Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 3: Bargh Barrowson - J. H. Praßl - E-Book

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 3: Bargh Barrowson E-Book

J.H. Praßl

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Beschreibung

Amalea im Jahre 344 nach Gründung Fiorinde. Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen ... Die Würfel sind gefallen. Bargh, Telos, Chara und Thorn haben die Prüfungen Al'Jebals bestanden und unter seiner Weisung ihr jeweiliges Schicksal besiegelt. Doch was dem einen zum Aufstieg verhilft, führt den anderen in den Untergang. Während Bargh vom Schatten seiner Vergangenheit eingeholt wird und dem Bösen dabei näher kommt, als ihm lieb ist, Chara sich fragt, wieso die Anhänger des Chaos eine unerklärliche Faszination auf sie ausüben, und Telos Agramons Wort mit den eigenen unerhörten Taten in Einklang zu bringen versucht, plant Thorn im Geheimen den Untergang von Al'Jebal. Die Chaoskriege sind seit Hunderten von Jahren Geschichte. Doch in der Begegnung mit Hakkinen Dragati, Prophet eines Chaosgottes, zeigt sich, dass die Geschichtsbücher Lügen verbreiten. Und am Ende erkennen Bargh, Telos, Chara und Thorn, dass es das Chaos ist, das ihnen bei all ihren Schritten die Begleitmusik spielt. Aber wie passt Al'Jebal in diese Erkenntnis? "Die Ordnung hat nur einen Fehler: Sie erkennt das Chaos nicht, wenn sie es vor sich hat. Dieser Fehler ist allerdings verheerend."

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Bargh Barrowsøn

J.H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung 3

Bargh Barrowsøn

Chaos

Praßl, J.H.: Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 3: Bargh

Barrowsøn. Chaos, Hamburg, acabus Verlag 2015

Originalausgabe

PDF: ISBN 978-3-86282-396-3

ePub: ISBN 978-3-86282-397-0

Print: ISBN 978-3-86282-395-6

Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl

Einige hier verwendete Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy-Rollenspiel MIDGARD übernommen.

Einige Auszüge des Textes zu Hakkinen Dragatis Traumbotschaft im Kapitel Eine Botschaft wurden mit freundlicher Genehmigung von Thomas Böck und Martin Völker aus dem Song „Ärger“ von der Band Schweisser übernommen, wobei einige Worte geändert wurden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2015

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Widmung

Dieses Buch widmen wir der Band Schweisser, deren Songs uns über all die Jahre des Pen&Paper-Spiels und Schreibens hinweg begleitet und wundervolles Material für die Chaosseite geliefert haben. Unser ganz besonderer Dank geht an die Bandmitglieder Tommi Böck und Buffo Völker! Ohne mit der Wimper zu zucken haben sie uns für diesen aktuellen Band den Songtext „Ärger“ zur Verfügung gestellt, was einmalig ist!

Eine zweite Widmung geht wie immer an unsere Spieler, welche die Geschichte der Chroniken für uns so real werden ließen:

Chris: Dieser Band ist dein Band! Dein Bargh hat nicht nur unsere, sondern auch die Herzen der Leser im Sturm erobert! In unseren Herzen wird er ganz bestimmt auf ewig fortleben …

Dominik: Dein Thorn ist und bleibt ein Aufreger! Danke, dass du ihm alle Freiheit gelassen hast, sodass er seinen ganz individuellen Weg finden und gehen konnte …

Kathi: Danke, dass du den einen zugunsten des anderen Charakters geopfert hast! Lucretia ist ein Geschenk für die Chroniken!

Max: Ohne Telos wäre Chara wohl schon einige Male in den Abgrund gestürzt. Schon deshalb sind wir dir dankbar! Dein Kriegspriester ist und bleibt das Gebot der Vernunft in Zeiten des Wahnsinns und eine inspirierende Konstante quer durch alle bisherigen Bände!

Georg: Herzlichen Dank für Girim, der, wenn auch nur sporadisch auftretend, jede Szene zu einem freudigen Ereignis werden lässt, egal wie hoch die Wellen gerade schlagen!

Wir danken außerdem allen „Altspielern“, die sowohl die Vorgeschichte der Chroniken als auch die Chroniken von Chaos und Ordnung selbst geprägt haben, in welcher ihre Figuren immer wieder auftauchen. Hier sind nur die Namen jener erwähnt, die im aktuellen Band aufscheinen:

Alex, Boris (Shawn Ommadawn, Gemiramel Weißfels von Laruhn, El’Jimenez), Diane (Shirana Tora), Gux (Mara-Na-Pheru alias Asquia, Min Fao Lin), Hoink (Perorgerrued Respensøn, Fusulos Konfusius alias Fusl, Manolus Maranopoulos, Sam Hal), Karin, Lili, Max (Deva Maha Asana, Koohn Grimbart), Peter (Gaan El’Schiban Al’Hamar alias Gaan, Skyff Hin Gundur), Roland (Freon Eisfaust El’Salah alias Eisfaust, Jagan Kerme El’Alachin), Simona, Stefan (Langeladeon), Tom (Herkul Polonius Schroeder) … um nur ein paar von ihnen zu nennen.

Musikempfehlung

Der Text zu Hakkinen Dragatis Apotheose im Kapitel Apotheose ist inspiriert von Oomphs „Der neue Gott“.

Der Text zu Hakkinen Dragatis Eroberung Amoravods im Kapitel Der neue Gott ist inspiriert von Rammsteins „Sonne“.

Es empfiehlt sich bei folgenden Szenen unten angeführte Songs zu hören, die auch im Pen&Paper-Rollenspiel zu den Chroniken von Chaos und Ordnung zum Einsatz kamen:

1. Traumbotschaft von der Chaosseite im Gasthaus in Amoravod (aus dem Kapitel Eine Botschaft): Schweisser – Hallo Ärger (Telefonversion)

2. Hakkinen Dragatis Apotheose – Szene: Der neue Gott steigt vom Leichenberg (im Kapitel Apotheose): Oomph – Der neue Gott

3. Hakkinen Dragatis Auftritt bei der Eroberung Amoravods durch die Tulurrim (im Kapitel Der neue Gott): Rammstein – Sonne

4. Lomonds Traumbotschaft (im Kapitel Nächtlicher Besucher): Deine Lakaien – Lass mich

5. Satlek Mu’uls Erweckung der Toten (im Kapitel Ein alter Freund): Hybryds – The Ritual Of The Rave – Icarus

AMALEA

DETAILKARTE

Und es kam die Sonne.

Es kam das Licht, das nicht vergehen sollte.

Die Dunkelheit wurde Licht

und das Licht brachte die Dunkelheit.

Denn das Chaos kam in der Nacht,

und mit ihm kam das Licht,

aus dem Licht kam die Stimme,

und die Stimme gab ihm seinen Namen.

Sein Name aber brannte wie Feuer in ihren Leibern

und seine Stimme legte sich wie Eis über ihre Herzen.

Es kam das Licht, als es Nacht wurde.

Und die Stimme sagte:

„Ab heute kämpfe ich für euch,

ab heute denke ich für euch,

ab heute führe ich die Schlacht,

ab heute habe ich die Macht.

Freunde, kommt und erwachet,

Freunde, zu mir seht empor!

Hier aus meinen Augen,

strahlt euer Schicksal hervor!

Ich bin der neue Gott,

geht mit dem neuen Gott!

Er ist stärker, härter, größer …“

Die Stimme verstummte.

Das Licht aber verblasste nicht.

Es dunkelte nicht und verbrannte nicht in der Nacht.

Der neue Gott aber lächelte.

Er öffnete seine Hände und seine Hände brachten den Tod.

Und als sie ihren Geist vor dem Licht verschließen wollten,

als sie sich von ihm abwandten,

als sie versuchten, ihm den Rücken zu kehren,

sagte die Stimme:

„Wollt ihr schon gehen, Freunde?“

Amalea im Jahre 344 nach Gründung Fiorinde:

Tausend und dreihundertvierzig Jahre

nach Beginn der Chaoszeit.

Fünfhundert und sechzig Jahre

nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.

