwerde und jede Widerrede hinunter, die in mir hochblubbert. »Dann lass uns verreisen.«

Libbys Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Sie hebt den Hintern an, um etwas aus ihrer Gesäßtasche zu holen. »Okay, gut. Denn ich habe die hier schon gekauft, und ich weiß nicht genau, ob man sie wieder zurückgeben kann.« Sie klatscht mir die ausgedruckten Flugtickets in den Schoß, und es kommt mir vor, als hätte es den Augenblick gerade nie gegeben. In exakt fünf Sekunden habe ich meine sorglose kleine Schwester wiederbekommen, und ich würde alle möglichen Organe verkaufen, um uns zusammen in diesem Augenblick festzuhalten, in dem sie so strahlt. Der Druck auf meiner Brust lässt nach. Mein nächster Atemzug ist ganz leicht.

»Willst du gar nicht nachschauen, wohin wir fliegen?«, fragt Libby belustigt.

Ich reiße den Blick von ihr los und lese die Aufschrift auf dem Ticket. »Asheville, North Carolina?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das ist der Flughafen, der Sunshine Falls am nächsten ist. Das hier wird eine … Einmal-im-Leben-Reise.«

Ich stöhne, und sie schlingt die Arme um mich und lacht. »Wir werden so viel Spaß haben, Sissy! Und du wirst dich in einen Holzfäller verlieben.«

»Wenn es eine Sache gibt, die mich anturnt«, sage ich, »dann ist es Waldrodung.«

»Ein ethischer, nachhaltiger, biologisch abbaubarer und glutenfreier Holzfäller«, verbessert mich Libby.

2

Im Flugzeug besteht Libby darauf, dass ich Bloody Marys bestelle. Eigentlich versucht sie mich sogar dazu zu bringen, Schnäpse zu kippen, aber dann gibt sie sich mit einem Bloody Mary (und einem reinen Tomatensaft für sich selbst) zufrieden. Ich bin keine große Trinkerin, und Alkohol am Morgen war nie meine Sache. Aber das hier ist mein erster Urlaub seit zehn Jahren, und ich bin so nervös, dass ich den Drink schon zwanzig Minuten nach dem Start ausgetrunken habe.

Ich verreise nicht gern, ich mag es nicht, freizuhaben, und ich mag es nicht, meine Klientinnen und Klienten im Stich zu lassen. Oder, in diesem Fall, eine ziemlich wichtige Klientin: Ich habe die achtundvierzig Stunden vor dem Abflug damit verbracht, Dusty zu beruhigen und wieder aufzurichten.

Wir haben die Deadline für ihr nächstes Buch schon um sechs Monate überschritten, und wenn sie nicht diese Woche die erste Fassung abgibt, gerät der gesamte Veröffentlichungszeitplan durcheinander.

Sie ist so abergläubisch, was ihren Text angeht, dass wir nicht einmal wissen, woran sie gerade arbeitet, aber ich schicke ihr trotzdem eine ermutigende Du-schaffst-das-schon-E-Mail per Handy.

Libby wirft mir einen tadelnden Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Ich lege mein Handy wieder hin und hebe die Hände, um damit Ich bin anwesend zu signalisieren.

»Also«, sagt sie besänftigt und wuchtet ihre lächerlich große Tasche auf das ausklappbare Tischchen, »ich glaube, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, zusammen den Plan durchzugehen.« Sie fischt doch tatsächlich eine Mappe heraus und schlägt sie auf.

»Ach du meine Güte, was ist das denn?«, frage ich. »Planst du einen Bankraub?«

»Banküberfall, Sissy. Raub klingt so déclassé. Außerdem tragen wir dabei die ganze Zeit dreiteilige Anzüge«, sagt sie, um dann zwei identische laminierte Seiten herauszuziehen, auf denen LEBENSVERÄNDERNDE URLAUBSLISTE steht.

»Wer bist du, und wo hast du meine Schwester verbuddelt?«, frage ich.

