"Brender ermittelt" - Kim Scheider - E-Book

"Brender ermittelt" E-Book

Kim Scheider

0,0

Beschreibung

Hauptkommissar Torsten Herwig hasst den Rummel, den halb Deutschland um die Krimireihe Brender ermittelt betreibt. Und ganz besonders verabscheut er Christoffer Frey, das Gesicht der Serie, dem tausende sogenannte Brenderianer förmlich zu Füßen liegen – inclusive Herwigs eigener Frau. Da kommt es ihm sehr gelegen, dass die Spuren in der aktuellen Mordserie ausgerechnet zu dem Schauspieler führen und er ihn mit seinem Team gehörig in die Mangel nehmen kann. Doch Frey erweist sich als unschuldig und schon bald hält der wahre Drahtzieher die Kölner SoKo mit weiteren grausamen Taten so auf Trab, dass Herwig seine Eifersüchteleien beiseite schieben muss. Und auch der Schauspieler wünscht sich, einfach "nur" wieder unter Mordverdacht zu stehen. Denn der Täter hält noch ganz andere Schrecken für ihn bereit. Dem Ermittlerteam bleibt nur wenig Zeit, die wahre Identität des unter dem Pseudonym Tom Lenz agierenden Mörders aufzudecken, wenn sie das Leben von Frey und seiner weiblichen Begleitung retten wollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kim Scheider

"Brender ermittelt"

Ein Geschenk für Tom Lenz

 

 

 

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Sonntag, der 20.04.2014

Polizeipräsidium Köln Kalk, ca.14 Uhr

Köln Nippes, gegen 15 Uhr

Polizeipräsidium Köln Kalk, am späten Nachmittag

Köln Mediapark, am frühen Abend

Köln Deutz, später am Abend

Montag, der 21.04.2014

Polizeipräsidium Köln Kalk, weit nach Mitternacht

Köln Ehrenfeld, gegen 3 Uhr morgens

Köln Deutz, Lagerhalle

Köln Altstadt, früher Morgen

Köln Deutz, zur selben Zeit

Köln Altstadt, gegen 8.30 Uhr

A 59, Köln Richtung Düsseldorf

Köln Ehrenfeld

Köln Altstadt Nord

Köln Altstadt, gegen 10.30 Uhr

Köln Altstadt, später Vormittag

Polizeipräsidium Köln Kalk, gegen 14.30 Uhr

Köln Mediapark, 15 Uhr

Dienstag, der 22.04.2014

Haan, Bergisches Land, 5.15 Uhr

Polizeipräsidium Köln Kalk, später am Vormittag

Polizeipräsidium Köln Kalk, am Abend

Donnerstag, der 08.05.2014

Der letzte Tag vor der Premiere

Polizeipräsidium Köln Kalk, später Vormittag

Linie 12, Richtung Köln Merkenich

Polizeipräsidium Köln Kalk, am Nachmittag

Köln Mediapark, ca.14.30 Uhr

Köln, Rheinufer, gegen 17.00 Uhr

Freitag, der 09.05.2014

Köln, Kerpener Straße, früh morgens gegen 4.45 Uhr

Köln Deutz, am frühen Vormittag

Köln Altstadt, 11 Uhr

Köln Altstadt, im Hotel, kurz vor Mittag

Schräg gegenüber dem Hotel, 11.55 Uhr

A7, Hannover Richtung Hamburg

Polizeipräsidium Köln Kalk, Notrufzentrale

Im Hotel, Empfangstheke

Köln Altstadt, kurz vor dem Hotel

Köln Deutz, Lagerhalle, 13.05 Uhr

Im Hotel, gegen 14 Uhr

Köln Deutz, Lagerhalle

Im Hotel, 14.30 Uhr

Köln Deutz, zur selben Zeit

Köln Deutz, Lagerhalle

Im Hotel, ca. 15.30 Uhr

Köln Deutz, Lagerhalle, ca. 15.45 Uhr

Hamburg, Haus am See

Köln Deutz, Lagerhalle

Hamburg, Haus am See

Köln Deutz, Lagerhalle, 18 Uhr

Hamburg, an der Elbe, ca. 19.30 Uhr

Polizeipräsidium Köln Kalk, 19.45 Uhr

Köln Deutz, Lagerhalle, kurz vor 20 Uhr

Polizeipräsidium Köln Kalk, 20.15 Uhr

Vor dem Hotel

Köln Deutz, Lagerhalle, ca. 20.30 Uhr

Hamburg, Haus am See, ca. 21 Uhr

Im Hotel, ca. 21.15 Uhr

Köln Deutz, Lagerhalle, 23.30 Uhr

Samstag, der 10.05.2014

Hamburg Altona, Mitternacht

Köln Deutz, Lagerhalle, weit nach Mitternacht

Im Verschlag der Lagerhalle

Hamburg Altona, morgens, ca. 3.00 Uhr

Polizeipräsidium Köln Kalk, 8.15 Uhr

Köln Deutz, morgens 9.30 Uhr

Köln Deutz, Lagerhalle

Köln Altstadt Nord, ca. 10.00 Uhr

Köln Deutz, 10.30 Uhr

Polizeipräsidium Köln Kalk, 11.15 Uhr

Am Hotel, ca. 11.30 Uhr

Köln Altstadt Nord

Polizeipräsidium Köln Kalk, 11.45 Uhr

Köln Altstadt Nord

Köln Deutz, Lagerhalle, 13.30 Uhr

Köln Deutz, in der Nähe der Lagerhalle, gegen 14 Uhr

In der Halle

Vor der Halle

In der Halle

Vor der Halle

Freitag, der 20.02.2015

Köln, Hohenzollern-Brücke, am späten Vormittag

Danksagung:

Leseprobe

Prolog

Montag, der 11.05.2015

Köln, Ehrenstraße, gegen 3.30 Uhr am Morgen

Polizeipräsidium Köln Kalk, Dienstbeginn

Köln Mediapark, später Vormittag

Impressum

Prolog

Schmerz ist nur eine Illusion!

Einem Mantra gleich wiederholte sie es im Geiste wieder und wieder.

Schmerz ist nur eine Illusion! Eine Illusion...

Sich in diese Trance zu flüchten, war das einzige Mittel, das sie davor bewahrte, den Verstand zu verlieren. Oder - was ihr noch viel schlimmer erschien - ihmnachzugeben. Ihren Willen brechen zu lassen, nur damit es endlich aufhörte.

Aber so weit war sie noch nicht.

Schon damals hatte er es nicht geschafft, sie zu brechen und sie würde es auch diesmal nicht zulassen!

Wie eine Fratze des Teufels tauchte ihr Henker vor ihrem Gesicht auf und grinste sie süffisant an. Erstaunlich, wie sehr das Äußere eines Menschen doch täuschen kann, dachte sie. So schön und makellos –

und doch nur der Teufel.

Sie wusste, was nun folgen würde.

Er würde sie mit gönnerhaftem Lächeln fragen, ob sie nun endlich bereit sei, sich ihm zu unterwerfen. Würde ihr sagen, wie sehr sie sich selbst unnötig quäle mit ihrer Weigerung, ihn als ihren Herrn anzuerkennen. Dass es ganz bei ihr läge, wie es nun weiter gehe. Aber bitte, wenn sie es so wolle, er habe kein Problem damit, das noch eine Weile durchzuziehen. Die Frage sei bloß, ob sie es noch lange durchhalten werde.

Noch bevor er überhaupt dazu ansetzen konnte, etwas zu sagen, nahm sie ihre letzte Kraft zusammen, richtete den Kopf auf und spuckte ihm ihre Antwort ins Gesicht.

Schlagartig fiel jede falsche Freundlichkeit von ihm ab.

Vor Wut heftig schnaubend wischte er sich die Schmiere ab und verteilte sie schweigend in ihrem Gesicht. In seinen Augen konnte sie ablesen, dass die Strafe für diese verächtliche Geste grausam werden würde.

Der Teufel war fertig mit ihr.

Er wandte sich ab, nickte seinem Komplizen auffordernd zu und verließ den Raum, ohne dass sie ihm noch ein letztes Wort wert war.

Kaskaden roter Funken sprühten durch ihr Nervensystem, jagten das Rückenmark hinauf und tobten in einem wilden Gewitter durch ihr Gehirn, als die Stränge der Stacheldrahtpeitsche ihr die Haut zerfetzten.

Sie sah nur noch rot.

Rot.

Die Farbe der Wut und des Schmerzes.

Schmerz ist nur eine Illusion, versuchte sie verzweifelt wieder ihr Mantra aufzunehmen.Schmerz ist...

Allmählich schwanden ihr die Sinne. Ihr wurde schwarz vor Augen und die Geräusche, selbst ihr eigenes Stöhnen und Schreien rückten in weite Ferne. Dann verschlang die Illusion sie und alles wurde still.