Hundert und neunzig Jahre

nach der Vertreibung der Chaosmächte

aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,

des Südens und des Westens.

Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen.

In Alba herrscht der Drei-Parteien-Krieg. Der Clanag Adrian MacGythrun, der die Rebellion innerhalb des Clanats MacGythrun erfolgreich unterdrückt hat, setzt alles auf eine Karte und versucht sein Bündnis der Albischen Clanate zur mächtigsten Partei Albas zu erheben.

Im Valianischen Imperium beginnt die neue Cäsara Rosmerta ihre Macht zu festigen und die Gesetze des Landes zu reformieren. Der Tod ihres Vorgängers Antonius Virgil Testaceus hat zur Folge, dass die alten Berater des Staatsoberhauptes, darunter der Augur Sören Lestrang, ihres Amtes enthoben werden. Die neue Monarchin stützt ihre Machtpolitik auf das valianische Militär.

Auf den Kabugna-Inseln beginnen die Arbeiten an einem Stützpunkt zum Zweck der Versorgung einer Flotte aus Aschran, die in naher Zukunft in den Norden Amaleas entsandt werden soll. Das noch junge Bündnis zwischen den Inselbewohnern und dem Alten vom Berg sorgt unter den Stammesältesten der Goygoa für düstere Vorahnungen.

In Lakschanam, einem Fürstentum Rawindras, herrscht zwischen den intelligenten Echsenwesen und den Menschen ein friedvolles Nebeneinander. Der Radscha Bangha Maha Schemburi, Sonne Rawindras, regiert umsichtig sein Fürstentum. Indes formiert sich ein Heer von unbekannter Herkunft in den Dschungelgebieten um die Hauptstadt Lakscha.

In Valland, dem nördlichsten Land Amaleas, Heimat der Barbaren, tobt seit einigen Jahren zwischen den Anführern der einzelnen Stämme ein Kampf um den Titel des Jarlkunr. Drei der vier Högjarls, darunter der berüchtigte Aeglier Storm Thorgerson, auch als Der Schreckliche bekannt, sowie ein Außenseiter mit Namen Perorgerrued Respensøn beanspruchen den Thron für sich. Vallands einstmals stabile politische Strukturen zerfallen.

In Moravod, einem Land nördlich Rawindras, lagert ein Heer von knapp hunderttausend Kriegern vor den Toren der Hauptstadt Amoravod. Es handelt sich dabei um die gefürchteten Büffelreiter der Tulurrim, von denen man sich erzählt, dass sie auch heute noch mit dem Chaos im Bunde stehen …

Unruhen

Menschen, die einander nicht verstehen, können einander nicht vertrauen. Dies war ein einleuchtendes Gesetz, eine jedermann verständliche Grundregel. Niemand traute dem anderen über den Weg, sofern er ihn nicht durchschauen konnte. Taten waren unvorhersehbar, wenn man die Motive und Überzeugungen dahinter nicht verstand.

Er selbst war da immer anders gewesen. Er traute bestimmten Leuten einfach, auch dann, wenn er nicht begriff, warum sie dachten, wie sie dachten, und handelten, wie sie eben handelten. Er hatte immer auf sein Bauchgefühl gehört. Meistens lag er damit richtig. Das hatte sich in den letzten Monden geändert, jedenfalls teilweise. Er war vorsichtiger geworden. Er wusste nicht so recht warum, aber er war, mehr als früher, auf der Hut. Plötzlich leuchtete ihm ein, dass sich die meisten Leute lieber auf Fakten als auf ihr Bauchgefühl verließen. Plötzlich konnte er nicht nur verstehen, was mit diesem Gesetz gemeint war, er konnte es auch fühlen.

Man musste den anderen kennen, um vorhersehen zu können, wie er sich verhalten würde. Das war die Voraussetzung dafür, ob man jemandem über den Weg traute oder nicht. Das sahen die anderen genauso. Sie misstrauten einander, auch wenn das manche von ihnen nicht zugeben wollten.

Es waren eben jene Gedanken, die Bargh zu schaffen machten. Und sie machten ihm gerade deshalb zu schaffen, weil es im Augenblick nicht den geringsten Grund zur Sorge gab.

Während der letzten zwei Monde hatte sich eine selten eitle Eintracht innerhalb ihrer kleinen Gruppe breitgemacht. So erfreulich das auf den ersten Blick auch sein mochte, es hatte etwas Beängstigendes, jedenfalls für ihn. Der zweite Blick zeigte nämlich die Lüge, die hinter diesem schönen Schein lauerte. Und irgendetwas sagte Bargh, dass in Thorn die Quelle dieser Lüge lag. Der Waldläufer hatte sich verändert – ganz plötzlich und radikal. Warum das so war, lag auf der Hand. Darüber nachdenken wollte Bargh im Moment allerdings nicht. Was Al’Jebal ihnen gezeigt und gesagt hatte, war so geheim, dass sich selbst der Gedanke daran wie Verrat anfühlte. Aber selbst wenn Thorn diese Dinge nun wusste, konnte Bargh an seine unerwartete Wandlung nicht so recht glauben. Thorn mochte wankelmütig sein, aber nicht durch und durch instabil.

***

Der Himmel über Moravod war wolkenverhangen und schimmerte in dem fahlen Licht einer blassen Sonne. Um die dahinwandernden Wolkenbänder bildete ihr sonst kräftiges Licht einen unwirklichen, blassen Schimmer – eine gespenstische Aura gebrochener Farbigkeit.

Eine Gruppe von Leuten schlenderte über die schmale Straße, die sich um die Bucht des Daimir und den Hafen der Stadt Amoravod wand. An der Spitze, einige Schritte voraus, schlurfte ein Mann in weiten Hosen und einer abgetragenen Tunika. Die Webmütze mit der an einem geflochtenen Band baumelnden kleinen Quaste wies ihn als einen Moravi aus.

Ein Stück weiter hinten folgte eine hochgewachsene Gestalt mit hellbraunen, langen, im Nacken mit einem Lederband zusammengefassten Haaren. Sie hatte einen olivgrünen Umhang um die Schultern geworfen. Über ihren Rücken trug sie einen Bogen, an ihrer Hüfte ein Langschwert.

Neben ihr schritt ein Mann in einer Priestertoga aus schwerem weißen Wollstoff. Das Gesicht des Mannes war von etlichen Narben entstellt und erinnerte in der Asymmetrie seiner Wangenknochen ein wenig an eine halbfertige Büste. In seinen ernsten, in dunklen Höhlen sitzenden Augen spiegelte sich die kristallklare Prinzipientreue eines Mannes wider, der seinen Weg gefunden hatte, und der Gang seines schlanken Körpers war aufrecht und zielbewusst.

Knapp hinter dem Priester schlurfte ein bulliger Krieger in Kettenhemd, metallenen Arm- und Beinschienen und mit einem beachtlichen Beil auf seinem Rücken über die plattgewalzte Erde. Sein kräftiges, kupferrotes Haar fiel ihm in wilden Strähnen bis auf seinen Rücken hinab, der Bart schlenkerte in zwei Zöpfen vor seiner Brust hin und her. Seine grauen Augen, um die gewöhnlich vergnügte Fältchen tanzten, ruhten in tiefer Nachdenklichkeit auf den beiden Männern, die ihm vorausgingen.

Danach folgte ein Stück unbelebter Straße, bevor eine weitere Gestalt den Weg entlangflanierte. Ihr Körperbau und die Art und Weise, wie sie sich bewegte, legten die Vermutung nahe, dass es sich dabei um einen Mann handelte, was sich bei näherer Betrachtung jedoch als Irrtum herausstellte. Unter dem dünnen schwarzen Mantel, den engen schwarzen Hosen und dem knapp sitzenden ärmellosen Hemd zeichneten sich ganz klar weibliche Formen ab.

Es herrschte eine friedliche Atmosphäre um die Gruppe. Und doch, unter der Oberfläche lauerte etwas, ein die Sonne verdunkelnder Schatten … ähnlich dem Zwielicht, das der Himmel über Moravod an jenem Tag, dem siebten der ersten Trideade im Nixenmond 344 nGF, präsentierte.

