Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien - Sabine Beppler-Spahl - E-Book

Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien E-Book

Sabine Beppler-Spahl

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Beschreibung

Sabine Beppler-Spahl begreift den Brexit als Chance, als einen „kleinen Schritt hin zu mehr Demokratie“, die in der EU zunehmend erodiert sei. Damit ist sie eine der wenigen liberalen Stimmen, die in dem Brexit nicht einen Akt wider alle Vernunft mit unabwendbaren katastrophalen Folgen für Großbritannien und die EU sehen. Mit ihrem optimistischen Buch behauptet Sabine Beppler-Spahl im deutschen Büchermarkt eine singuläre Stellung gegenüber den pessimistischen Auguren. In klaren verständlichen Analysen zeigt sie auf, dass der Brexit nicht das Ergebnis eines demagogischen Populismus ist, sondern eine deutliche demokratische Absage an elitäre Strukturen der EU und eine Expertokratie, die von oben herab bestimmen möchte, was gut für die Leute sei. Dabei blickt sie sowohl zurück auf die historische Entwicklung des Verhältnisses von Großbritannien und EU, die in dem Brexit mündete, als auch nach vorne, indem sie die Brexit-Entscheidung als einen Weg zur Stärkung der politischen Teilhabe aller Bürger nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa ausweist.

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Brexit – Demokratischer

Aufbruch in Großbritannien

Sabine Beppler-Spahl ist Diplom-Volkswirtin und Deutsch­land-Korrespondentin der britischen Zeitschrift spiked. Sie ist außerdem Mitglied der in London ansässigen Academy of Ideas sowie Vorsitzende des Vereins Frei­blickinstitut, die gemeinsam den Schüler-Debattierwettbewerb »DebatingMatters!« organisieren. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr besuchte sie die britische King George V Secondary School in Hongkong. Nach dem deutschen Abitur im Jahr 1984 zog sie nach London, wo sie in einem Community Centre tätig war. Seit 1994 lebt sie in Berlin und leitet, neben ihrer publizistischen Tätigkeit, eine Sprachschule für Englisch.

Sabine Beppler-Spahl

Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien

P A R O D O S

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.ddb.de abrufbar.

© Parodos Verlag, Berlin 2019 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-938880-95-1 www.parodos.deAls E-Book veröffentlicht im heptagon Verlag ISBN 978-3-96024-010-5www.heptagon.de

Geleitwort von Gisela Stuart

Gäbe es eine Goldmedaille für das »Aneinandervorbeireden«, dann wäre die Brexit-Debatte der unumstrittene Gewinner. Silber ginge an das »Einandernichtzuhören« und Bronze an »Wiedummdochdiewählersind«.

Seit der Volksbefragung im Juni 2016 ist in Großbritannien wenig mit Sicherheit vorhersehbar.

Es ist erstaunlich, dass das Parlament der sechstgrößten Wirtschaftsnation, mit einem Ruf für politische Stabilität und eine leistungsfähige Verwaltung, im Augenblick so unfähig scheint, Entscheidungen zu treffen. Aber ehe man der Versuchung der Schadenfreude nachgibt, sollte man zumindest versuchen, die Gründe für diese Entwicklung zu verstehen. Denn ihre Ursachen und Folgen haben Konsequenzen sowohl für ganz Europa als auch für die Zukunft liberaler Demokratien.

Als mich Sabine Beppler bat, ein Vorwort für ihr Buch zu schreiben, war meine erste Reaktion sehr ablehnend. Seit der Volksbefragung im Juni 2016 waren meine Unterhaltungen mit deutschen Journalisten meist unangenehm. Von einigen ehrenhaften Ausnahmen abgesehen, war ich mit einer Mischung aus Unverständnis, Ressentiment und Dünkel konfrontiert. Wie kann eine in Deutschland geborene Labour-Abgeordnete sich für Brexit engagieren? Alle Brexiteers seien doch rechtsradikale Rassisten, die zudem noch alt und dumm sind, sagte man mir. Hin und wieder meinte jemand, dass es hier ganz einfach um die ständige Extrawurst der Briten gehe. Die wollten schon immer anders sein, unfähig sich anzupassen. Man war sowohl entsetzt als auch ein bisschen verletzt und beleidigt.