Sonntag, der 20.04.2014

Polizeipräsidium Köln Kalk, ca.14 Uhr

„Meine Güte, ist das grauenhaft!“

Christoffer Frey starrte noch immer mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf den Monitor vor sich, obwohl dort schon lange nichts mehr zu sehen war und kämpfte gegen seinen vor Übelkeit rebellierenden Magen an.

„Meine Güte, wie grauenhaft,“ wiederholte er leise und sah mit müden Augen zu den ihn umgebenden Ermittlern des LKA, des Landeskriminalamtes Köln, auf. „Wer zum Teufel macht so etwas?“

„Vielleicht der, der sich den ganzen Mist überhaupt ausgedacht hat?,“ meinte Kriminalhauptkommissar Torsten Herwig sarkastisch und sah Frey herausfordernd an. „Wäre doch möglich, dass da jemand mal ernst machen wollte, statt immer nur so zu tun als ob!“

Frey war zuvor schon blass gewesen – nach knapp einer Stunde des Betrachtens von Videomaterial, auf dem brutale Foltermorde zu sehen waren, wohl auch kein Wunder. Herwigs Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe und jeglicher Rest von Blut in seinem Kopf schien sich in Richtung Zehenspitzen zu verflüchtigen. Er konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, wie Nebelschwaden waberten sie formlos in seinem schmerzenden Schädel umher. Verständnislos sah er von einem zum anderen, zurück zum Bildschirm und wieder zu Herwig, dessen Schatten einem Racheengel gleich auf ihn fiel. Dann endlich kam ihm die Erkenntnis.

Sie wollten ihm das anhängen!

„Sie meinen... Sie denken, das...dass ich das getan habe?“

„Sagen Sie es uns, Herr Frey. Haben Sie es getan?“

Katharina Grzyek, die einzige Frau im Raum, wirkte trotz ihrer schlanken Figur und der geringen Größe nicht minder einschüchternd als Herwig. Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte sie an der Kante ihres Schreibtischs und fixierte Frey misstrauisch mit ihren glasklaren grauen Augen. Er löste den Blick von ihr und sah Herwig empört an.

„Wie, zum Henker, kommen Sie darauf?“

„Nun, fassen wir für Sie einmal zusammen, was wir an Fakten haben.

Da wäre zum einen eine erfolgreiche Fernsehserie, deren Drehbücher von Ihnen stammen, die von Ihnen produziert wird und deren Hauptrolle, den Hobbykriminologen Lars Brender, Sie dann auch gleich selber spielen. Vermutlich, damit es auch „was wird“, nehme ich an?“ Grzyeks Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie Frey für einen äußerst selbstverliebten Menschen hielt.

„Und das macht mich zum Mörder?“ Frey war sich einen Moment lang unsicher, ob er kurz vor einem Lachkrampf stand, so absurd war diese ganze Angelegenheit oder ob er in Tränen ausbrechen sollte. In Anbetracht der ernsten Lage, in der er sich aber befand, schlug er die Hände vor das Gesicht und rieb seine müden Augen.

„Wir sind noch nicht fertig, Herr Frey.“ Herwig griff hinter sich und nahm einen Schnellhefter mit Dokumenten von dem mit Akten überladenen Schreibtisch. „Wir haben da also im wahrsten Sinne des Wortes Ihre Serie – „Brender ermittelt“, wie originell. Fakt ist, dass Ihnen enorm daran gelegen ist, dass die in Kürze startende neue Staffel ein großer Erfolg wird.“ Demonstrativ blätterte der Kommissar in den Unterlagen. „Wie man sieht, scheint da auch eine Menge dran zu hängen. Kredite, Produktionskosten, Gagen... Da käme ganz schön was auf Sie zu, wenn die Serie floppt! Oder sehe ich das falsch, Herr Frey?“

„Das Risiko besteht bei jeder Filmproduktion!,“ schnappte Frey, bei dem allmählich die Wut die Oberhand gewann. „Ich sehe nicht, wie mich das zum Mörder klassifiziert. Woher wissen Sie überhaupt, dass die Aufnahmen echt sind und nicht gestellt, wie in meinen Filmen? Da sieht es ja dann am Ende auch echt aus, sonst bräuchte man keine Krimis mehr drehen!“

Noch während Frey sich ereiferte, lud Ben Müllenbeck, der dritte Ermittler im Team der SoKo „Brender ermittelt“, wie sie ihre Sonderkommission aus naheliegenden Gründen getauft hatten, eine Reihe Fotos hoch und deutete auf den Monitor.

„Da!,“ sagte er nur.

Frey getraute sich kaum hinzusehen. Die Bilder zeigten insgesamt drei verschiedene tote Frauen, jede auf einem metallenen Tisch in einem gekachelten Raum liegend. Ganz offensichtlich war das die Pathologie und ebenfalls ganz offensichtlich waren es die bedauernswerten Opfer aus dem Filmmaterial, das man ihm zuvor zugemutet hatte. Eine von ihnen erkannte er sofort, auch wenn man die verkohlte Leiche kaum noch als menschliches Wesen identifizieren konnte. Sie war ihm in besonderer Erinnerung geblieben, weil sie noch so jung war. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal die Volljährigkeit erreicht.

Freys eben noch wiederauferstandenes Selbstbewusstsein schmolz bei diesem Anblick merklich in sich zusammen.

„Man hat sie gefunden“, erläuterte Müllenbeck.

Als hätte es dieser Erklärung bedurft!

„Spaziergänger und spielende Kinder haben sie gefunden. War nicht so angenehm für die Leute. Eine fand man in Rostock, eine in einem Vorort von München und eine hier – in Köln.“

Frey konnte nur noch hilflos mit den Schultern zucken.

„Fahren wir also fort mit dem was wir so haben und kommen dabei auch zu Ihrer Frage, was uns dazu bringt, Sie zu verdächtigen, Herr Frey,“ fuhr Herwig unbarmherzig mit seinen ungeheuren Anschuldigungen fort. Sein ewiges „Herr Frey“ ging dem Schauspieler langsam gehörig auf die Nerven. Was sicher nicht ganz unbeabsichtigt war.

„Die Premiere der dritten Staffel steht kurz bevor, das Fernsehen wiederholt noch einmal die alten Staffeln als Appetithappen und siehe da; kurz nach der Ausstrahlung tauchen diese Videos im Netz auf und bald darauf auch die Leichen der dazugehörigen Opfer. Dank einiger Ihrer aufrichtigen Fans - selbst bei der Polizei, haben Sie bislang Fans gehabt, Herr Frey - war schnell klar, dass da jemand Ihre Filme nachahmt. Leider nur allzu realistisch! Vermutlich der selbe Jemand“ - ein fragender Blick zu Frey - „involviert gezielt die Presse, genauer gesagt, Herrn Özkilic, den Sie ja auch kennen dürften, er arbeitet ja schließlich für Ihren Haussender.“

Herwig ließ seine Worte kurz wirken, dann wendete er sich in vertraulicherem Ton an den zunehmend demoralisierten Schauspieler. „Die Presse einzubeziehen, war an und für sich ein kluger Schachzug, Herr Frey.“ Mit einer unwirschen Handbewegung schob er Freys Einwände beiseite und sprach unbeirrt weiter.

„Dumm nur, dass es sich bei Herrn Özkilic um einen verantwortungsbewussten Journalisten handelt, der nicht rücksichtslos die „Story seines Lebens“ daraus gemacht hat, wie er aufgefordert wurde, sondern mit seinen Informationen zu uns gekommen ist.“

„Die kostenlose Werbeaktion ist also nach hinten losgegangen,“ warf Grzyek ein.

„Sparen Sie sich Ihre theatralischen Ausbrüche, Frey!,“ fuhr Herwig den Schauspieler an, als dieser zu lautstarkem Protest ansetzte.

„Sie werden später Gelegenheit bekommen, sich zu äußern. Zuvor möchte ich Ihnen aber noch sagen, welcher kleine dumme Fehler Ihrerseits uns dann am Ende sicher sein ließ, dass Sie beteiligt sind. Aber den kennen Sie ja schon, nicht wahr, Herr Frey, weil Sie es schließlich waren, der Özkilic über Ihren Firmen PC die Links zu den Videos zugespielt hat!“

Herwig brauchte nur seine massige Hand erheben, um Freys Widerstand im Keim zu ersticken. Dieser riesige Mann schien nur aus Muskeln zu bestehen und hatte auf das sitzende Häufchen Elend, mehr war von Frey eigentlich nicht mehr zu erkennen, eine ziemlich einschüchternde Wirkung. Selbst wenn man sich nichts vorzuwerfen hatte, was der Schauspieler ihm nur zu gerne erklärt hätte.