Bargh folgte Thorn und Telos auf dem Fuß. Er wollte nichts von dem Gespräch verpassen, das zwischen den beiden Männern aufgekommen war. Telos war gerade dabei, Thorn auf den Zahn zu fühlen und war wie jeder von ihnen bemüht, die Sache, über die keiner sprach, unter den Teppich zu kehren. Dass sich Thorn trotzdem bedeckt hielt, war in letzter Zeit nichts Neues.

„Was hältst du davon, dass Rosmerta die neue Cäsara ist?“, griff Telos eine weniger heikle Frage auf, nachdem Thorn auf die Frage nach seinem werten Befinden gereizt abgewunken hatte.

Thorn zuckte mit den Schultern. „Es ist offensichtlich, dass Al’Jebal weiß, was er tut, aber in dieser Angelegenheit … nun ja … Rosmerta ist mit Sicherheit kein geringeres Übel als Testaceus es war.“ Er wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. „Andererseits hat Testaceus Tod – die Götter mögen ihn in ihre heiligen Hallen aufgenommen haben – eine Schwächung des Imperiums zur Folge. Damit hat es sich fürs Erste mit der Eroberung weiterer Ländereien für die Valiani. Testaceus war kurz davor, zu einem sehr mächtigen Usurpator aufzusteigen. Hätte er das Zepter nicht verloren, wäre er nicht umgekommen, er hätte in kürzester Zeit die Macht des Imperiums in besorgniserregende Höhen schnellen lassen. Al’Jebal hat das verhindert. Und das war es wohl auch, was er im Sinn hatte. Aber du weißt, wie ich zur Ermordung meines ehemaligen Mäzens stehe, Telos.“

Telos schielte zu Thorn. „Du trauerst noch immer um Testaceus …“

„Er war mein Freund … jedenfalls dachte ich das. Sagen wir mal, ich fühlte mich trotz allem freundschaftlich mit ihm verbunden. Und als er starb, war mir, als wäre mein altes Leben mit ihm gestorben. Außerdem war ich für seinen Tod mitverantwortlich.“ Thorn hob die Hände, als würde er sich für seine Freundschaft zu Testaceus entschuldigen wollen, und Bargh fragte sich erneut, ob er Al’Jebal tatsächlich verziehen hatte. Chara hatte er jedenfalls nicht verziehen.

„Die Sache macht dir noch immer zu schaffen, nicht?“ Telos hatte in die für ihn typisch sorgsam herantastende Gesprächsführung gefunden, die vor allem bei Thorn griff. „Denkst du nicht, du solltest allmählich damit abschließen?“

„Es steckt noch mehr dahinter, Telos“, wurde Thorn nun doch noch redselig. „Ich glaube, Al’Jebal hält Rosmerta für berechenbarer als Testaceus. Vermutlich ist sie das auch. Und sie muss mehr oder weniger von vorne anfangen. Damit hat Al’Jebal sowohl erreicht, dass ein großer Gegner im Moment keine Bedrohung für ihn darstellt, als auch eine Situation geschaffen, die es ihm ermöglicht, die Entwicklungen dieses Gegners weitestgehend im Auge zu behalten. Und er hat es uns ja gesagt, Rosmerta ist im Gegensatz zu Testaceus noch beeinflussbar. Sie ist für ihn eine Monarchin, deren Pläne und Wege er sehr gut voraussehen kann. Ich kann mich trotzdem nicht dafür begeistern, dass eine machtbesessene Irre von nun an in einer derart einflussreichen Position ist, besonders unter dem Gesichtspunkt, dass ich sie nie leiden konnte.“

„Keine Sorge, Thorn“, brummte Bargh nach vorne, „ich glaub’ nich’, dass wir Rosmerta noch mal wiedersehen.“

„Das ist nicht der Punkt, Bargh“, antwortete Thorn.

Bargh beobachtete, wie Thorn seinen Blick stur geradeaus richtete und ihren moravischen Führer ins Visier nahm. Doch Telos war noch nicht fertig mit ihm.

„Du hast deine Meinung in Bezug auf Al’Jebal geändert …“, setzte er neu an.

„Drei Tage!“, bemerkte Thorn mit dem Anflug einer Frustration in seiner Stimme. „In drei Tagen hat Al’Jebal es fertig gebracht, mich umzustimmen.“

„Ist das so?“ Telos musterte Thorn argwöhnisch und Barghs Blick wanderte von einem zum anderen. „Du hast keinerlei Bedenken mehr?“

„Weshalb sollte ich, nach allem, was ich heute weiß?“

„Ja, weshalb …“

Bargh wusste nicht, was er davon halten sollte. Telos schien Thorn zu glauben. Er selbst konnte das nicht, jedenfalls nicht voll und ganz.

Ihr Führer sah sich nach ihnen um und Thorn ließ das Thema fallen. „Wann sind wir endlich da?“, beschwerte er sich leise und tippte mit dem Finger nervös gegen das Heft seines Schwertes.

Obwohl ihnen der Fremde vom Statthalter als Führer zur Seite gestellt worden war, war jedem hier bewusst, dass seine eigentliche Aufgabe darin bestand, die Reisenden aus Aschran im Auge zu behalten.

Erst am Morgen hatten sie mit der Aphrodia, der zweiten ihres Namens – die erste war auf den Kabugna-Inseln von dem Dämon namens Siki in Stücke gerissen worden –, vom Aegir Meer aus über den Daimir die Stadt Amoravod erreicht. Nun, da es kurz nach Mittag war, befanden sie sich bereits auf der Suche nach dem heiligen Mann. Sie konnten also recht zufrieden mit sich sein. Bislang hatte es nur ein paar Verzögerungen während der Reise gegeben, ansonsten war alles reibungslos verlaufen.

Bargh drehte sich nach Chara um. Die Assassinin schritt in gemessenem Abstand zum Rest der Gruppe die Straße entlang, die zwischen Hafen und Stadt um die Ausbuchtung des Flusses herumführte. Wie üblich hatte sie ihre blassen Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergraben. Ihr schwarzes wirres Haar war beträchtlich gewachsen und fiel ihr mittlerweile bis über die Schultern hinab. Zur Abwechslung trug sie keine Lederrüstung, sondern nur das Hemd, das zu knapp saß, als dass es ihren muskulösen Bauch zur Gänze verhüllen konnte. Chara hatte zwar versucht, es lieblos in den Bund ihrer Hose zu stopfen, war dabei aber nicht besonders erfolgreich gewesen.

Ein leises Grollen im Magen erinnerte Bargh an den Hunger, der sich seit einiger Zeit vehement Gehör verschaffen wollte.

„Eines aber solltest du noch klären“, meinte Telos, wobei er seine Stimme deutlich dämpfte. Bargh konnte ihn trotzdem hören. „Auch wenn ich es dir nicht weiter vorhalte, Thorn … Du hättest uns alle in den Kerkern Valianors hintergangen. Für Bargh und mich ist die Sache erledigt. Doch bei einer von uns solltest du dich entschuldigen.“ Telos nickte mit dem Kopf nach hinten. „Ich finde, sie hat eine Entschuldigung verdient. Du hättest sie eiskalt geopfert, um dich auf die Seite des Cäsarus zu schlagen.“

„Des ehemaligen Cäsarus“, korrigierte ihn Thorn leise. „Und es ging mir nicht darum, mich aus der Affäre zu ziehen, wenn du das meinst! Ich dachte, Testaceus stünde auf Seiten des Lichts und ich wollte verhindern, dass ich einem Chaosanhänger zu Diensten bin.“

„Was eine Fehleinschätzung war.“

„Nun, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht.“

Telos blieb stehen, woraufhin auch Thorn Halt machte und Bargh damit im Weg stand. Bargh konnte sich gerade noch davor bewahren, den Waldläufer über den Haufen zu rennen, indem er die Stiefel in die lehmige Erde rammte und dabei fast das Gleichgewicht verlor.

„’Tschuldigung“, brummte er, als der Rockteil seines Kettenhemdes gegen Thorns Oberschenkel knallte. Thorn ignorierte ihn.

„Was?“, fragte er Telos harsch.