Für die Deutschen ist es ganz natürlich, dass man, wenn man von europäischen Interessen spricht, eigentlich deutsche Interessen meint. Europa ist für das Selbstverständnis der Deutschen existenziell. Für die Briten war das schon immer eine Wahlverwandtschaft. Und als man schließlich den Wählern hier die Frage stellte, wer das letzte Wort über Gesetze, Steuern und Grenzen haben sollte, dann entschieden sie mehrheitlich, das müsse ihre eigene Regierung sein. Der Grund dafür war nicht, dass sie rechtsradikale Nationalisten sind, sondern dass ihnen parlamentarische Souveränität sehr wichtig ist. Das darf man nicht als eine Art von Identitätspolitik missverstehen. Die Briten sind nicht Separatisten – das hätte man den Schotten vorwerfen können. In der Brexit-Debatte ging es um viel mehr.

Wenn einem die Zukunft liberaler Demokratien und ein friedliches Europa wichtig sind, dann sollte man dieses Buch ernst nehmen. Sabine Beppler beschreibt und erklärt mit Einfühlungsvermögen und historischem Verständnis, was sich auf der Insel abgespielt hat und wie man das in einem europaweiten Zusammenhang verstehen muss. Globalisierung ist eine Herausforderung für alle unsere Bürger, und unsere Institutionen haben damit nicht Schritt gehalten.

Die Europäische Union ist nicht dasselbe wie das geographische Europa. Sie schließt Menschen und Nachbarn aus. Und obwohl man sich der immer tiefer werdenden Kluft bewusst ist, scheinen die Politiker unfähig zu sein, sich anzupassen. Wer von London, Berlin oder Paris nach Brüssel geht, geht auf Distanz. Man ist stolz darauf, dass man sich von der »Politik der Straße« abschirmt. Damit missversteht man aber die Rolle politischer Parteien und nationaler demokratischer Institutionen. Sie schützen einen vom Trommelruf der Massen, sie erlauben es, Kompromisse zu schließen und gleichzeitig den Wählern nahezubleiben.

Man wirft den Briten oft vor, sie seien nostalgisch und träumten noch immer vom Empire. Es stimmt, dass für Jahrzehnte andere Länder sich mehr Mühe machten, die Briten zu verstehen, als umgekehrt. Die englische Sprache hilft natürlich auch. Aber das ist Vergangenheit. Ich würde heute eher den EU-Befürwortern vorwerfen, dass sie ein nostalgisches Bild einer wirtschaftlich erfolgreichen und friedenschaffenden EU haben. Die EU-Erweiterung 2004 und die Einführung des Euros hat Spannungen und Probleme geschaffen, die noch nicht verarbeitet wurden.

Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu, den Brexit aus einer linksliberalen Perspektive zu verstehen.

2016 warf man vielen britischen Wählern sture Borniertheit vor. Alle Regierungschefs, einschließlich Präsident Obama, die Banken, von der Bank of England bis hin zur Weltbank, und die meisten großen multinationalen Unternehmen warnten vor den wirtschaftlichen Konsequenzen, sollten die Wähler sich für Leave entscheiden.

Das erinnerte mich an eine Episode in der deutschen Nachkriegszeit.

Im Jahr 1948 traf Ludwig Erhard, ein damals noch ziemlich unbekannter Ökonom und Direktor der Wirtschaftsverwaltung, eine tiefgreifende Entscheidung. Er empfahl radikale Währungsreformen und das Freigeben vieler Preise. Lucius Clay, der amerikanische Militärgouverneur erklärte ihm: »Meine Berater sagen mir, dass Sie einen furchtbaren Fehler begangen haben.« Erhard erwiderte mit Humor: »Herr General, hören sie nicht darauf. Meine Berater sagen mir das Gleiche.«

Die Währungsreform wurde eingeführt, Preise wur­den freigegeben und Erhard ging in die Geschichte Deutschlands als der erfolgreiche Vater der Sozialen Markwirtschaft ein.

Die Zukunft ist schwer vorherzusagen. Was man tun kann, ist die Bedingungen dafür zu schaffen, dass auch die nächste Generation frei und wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Jedes Land tut das auf seine eigene Art und Weise. In 50 Jahren, glaube ich, wird man es erstaunlicher finden, dass die Briten der damaligen EWG beigetreten sind, als dass sie sich 2016 entschieden, die EU wieder zu verlassen. Die Generation, die in der Volksbefragung von 1975 Ja sagte, war dieselbe Generation, die in 2016 überwältigend für Leave stimmte.