„Überlegen Sie sich sehr gut, was Sie uns dazu zu sagen haben und versuchen Sie am besten gar nicht erst, uns an der Nase herumführen zu wollen. Ihr gottgegebener Charme wird Ihnen bei uns nicht viel nutzen. Wir haben hier jeden Tag mit Schauspielern wie Ihnen zu tun, die auf Kommando losheulen oder dem Wahnsinn verfallen können. So etwas zieht hier nicht.“

Wie auf einen geheimen Wink verließen die drei Kriminalbeamten den Raum und ließen Frey einigermaßen ratlos zurück. Schon halb zur Tür heraus, drehte Grzyek sich noch einmal zu ihm um.

„Wir werden uns jetzt mit einer Tasse Kaffee den fahlen Geschmack aus dem Mund spülen gehen und Sie sollten die Zeit gut nutzen, sich zu überlegen, was Sie zu unseren Vorwürfen zu sagen haben, Herr Frey. Oder sollte ich besser Herr Lenz sagen...?“

Die ersten Minuten nachdem man ihn alleine in dem kargen Büro zurück gelassen hatte, saß Frey einfach nur da und versuchte dem Gedankenchaos in seinem Kopf Herr zu werden. Heute Morgen hatte er noch nichts ahnend mit Walter Haferkorn, dem Haupteigentümer der Produktionsfirma und Bernd Breckerfeld, ihrem Steuerberater und Pressesprecher, im Besprechungsraum der Firma gesessen, um die Vorpremiere der dritten Staffel von „Brender ermittelt“ im Kölner Cinedom zu besprechen.

Kein idealer Termin an einem Ostersonntag und nur mit Leuten zu machen, die keine auf den Osterhasen wartenden Kinder zu Hause hatten. Mitten in die Sitzung hinein waren Herwig und seine Leute marschiert, hatten ihn und sein halbes Büro in Polizeifahrzeuge gepackt und mitgenommen. Und nun saß er – zwar in einem Büro und nicht in einer Zelle, immerhin – und wurde verdächtigt drei Frauen bestialisch ermordet zu haben, um besagter neuen Staffel einen makaberen Werbefeldzug zu verschaffen.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. War hier womöglich eine Kamera versteckt?

Er ertappte sich dabei, wie er verstohlen nach Hinweisen auf einen versteckten Guido Cantz schielte. Selbst wenn es ein sehr bösen Scherz wäre: Immer noch besser, bei der „Versteckten Kamera“ gelandet zu sein, als des Mordes beschuldigt zu werden!

Da lief irgendwo ein Irrer durch die Gegend und folterte Frauen vor laufender Kamera zu Tode und -

und das war das eigentlich Schlimme daran -

er hatte ja tatsächlich sozusagen die Drehbücher dazu geschrieben. Die drei ihm zur Last gelegten Morde hatten ganz klaren Bezug zu der von ihm geschaffenen Fernsehserie. Soweit musste er den Beamten der Kripo ja noch recht geben. Jede der Frauen war auf eine der Arten ums Leben gekommen, wie die Opfer der ersten Staffel. Die erste Frau war über mehrere Tage hinweg elendig verdurstet, in einem schummrigen Kellerraum angekettet und den rettenden Krug voll Wasser ganz knapp, aber dennoch unerreichbar vor sich stehend.

Wie in der allerersten Folge „Durst nach Liebe“.

Dort hatte ein mit Minderwertigkeitskomplexen beladener Dauerversager auf eben diese Weise an verschiedenen Frauen Rache genommen, die seine Liebe einst nicht erwidern wollten. Sie hatten verdursten müssen, so wie er am Durst nach ihrer Liebe verdurstet war. Lars Brender, dem Held der Serie, war es dann gelungen, den Irren ausfindig zu machen und sein letztes Opfer noch rechtzeitig zu befreien.

Im Gegensatz zur Polizei, die bei „Brender ermittelt“ weniger gut weg kam, was vielleicht auch einen Teil der ganz offensichtlichen Abneigung der Polizeibeamten gegenüber Frey erklärte. Aber selbst wenn er die Rollen der Polizisten etwas dümmlich angelegt hatte und die Fälle zugegebenermaßen recht blutrünstig und brutal waren, so machte einen das doch noch nicht zum Mörder!

Man konnte ihm vielleicht eine kranke Fantasie vorwerfen, doch das hieße noch längst nicht, dass diese auch seinem Wesen entsprach. Da müsste man ja bald jeden Schriftsteller in Sicherheitsgewahrsam nehmen.

Aus dem Augenwinkel nahm Frey eine schwache Bewegung wahr und er suchte nach ihrem Ursprung. Augenblicklich drehte sich ihm wieder der Magen um. Müllenbeck hatte vor dem Verlassen des Raumes die Videosequenzen neu gestartet und erneut wurde Frey Zeuge, wie eine Frau das durchleiden musste, was er sich als Geschichte ausgedacht hatte.

Um zu unterhalten und nicht als Gebrauchsanweisung zum Mord!

Dort auf dem Monitor wurde gerade eine Frau mit einer Stacheldrahtpeitsche systematisch blutig geschlagen. Frey wusste, wie es weiterging, er selbst hatte es so geschrieben.

Nachdem er sich an der Frau ausgetobt hatte, wickelte der Mörder ihren nackten geschundenen Körper in Militärstacheldraht ein und lud sie in irgendeinem abgelegenen Waldstück ab, wo sie noch stundenlang oder schlimmstenfalls sogar noch Tage so gelegen hatte, bevor der Tod sie erlöste und man ihre Leiche gefunden hatte.

Wie in Folge zwei – „Läuterung tut weh“.

Wütend stoppte Frey das Video und schlug die Hände vor das Gesicht. Darauf, nun noch einmal „Die Hexenverbrennung“ aus dem nächsten Fall nachgestellt zu sehen, konnte er gut verzichten. Zumal dies das junge Mädchen war, dessen Tod ihn schon zuvor so berührt hatte.

Sie wollten ihm das also anhängen.

Zusätzlich zu der nach wie vor anhaltenden Übelkeit wurde ihm nun auch noch schwindelig.

In lebensbedrohlichen Situationen zieht das ganzes Leben wie im Zeitraffer an einem vorüber – so hatte Frey es erzählt bekommen. Anscheinend befand sein Körper die gegenwärtige Situation als lebensbedrohlich. Er begann zu zittern und konnte nicht verhindern, dass Szenen seines bisherigen Lebens in Sekundenschnelle vor seinem inneren Auge vorbeizogen.

Geboren im Juli 1980 hatte er eine sehr glückliche Kindheit erlebt, mit fürsorglichen Eltern, die ihm Liebe und Geborgenheit im Überfluss schenkten. Er sah vor sich, wie seine Mutter den hübschen und charmanten Knirps mit offenen Armen auffing, ihn lachend herumschwenkte und vor seinen Verehrerinnen „beschützte“, denn er war allgemein beliebt und hatte schon in der Grundschule so manches Herz gebrochen. Was seinem Ansehen jedoch erstaunlicherweise keinen Abbruch tat. Er hatte schon früh gelernt, die Sonnenseiten des Lebens auszukosten.

Bis zu jenem grauenhaften Tag, an dem seine Eltern umgekommen waren und den er selbst nur knapp überlebt hatte.

Bis heute saß er des Nachts im Traum wieder als 10jähriger auf der Rückbank des Autos, hörte den Regen auf das Dach prasseln und seine Eltern vorne lachend und scherzend über den Kinofilm reden, den sie gerade noch zusammen gesehen hatten.

Dann der Wagen, der sie überholte.

Das laute Wummern der Lautsprecher, das bis zu ihm herüber drang und alle anderen Geräusche übertönte.

Die Grimassen schneidenden Jugendlichen in dem Fahrzeug.

Der entgegenkommende Wagen, quietschende Bremsen und kreischendes Metall, während er durch die Luft segelte und beim Aufschlag jeden einzelnen Knochen im Leib brechen hörte.

Die Flammen.

Und die Schreie der Eltern, die sich mit dem Wagen um den nächsten Baum gewickelt hatten und in dem Wrack verbrannten, lange bevor Polizei und Rettungsdienste überhaupt eingetroffen waren. Da war der Fahrer des Unfall verursachenden Fahrzeugs aber schon kilometerweit entfernt gewesen.

Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt war Frey als Vollwaise ohne nähere Verwandtschaft durch verschiedene Kinderheime gereicht worden, bis er schließlich zu Pflegeeltern kam, die ihn bei sich aufnahmen. Sie versorgten ihn mit allem was er brauchte und wachten besonders über seine Schullaufbahn, die unter den vorherigen Ereignissen etwas gelitten hatte, so dass er ein Schuljahr wiederholen musste, um weiterhin das Gymnasium besuchen zu können. Das ansonsten kinderlose Ehepaar meinte es sicher gut mit ihm und ihm mangelte auch materiell an nichts, aber wirkliche Geborgenheit und Liebe konnten sie ihm nicht geben, trotz ihrer innigen Gläubigkeit, die vor allem in der Pubertät für größere Differenzen zwischen ihnen gesorgt hatte.

Immerhin gehörte er wieder irgendwo hin und er hatte Unterstützung in ihnen, als er vor Gericht mit seiner Aussage maßgeblich dafür sorgte, dass der Fahrer des Unfall verursachenden Wagens für ein paar Jahre ins Gefängnis kam.

Tom Lorenz.

Niemals würde Frey diesen Namen vergessen. Den Namen des Mannes, der durch sein rücksichtsloses Verhalten im besoffenen Kopf dafür verantwortlich war, dass Frey seine Familie, sein ganzes bisheriges Leben verloren hatte.

Erst jetzt, mitten in diesem Horrorrückblick, wurde Frey bewusst, wie sehr er diesen Kerl immer noch hasste und wie sehr dieser immer noch sein Leben beeinflusste. Warum war ihm das nicht schon vorher aufgefallen?

Tom Lorenz – Tom Lenz.

War das keinem aufgefallen, nicht einmal Walter? Der kannte ihn schließlich in und auswendig.

Hatte Grzyek ihn gerade deshalb so angesprochen? War es ausgerechnet ihr ins Auge gesprungen?

„Oder sollte ich besser Herr Lenz sagen...?“, hatte sie im Rausgehen gefragt.

Tom Lenz, so hatte er den Oberbösewicht seiner Krimiserie getauft. Das Phantom, der führende Kopf, der hinter all den dramatischen Vorkommnissen stand, in die Lars Brender so hinein geriet. Den ultimativen Endgegner, dem Brender am Ende der dritten Staffel hatte gegenübertreten müssen, worauf die Fans noch bis zum Sendetermin hinfiebern mussten. Sozusagen den „Moriarty“ der Brender-Serie.

Doch noch während Frey sich über all dies klar wurde, lief der begonnene Lebensrückblick einfach weiter und es gelang ihm kaum einen Gedanken zu fassen und festzuhalten, weil unaufhörlich weitere Bilder auf ihn einströmten.

Tom Lorenz selbstherrliche Visage, als er vor Gericht befragt worden war.

Das Versprechen an Frey in Lorenz Augen nach der Urteilsverkündung, dass sie noch nicht miteinander fertig wären.

Weitere Bilder, manche wie Schnappschüsse, andere wie Videoausschnitte zogen an ihm vorbei; wechselnde Bezugspersonen, Streitigkeiten mit den Pflegeeltern, besonders wenn es um seine Freundschaft zu Walter Haferkorn ging, schulische Erfolge wie Misserfolge, die erste Liebe, der erste Liebeskummer, seine zunehmende Bindung an Walter, der bis heute für ihn Mentor und väterlicher Freund war und in dessen Firma „HFP“, „Haferkorns-Film-Produktionen“, Frey kürzlich als Geschäftspartner eingestiegen war. Walter war es auch gewesen, der Freys Talente in der Schauspielerei und der Schriftstellerei erkannte und förderte und durch den sein Leben heute so lief, wie es nun mal lief.

Er war erfolgreich, sah unverschämt gut aus mit seinen stets etwas zu langen dunklen Haaren, die ihm wie zufällig, tatsächlich aber mit großer Sorgfalt drapiert ins Gesicht fielen, den warmen braunen Augen, die ihm einen leicht südländischen Touch verliehen und deren Blick schon so manches Frauenherz zum Schmelzen gebracht hatte. Und das nicht erst, seit er ein gefeierter Star geworden war.

Er war allerdings auch dafür bekannt, kein Kostverächter zu sein und noch war es keiner Frau gelungen, ihn länger als ein paar Wochen oder Monate an sich zu binden.

Ein Psychologe hatte ihm erklärt, es sei völlig verständlich, dass er Bindungsängste habe, bei den Verlustängsten, die er aufgrund seiner kindlichen Traumata mitbringe. Auch wenn ihm da zu viel von Ängsten und dergleichen die Rede gewesen war, fand Frey die Erklärung für sich völlig schlüssig und genoss sein Männerdasein in vollen Zügen. Er konnte ja schließlich gar nichts dafür!

Erst in der letzten Zeit hatte er sich öfter dabei ertappt, dass er sich sehr wohl ein bisschen mehr Halt und Vertrauen in einer Partnerschaft gewünscht hätte, als er es in seinen oberflächlichen Liebeleien bislang zugelassen hatte.

Doch alles in allem war er, je erfreulicher sich sein Leben entwickelt hatte, zum narzisstischen „Rundum-Genießer“ mutiert, der die sich ihm bietenden Möglichkeiten in vielerlei Hinsicht zu nutzen wusste. Soweit hatte Grzyek ihn schon ganz richtig eingeschätzt, ebenso wie sie völlig richtig lag mit ihrer Vermutung, er habe Lars Brender vor allem deshalb selber gespielt, weil er wollte, dass es „auch was wird“, wie sie sich ausgedrückt hatte. Aus jenem Grund hatte er auch direkt selbst Regie geführt, das war der Ermittlerin bei ihrer zynischen Auflistung seiner Verwicklungen in die Serie offenbar entfallen. Und im Gegensatz zu ihr konnte er auch nichts Verwerfliches daran finden.

Er hielt beruflich immer gern alle Zügel in der Hand – kein Grund, ihn zu verurteilen.

Mit diesem Gedanken kam Frey wieder im Hier und Jetzt an.

Ihm war immer noch übel, wenn nicht sogar noch mehr als zuvor.

Er hätte einiges dafür gegeben, sich jetzt auch mit irgendetwas den Mund ausspülen zu können, vorzugsweise mit einem guten Whisky.

Für den Moment wäre er jedoch schon für ein Pinnchen mit Leitungswasser dankbar gewesen.

Suchend sah er sich im Büro um.

Vielleicht war ja irgendwo ein Waschbecken angebracht.

Nein, außer Pinnwänden, Fahndungsfotos, Ermittlerkauderwelsch und einem großen Spiegel, auf dessen Rückseite Herwig sicher mit seiner Truppe stand und ihn beobachtete, befand sich nichts an den Wänden. Frustriert lehnte er sich zurück, knöpfte sich das Hemd auf und fächerte sich mit der Hand etwas Luft zu. Der Sauerstoffgehalt in dem Raum schien sich rapide zu verringern. Er brauchte dringend sogar deutlich mehr als nur ein Pinnchen Wasser!

So bescheiden seine Situation auch war, er konnte es doch nicht sein lassen, den hinter dem Spiegel vermuteten Polizeibeamten freundlich zuzuwinken, anschließend machte er mit der Hand eine Geste, die andeutete, dass er etwas zu Trinken benötigte.

Erwartungsgemäß passierte nichts.

Das fehlte jetzt noch, dass er hier zusammenbrach, weil sein Kreislauf verrückt spielte. Er sah die Schlagzeilen schon vor sich. Wie die Aasgeier würde sich die Boulevardpresse darauf stürzen, wenn er, der große TV-Held, einen Kreislaufkollaps bekäme, kaum dass er mal echten Stress hatte.

Er solle sich gut überlegen, was er zu den Vorwürfen zu sagen hätte, hatten sie ihm geraten. Also fing er besser mal langsam damit an. Was hatte er ihnen denn zu sagen?

Nichts!

Außer, dass er es grauenhaft fand, was den bedauernswerten Opfern zugestoßen war. Wofür sie ihn aber nun wirklich nicht verantwortlich machen konnten, bloß weil er sich Geschichten ausgedacht hatte, die irgendein Psychopath als Vorlage für das Ausleben seiner perversen Fantasien genutzt hatte.

Und was sollte diese Anrede als Herr Lenz? Und die völlig absurde Behauptung, er habe von seinem PC aus irgendwem irgendwas zugeschickt, um die Presse auf seine angeblichen Untaten aufmerksam zu machen?

Er wusste ihnen nichts zu sagen, außer, dass er mit alledem überhaupt nichts zu tun hatte. Ob sie ihm nun glauben wollten oder nicht.

Im angrenzenden Raum standen Herwig und Grzyek, wie Frey ganz richtig vermutet hatte, auf der Rückseite des speziellen Spiegels und beobachteten sein Verhalten. Bisher war jedoch nichts von Belang passiert. Frey saß nahezu regungslos auf seinem Stuhl, starrte vor sich hin und schien sich in einer anderen Dimension zu befinden. Lediglich ein Mal hatte er eine Regung gezeigt, als er den laufenden Monitor bemerkt hatte. Grzyeks Körper spannte sich, als Freys geballte Faust sich dem Computer näherte. Sie rechnete mit einem Wutausbruch und machte sich bereit, nach nebenan zu stürmen, aber der Schauspieler hatte nur energisch die Stopptaste gedrückt und verschwand danach wieder in seinem Kopfkino.