„Wirst du dich bei ihr entschuldigen?“

„Chara würde meine Entschuldigung ohnehin nicht annehmen.“

„Darum geht es nicht.“ Telos verschränkte die Arme vor der Brust und Bargh drehte eine halbe Pirouette und marschierte kopfschüttelnd an den beiden vorbei. Dann überlegte er es sich anders, kehrte um und blieb neben Thorn stehen.

„Ach Telos!“, seufzte Thorn gerade. „Chara und ich sind doch längst quitt. Sie hat mich verraten – Ich habe sie verraten. Und damit ist alles klar zwischen uns.“

Bargh spähte zu Chara zurück.

Er fand, dass sie noch verwegener aussah als früher. Über die Zeit der neuen Ausbildung hinweg war Chara ruhiger geworden – eine Spur besonnener. Doch was an und für sich eine positive Wandlung war, ging mit dem weniger hübschen Aspekt einher, dass ihre Art der kalten Berechnung noch zugenommen hatte. Vielleicht hatte der Unterricht, dem sich Al’Jebals Assassinen unterziehen mussten, aus einem an und für sich schon harten Menschen einen noch härteren gemacht.

„Du denkst, du wärst im Einvernehmen mit Chara?“, fragte Telos leise, während er seinen Weg wieder aufnahm und Thorn und Bargh ihm folgten. „Du irrst dich.“

Thorn antwortete mit einem Kopfschütteln. „Zwischen der Assassinin und mir ist alles bestens.“

„Thorn!“

„Telos, ich bitte dich!“

„Na gut, es ist deine Angelegenheit“, warf Telos hin. „Tu, was du für richtig hältst.“

„Wir biegen da vorne nach rechts ab!“, tönte Bargh. „Richtung Stadtzentrum.“

Telos und Thorn spähten nach vorne.

„Denkst du, Al’Jebal wusste, dass wir Saddhu Malakal nicht in seiner Heimat Rawindra sondern hier finden würden?“, wechselte Thorn ad hoc das Thema. „In einer Stadt, die von einer Armee belagert wird?“

Telos verzog das Gesicht. „Das bezweifle ich. Hätte er es gewusst, hätte er uns gewarnt.“

„Oder er befand es nicht für nötig, uns zu warnen.“

„Vielleicht. Immerhin kamen wir unbehelligt über den Fluss in die Stadt. Die Belagerer haben anscheinend keine Mittel, um die Stadt anzugreifen, zumindest nicht zum aktuellen Zeitpunkt. Sie warten ab. Vielleicht warten sie auf Verstärkung. Sicher ist, sie werden so schnell nicht angreifen und damit sind wir auch nicht in akuter Gefahr. Aber ich nehme an, wir werden am Abend mehr über die Zustände vor Ort erfahren. Ob Al’Jebal von der Belagerung wusste oder nicht, braucht uns nicht zu interessieren. Wichtig ist, dass wir diesen Saddhu Malakal finden und nach Billus bringen.“

„Hm.“ Thorn beschleunigte seinen Schritt, während Telos seinen verlangsamte und zurücksah. Bargh blieb am Priester dran. Thorn empfand er im Moment nicht als die beste Gesellschaft. Zurzeit war ihm der Waldläufer wie die Schneiden einer Doppel-Axt. Man wusste nicht, vor welcher Klinge man sich mehr in Acht nehmen musste.

Telos sagte nichts. Er ließ seine Augen über die Dächer der Stadt wandern, deren Gebäude sich um die Bucht herum drängten. Amoravod war nicht besonders groß und wirkte um einiges ärmlicher als Billus. Doch die halbkreisförmig um den Hafen angelegten Gebäudereihen und die niedrigen, zum Teil leicht heruntergekommenen Häuser aus Holz und Stein besaßen eine ganz eigentümliche, fast verträumte Wirkung.

Amoravod war eine befestigte Stadt. Ein Wall mit Holzpalisade, der von den Ufern des Daimir aus um die Stadt herum führte, schützte die Einwohner vor feindlichen Übergriffen. Außerhalb der Palisade fiel das Gelände leicht ab.

Wie sie vom Statthalter erfahren hatten, breitete sich vor den Stadttoren das Lager einer gewaltigen Streitmacht aus, einer Armee, die Amoravod seit einiger Zeit belagerte, doch bislang ohne Erfolg. Sie hatten noch nicht in Erfahrung gebracht, warum die Stadt belagert wurde und um wessen Truppen es sich bei den Belagerern handelte. Alles, was sie wussten, war, dass in diesem Gebiet Krieg herrschte, was ihnen genaugenommen egal sein konnte. Sie waren ausschließlich hier, um diesen heiligen Mann, diesen Malakal, nach Billus zu bringen – ein Auftrag, der Bargh nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hinriss.

Chara schloss zu ihnen auf. Gemeinsam mit der Assassinin bogen sie in eine Gasse ein, die vom Hafen ins Stadtzentrum führte und liefen eine Weile schweigend nebeneinander her.

„Saddhu Malakal ist in Rawindra so angesehen, dass selbst die Radschas keinen Einfluss auf ihn haben“, bemerkte Chara nach einer Weile. „Der Radscha von Lakschanam hat den Saddhu in prekären Situationen auch schon um Rat gefragt, oder? Das könnte ein Problem werden.“

„Malakal ist ein heiliger Mann!“, bemerkte Telos leidenschaftlich.

Chara zog die Hände aus den Manteltaschen und klemmte sich eine Strähne hinters Ohr. „Wird schwierig werden, ihn dazu zu bewegen, mit uns zu kommen … vielleicht sogar unmöglich. Wie sollen wir ihn gefügig machen?“

„Nun, es ist nicht mein Bestreben, ihn gefügig zu machen, Chara“, sagte Telos halb lächelnd. „Und vergiss nicht, wer es ist, der uns geschickt hat.“

Er schob den breiten Stoffgürtel um seiner Taille zurecht, während er die Holzfassaden der niedrigen Bauten am Straßenrand inspizierte. „Ich nehme an, dass Al’Jebals Name uns helfen wird, Saddhu Malakal die Entscheidung zu erleichtern.“

Charas Mundwinkel hob sich. „Dein Vertrauen in unseren Auftraggeber ist weiter gewachsen.“

„Nun, vieles hat sich verändert.“

„Genau“, ließ sich Bargh zu einer Antwort hinreißen. Er hatte festgestellt, dass Thorn und ihr Führer Halt gemacht hatten – an einer kleinen Straßenkreuzung, die ihre vier lehmigen Arme in die niedrigen Häuserfluchten schlug.

Igor Petrovic machte es sich auf einem Treppenabsatz bequem. Er entledigte sich seines Waffengurts, schob seine Mütze über seine Augen und streckte mit einem entspannten Seufzer seine langen Beine aus.

Bargh erspähte einen Mann, der am Rande der Weggabelung auf dem Boden saß. Sein Körper war ausgemergelt und sein Gesicht hatte er in weiße Asche getunkt. Aber das war nicht der Grund dafür, dass Bargh der Mund offen blieb. Der Mann war splitterfasernackt.

„Das ist also der große Saddhu Malakal“, bemerkte Chara verhalten und Telos hob unsicher die Schultern. Er konnte an dem Mann nichts Heiliges erkennen. Vielmehr vermittelte er den Eindruck, einfach nur in die falsche Welt geboren worden zu sein.

Seine dürre Gestalt würde wohl niemanden zu einem ehrfürchtigen Senken seines Blicks verführen, schon gar keinen Priester von Telos’ Herkunft. Die Haut des Saddhu spannte sich in ledrigem Faltenwurf über die Knochen, die unschöne Dellen in ihre derbe Hülle schlugen. Sein Kopf war kahlrasiert. Über seine Stirn zogen sich die Falten wie die Rillen eines Waschbretts. Sein gebleichtes Gesicht mit den tiefen, dunklen Augenringen erinnerte an den Schädel eines Toten.

Malakal hatte seine spitzen Ellbogen auf die Knie gestützt, während er, seine Beine ineinander verschränkt, ungerührt auf der plattgewälzten Erde saß und das Gesicht Richtung Boden neigte.