»Ich weiß doch, wie sehr du Checklisten magst«, erwidert sie heiter. »Also habe ich mir die Freiheit genommen, eine zu erstellen, damit wir das perfekte Kleinstadtabenteuer erleben können.«

Ich greife nach dem laminierten Blatt. »Ich hoffe, dass an erster Stelle ›auf der Theke in einer Coyote-Ugly-Bar tanzen‹ steht. Wobei ich nicht sicher bin, ob irgendeine Kneipenbesitzerin, die etwas taugt, dir das in deinem Zustand erlauben würde.«

Sie tut so, als wäre sie gekränkt. »Sieht man das so sehr?«

»Neiiiin«, säusele ich. »Überhaupt nicht.«

»Du lügst so schlecht. Es sieht dann immer so aus, als ob ein Amateur-Marionettenspieler an deinen Gesichtsmuskeln zieht. So, jetzt wieder zurück zur Bucket List.«

»Bucket List? Wer von uns beiden stirbt?«

Sie schaut mit leuchtenden Augen auf. Ich würde ja sagen, dass darin der Schalk glitzert, aber sie hat nun mal schöne Augen, die eigentlich immer leuchten.

»Geburt ist auch eine Art Tod«, sagt sie und reibt sich den Bauch. »Der Tod des eigenen Selbst. Der Tod des Schlafes. Der Tod der Sicherheit, sich nicht jedes Mal beim Lachen ein bisschen einzupieseln. Aber ich glaube, das hier ist eher eine Kleinstadt-Liebesroman-Abenteuer-Liste als eine Bucket List. Mit ihr werden wir durch die Kleinstadtmagie in entspanntere Versionen von uns selbst verwandelt.«

Ich betrachte erneut die Liste. Bevor Libby zum ersten Mal schwanger wurde, arbeitete sie kurz für eine ausgesprochen erfolgreiche Veranstaltungsfirma (neben vielen, vielen, vielen anderen Jobs), daher konnte sie trotz ihrer natürlichen Neigung zur Spontanität (sprich: zum Chaos) ihre organisatorischen Fähigkeiten verbessern, noch vor dem ersten Kind. Aber dieses Organisationslevel ist so extrem … ich, und ich bin merkwürdig gerührt, dass sie sich so viele Gedanken gemacht hat.

Außerdem bin ich geschockt, dass der erste Punkt auf der Liste lautet: ein Holzfällerhemd tragen. »Ich habe kein Holzfällerhemd«, sage ich.

Libby zuckt mit den Achseln. »Ich auch nicht. Wir müssen uns eins secondhand kaufen – vielleicht finden wir auch Cowgirl-Boots.«

Als wir Teenagerinnen waren, verbrachten wir Stunden damit, bei unserem Lieblings-Goodwill-Sozialkaufhaus nach Schätzen zu suchen. Ich suchte nach eleganten Designerstücken, und sie wurde magisch von allem Bunten, Fransigen oder mit Glitzersteinen Besetzten angezogen.

Wieder zieht sich mir das Herz ein wenig zusammen, als vermisste ich sie, als lägen all unsere schönsten Augenblicke bereits hinter uns. Deshalb tue ich all das hier. Wenn wir zurück in der Stadt sind, werden die kleinen Risse in unserer Beziehung wieder zugespachtelt sein.

»Holzfällerhemd«, sage ich. »Verstanden.« Der zweite Punkt auf der Liste ist Etwas backen. Zu den Dingen, in denen wir uns diametral unterscheiden, gehört, dass meine Schwester es liebt zu kochen, aber weil sie den Geschmack von Vier- und Dreijährigen zufriedenstellen muss, bewahrt sie ihre etwas experimentelleren Rezepte für unsere gemeinsamen Abende auf. Ich überfliege die Liste.

 

3. Gründliches Umstyling (Haare offen tragen/Pony schneiden lassen?)

4. Etwas bauen (buchstäblich, nicht im übertragenen Sinn)

 

Die ersten vier Punkte auf der Liste passen beinahe perfekt zu Libbys Friedhof verworfener Karrieren. Vor dem Job in der Veranstaltungsfirma hatte sie kurz einen Vintage-Shop geführt, der seine Ware aus einem Secondhandladen bezog, sie hatte Bäckerin werden wollen; und noch davor Friseurin; einen kurzen Sommer lang war sie sogar fest entschlossen gewesen, Tischlerin zu werden, weil »es auf dem Gebiet nicht genügend Frauen gibt«. Da war sie acht.