Dieses Buch hilft nicht nur, die Entscheidung von 2016 zu verstehen, es gibt auch wichtige Hinweise, was man erkennen und machen muss, damit das ganze geographische Europa weiterhin friedlich und demokratisch bleibt.

Rt Hon Gisela Stuart

Labour-Abgeordnete 1997-2017 und Vorsitzende der Vote-Leave-Kampagne 2016

Vorwort

Die Idee, ein Buch zum Brexit zu schreiben, entstand im Winter 2016, ein gutes halbes Jahr, nachdem 17,4 Millionen britische Wähler in einem Referendum für den Austritt aus der EU gestimmt hatten. Wie auch Gisela Stuart in ihrem Geleitwort schreibt, stieß das Votum hierzulande einhellig auf Ablehnung. »Schwachsinn«, »Dummheit«, »Katastrophe« waren Attribute, mit denen das Ergebnis versehen wurde. Die Wählerbeschimpfung richtete sich gegen eine sehr große Gruppe, denn kein anderes Anliegen hat in Großbritannien je zuvor mehr Stimmen auf sich vereinigen können. Vor allem ließ die Kritik die Debatten dort enden, wo sie eigentlich hätten beginnen sollen. Das erklärt die Motivation für dieses Buch.

Am Anfang eines jeden Kapitels steht ein gängiges Anti-Brexit-Argument als Zitat. Dieses wird auf seine Stichhaltigkeit überprüft und es werden Gegenargumente präsentiert, die zumeist aus Debatten und Beiträgen stammen, die ich in Großbritannien mitverfolgen konnte. Bei der Debatte über den Brexit geht es aber um mehr als nur die britische Politik. Mit dem Votum verknüpft sind die Kernfragen der Demokratie. Wer sich ernsthaft mit dem Brexit beschäftigt, kommt nicht umhin, einen Blick auch auf die EU zu richten.

Unabhängig davon, wie es mit dem Brexit weitergeht, steht das Referendum für einen historischen Moment. Bis zum Juni 2016 hatte es jahrzehntelang keine realistische demokratische Möglichkeit gegeben, einen EU-Austritt einzufordern. Dass die britischen Wähler die ihnen gebotene Chance in so großer Zahl nutzten, hat den Status quo der letzten Jahre erschüttert. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU beschloss die Mehrheit der Bürger eines Landes, einen echten Politikwechsel einzuleiten. Schon in den Monaten vor dem Referendum war in Großbritannien die Spannung und die Dynamik eines Wahlkampfes zu spüren, bei dem es wirklich um etwas ging.

Die Wahl traf einen Nerv, auch und gerade bei vielen, die in Sonntagsreden gerne von dem hohen Gut der Demokratie sprechen. Ja, mit 72,2% war die Wahlbeteiligung sehr hoch – aber es waren die Falschen, die den knappen Sieg davontrugen. So verlautete es aus einflussreichen Kreisen, in und außerhalb Großbritanniens. Vieles, was den Brexit seither so schwierig hat erscheinen lassen, geht auf den Versuch zurück, das Votum rückgängig zu machen oder zu neutralisieren.

Es gibt unzählige Studien, die den Brexit als einen Sieg des Populismus präsentieren. Donald Trump, Le Pen und der Brexit werden in einem Atemzug erwähnt. Der Brexit ist jedoch etwas anderes. Er geht weder auf eine Partei oder Bewegung mit rechtsradikalen Wurzeln zurück (Le Pen), noch zwingt er ein Land dazu, mit einem schlechten Präsidenten zu leben. Er richtet sich auch nicht gegen Immigranten, sondern gegen die EU und ihre Strukturen. Immigration war ein wichtiges Thema im Wahlkampf, aber in Verbindung mit der Forderung nach demokratischer Kontrolle. Es ging darum, dass die Mehrheit der Bürger und nicht die EU über die Gesetze bestimmen soll.