„Der sieht aus, als könnte er was zu essen vertragen“, brummte Bargh Telos zu. Doch der hatte Thorn im Auge, der gerade dabei war, sich dem Fremden zu nähern.

„Warte!“, rief er. „Du darfst ihn nicht ansprechen!“

Thorn schnaubte auf: „Ja, ich weiß! Das hab ich auch nicht vor.“ Ein kühler Blick und er schlenderte weiter auf den Mann zu. Als er ihm gegenüberstand, kniete er sich hin, fischte drei Dirhem aus einem der Beutel an seinem Gürtel und warf die Silbermünzen in die Holzschale, die vor dem Fremden auf dem Boden stand. In lauernder Vorsicht ließ er sich auf seine Unterschenkel nieder und wartete.

Doch nichts geschah. Der Mann hob weder seinen Kopf, noch zeugte sonst irgendeine Regung davon, dass er Thorns Gegenwart überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Telos überlegte, was den Mann aus der Reserve locken könnte. Saddhu Malakal wurde zwar als heiliger Mann gehandelt, aber er unterschied sich deutlich von den Priestern wie Telos sie kannte. Seine Spiritualität konzentrierte sich auf andere Dinge – nach dem, wie er aussah und sich gebar auf das Innere, kurz, auf sich selbst oder zumindest das, was ihn im Kern ausmachte. Sein Äußeres war ihm offensichtlich völlig gleichgültig. Er schien in seinem Inneren nach etwas zu suchen und dabei auf eine einzigartige Weise in sich selbst zu ruhen. Er hatte seine Mitte gefunden. Das war der Gedanke, der sich Telos sofort aufdrängte. Wie verhielt es sich aber mit seiner Wahrnehmung anderer Menschen? Vielleicht gefiel ihm Thorn einfach nicht.

Die Augenblicke flossen zäh dahin. Ein Glas verging, ohne dass sich irgendetwas regte. Es begann zu regnen. Feine Wassertropfen fielen herab und gingen platschend auf den lehmigen Boden nieder. Und schließlich wurde es Thorn zu bunt. Er wuchtete sich aus seiner unbequemen Haltung hoch, massierte sich die Knie und trottete zu den anderen zurück.

„Das ist lächerlich!“, knurrte er. „Der wird mit keinem von uns sprechen!“

„Versuch du es, Chara!“, sagte Telos einer plötzlichen Ahnung folgend. Irgendwie schien es ihm die einzig richtige Entscheidung zu sein.

„Bist du verrückt?“ Chara sah ihn befremdet an. „Du denkst doch nicht, dass ein Heiliger mit einer wie mir sprechen wird?“

Bargh machte eine wegwerfende Geste. „Mach einfach!“, grunzte er. „Vielleicht steht er ja auf Weiber.“

Chara warf einen abwägenden Blick auf den Mann, der immer noch reglos am Straßenrand hockte und sich nicht an dem Regen zu stören schien. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, stiefelte auf ihn zu und ließ sich ihm gegenüber auf den Boden fallen. Sie überkreuzte ihre Beine, stützte die Ellbogen auf ihren Knien ab und ließ scheppernd eine Münze in die Schale fallen. Danach schloss sie in Erwartung endloser Augenblicke der Langeweile schläfrig die Augen, während Telos sie gespannt beobachtete.

Der Anblick der beiden Gestalten hatte etwas Kurioses. Ein nackter, hoch angesehener, vermutlich sehr weiser Mann und eine Frau von offenkundig finsterer Aura, der man jegliche Weisheit schon aufgrund ihrer Profession absprechen musste – auch wenn er selbst Chara für äußerst reflektiert hielt – und die nichts besser verstand als zu lügen, zu betrügen und zu morden. Trotzdem saßen sie sich hier in pittoresker Harmonie gegenüber, ohne dass sich der eine am anderen zu stören schien.

Unterdessen hoffte Chara, dass sie ihrer Pflicht bald Genüge getan hatte und den nächsten zur Andacht bitten konnte. An und für sich war dieser Auftrag ja ein Kinderspiel – zumindest im Vergleich zu allem, was sie für Al’Jebal schon erledigt hatte. Nur war dieser hier nicht nach ihrem Geschmack. Ein Botengang – mehr war es nicht. Das war alles, was Al’Jebal für sie zu tun hatte. Sie hätte lieber einen Kampf ausgetragen. Sie spürte wie eh und je das wilde Pochen unter ihrer Haut, das sie nur schwer unter Kontrolle halten konnte – dieses Bedürfnis, die Waffe zu ziehen, oder einfach irgendetwas zu zerstören, um sich selbst heil zu fühlen. Die Ketten um ihr Selbst, ihr Innerstes, ihre Gefühle lasteten schwer. Jedenfalls an manchen Tagen, genauer immer dann, wenn sie länger nicht aus sich raus konnte. Nur im Kampf, nur, wenn sich ihr etwas oder jemand in den Weg stellte und ihr die Möglichkeit gab, auszurasten, durch die Wand zu gehen, ebbte dieses wilde Pochen in ihr ab – vorübergehend.

„Hütet Euch vor der Macht der Naturgewalten!“

Chara blickte auf. Saddhu Malakal saß noch immer reglos vor ihr. Doch jetzt waren seine Augen offen. Hatte der Alte gerade gesprochen oder nicht?

Mit einem Seitenblick stellte sie fest, dass die anderen sie gebannt beobachteten. Der heilige Mann hatte also geredet und auch noch fließend Aschranisch.

„Die Naturgewalten machen mir keine Sorgen“, antwortete Chara und wandte sich wieder Malakal zu. „Ich will nur wissen, ob Ihr dazu bereit wärd, mit uns nach Billus zu gehen?“

„Das war’s dann“, hörte sie Thorn verdrossen murmeln.

Doch die Augen des Saddhu hafteten weiterhin auf Chara – abwartend, fast neugierig. Chara blickte in die braune Iris, die von feinen grünlich schimmernden Äderchen durchzogen war und ihre Augen in Beschlag genommen hatte. Plötzlich spürte sie, wie sich in ihrem Inneren etwas regte. Eine Erinnerung klopfte zaghaft an die Pforte zu ihrem Bewusstsein. Malakals Blick … Es war der gleiche zeitlose Blick, den sie bei einem anderen gesehen hatte. Bei Al’Jebal.

„Werdet Ihr uns zu Al’Jebal begleiten?“, bohrte Chara nach und versuchte die Beklemmung abzuschütteln, die sie befallen hatte.

„Noch nicht“, sagte Malakal.

„Wann dann?“

„Es muss noch etwas getan werden.“ Er breitete seine dürren Arme aus und zog mit seinen knöchernen Zeigefingern je einen Kreis neben sich in die lehmige Erde. Chara ignorierte die Geste und beugte sich weiter vor.

„Es muss noch etwas getan werden? Was soll das sein?“

Die kaum vorhandenen Augenbrauen des Fremden hoben sich.

„Es wird sein, wie es sein soll.“ Jetzt gingen seine Hände nach vorne und er malte einen weiteren Kreis vor sich in die Erde, indem er seine Zeigefinger nebeneinander setzte, um sie, je einen Halbkreis ziehend, am Ende wieder zusammenzuführen. Seine Augen hafteten weiterhin auf ihrem Gesicht.

„Könntet Ihr Euch etwas klarer ausdrücken?“, fragte Chara ungehalten.

Malakal schwieg und Chara hatte den Eindruck, als würde er direkt in sie hinein und zugleich durch sie hindurchsehen.

Schließlich malte er mit beiden Fingern gleichzeitig lauter einander überschneidende kleinere Kreise, beginnend bei den zu beiden Seiten befindlichen größeren zu dem ebenso großen Kreis in der Mitte. Aber eine Antwort gab er ihr nicht. Chara stöhnte leise auf.

„Gibt es etwas, das wir noch wissen müssen, bevor wir einen Abgang machen?“

„Ihr wisst, was ihr wissen müsst.“

„Müssten wir nicht wissen, was wir wissen, um zu wissen, was Ihr denkt, dass wir wissen?“ Sie grinste, doch Malakals Ausdruck blieb ungerührt.

„Alles was ich weiß, ist, dass ich nichts weiß“, schob Chara nach.