Kein nervöses Auf- und Abtigern, keine Tobsuchtsanfälle, ja noch nicht einmal der Versuch, einfach zu gehen. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte. Vor der Tür standen selbstverständlich zwei Beamte Wache. Aber Frey saß einfach nur da und stierte traurig vor sich hin.

Fragend sah sie ihren Vorgesetzten an, der mit den Händen in den Hosentaschen den Verdächtigen beobachtend dastand und in dessen Gesicht sich nicht im Mindesten abzeichnete, was er dachte. Dennoch kannte sie ihn lange genug, um zu wissen, dass er mit dem bisherigen Verlauf unzufrieden war.

„Du glaubst, er war es wirklich selbst?,“ fragte sie ihn.

Ein tiefer Seufzer drang aus seinem mächtigen Brustkorb.

„Was glaubst du?,“ warf er ihr den Ball zurück.

„Ich glaube nicht, dass er es war. Man kann ja von ihm halten was man will, aber ich glaube nicht, dass er dazu fähig wäre.“ Katharina Grzyek sah ihm direkt ins Gesicht. „Ich glaube, du verrennst dich da in was!“

„Weißt du, Rina, wahrscheinlich hast du Recht. Aber es passt halt alles so schön zusammen. Er weiß genau, dass er sich mit der Beteiligung an der Firma finanziell übernommen hat, sollte die neue Staffel nicht die gewünschten Einkünfte erbringen. Leute haben schon für weniger gemordet. Und dass er einen Hang zu theatralischen Auftritten hat, kann man auch nicht bestreiten. Dann die Mail von seinem PC an Özkilic...“

„...und die Tatsache, dass du ihn einfach nicht ausstehen kannst!,“ vollendete Grzyek den Satz. „Glaubst du wirklich, er wäre so blöd, das von seinem eigenen PC aus zu machen? Wo er sich vorher so viel Mühe gegeben haben muss, um die Videos ins Netz zu bekommen? Das ist mir irgendwie zu einfach. Das sieht für mich eher danach aus, als wolle jemand, dass wir auf Frey kommen.“

Die Tür öffnete sich und Müllenbeck kam mit drei Bechern dampfenden Kaffees herein.

„Na, den hast du aber ganz schön rangenommen,“ lachte er, mit einem Blick auf Frey, der von Minute zu Minute mehr in sich zusammenschrumpfte und reichte Grzyek und Herwig ihre Getränke.

„Ich glaub' aber nicht, dass er es wirklich war. Ich glaub', du hast da ziemlich hoch gepokert, mein Lieber!“

„Jetzt fang du auch noch an,“ knurrte Herwig strubbelte sich nervös über seine fast schon ergrauten Haarstoppeln und starrte wieder durch die abgedunkelte Scheibe.

Aber im Grunde wusste er, dass die Beiden recht hatten. Es wäre viel zu einfach, wenn sie in Frey schon den Schuldigen festgemacht hätten. Er hatte sich da doch zu sehr von seinen persönlichen Abneigungen gegenüber Frey leiten lassen. Und trotzdem... Er traute diesem erfolgsverwöhnten Schnösel einfach nicht, mochte er auch noch so eine traurige Vergangenheit haben.

Nicht, dass er Frey seinen Erfolg geneidet hätte, ganz gewiss nicht. Er war mit seiner kleinen Familie und seinem Job als Kriminalhauptkommissar und leitender Ermittler der SoKo durchaus zufrieden. Er hätte nicht mit Frey tauschen wollen.

Aber mal ehrlich, wie selbstverliebt konnte ein Mensch sein? Schrieb die Bücher, inklusive der Drehbücher, produzierte die Serie über die eigene Firma, spielte die prestigeträchtige Hauptrolle und führte selbst Regie, wie Herwig und die anderen im Team sehr wohl wussten.

Und dann gab der Erfolg diesem Menschen auch noch recht! Etliche Preise hatte die Serie abgeräumt, selbst international. Fanclubs hatten sich gegründet und auf dutzenden Fanseiten posteten die Brender-Jünger oder Brenderianer, wie sie sich selbst nannten, im Internet ihre neuesten Hypothesen, wie es denn nun in der dritten Staffel mit Brender und Lenz weiter gehen müsste, luden unscharfe Handyfotos und verwackelte Videos von zufällig entdeckten Dreharbeiten im Netz hoch und lieferten sich erbitterte Glaubenskriege, welcher der Nebendarsteller denn nun der wichtigste sei und welche der vielen wechselnden Damenbekanntschaften für Brender die beste gewesen wäre.

Es gab sogar einen polizeiinternen Fanclub!

Dabei bediente die Serie nur einfachste Bedürfnisse der Fernsehzuschauer. Die Folgen waren, dem modernen Zeitgeist entsprechend, recht blutrünstig und reißerisch, ein bisschen Sex, ordentlich Crime, mit einfach gestrickten Geschichten, die nicht viel Neues zu bieten hatten. Ok, die Themen waren sauber recherchiert, die Figuren hatten Charisma und dank Frey gab es wohl nur wenige Frauen, die nicht infiziert waren vom Brenderschen Charme. Doch hatte die Serie nicht auch eine beachtliche Zahl männlicher Fans? Nur an Freys Konterfei konnte es also doch nicht liegen.

Herwig hingegen konnte diesen ganzen Hype um „Brender ermittelt“ einfach nicht begreifen.

Doch nicht einmal zu Hause konnte er sich dem entziehen, weil seine eigene Frau sich offen als Brenderianerin bekannte und er so unfreiwillig selber zum Spezialisten der Serie wurde. Das war das erste Mal in ihrer langjährigen Beziehung gewesen, dass seine Frau für ihn ein fremdes Wesen darstellte. Selbst ihren Tick, die beiden Kinder nach den Orten zu benennen, denen sie ihre Zeugung verdankten, Lucca und Giuliano, hatte er noch klaglos mitgemacht. Obwohl ihm das schon so manchen Spott eingebracht hatte.

„Zum Glück wart ihr nicht gerade in Brüssel. Oder in Istanbul,“ hatte ein Kollege noch kürzlich gewitzelt, als Rina, die olle Tratschtante, es ihm erzählt hatte. Wenn Herwig ehrlich zu sich selbst war, hatte er Ähnliches auch schon gedacht, aber seiner Frau zuliebe hatte er sich angemessen echauffiert.

Wenn sie gewusst hätte, wen er da verhaftet hatte, sie würde vermutlich augenblicklich die Scheidung einreichen.

Er betrachtete seinen Verdächtigen nachdenklich und je mehr Zeit verstrich, desto sicherer wurde er, dass seine beiden Kollegen recht hatten. Das war nicht der Mörder. Zumal es sich um drei verschiedene Täter zu handeln schien, doch da liefen die Analysen der Spezialisten noch. Viel gaben die Videos aus dem Netz jedoch nicht her. Umfangreiche Vermummung und geschickt gewählte Standorte der Täter, so sie denn überhaupt mal im Visier der Kamera auftauchten, ließen da noch keine eindeutige Aussage zu. Hauptsächlich sah man sowieso nur die Frauen und ihr Leiden.

Frey wurde jedoch vor allem verdächtigt, Koordinator und Hintermann der Taten zu sein. Verschiedenes deutete darauf hin, dass es auch hier wie in der Serie war. Es gab den bösen Superschurken, der alle diese Verbrechen steuerte. Und alle Indizien führten bislang mehr oder minder direkt zu Frey. Die E-Mail, die an den Journalisten Özkilic gegangen war, war mit TomLenz unterzeichnet worden und wurde über Freys PC verschickt, das hatte Müllenbeck am Computer zurückverfolgen können.

Özkilic hatte einfach nur drei Links zugeschickt bekommen mit dem Hinweis, dass er daraus die Story seines Lebens machen solle.

Was er zum Glück nicht getan hatte.

Stattdessen hatte er umgehend die Kripo informiert, die sofort überprüfte, ob es sich um echte oder um gestellte Aufnahmen handelte. Da war dann auch schon die erste Leiche aufgetaucht. Die beiden anderen waren nur noch eine traurige Bestätigung des zu erwarteten Verlaufs gewesen.

Trotz der bundesweiten Fundorte hatte man ihnen die Fälle gesamt übertragen, da der Zusammenhang schnell deutlich wurde, und sie hatten die SoKo „Brender ermittelt“ gegründet. Selten im Leben war Herwig etwas schwerer gefallen, als diesem ansonsten einstimmigen Vorschlag der Kollegen zuzustimmen.