»Lasst uns gemeinsam die EU reformieren«, rufen diejenigen, die an ihr festhalten wollen. Der Wunsch ist verständlich – und die Idee eines geeinten, friedlichen und solidarischen Europas, in dem sich Länder gegenseitig unterstützen, nobel. Doch es geht darum, die EU als das zu verstehen, was sie ist – und nicht als das, was sich viele wünschen: Sie ist eine Institution, die dazu dient, die Politik vor den Wählern abzuschirmen. Statt Europa zu vereinigen, hat sie tiefe Gräben geschaffen. Mit ganzer Härte reagierten EU-Vertreter und ihre Unterstützer in Großbritannien auf die Forderungen der Brexit-Wähler nach mehr Mitbestimmung und Kontrolle. Das ist nicht neu. Statt sich zu öffnen und zu demokratisieren, wird die EU rigider – je mehr sie unter Druck gerät.

Die große Entdeckung beim Schreiben dieses Buchs waren die Reden, Schriften und Bücher von Kurt Schumacher, Tony Benn und Hans-Magnus Enzensberger. Alle drei hatten den Zweiten Weltkrieg miterlebt (Schumacher überlebte ihn im Konzentrationslager). Sie verkörpern als linke Intellektuelle das Gegenteil eines Rechtspopulisten. Ihre scharfe Kritik an den undemokratischen Strukturen der EU und ihrer Vorgängerinstitutionen trägt dazu bei, klarer zu erkennen, worum es geht. In dieser Tradition steht die Verteidigung des Brexits. Aus ihren Werken und Nachlässen stammen viele Zitate in diesem Buch. Zu Dank verpflichtet bin ich den Kollegen der britischen Online-Zeitschrift spiked, die sich unermüdlich dafür einsetzen, dass die Mehrheit gehört und ernst genommen wird, und deren Ideen auch in dieses Buch eingeflossen sind.

Wer ein wirklich freies und solidarisches Europa möchte, tut gut daran, sich für die Stärkung der Demokratie einzusetzen. Jede Ära wirft ihre eigenen großen Fragen auf, die definieren, auf welcher Seite man sich befindet. Dazu gehört auch der Brexit – als Ausdruck des Wunsches, die Fesseln einer technokratisch-elitären Politik abzuschütteln.

1. Das Referendum als Chance

»Cameron hat ein verantwortungsloses Spiel gespielt«1

Wie der glücklose ehemalige britische Premier David Cameron, der das Brexit-Referendum ermöglichte, in die Geschichte eingehen wird, wissen wir nicht. Die meisten Kommentatoren, die lieber am Status quo festgehalten hätten, äußern sich abfällig. Ein Zocker sei er, der das Risiko der Ereignisse vom Juni 2016 fahrlässig in Kauf genommen habe, heißt es bei n-tv.2 Der Journalist Issio Ehrich versucht gar eine kleine Kriminalgeschichte aus dem Leben des sich stets um die politische Mitte bemühenden »Public School Boy« zu machen: Camerons Biographie liefere das perfekte Material für eine fatale Erzählung, erklärt er ohne jeden Anflug von Ironie. Auch die Historikerin Helene von Bismarck spricht in einem Interview von einem verantwortungslosen Spiel des Premiers, dessen Taktik, seine Kritiker zu isolieren, nicht aufgegangen sei.3

Es gibt einiges, was man an David Cameron kritisieren kann. Dazu gehört aber nicht die Ausrichtung des Brexit-Referendums. Nur weil er das Risiko in Kauf nahm, die Wähler über die EU zu befragen, gilt er diesen Kritikern als Zocker. Vordergründig ist ihre Kritik an den Premier gerichtet – dahinter verbirgt sich jedoch etwas anderes: ein anti-demokratischer Impuls und die Angst vor den Wählern. Keine Sekunde lang zweifeln die Kritiker daran, besser zu wissen als die Mehrheit der britischen Bürger, was gut für Großbritannien ist. Das Risiko der Demokratie, das darin besteht, eine Abstimmung zu verlieren und mit der eigenen Meinung zu unterliegen, wären diese Kommentatoren niemals eingegangen. Sie wollen nur ein bisschen Demokratie – eine, die es den Wählern nicht erlaubt, über die wirklich wichtigen Fragen abzustimmen.