„Und damit wisst Ihr genug.“

„Und? Werden wir auch wissen, wann Ihr soweit seid?“

„Ihr werdet es wissen.“

Chara biss sich auf die Unterlippe. „Ich kann Euch nicht dazu bewegen, jetzt sofort mit uns zu gehen?“

„Ihr werdet nichts bewegen, wenn Ihr Euch selbst nicht bewegt.“

Das war wohl eine Aufforderung zu verschwinden. Chara gab auf und erhob sich. „Also gut, wir kommen wieder“, knurrte sie. „Ich hoffe, dass Ihr dann soweit seid.“

„Wenn ihr bereit seid, bin auch ich es.“

„Sicher.“ Sie wollte sich schon abwenden, da griff Malakal in die Schale und nahm die Münzen heraus, die sich im Laufe des Tages darin angesammelt hatten. Der zeitlose Blick aus seinen Augen verschwand und machte einem lebendigen Funkeln Platz. „Ihr werdet sie nötiger brauchen als ich“, sagte er und streckte ihr seine knorrige Hand entgegen. Die Falten an seinen Oberarmen baumelten wie flache leere Säckchen hin und her.

„Danke, ich brauche nichts“, winkte sie ab. Doch Malakal zog seine Hand nicht zurück und schließlich gab Chara sich geschlagen. Mit einem knappen Kopfnicken nahm sie die Münzen entgegen und stopfte sie in ihren Beutel.

„Die Natur möge sich nicht gegen Euch wenden!“, verabschiedete er sich.

„Ja, das sagtet Ihr bereits. Danke für den Rat, aber wie gesagt, damit hab ich kein Problem.“ Damit stiefelte sie zu den anderen zurück, wobei sie Malakals Blick auf sich spürte. Das war also der Mann, den Al’Jebal unbedingt in Billus haben wollte. Irgendetwas an ihm gefiel ihr. Und irgendetwas in ihr hätte gerne gewusst, was Al’Jebal an ihm gefiel. Aber dieses Etwas verstummte sofort wieder.

„Sieht so aus, als müssten wir den Saddhu entführen, sobald wir diesen Igor losgeworden sind“, murmelte sie verhalten, als sie bei den anderen war. „Wir können kaum darauf warten, dass sein verrückter Verstand ihm einen passenden Zeitpunkt für eine Reise nach Billus ausspuckt, oder?“

„Hat nich’ viel gebracht, was?“, mischte sich Bargh ein und Thorn schüttelte seufzend den Kopf.

„Ich weiß nicht …“ Telos studierte Malakal, der wieder in seine Starre verfallen war. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht müssen wir, Agramon vergebe mir, ihn tatsächlich dazu zwingen uns zu begleiten. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass wir ins Gasthaus zurückkehren. Es dämmert bereits und wir haben dem Statthalter unser Wort gegeben, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder da sind. Außerdem wird es mir hier langsam zu nass und Langeladeon wartet gewiss schon auf uns.“

„Um uns mitzuteilen, dass er in der Zwischenzeit die Welt vor dem Untergang bewahren konnte …“ Thorn warf einen letzten Blick auf Saddhu Malakal und winkte dann Igor heran, der sich sofort von der Treppe erhob.

„Kann’s sein, dass ich seit heut’ Morgen nichts mehr gegessen hab’?“, fragte Bargh bekümmert.

Telos hörte ihn gar nicht. Er blickte Chara forschend an. „Weshalb sollst du dich vor den Naturgewalten in Acht nehmen, Chara? Was meinte er damit?“

„Vermutlich weiß er, dass ich dazu neige, gegen den Wind zu pissen.“

Chara zog sich die Kapuze über den Kopf und folgte dem Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie vernahm Telos’ Schritte knapp hinter sich. Der Priester war noch immer einen Deut zu viel auf sie fixiert. Und noch immer stand die Frage im Raum, ob sein Interesse lediglich priesterlicher Natur war. Chara hatte bis jetzt keine eindeutige Antwort darauf gefunden.

Als sie die Tür zum Gasthaus aufstießen, peitschte ihnen der Wind den Regen in heftigen Schauern hinterher, sodass sich die Holzdielen sofort mit Wasser tränkten.

„Dver’kroj!“, gellte ihnen die Stimme des Wirts entgegen, und Telos stemmte sich gegen die schwere Tür und schob Wind und Regen nach draußen. Chara hielt sofort auf die Treppe gegenüber dem Eingang zu und verschwand, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben.

Langeladeon saß mit dem aschranischen Übersetzer Garin El’Suk und dem Statthalter Petrov Jadalev bei einem Becher gefüllt mit einem aus Roggen gebrannten Schnaps – Telos war bereits in den Genuss gekommen, das dämonische Zeug namens Vidkova zu trinken – an einem Tisch unmittelbar neben dem Ausschank. Der Elf hatte sein silbergraues Haar in feine Zöpfchen geflochten, trug eine schlichte graue Tunika mit blassgrünen Ziernähten und hatte einen leicht pikierten Ausdruck auf dem Gesicht. Sein Getränk rührte er nicht an.

Abgesehen von dem einen besetzten Tisch war der Gastraum leer. Das unfreundliche Wetter und die Belagerung ihrer Stadt verleidete es den Einwohnern offensichtlich, ihre Häuser zu verlassen.

„Ihr habt die Zeit über Maß strapaziert“, begann Langeladeon vorwurfsvoll an Thorn gewandt, der sich den nassen Umhang von den Schultern zog und über die Stuhllehne warf. Gewöhnlich war Chara die erste Ansprechperson, wenn Langeladeon seinem Unmut Ausdruck verleihen wollte. Aber wenn sie nicht da war, gab er sich auch mit Thorn zufrieden.

„Ging nicht anders.“ Thorn ließ sich in den Stuhl fallen, zog das Lederband aus seinen nassen Haaren und schüttelte sie, während er dem Wirt mit einem Fingerzeig auf Langeladeons Becher zu verstehen gab, dass er desgleichen begehrte.

„Und wo ist Saddhu Malakal?“, fragte Langeladeon kühl.

Thorn rückte mit seinem Stuhl ein Stück zur Seite, damit Bargh Platz nehmen konnte, was der Vallander auch tat, nachdem er sein Kettenhemd über den Kopf gezogen und es rasselnd auf den Boden neben dem Tisch hatte fallen lassen.

„Saddhu Malakal wird uns nach Billus begleiten“, antwortete Telos an Thorns Stelle. Er setzte sich neben Bargh und nickte dem Baruk der Stadt, Petrov Jadalev, freundlich zu. Unterdessen unterrichtete ihr Führer den Statthalter mit knappen Worten über die Vorkommnisse des Nachmittags. Nachdem er seine Pflicht erfüllt hatte, schenkte er Telos, Thorn und Bargh ein förmliches Lächeln und verschwand durch die Tür nach draußen.

Petrov Jadalev, seines Zeichens Baruk, kurz Statthalter des Großfürsten in Amoravod, ein stattlicher Mann mit gepflegtem Vollbart, stützte seine Ellbogen auf die Tischplatte und blickte einmal in die Runde. Der Baruk war ihnen bei ihrer ersten Begegnung als ein bodenständiger, aufrichtiger Mensch begegnet und Telos fühlte sich in seiner Gegenwart ganz wohl. Petrov schien umgekehrt keinen allzu schlechten Eindruck von der Gruppe zu haben, die am Morgen mit ihrem Beiboot in den Hafen Amoravods eingelaufen war.

Zwischen Petrov und Langeladeon saß Garin El’Suk, den ihnen Agem Ill als Übersetzer mitgegeben und der bereits während der Reise bewiesen hatte, dass er sein Handwerk beherrschte. Er sprach sagenhafte zehn Sprachen fließend, hatte sich aber davon abgesehen als ein recht stiller Zeitgenosse entpuppt.

Nachdem Bargh dem Wirt seinen Hunger in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben hatte, indem er auf seinen knurrenden Bauch zeigte, wandte sich Telos an Petrov.

„Es ist möglich, dass wir ein paar Tage hier ausharren müssen“, begann er ernst. Sofort übersetzte Garin seine Worte und Petrov nickte verständnisvoll.