Sie hatten Informationen über die Opfer, die Serie, die Rolle TomLenz und über ihren Schöpfer gesammelt, waren über die „finanzielle Anspannung“ auf Freys Konto gestolpert und als Müllenbeck dann in einer eingelegten Nachtschicht herausfand, von wo die E-Mail kam, war alles ziemlich schnell gegangen. Sie hatten den völlig überrumpelten Mann mitten aus einer wichtig aussehenden Sitzung herausgeholt und nun saß er nebenan und war mit dem ihm zur Last gelegten Vorwurf konfrontiert worden.

Ein Schnellschuss, zugegeben, aber ein durchaus berechtigter, wie er nach wie vor fand.

Eine junge Beamtin betrat forsch den Raum und überreichte Herwig einen Stapel Papiere. „Der Bericht zu den Schriftproben, Chef. Freys passt auf keine, das glaubt Meyer mit Sicherheit sagen zu können. Außerdem sagt er, dass die drei verschiedenen Ursprungs sind, auch wenn sie sich so ähneln.“

„Danke, Tina, das bringt uns ein ganzes Stück weiter,“ sagte Herwig. Das tat es tatsächlich. Es bestätigte ihre Theorie, dass es sich um mehrere Täter handelte und dass Frey zumindest nicht als Mörder der drei Frauen in Frage kam.

Die Frauen hatten, jeweils an ihrem rechten Zeh, einen kleinen, mit einer Schnur befestigten Notizzettel getragen. Mit kindlich verstellter Schrift hatte dort stets das gleiche gestanden: „Ein Geschenk für Tom Lenz!“

Auch da wieder dieser verfluchte Tom Lenz. Jemand, der sich für diesen fiktiven Superschurken hielt, trieb hier ein ganz mieses Spiel mit Ihnen. Und Herwig gedachte diesen Jemand ausfindig zu machen!

„Torsten, sieh mal, da tut sich was.“ Müllenbeck stupste Herwig an und deutete mit dem Kopf in Richtung Nebenraum.

Tatsächlich, Frey schien aus seiner Parallelwelt zurückgekehrt zu sein. Suchend sah er sich im Raum um, schien aber nicht zu finden, wonach er suchte. Stattdessen blickte er direkt in den Spiegel, winkte ihnen zu, als wolle er grüßen und deutete dann an, etwas zu Trinken haben zu wollen.

„Besorg' dem Mann mal einen Kaffee, Tina,“ bat er die junge Frau, die immer noch neben ihm stand und die Unterlagen über die Schriftproben sortierte, wobei sie immer wieder verstohlene Blicke zu Frey hinüber warf. “Wir sollten ihn nicht mehr allzu lange zappeln lassen.“

Als Tina mit dem angeforderten Kaffee zurück kam, beschlossen sie zu Frey zurückzugehen und sich seine Version der Ereignisse anzuhören, auch wenn mittlerweile keiner von ihnen mehr glaubte, dass es sie noch weiterführen würde.

Frey zeigte sich äußerst dankbar für das mitgebrachte Getränk, auch wenn es schon fast kalt war, bis er vor lauter Unschuldsbekundungen überhaupt dazu kam, davon zu trinken.

Gerade als sie mit der genaueren Befragung beginnen wollten, überschlugen sich auf einmal die Ereignisse.

Die Tür wurde aufgerissen und hereingepoltert kam die äußerst raumgreifende Gestalt von Walter Haferkorn, gefolgt von zwei aufgeregten Polizeibeamten, die mit der Aufgabe, ihn zurückzuhalten, sichtlich überfordert waren.

„Lassen Sie ihn in Ruhe,“ dröhnte Haferkorns tiefer Bass über das aufgeregte Geschimpfe der Beamten hinweg. „Lassen Sie ihn. Ich habe die Mail an Özkilic geschickt!“

„Um Himmels Willen, Walter! Was erzählst du denn da?“ Entsetzt starrte Frey seinen Freund an. „Warum sagst du so etwas?“

„Und warum weiß er davon?,“ ließ Müllenbeck sich vernehmen.

„Weil es die Wahrheit ist!“ Trotzig reckte Haferkorn das Kinn vor.

Herwig und seine Leute hatten sich schnell von der unerwarteten Wendung erholt.

„Darf man fragen, wer Sie sind, wie Sie dazu kommen, hier einfach so hereinzuplatzen und was Sie damit meinen, Sie hätten die Mail an Özkilic geschickt?“

„Haferkorn, Walter. Ich bin Christoffers Freund und Geschäftspartner, wie Sie sicher wissen. Diese Mail...ja also wissen Sie...!“

Noch während Haferkorn herumdruckste und einiges von seinem anfänglichen Elan eingebüßt zu haben schien, flog die Tür erneut auf und Tina kam in das mittlerweile ziemlich überfüllte Büro gestürmt.

„Sie haben noch eine gefunden, Chef,“ rief sie aufgeregt. „Noch eine Tote. Wieder hier in Köln. Und ich soll Ihnen von der Spurensicherung sagen, das wäre diesmal echt richtig gruselig!“

Köln Nippes, gegen 15 Uhr

Schweigend saßen Frey und Haferkorn auf der Rückbank des Polizeiwagens, der sie zum Fundort der Leiche nach Köln Nippes brachte. Sie hätten sich sicher viel zu sagen gehabt, aber es lag nicht nur daran, dass Müllenbeck zwischen ihnen saß, warum jeder für sich stumm aus dem Fenster starrte.

Frey war schlichtweg überfordert mit den Ereignissen des bisherigen Tages. Auch wenn man ihm gegenüber mittlerweile etwas wohlgesonnener zu sein schien, die Anschuldigungen hatten ihn doch hart getroffen. Zusätzlich malträtierten ihn noch die Videos, die man ihm gezeigt hatte und nun in Endlosschleife durch seinen Kopf spukten.

Dieses unerträgliche Leiden der Opfer.

Echtes Leiden.

Nicht wie am Filmset, wo zwischen den Szenen auch schon mal makabere Scherze gemacht wurden, selbst von den „Opfern“, die das teilweise auch brauchten, um die nötige Distanz zu den Taten zu bekommen.

Das hier war echt. Verdammt echt.

Und dann war da noch die Sache mit Walter. Welche Rolle spielte er nur in dieser grausamen Geschichte? Sein eigenartiges Geständnis irritierte Frey zutiefst. Er kannte ihn schon seit über zwanzig Jahren und hätte ihm sein Leben bedingungslos anvertraut. Bis zum heutigen Tag hatte er nie an Walters vollständiger Integrität gezweifelt.

Mit leerem Blick sah er aus dem Fenster und nahm doch nicht das Geringste wahr. Er war völlig erschöpft und hatte eine Wahnsinnsangst vor dem, was ihn gleich noch erwarten würde. Man hätte Herwig nicht informiert, wenn der Fall nicht wieder im Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen rund um die Serie stünde. Wenn der Irre sich an die Reihenfolge hielt – und davon war Frey überzeugt – dann würde es in der Tat sehr gruselig werden.

Magensaft arbeitete sich langsam seine Speiseröhre hinauf und ihm wurde wieder schlecht.

Haferkorn hingegen focht einen erbitterten Kampf mit der eigenen Courage. Ein ganz winziger Teil in ihm bedauerte seinen Entschluss, sich der Polizei offenbart zu haben und dafür schämte er sich zutiefst.

Völlig perplex hatten er und Breckerfeld mit ansehen müssen, wie Herwig mit seinen Leuten in Begleitung von etwa zehn uniformierten Kampfmaschinen die Firma förmlich geentert und Christoffer unter Mordverdacht stehend, verhaftet hatten.

Haferkorn wusste, von welchen Morden da die Rede war.

Ganz im Gegensatz zu Frey, den es wirklich eiskalt erwischte.

Was hätte er Christoffer nicht alles ersparen können, hätte er sofort den Mund aufgemacht! Zumindest einen Teil der Verdächtigungen gegen seinen Freund und Zögling hätte er schon an Ort und Stelle entkräften können.

Stattdessen hatte er sich dazu entschlossen abzuwarten und darauf zu bauen, dass sie Christoffer schließlich nichts nachweisen konnten.

Um seinen eigenen Hintern zu retten.

Er war also erst mal zum Präsidium hinterher gefahren und hatte dort deutlich das Profil seiner Schuhe dezimiert, indem er ununterbrochen auf dem Flur auf- und abmarschierte und hoffte, jeden Moment würde die Tür aufgehen und ein gut gelaunter und rehabilitierter Christoffer käme heraus. Es war auch einiges an Betrieb in dem engen Gang, sein Freund tauchte jedoch nicht wieder auf.