Also ist alles auf der Liste bisher schlüssig – zumindest so weit, wie diese ganze Sache überhaupt schlüssig sein kann (was bedeutet, dass das nur in Libbys Hirn möglich ist) –, aber dann bleibt mein Blick an Nummer fünf hängen. »Ähm, was ist das denn?«

»Auf mindestens zwei Dates mit Kleinstadtbewohnern gehen«, liest sie sichtlich begeistert vor. »Das gilt nicht für mich.« Sie hebt ihr laminiertes Blatt hoch, auf dem Nummer fünf durchgestrichen ist.

»Also, das ist aber nicht fair«, sage ich.

»Du erinnerst dich vielleicht daran, dass ich verheiratet bin«, sagt sie, »und fünf Billionen Wochen schwanger.«

»Und ich bin eine Karrierefrau, die einen wöchentlichen Haushaltsservice in Anspruch nimmt, deren Gästezimmer als Schuhschrank dient und die eine Sephora-Kreditkarte ihr Eigen nennt. Ich glaube kaum, dass mein Traummann Hummerjäger ist.«

Libby lächelt und setzt sich auf die Kante ihres Sitzes. »Ganz genau!«, sagt sie. »Hör mal, Nora, du weißt, dass ich dein wunderbares, streng geordnetes Hirn bewundere, aber dein Dating-Verhalten wirkt, als wärst du auf der Suche nach einem neuen Auto, nicht nach einem Mann.«

»Danke«, sage ich.

»Und es endet immer böse.«

»Oh, Gott sei Dank.« Ich lege die Hand auf die Brust. »Ich hatte schon Angst, dass du gar nicht davon anfangen würdest.«

Sie versucht, sich auf ihrem Sitz zu mir zu drehen, und nimmt meine Hand, die auf der Armlehne zwischen uns liegt. »Ich will doch nur sagen, dass du immer mit diesen Typen ausgehst, die genauso sind wie du, mit genau denselben Prioritäten im Leben.«

»Du könntest diesen Satz auch abkürzen: ›mit Männern, die zu mir passen‹.«

»Manchmal ziehen sich Gegensätze an«, sagt sie. »Denk an all deine Ex-Freunde. Denk an Jakob und seine Cowgirl-Ehefrau!«

Etwas Kaltes durchfährt mich, als sie das erwähnt; Libby merkt nichts.

»Sinn und Zweck dieses Urlaubs ist es doch, die eigene Komfortzone zu verlassen«, beharrt sie. »Um die Gelegenheit zu haben … mal jemand anders zu sein! Außerdem, wer weiß? Vielleicht findest du, wenn du deine Fühler ein wenig ausstreckst, deine eigene lebensverändernde Liebesgeschichte, statt wieder nur eine Checkliste auf zwei Beinen.«

»Ich mag Dating-Checklisten, vielen Dank auch«, sage ich. »Checklisten vereinfachen die Dinge. Ich meine, denk doch nur mal an Mom, Lib.«

Mom verliebte sich ständig, und zwar immer in Männer, die überhaupt nicht zu ihr passten. Die Beziehungen scheiterten immer spektakulär. Meistens war sie hinterher so am Boden zerstört, dass sie weder zur Arbeit noch zum Vorsprechen ging oder bei beidem so schlecht war, dass sie gefeuert oder abgelehnt wurde.

»Du bist kein bisschen wie Mom.« Sie sagt es beiläufig, aber es versetzt mir trotzdem einen Stich. Ich bin mir wohl bewusst, wie wenig ich nach meiner Mutter komme. Ich habe es jede Sekunde an jedem Tag gespürt, nachdem wir sie verloren hatten, und ich habe mich so sehr bemüht, uns über Wasser zu halten.

Und ich weiß, dass es nicht das ist, was Libby meint, aber es fühlt sich trotzdem nicht so viel anders an als jede Trennung, an die ich mich erinnere: ein weitschweifiger Monolog, der mit den Worten »Ich glaube, du hast gar keine Gefühle« endet.