„Ihr said ħier willkommen“, übersetzte der Aschraner die Worte des Baruk. „Aber vergesst nicht, dass Ihr ħier ebenso in Gefahr said, wie die Bürger dieser Stadt. Noch dauert die Belagerung an und wir wissen nicht, was als nächstes passiert.“

Telos nickte verstehend. „Hast du in der Zwischenzeit erfahren, warum Amoravod belagert wird“, wandte er sich an Langeladeon, „und welche Streitmacht vor den Toren der Stadt lagert?“

Langeladeon strich sich grazil eine seiner silbergrauen Strähnen aus dem ebenmäßigen Gesicht und lächelte milde. „Natürlich.“

„Nuvót“, bemerkte der Baruk und erhob sich aus seinem Stuhl. „Schelú spakój Notsch!“

„Na dann“, übersetzte Garin wortwörtlich. „Ich wünsche aine gute Nacht.“

Telos, Langeladeon und Thorn gaben den Wunsch zurück und beobachteten den Statthalter dabei, wie er seinen Umhang von der Stuhllehne fischte, ein paar Münzen auf den Tresen schmiss und durch die Tür in den Regen verschwand. Inzwischen stellte der Wirt eine Schüssel Linseneintopf mit Karotten und einige Holzschalen auf den Tisch. Bargh beugte sich in freudiger Erwartung über die dampfende Brühe, gab dann aber ein unwilliges Grollen von sich. „Da is’ ja gar kein Fleisch drin“, murrte er. „He!“ Er lugte in das runde Gesicht des Wirts und zeigte auf seine Holzschale. „Ziegenfleisch! Da rein, bitte! Davon habt Ihr sicher jede Menge!“

Nachdem Garun sein Begehr übersetzt hatte, packte der Wirt feister Hand den Löffel, rührte einmal um und fischte ein kleines Stückchen Fleisch aus der Brühe. Mit einem triumphierenden Lächeln hielt er es Bargh unter die Nase.

„Besten Dank auch“, grollte Bargh. „Das is’ für’n hohlen Zahn!“

„Wenn Ihr mich nicht mehr benötigt, żiehe ich mich jetżt żurück.“ Garin war aufgestanden und sah Langeladeon an. Der Elf gab ihm mit einem sanften Nicken zu verstehen, dass es ihm gestattet war sich zu entfernen, und schlug in gleichmütiger Grazie seine langen Beine übereinander.

„Laut Petrov Jadalev wird Amoravod seit etwa drei Monden belagert“, begann er in einem für ihn unüblich sachlichen Tonfall. „Bei den Belagerern handelt es sich um ein Heer der Tulurrim, einem Volk aus dem Norden – der Tulursteppe, um es exakt auszudrücken. Soweit es die Bewohner der Stadt ermessen konnten, umfasst die Größe des Heers etwa hunderttausend Krieger. Ein Großteil davon setzt sich aus normaler Reiterei zusammen, ein Fünftel wiederum aus den gefürchteten Büffelreitern der Tulurrim.“

Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Worte in den Gesichtern der anderen ablesen zu können und stellte fest, dass der erwünschte Effekt ausblieb. Allein Bargh hatte den Löffel kurz abgelegt, um einen hoffnungsvollen Blick auf das Schlachtbeil zu werfen, das an seinem Stuhlbein lehnte.

„Nun denn“, fuhr Langeladeon getragen fort, „meiner Einschätzung zufolge sind wir in den nächsten Tagen keiner allzu großen Bedrohung ausgesetzt.“

Barghs Aufmerksamkeit kehrte zu seinem Mahl zurück. Er hatte abrupt das Interesse verloren.

„Die Tulurrim besitzen kein schweres Belagerungsgerät und entbehren auch der erforderlichen Kampftaktik, um eine befestigte Stadt wie diese zu erobern. Ihre Stärke ist der Kampf in einer offenen Feldschlacht. In einer solchen sind sie hingegen so gut wie unbesiegbar.“

„Warum greifen sie nicht vom Fluss aus an?“, mischte sich Thorn ein, der wenig begeistert in seinem Eintopf rührte.

„Sie sind nicht im Besitz einer Seestreitkraft, mein albischer Mitstreiter. Sie haben nur einfache Boote. Darum fällt es ihnen auch schwer, die Stadt vom Nachschub an Vorräten und Ausrüstung zu isolieren. Zwar haben sie es zuwege gebracht, den Osten Moravods zu erobern, doch nun scheint der Versuch, die größte Stadt des Landes zu unterwerfen, ihr erstrebtes Ziel einer vollständigen Eroberung zunichte zu machen, es sei denn sie erhalten noch Verstärkung.“

Telos strich über die Falten seiner weißen Priestertoga und griff nach dem Becher, der vor ihm auf dem Tisch stand.

„Wir müssen die politische Situation in und um die Stadt ignorieren, auch wenn es mir nicht gefällt“, stellte er nüchtern fest und Barghs Gesichtszüge erschlafften zu grenzenlosem Desinteresse.

„Die Stadt wird nicht angegriffen, Bargh“, beschwor Thorn den Vallander. „Zumindest nicht in nächster Zeit. Du wirst dich damit abfinden müssen, dein Beil eine Weile ruhen zu lassen.“

„Solange Amoravod nicht unmittelbar bedroht wird, können wir für die Bewohner nichts tun“, gab Telos ihm recht und nahm einen Schluck Vidkova. Das Gesöff brannte sich förmlich seinen Rachen hinunter, hinterließ aber ein angenehm wärmendes Gefühl im Magen. „Wir dürfen uns in diesen Krieg nicht einmischen. Was für uns zählt, ist, dass wir möglichst unbehelligt unserer Pflicht nachgehen können, wonach es im Augenblick tatsächlich aussieht.“

„Da ist doch ein Haken dran.“ Bargh hörte auf zu essen und warf Telos einen ungewohnt ernsten Blick zu. „Würde mich ehrlich wundern, wenn wir hier kein anderes Problem kriegen, als den heiligen Mann dazu zu bewegen, mit uns zu kommen.“ Er nahm einen ordentlichen Schluck aus seinem Becher, gurgelte geräuschvoll und ließ sich den Roggenschnaps genussvoll die Kehle hinunterlaufen. „Al’Jebal denkt weiter als bis an den Saum seiner Magierrobe. Ich wette, der Saddhu is’ nich’ alles, womit wir es hier zu tun bekommen.“

„Wunschdenken“, gab Thorn zurück. „Jedenfalls für einen wie dich. Vergiss nicht, Bargh, Al’Jebal hat uns ursprünglich nach Rawindra geschickt und nicht hierher. Er dachte, wir würden den Saddhu dort finden.“ Er nahm seinen nassen Umhang an sich, warf ein Griwnar, eines der großen moravischen Silberstücke, auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. „Gute Nacht“, wünschte er gähnend. „Ich bin müde.“

„Schlaf gut“, gab Telos halbherzig zurück und wartete, bis Thorn die Treppe nach oben geschlurft war.

„Wir werden Malakal morgen erneut aufsuchen“, sagte er schließlich. „Wenn er sich dann noch immer weigert, die Stadt zu verlassen, müssen wir eben zu drastischeren Mitteln greifen.“

Bargh grinste breit. „Weißt du was, Telos? Du und Chara, ihr zwei werdet euch langsam einig. Stimmt doch, oder?“

Telos’ linke Augenbraue schnellte hoch. „Ich bin ein Agramon-Priester …“, begann er förmlich.

„… und Chara is’ eine Assassinin, ja ja, ich weiß schon. Aber deine priesterlichen Prinzipien sind nich’ mehr ganz so eisern, wie sie mal waren, und deine Methoden unterscheiden sich nich’ mehr so grundlegend von Charas.“

„Das tun sie sehr wohl“, rechtfertigte sich Telos und ließ demonstrativ seine linke Faust in der rechten Hand verschwinden. „Ich stimme nur in Sachen Malakal mit Chara überein. Wenn wir ihn zu Al’Jebal bringen wollen, dann können wir nicht darauf warten, dass ihn eine Eingebung ereilt. Das kann bei einem wie ihm Jahre dauern.“

Er nippte an seinem Getränk und verschränkte die Arme vor der Brust. Einen Augenblick lang entschwanden seine Gedanken zu Chara und er spürte, wie ein mittlerweile vertrautes Gefühl in ihm aufbegehrte. Stand nur zu hoffen, dass Chara noch nichts davon bemerkt hatte. Er hatte – Agramon wusste es – seine Bedürfnisse vollends unter Kontrolle. Und viel mehr war auch nicht dahinter. Der Rest drehte sich um seine Berufung, Chara ins Licht zu ziehen.