Haferkorn hatte seinen gesamten Charme aufgebracht und gezeigt, dass man auch mit 55 Jahren, Vollglatze und stolzen 130 Kilogramm Lebendgewicht auf 1,85 Meter Körpergröße noch Frauen umgarnen konnte und so hatte er zumindest in Erfahrung bringen können, was genau man Frey überhaupt vorwarf.

Das war dann der Moment gewesen, in dem ihm klar geworden war, dass er seinen Kopf nicht aus der Schlinge bekäme, ohne Christoffer zu opfern. Und das kam natürlich überhaupt nicht in Frage.

Also war er kurzerhand zu dem Büro gestiefelt in dem man Frey festhielt, hatte resolut die beiden Wachhabenden beiseite geschoben und sein unerwartetes Geständnis abgelegt. Er würde so einiges zu erklären haben, wenn sie erst mal begannen, ihn zu befragen und er hoffte, dass Christoffer ihn anschließend nicht verachten würde. Denn, so gut die beiden sich auch kannten, das eine oder andere dunkle Geheimnis hatte er schon noch. Selbst seine Frau Elli wusste längst nicht alles über seine Aktivitäten.

Indirekt war sie sogar mit Schuld, dass Frey und er jetzt in diesem Schlamassel steckten. Hätte sie nicht so einen Stress gemacht...

Nein, das war unfair. Er selbst und niemand sonst hatte das zu verantworten. Diese verfluchte Mail aber auch!

Haferkorn, der an sich eine sehr glückliche Beziehung mit Elli genoss, hatte schon früh festgestellt, dass er sexuelle Vorlieben besaß, die Elli niemals mit ihm teilen würde. In der irrigen Annahme, all die positiven Seiten ihrer Beziehung würden ihn diese Bedürfnisse vergessen lassen, hatte er sie eine Zeit lang verdrängt. Irgendwann hatte er jedoch einsehen müssen, dass sich gewisse Neigungen nicht einfach ignorieren oder wegdiskutieren lassen und er wurde zunehmend von ihnen eingeholt. Eine Weile war er ziemlich ratlos gewesen, wie er damit umgehen sollte. Denn wenn er Elli gestanden hätte, dass er sie beim Sex gerne gefesselt und geschlagen hätte, sie hätte ihn sicher sofort verlassen. Und „nur“, weil ihm sexuell etwas fehlte, die traumhafte Beziehung aufzugeben, das konnte es ja wohl auch nicht sein.

Daher hatte er nach Alternativen gesucht, seinen Bedürfnissen Nahrung zu geben, ohne seine Elli betrügen zu müssen.

Das Internet bot einem da reichliche Möglichkeiten und Walter klickte sich durch zahlreiche Portale, Foren und Anbieter von Hardcore Pornos. Doch gab es meist überall das selbe Problem; die Filme wirkten einfach zu gestellt, die Mitwirkenden oftmals unglaubwürdig. Auf Dauer brachten ihm diese Clips also auch nichts. Über einen befreundeten Hacker war er dann an ein neues – und darin bestand das Hauptproblem – nicht ganz legales Suchprogamm gekommen, welches das Netz nach etwas spezielleren Filmen durchsuchte. Dabei war er auch immer wieder auf Pornos gestoßen, deren Darstellerinnen ganz sicher unfreiwillig in den Filmen auftauchten. Mit schlechtem Gewissen hatte er stets weitergeklickt, vergessen konnte er sie aber nicht. War das nicht genau das, was er zuvor immer bemängelt hatte? Dass die Filme nicht echt genug wirkten? Diese waren ihm aber nun wiederum zu echt. Irgendwann hatte er sich jedoch mit seinem schlechten Gewissen arrangiert und hatte klammheimlich auch das eine oder andere dieser Videos angesehen. So hatte er seinen Kopf frei gemacht für den Blümchensex am Abend mit der geliebten Elli und sich anschließend für seine eigene Doppelmoral gehasst.

Bis er auf die Foltervideos gestoßen war, die Christoffer nun so in Bedrängnis brachten. Schockiert hatte Haferkorn mit angesehen, wie die Frauen ums Leben gekommen waren und hatte sofort den Bezug zur Serie erkannt. Und das nicht nur, weil der oder die Täter die Filmchen zynischerweise nach den Serienfolgen benannt hatten.

Doch was damit tun?

Ignorieren konnte er das nicht, zur Polizei gehen aber genauso wenig, ohne dass sein schmutziges Geheimnis aufgeflogen wäre.

Dann kam ihm die rettende Idee. Er würde der Presse einen Hinweis geben und die würde sich dann schon an die Polizei wenden. So wäre er aus dem Schneider und könnte dennoch sicher sein, dass die Sache verfolgt wird.

So hatte er sich das zumindest vorgestellt.

Und es hätte sicherlich auch funktioniert, wenn er den Kopf noch ein wenig länger eingeschaltet gelassen hätte, bevor er handelte.

Doch sein Kopf war schon in der Nähe von Hamburg, wo Elli bereits in ihrem kleinen Ferienhaus am See darauf wartete, dass sie endlich, mit einem Jahr Verspätung, ihre Silberhochzeit nachfeiern würden.

Gefühlt alle fünf Minuten schepperte sein Telefon und Elli fragte nach, ob er schon unterwegs sei und wann er denn nun endlich kommen würde, er wisse doch, dass auch Freunde da wären und überhaupt habe sie die Nase voll davon, stets hinter seinen Firmenterminen zurück stehen zu müssen.

So genervt Haferkorn dadurch auch war, musste er ihr doch recht geben. Sie hatte schon unendlich viel Verständnis gezeigt für seine meist spontanen und ach so wichtigen Termine. Aber nachdem er letztes Jahr die Silberhochzeitsfeier hatte platzen lassen, weil er meinte, unbedingt an diesem Tag mit den Dreharbeiten für die neue Brender-Staffel beginnen zu müssen, war es ihr dann doch zu viel geworden und er hatte eine ganze Weile Dackelaugen zur Schau tragen müssen, um sie zu besänftigen. Demzufolge hatte er zugesehen, dass er sie diesmal nicht wieder enttäuschte und endlich los kam.

Doch als wäre eine stressende Ehefrau nicht schon genug gewesen, hatte Christoffer auch noch ein paar Termine telefonisch mit ihm abklären wollen, wofür er Freys Kalender brauchte. Also musste er noch einmal in dessen Büro und dass, wo er doch fast schon auf dem Weg zum Parkplatz gewesen war. Missmutig hatte er zugesehen, wie der PC langsam, nein, elendslangsam hochgefahren war. Denn zu allem Überfluss besaß Frey keinen ordinären Terminkalender, wie er auf Haferkorns Schreibtisch zu finden war, sondern selbstverständlich einen Organizer im Computer.

„Was machst du eigentlich, wenn dein Computer mal abstürzt?“, hatte er seinen Freund gefragt, der am anderen Ende der Leitung hing und Haferkorns neuerliches Gefluche über die Lahmarschigkeit des PCs geduldig über sich ergehen ließ.

„Vielleicht sollten wir einfach mal ordentlich aufrüsten, wenn wir mit der neuen Brender-Staffel durch sind“, lachte er. „Dann sind auch meine Termine vorerst sicher.“

Schnell hatten sie die Termine abgeglichen, zwischendurch mit zwei Hörern gleichzeitig am Ohr, weil Kitty, die gute Seele des Hauses, ihm auch noch das Gerät aus dem Empfangszimmer herein brachte und an dem – welche Überraschung – Elli noch mal ordentlich Dampf machte.

Glasklar erinnerte Haferkorn sich an jede noch so banale Situation dieses Tages vor nicht ganz einer Woche, nur nicht daran, was ihn geritten hatte, besagte Mail an Özkilic noch schnell von dort aus zu schicken, wo er sich gerade befand.

Von Freys Computer!

Was hatte er da nur angerichtet?

Es war Herwig, der Frey und Haferkorn aus ihren trüben Gedanken riss.

„Wir sind gleich da. Den Kollegen vor Ort zu Folge, werden wir es mit ziemlich ekligem Getier zu tun bekommen. Wir sind also in der zweiten Staffel angekommen.“

Frey nickte nur bestätigend und sah wieder aus dem Fenster. Haferkorn holte tief Luft, als wolle er etwas sagen, schwieg dann aber doch. Vielleicht hatte sich ihm auch nur der Magen umgedreht. Nicht nur Frey fragte sich, welche Rolle Haferkorn wohl spielte. Er hatte zugegeben, Özkilic angeschrieben zu haben. Mit den Morden habe er, selbstverständlich, nichts zu tun. Die ganze Geschichte wurde immer verwickelter.