»In der Politik geht es um den Erwerb, die Erhaltung, den Gebrauch und den Zerfall von Macht«, schreibt der liberale Politiker Karl-Hermann Flach in seinem 1970 erschienenen Bürgerhandbuch.4 Auch beim Brexit geht es um die Frage, wer das Recht hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gestalten. Für einen kleinen Mo­ment in der über 40-jährigen britischen Geschichte der europäischen Vereinigung lag dieses Recht – in Form eines Referendums – in den Händen der Bürger. Dies zugelassen zu haben, werden die oben zitierten Cameron-Kritiker dem Premier nie verzeihen. Allein die Sichtbarmachung dieser elitären Reflexe – die in den einflussreichen politischen Kreisen gar nicht selten sind – hat den Brexit so wertvoll gemacht.

Ein Argument der Brexit-Gegner lautet, die britischen Bürger hätten gar keine informierte Entscheidung treffen können, weil sie in die Irre geführt oder gegen die EU aufgebracht worden seien. Seit den 80er-Jahren habe die britische Boulevardpresse sehr negativ über die EU berichtet und Politiker aller Parteien die EU als Sündenbock benutzt, sagt von Bismarck in dem oben genannten Interview. Man könne nicht zehn Jahre lang auf Europa herumhacken und dann darauf hoffen, in sechs Wochen alles zu drehen, meinte auch Alexander Graf Lambsdorff, der FDP-Politiker und frühere Vizepräsident des EU-Parlaments.5 Doch niemand kann ernsthaft behaupten, dass die Pro-EU-Seite in den zurückliegenden Jahren nicht genügend zu Wort gekommen sei. Während des Wahlkampfs hatten sich die Vorsitzenden aller Parteien (außer UKIP), die Gewerkschaften, die großen Wirtschafts- und Kulturinstitute und sogar ein ganzer Chor von Promis inklusive Bob Geldof und Barack Obama für die EU stark gemacht. Das Spektakuläre an dem Referendum war ja gerade, dass die Mehrheit der Bürger trotz dieses Aufgebots für den Austritt stimmte.

Mit ganzem Herzen wolle er sich für den Verbleib seines Landes in der Union einsetzen, hatte David Cameron 2013 versprochen.6 Doch wie in anderen EU-Staaten hat auch die britische Politik viel an Vertrauen und Autorität eingebüßt. Das ist der Grund, weshalb Politiker wie Cameron die EU als Sündenbock nutzten, auch wenn sie diese niemals grundsätzlich in Frage stellen würden – und er war nicht der einzige, der das tat. 2008 klagte der Brüssel-Korrespondent der FAZ darüber, dass die deutsche Politik die »Bürokraten in Brüssel« für Beschlüsse verantwortlich mache, die sie in Wahrheit selbst gefasst habe.7 Als Beispiele nannte er die EU-Vorschläge zur Verminderung des Kohlendioxidausstoßes oder zur Entflechtung der Energiewirtschaft. Andere, jüngere Beispiele betreffen die Sparpolitik oder das Wettbewerbsrecht. Die Möglichkeit, sich hinter Brüssel zu verstecken, haben europäische Politiker aller Couleur für sich ausgenutzt– vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras bis hin zu Angela Merkel. Der schnelle Rücktritt David Camerons nach dem Brexit-Referendum zeigt, dass auch er offensichtlich nicht bereit war, nunmehr ohne den Dummy EU britische Politik zu gestalten.

Schon 1975 war es den britischen Wählern möglich, über die Mitgliedschaft ihres Landes in der EG/EWG, der Vorgängerorganisation der EU, abzustimmen. Anders als 41 Jahre später entschied sich eine große Mehrheit von 67% für den Verbleib. Es war das erste Mal, dass eine solche wichtige Frage außerhalb des Parlaments, direkt von den Bürgern entschieden werden konnte, meint der britische Historiker Robert Saunders.8 Und es sollte 41 Jahre dauern, bis sich diese Gelegenheit wieder bot.