»Ich meine, wie oft lässt du einfach los und denkst nicht darüber nach, wie etwas in deinen perfekten kleinen Plan passt?«, fährt Libby fort. »Du verdienst es, ein bisschen Spaß und eine Zeit ohne Druck zu haben, und um ehrlich zu sein, verdiene ich es, auch etwas davon zu haben. Daher die Dates.«

»Darf ich den Ohrhörer dann am Ende des Abendessens aus dem Ohr nehmen, oder …«

Libby macht eine verzweifelte Geste. »Weißt du was, dann vergessen wir einfach Nummer fünf! Auch wenn es dir guttäte. Auch wenn ich den ganzen Urlaub eigentlich deshalb organisiert habe, damit du deine eigene Kleinstadt-Liebesroman-Erfahrung machen kannst …«

»Okay, okay!«, rufe ich. »Ich gehe mit Holzfällern aus, aber nur, wenn sie aussehen wie Robert Redford.«

Sie quiekt begeistert auf. »Jung oder alt?«

Ich starre sie an.

»Okay«, sagt sie. »Verstanden. Also weiter im Text. Nummer sechs: Nacktbaden in einem Natursee.«

»Was, wenn es darin Bakterien gibt, die dem Baby schaden, oder so?«, frage ich.

»Verdammt«, grummelt sie und runzelt die Stirn. »Ich habe das doch nicht so genau durchdacht, wie ich gehofft hatte.«

»Unsinn«, sage ich. »Das ist eine großartige Liste.«

»Du musst dann eben ohne mich nackt baden gehen«, sagt sie etwas lahm.

»Eine einsame zweiunddreißig Jahre alte Frau, nackt im Badesee der Gegend. Klingt, als könnte man dafür gut verhaftet werden.«

»Sieben«, liest sie vor. »Unter dem Sternenhimmel schlafen. Acht: Eine Veranstaltung in der Stadt besuchen – zum Beispiel eine Hochzeit oder ein Festival.«

Ich finde einen Stift in meiner Tasche und schreibe Beerdigung, jüdische Beschneidungsfeier, Ladys’ Night auf der dortigen Rollschuhbahn dazu.

»Du willst wohl einen heißen Notarzt kennenlernen, was?«, bemerkt Libby, und ich streiche den Teil mit der Rollschuhbahn wieder durch. Dann sehe ich Nummer neun.

Ein Pferd reiten.

»Und noch mal.« Ich zeige vage in Richtung ihres dicken Bauches. Ich streiche reiten durch und schreibe stattdessen streicheln hin, und sie seufzt resigniert.

 

10. Ein Feuer machen (kontrolliert)

11. Wandern???? (Lohnt sich das???)

 

Als sie sechzehn war, hatte Libby verkündet, im Sommer mit ihrem Freund im Yellowstone-Nationalpark arbeiten zu wollen, und Mom und ich hatten vor Lachen gewiehert. Wenn es eins gab, was alle Stephens-Mädchen gemeinsam hatten – abgesehen von unserer Liebe zu Büchern, Vitamin-C-Seren und hübschen Kleidern –, dann war es die Tatsache, dass wir alles dafür taten, um die freie Natur zu meiden.

Das, was einer Wanderung in unserem Leben am nächsten kam, war ein schneller Spaziergang im Wäldchen des Central Park, und selbst da hatten wir immer Pappschachteln mit Waffeln und Eis vom Imbisswagen dabei.

Überflüssig zu sagen, dass Libby diesen Typen zwei Wochen vor ihrem Aufbruch in den Nationalpark verließ.

Ich tippe auf den letzten Punkt auf der Liste: Ein Kleinstadtunternehmen retten. »Du weißt schon, dass wir nur einen Monat lang dort sein werden.« Drei Wochen nur wir zwei, dann kommt Brendan mit den Mädchen. Wir haben einen Riesenrabatt bekommen, weil wir so lange dort bleiben wollen, obwohl ich ehrlich gesagt noch nicht weiß, wie ich es länger als eine Woche dort aushalten soll.