„Worum geht es in diesem vierten Fall?“, fragte Müllenbeck von hinten. Er war der Einzige von ihnen, der es tatsächlich geschafft hatte, noch keine einzige Folge von „Brender ermittelt“ gesehen zu haben, was Herwig ihm ein bisschen neidete.

„Sie müssen entschuldigen“, sagte Müllenbeck an Frey gewandt. „Ich muss gestehen, dass mir Ihre Serie bislang völlig unbekannt war.“ Frey zog eine eigenartige Grimasse. Vermutlich sollte es ein verständnisvolles Lächeln sein, sah jedoch ziemlich verrutscht aus. Da Herwig Müllenbeck offenbar keine Antwort auf seine Frage geben wollte, erläuterte der Schauspieler ihm den Inhalt von „Die Rache der Unschuldigen“.

„Die Folge handelt von einem religiösen Fanatiker. Er rächt sich an Menschen, die nicht achtsam mit empfindungsfähigen Wesen umgehen. Seine Opfer sind sowohl Manager großer Ölkonzerne, als auch Forscher der Pharmaindustrie oder einfach wildfremde Leute, die, ohne es zu merken, in seinem Beisein eine Ameise zertreten haben.“

Bereits an dieser Stelle brach Frey das erste Mal die Stimme, wie Herwig mit grimmiger Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. Er dachte gar nicht daran, Frey diese Aufgabe abzunehmen. Er hatte sich den Mist ausgedacht, dann sollte er auch damit klarkommen.

„Er hat … er hat ein großes Wasserbecken aus Glas, eine Art Aquarium oder besser Terrarium“, fuhr Frey zu Herwigs Überraschung zögerlich fort. Aber je länger er sprach, desto schwächer wurde seine Stimme, bis er nur noch schlucken und krächzen konnte. „Er legt die von ihm zum Tode Verurteilten gefesselt da rein und … Und gibt Unmengen an Maden, Würmern, Käfern und anderem Viehzeug mit in das Becken, verschließt es und beobachtet dann … Naja, den Rest können Sie sich wohl...!“ Ein kräftiges Schlucken beendete die Erzählung.

Herwig sah in den Rückspiegel und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gleich drei blasse Gesichter leuchteten ihn da an.

„Ich glaub', so genau will ich es dann auch gar nicht wissen,“ kam es von Müllenbeck. So sehr er sich auch bemühte, seine Stimme männlich und fest klingen zu lassen, es gelang ihm nicht wirklich.

Ben war noch nicht lange fester Bestandteil seiner Truppe. Er war mit gerade mal 29 Jahren der Jüngste in seinem Team und hatte noch nicht viel Erfahrung an der „Front“, wie Herwig ihren Arbeitsbereich zu nennen pflegte. Müllenbeck hatte, wie jeder von ihnen, nach der Ausbildung zum Kriminalbeamten erst mal eine Zeit lang bei der Schutzpolizei seinen Dienst verrichtet und sich dann auf Cyberkriminalität spezialisiert. Demzufolge hatte er fortan hauptsächlich in Büros und an PCs gesessen, was ihn im Vergleich zu seinen Anfängen bei der Polizei ein wenig behäbig hatte werden lassen. Herwig und Grzyek versuchten dem unauffällig entgegenzuwirken, indem sie ihn alle „Laufburschentätigkeiten“ verrichten ließen und ihn so ein wenig auf Trab hielten.

Außer Rina und Ben gehörte noch Joachim „Jojo“ Karstens zu seinen Leuten, doch der Glückliche befand sich auf Hochzeitsreise und ahnte noch gar nicht, dass seine Kollegen gerade die Tage und Nächte durcharbeiteten, während er sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ.

Als Grzyek nach links abbog, konnten sie gleich sehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Wie Leuchtreklame wiesen die zahlreichen Blaulichter den Weg, auch wenn ihnen die Sicht von einer ganzen Schar Schaulustiger versperrt war.

Und natürlich von der Presse.

Verschiedene Kamerateams hatten bereits ihre Gerätschaften aufgebaut und lauerten auf die erste offizielle Stellungnahme der Polizei. Die Wartezeit vertrieb man sich mit Interviews mehr oder weniger fragwürdiger Art und Live-Schaltungen zu sogenannten Experten. Denn, dass die aktuellen Morde, die der Polizeibericht verzeichnete der Brender-Serie nachempfunden waren, hatte auch der letzte von ihnen inzwischen bemerkt und die Gerüchteküche brodelte gewaltig.

Herwig bereute augenblicklich, dass er darauf bestanden hatte, Frey mit zum Einsatzort zu nehmen. Die ersten Neugierigen hatten ihn schon erblickt und bildeten eine Traube um den mittlerweile geparkten Wagen. Ein Blitzlichtgewitter ging auf sie nieder und Mikrofone bedeckten die Scheiben des Fahrzeugs, als hofften ihre Besitzer, das Glas würde sich entmaterialisieren und ihnen Zugang zu den erhofften Schlagzeilen verschaffen, solange sie nur fest genug drückten.

„Da vorne ist auch Özkilic“, bemerkte Grzyek und deutete auf einen der vielen Journalisten, die gerade vor der Kamera den aktuellen Stand der Dinge zusammenfassten, was eigentlich noch nicht viel sein konnte. Herwig wartete, bis die von Grzyek per Funk angeforderten Kollegen den Wagen freigeräumt hatten, dann forderte er alle auf auszusteigen und ihm zügig zu folgen.

„Für Autogrammstunden ist jetzt nicht der richtige Augenblick“, sagte er sarkastisch und wandte sich zu Frey um. Doch dem war das Kameralächeln gründlich vergangen, wie es aussah. Eher schien er überall, nur nicht hier sein zu wollen. Auch Haferkorn wäre anscheinend lieber im Wagen geblieben. Dabei hätte der Kommissar wetten können, dass die beiden jetzt eine gewaltige PR-Nummer aus der Geschichte gemacht hätten. Vielleicht hatte er sie doch falsch eingeschätzt.

„Gehen wir zuerst zu Özkilic“, meinte Müllenbeck beim Aussteigen. „Der kann uns sicher schnell aufklären, was hier los ist.“

Das war zwar nicht ganz ernst gemeint, aber auch nicht gerade die schlechteste Idee und so bahnten sie sich mühsam einen Weg in die entsprechende Richtung.

Als Herwig Tim Özkilic das erste Mal gesehen hatte, hatte er an einen Scherz geglaubt. Denn allen Annahmen zum Trotz, er würde vorurteilsfrei durch sein Leben gehen, hatte er bei dem Namen Özkilic ganz bestimmt nicht mit dem gerechnet, was er zu sehen bekam. Özkilic sah so wenig türkisch aus, wie man nur aussehen konnte. Er war strohblond, riesengroß, hatte fast schon kitschige, klischeehafte blaue Augen und wäre eher als Schwede, denn als Türke durchgegangen. Doch seine Mutter war Deutsche und er hatte wohl eher ihr Äußeres geerbt, war jedoch zweisprachig und mit den Lehren des Islam groß geworden.

Zwischendurch verlor Herwig den Journalisten trotz seiner bemerkenswerten Größe aus den Augen, weil er selber ständig ein Mikrofon unter die Nase gehalten bekam.

Doch obwohl er hartnäckig jede Stellungnahme verweigerte, kamen sie kaum voran.

Erst durch die Kollegen abgeschirmt gelangten sie schließlich zu Özkilic, der inzwischen einen Interviewpartner hatte und mit betroffener Miene seine Fragen stellte.

„Dann waren Sie es also, der das bedauernswerte Opfer gefunden hat?“

Der Mann, dem die Frage galt, polterte sogleich laut los.

„Na, und ob ich das habe. Ist 'ne verdammte Sauerei das hier! Früher, da hätte es so was nicht gegeben. Is' alles das verdammte Fernsehen und Computerzeug schuld, sag ich Ihnen. Das macht die Leute krank im Kopf!“

Bevor Özkilic zur nächsten Frage ansetzen konnte, kam von irgendwo

eine schrille Frauenstimme, gefolgt von einem mageren aber durchaus drahtigen Arm und der Mann wurde einfach vor laufender Kamera weggepflückt.

„Der Mann von der Polizei hat doch extra gesagt, dass du bei ihm bleiben sollst, weil er noch ein paar Fragen an dich hat, Hermann“, keifte die Frau und schob ihn resolut zu dem Haus hinüber, das der Schauplatz des Geschehens zu sein schien.

Verdutzt sah Özkilic den beiden hinterher, dann moderierte er ab und kam zu Herwig herüber.

„Herr Kommissar“, begrüßte er ihn herzlich. „Kommen Sie, um mir zu sagen, wem ich diese ominöse Mail verdanke?“

Haferkorn starrte angestrengt seine Schuhspitzen an.