Der Labour-Politiker Tony Benn, der maßgeblich dafür gesorgt hatte, dass es das erste Referendum gab, war einer der bekanntesten Kritiker der EG. Der Beitritt in die EG untergrabe die Bedeutung der demokratischen Wahl, argumentierte er. Für Millionen von Menschen, die nicht über Geld oder sonstige Einflussmöglichkeiten verfügten, sei die demokratische Wahl der einzige Schutz vor Willkür. In der EG habe eine nicht gewählte Administration eine ganze Menge Macht. Entscheidungen, die in Brüssel getroffen würden, könnten durch die Wähler nicht mehr verändert oder korrigiert werden – auch wenn sie so wichtige Bereiche wie die Handels-, Industrie- oder Agrarprolitik beträfen.9

Wie ein Blick in den Spiegel, der alles seitenverkehrt zeige, wirke das Referendum von 1975 im Vergleich zur Brexit-Abstimmung, meint Saunders. Wer 1975 noch für den Verbleib stimmte, entschied sich 41 Jahre später mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Austritt (siehe auch Kapitel 7: Die Alten und die Jungen). Was hat diese Wähler bewogen, ihre Meinung zu ändern? Als Großbritannien am 1. Januar 1973 unter der Leitung des damaligen konservativen Premierministers Edward Heath der Gemeinschaft beitrat, befand sich das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise. Es litt unter einem Handelsdefizit, einer ansteigenden Arbeitslosigkeit und einer galoppierenden Inflation, die innerhalb weniger Jahre auf über 25% hochgeschnellt war. Während die EWG-Länder Butterberge und Milchseen anhäuften, stiegen in Großbritannien die Lebensmittelpreise. In dieser Situation erschien vielen, allen voran den Politikern, der Beitritt als einziger Ausweg: »Dies wird es uns ermöglichen, effizienter und wettbewerbsfähiger zu sein, wenn wir mehr Märkte nicht nur in Europa, sondern auch in der übrigen Welt gewinnen«, versprach Heath den Wählern am Tag des Beitritts.10

Ob die Menschen ihm vertrauten, ist fraglich, denn er verlor wenige Monate später die Unterhauswahlen. Für die Mitgliedschaft in der EG trat allerdings auch die neue Labour-Regierung unter der Leitung von Harold Wilson ein. Die Hoffnungen, die Labour-Mitglieder und sogar Gewerkschafter lange Jahre mit der EU verbanden, kommentierte Benn mit den Worten: »Sie glauben, dass ein guter König besser ist als ein schlechtes Parlament.«11 Sein Kontrahent, der Labour-Politiker und spätere Präsident der EU-Kommission Roy Jenkins, sagte dagegen, dass die Menschen den Rat derer angenommen hätten, denen zu folgen sie gewohnt waren.12 So viel Selbstgefälligkeit konnte nicht lange gut gehen.

Auch nach dem Beitritt kam es nicht zu dem erhofften Wohlstand – und der Nachkriegsboom war überall in Europa vorbei. In Großbritannien begann eine lange Zeit der Stagnation mit enorm steigender Arbeitslosigkeit und rückgängigen Reallöhnen. Ältere Briten hatten 41 Jahre lang Zeit, um zu beobachteten, was es heißt, ein Mitgliedsstaat der EU zu sein – und was sie sahen, gefiel den meisten nicht. Die Prognose Benns, dass die Institutionen der EU keine Korrektur oder Änderung der Politik zuließen, hatte sich als wahr erwiesen. Nicht nur wurden die Strukturen der EU immer unübersichtlicher, auch wurden schätzungsweise 80% der Gesetze in Brüssel beschlossen, mehr, als zuvor die größten EG-Skeptiker je befürchtet hatten. Unbeliebte Vorgaben wie das Anti-Diskriminierungsgesetz, die Vorschriften gegen »Hate Speech«, ein fragwürdiges Datenschutzgesetz usw. gehörten dazu. Hinzu kamen Quoten, Zölle und andere Vorschriften, die britische Wirtschaftszweige empfindlich trafen, darunter die Fischfang- und die Zuckerquote.13 Kritisiert wurde auch, dass es dem Land nicht mehr möglich war, eigene Handelsverträge abzuschließen usw. »Würden wir heute noch beitreten?«14, fragte der Journalist und Autor Christopher Booker, der 1975 für den Verbleib in der EG stimmte und 2016 ins Brexit-Lager wechselte.