Als ich das letzte Mal in den Urlaub gefahren bin, war ich schon nach zwei Tagen wieder zu Hause. Allein an die Reise mit Jakob zu denken, ist ein Fehler. Ich bemühe mich, mich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Das hier wird ganz anders. Dafür werde ich sorgen. Ich schaffe das, für Libby.

»In diesen Kleinstadt-Liebesgeschichten gibt es immer ein kleines Unternehmen, das gerettet werden muss«, sagt sie jetzt. »Wir haben einfach keine Wahl. Ich hoffe ja wirklich auf eine Ziegenfarm in der Krise.«

»Ooh«, mache ich. »Vielleicht können wir den Verein für rituelle Opfer dazu bringen, eine dramatische Ziegenrettungsaktion durchzuführen. Irgendwann werden die Ziegen natürlich auf dem Opferstein enden.«

»Na ja, natürlich.« Libby nimmt einen Schluck Tomatensaft. »So läuft der Hase nun mal.«

* * *

Unser Taxifahrer sieht aus wie der Weihnachtsmann, bis hin zum roten T-Shirt und den Hosenträgern, die seine verwaschenen Jeans oben halten. Aber er fährt wie der Zigarren rauchende Taxifahrer aus dem Film Die Geister, die ich rief mit Bill Murray.

Libby gibt kleine Quieker von sich, wenn er zu schnell um eine Ecke fährt, und an einer Stelle erwische ich sie dabei, wie sie ihrem Bauch verspricht, dass alles gut wird.

»Sunshine Falls, he?«, fragt der Fahrer. Er muss schreien, weil er für uns alle die Entscheidung getroffen hat, die vier Fenster herunterzulassen. Das Haar peitscht mir so hart ins Gesicht, dass ich seine wässrigen Augen kaum im Rückspiegel erkennen kann, als ich von meinem Handy aufschaue.

In der Zeit, in der wir von Bord des Flugzeugs gegangen und unser Gepäck eingesammelt haben – was eine ganze Stunde gedauert hat, obwohl unser Flug der einzige in dem heruntergekommenen Flughafen war –, hat sich die Zahl der Nachrichten in meinem Posteingang verdoppelt. Es wirkt, als wäre ich gerade von einem achtwöchigen Aufenthalt auf einer Wüsteninsel zurückgekommen.

Nichts lässt einen Klüngel bereits neurotischer Autorinnen und Autoren so durchdrehen wie die Tatsache, dass die ruhige Zeit in der Verlagsbranche anbricht. Jede etwas verzögerte Antwort, die sie bekommen, scheint eine Lawine von MAG MEINE LEKTORIN MICH NICHT MEHR?????? MAGST DU MICH NICHT MEHR?? MAG MICH NIEMAND MEHR??? loszutreten.

»Jawohl!«, rufe ich unserem Fahrer zu. Libby hat den Kopf zwischen die Knie gelegt.

»Ihr habt bestimmt Familie in der Stadt«, schreit er, um den Wind zu übertönen.

Vielleicht ist es die New Yorkerin in mir, vielleicht liegt es einfach daran, dass ich eine Frau bin, aber ich werde auf keinen Fall sagen, dass wir hier absolut niemanden kennen, also frage ich zurück: »Wie kommen Sie darauf?«

»Warum sonst solltet ihr herkommen?« Er lacht und rast um eine Ecke.

Als wir ein paar Minuten später anhalten, schaffe ich es gerade noch, nicht zu applaudieren – so wie in einem Flugzeug, das gerade eine Notlandung hingelegt hat.

Libby setzt sich benommen auf und streicht sich das glänzende (und wie durch ein Wunder völlig glatte) Haar aus dem Gesicht.

»Wo … wo sind wir?«, frage ich und schaue mich um.

Aber um uns herum gibt es nichts als dürres, sonnenverbranntes Gras zu beiden Seiten der schmalen, unbefestigten Schotterpiste. Vor uns endet die Straße abrupt, und eine mit gelben und blauen Wildblumen bewachsene Wiese steigt vor uns zu einem Hügel an.

Was uns zu der Frage führt: Werden wir hier umgebracht?