Wenn Cameron sich EU-skeptisch äußerte, reagierte er damit auf die große Unzufriedenheit der Wähler. Er war kein Treiber der öffentlichen Meinung, sondern ein Getriebener. Auch waren die britischen Wähler keine leicht zu manipulierende Masse, wie von Bismarck es in ihrem Interview andeutet, sondern sie hatten sich über die Jahre eine eigene Meinung gebildet. Allerdings wurden diejenigen, die aus der EU austreten wollten, im Parlament jahrzehntelang nicht ausreichend repräsentiert – daran änderten auch die EU-skeptischen »Backbencher«, die Cameron das Leben erschwerten, wenig. »Wie der europäische Bürger auch wählt, er wählt immer mehr Integration – es sei denn, er richtet seine nationale Wahlentscheidung allein an seinen europapolitischen Präferenzen aus und wählt (…) radikal europaskeptische Parteien«15, schrieb der Politologe Philip Manow 2012, als die EU noch im Expansionsmodus war. Das stimmte lange Zeit auch für Großbritannien – bis zum Brexit-Referendum.

Während der Referendumsdebatte hörten sich die Wähler die Argumente an, glichen diese mit ihren Erfahrungen ab – und beschlossen mehrheitlich, dass der Ausstieg für sie besser sei. Wie die Wähler anderer Länder abstimmen würden, wenn sie die Gelegenheit bekämen, wissen wir nicht. Volksbefragungen, in denen die Bürger nein zur EU sagten, gibt es genug. »Immer wieder haben die Norweger, die Iren und die Franzosen nein gesagt. Wenn es nach den Managern der Union geht, darf so etwas nie wieder vorkommen«16, schreibt Hans Magnus Enzensberger vier Jahre vor der Brexit-Abstimmung in seinem Essay über die EU in weiser Vorhersehung. Dass es nun doch einmal vorgekommen ist, mag manchem wie ein Albtraum erscheinen. Für andere ist es ein längst überfälliger Schritt, der ermöglicht, was in einer Demokratie selbstverständlich sein sollte: dass sich die Politik dem Wunsch der Bürger stellt.

Wenn Historiker in vielen Jahren auf das Referendum zurückblicken, werden sie wahrscheinlich nicht das Ergebnis überraschend finden, sondern die Tatsache, dass es so lange gedauert hat, bis die Briten ihren Austrittswunsch bekunden konnten.

1

»Cameron hat ein verantwortungsloses Spiel gespielt«, Spiegel online, 24.6.2016.

2

»Cameron hat sich verzockt, ntv, 24.6.2016.

3

»Cameron hat ein verantwortungsloses Spiel gespielt«, Spiegel online, 24.6.2016.

4

Flach, Karl-Hermann: 1x1 der Politik, rororo Taschenbuch Verlag, 1970, S. 12.

5

»Le Pen: "Sieg der Freiheit"«, Süddeutsche Zeitung online, 24.6.2016.

6

»Eine EU ohne uns wäre stark geschmälert«, Welt online, 23.1.2013.

7

»Schuld ist immer die EU«, FAZ online, 7.1.2008.

8

»EU referendum: Did 1975 predictions come true?«, BBC, 6.6.2016.

9

»Tony Benn - Britain must Leave the EU to restore Democracy«, YouTube, 13.6.2016.

10

»1973: Britain joins the EEC«, BBC on this day, 1.1.1973.

11

Tony Benn on democracy and the EU – 20th November 1991.

12

Bickerton, Chris: The European Union. A Citizen’s Guide, Penguin, Pelican Books, 2016, S. 128".

13

Amerika zieht nur mit Europa gleich, Welt online, 19.3.2018.

14

»Life in the EU is hardly going to get better. Would we vote to join?« , The Telegraph online, 11.6.2016.

15

Manow, Philip: Ach, Europa: Ach, Demokratie, Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Klett-Cotta, Januar 2012, Heft 752, S. 23.

16

Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Edition Suhrkamp, 9. Auflage 2012, S. 56.

2. Nationale Selbstbestimmung

»Nationalismus ist wie Trunksucht: ein kurzer Moment des Hochgefühls, gefolgt von andauernden Kopfschmerzen.«1

Die EU versteht sich als Garant gegen das Wiederaufleben eines aggressiven Nationalismus in Europa. Der Kontinent dürfe keinesfalls in nationales Denken zurückfallen, sagte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier wenige Tage vor dem Brexit-Referendum.2 In der FAZ war nach der Abstimmung von der »neuen Wucht des Nationalismus«3 zu lesen und ein Jahr später, am 23. August 2017 – dem 78. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes –, verglich der Vizepräsident der EU-Kommission den Nationalismus mit der Trunksucht.4