Es war still hier. Zu still, für ihre Begriffe. Still genug, um den eigenen Herzschlag zu hören. Still genug, um das Aufbegehren der Seele zu fühlen, den Aufruhr der Gedanken, die allmählich ins Trudeln gerieten. Irgendetwas hier war seltsam. Irgendetwas untergrub die Dominanz des klaren Kalküls, das ihre Gedanken sonst beherrschte. Irgendetwas kroch durch ihren Körper und versetzte sie in Erregung – in eine fremde, maßlose Erregung … Das war nicht gut!

Die Spitze der Feder glitt leise kratzend über das Pergament in schwarzem Ledereinband und hinterließ einen ungezähmten Schriftzug auf dem blassen Grund. Warmes Kerzenlicht floss über die Seiten und verlor sich in den schwarzen Falten des Stoffs um Charas Beine.

Sie saß auf ihrem Bett in dem kleinen Zimmer des Gasthauses, das sie alleine bezogen hatte. Auf ihren Knien ruhte das kleine schwarze Buch mit ihren privaten Aufzeichnungen. In der bleichen Haut ihres Gesichts reflektierte schwach aber bewegt das Licht der Kerzenflamme.

Nachdem wir Billus verlassen hatten, kehrte Ruhe ein und ich dachte, ich würde zu meiner Gleichgültigkeit zurückfinden. Ich dachte, dass ich wieder klar denken könnte, sobald er fort ist. Doch jetzt … jetzt kehrt die alte Unruhe zurück und mir ist nicht klar, warum. Denn er ist nicht hier! Also, was ist es? Warum fühl ich mich so verdammt unstet. Warum bin ich so aufgewühlt, wie ich es sonst nur in seiner Nähe bin?

Chara stoppte ihre Feder und horchte auf. Von draußen drangen gedämpfte Schreie durch die schmale Fensteröffnung in ihr Zimmer. Ein Hund winselte und das Zuschlagen einer Tür war vernehmbar. Wenig später hörte sie aufgebrachte Stimmen – eine Unterhaltung, deren Intonation auf eine unwillkommene Störung der Nachtruhe schließen ließ.

Chara schüttelte den Kopf und vertiefte sich erneut in ihre Aufzeichnungen.

Drei Tage! Er war drei ganze Tage um mich. Drei Tage lang war ich ihm ausgesetzt, seiner Nähe, seiner Präsenz … Wieso hat er sich uns anvertraut? Was für einen Grund hatte er dafür? Und wieso ist er seither ständig in meinem Kopf und meinem …

„Stopp! Wir werden zügellos!“

Charas Feder hielt abrupt inne und ein unschöner Tintenklecks begann sich über die Seite auszubreiten.

„Was willst du?!“, fragte sie schneidend.

„Du fragst zu viel“, zischte die Stimme in ihrem Kopf. „Und weil wir nun mal beide von deiner Schwäche betroffen sind, wird’s Zeit, dass dir mal wieder jemand den Kopf zurechtrückt. Was faselst du da? In deinem Kopf und deinem … Deinem was, Chara? Etwa deinem Herzen?“

„Denkst du, ich bin mir über das Problem nicht im Klaren?“, gab Chara zurück.

„Nicht genug. Sonst würde ich wohl kaum mit dir sprechen.“

„Wunderbar! Soll ich dir etwa dankbar sein? Wofür? Dafür, dass ich deinetwegen verrückt werde?“

„Weißt du denn, wer ich bin?“

„Als wäre das schwer zu erraten. Du bist die Ausgeburt meines Wahnsinns – die zweite Seite der Medaille! Du bist das, was sich selbst vermutlich als mein rationales Ich bezeichnen würde – die Stimme der Vernunft, die denkt, sie müsse der gefühlsduseligen Seite erklären, wo’s langgeht!“ Sie fuhr sich nervös durch die Haare. „Das wirklich Peinliche daran ist, dass ich mit mir selbst spreche!“

„Peinlich zu sein können wir uns leisten. Doch du, Chara, vergisst deine Pflichten! Deine Stimme ist sanft geworden. Jedes Wort aus deinem Mund ist ein Wort zuviel. Deine Sinne trüben deinen Blick. Deine Gedanken sind von Gefühlen überschattet, die dich straucheln lassen. Erinnere dich!“

„Woran?“

„Der Traum, Chara, der Traum!“

„Welcher Traum?“

„Der Strand, der Weg nach Billus, du – nackt und ohne deine Waffen … und er.“

Ein Beben ging durch Charas Körper. Das schwarze Buch rutschte von ihren Beinen und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden.

„… Al’Jebal …“

„Was hat er gesagt, dein Meister?“

Chara schloss die Augen. Das Bild des nächtlichen Strandes kam ihr in den Sinn – das Rauschen des Meeres, der nasse kühle Sand zwischen ihren Zehen, die Gestalt, die sich ihr langsam näherte.

„Alles, was Ihr von nun an tut, tut Ihr in meinem Namen. Vergesst dies nicht!“, flüsterte sie bebend.

„Das ist es nicht, worauf ich anspiele. Was hat er noch gesagt?“

Chara atmete tief ein und öffnete die Augen. „Euer Verstand ist es, was zählt. Euer Herz sollte schweigen. Vorerst. Es ist zu früh.“

„So ist es.“

„Aber ich bin machtlos dagegen!“ Sie strich sich in einer Geste der Verzweiflung über die Augen. „Wenn er in meiner Nähe ist, gerät alles außer Kontrolle!“

„Wie wär’s, wenn du aufhörst daran zu denken, was geschieht, wenn er in deiner Nähe ist, und dich stattdessen darauf konzentrierst, seine Befehle zu befolgen. Hier in Moravod, zum Beispiel.“

„Schon klar.“

„Sicher?“

„Ich weiß, was ich tue und worauf es ankommt!“

„Tatsächl…?“

„Hau ab!“

„Meinetwegen, aber vergiss nicht …“

„Nein! Und jetzt verschwinde!“

„Wir hören uns!“

„Worauf ich meinen Arsch verwette.“

Chara ließ sich auf ihr Kissen fallen und zog die Nase kraus. Einen Herzschlag später fühlte sie, wie sich eine bleierne Müdigkeit über ihren Verstand legte und sie langsam aber nachdrücklich in eine seltsame Benommenheit zog.

Es wurde still. So still, dass sie meinte, ihr Herz habe zu schlagen aufgehört und die Straße vor dem Gasthaus wäre plötzlich wie leergefegt. Dann verblasste auch dieser Gedanke und alles, was Chara noch wahrnahm, war eine unantastbare Leere, die sich von innen her auszubreiten schien. Einen Atemzug später fiel sie in einen tiefen, komatösen Schlaf. Die Kerzenflamme auf dem Nachttisch flackerte auf und erlosch. Es wurde kühl in dem kleinen Zimmer.

Chaos

Der weiche Saum einer tiefroten Robe strich über das feuchte Gras, das von den unzähligen Stiefeln jener plattgedrückt worden war, die seit Monden in diesem Lager ihre Tage fristeten. Es war tief in der Nacht und die Lichter hunderter Lagerfeuer spiegelten sich in dem fahlen Gesicht der Gestalt, die sich gemäßigten Schritts einen Weg durch die Zeltstadt bahnte.

Der Mann in den Roben war eben erst eingetroffen. Als Anführer der Verstärkung und als neuer Oberkommandierender der Armee hatte er keine Eile. Es gab nicht den geringsten Anlass dafür. Er wusste längst, dass die kommenden Tage seine Erwartungen erfüllen würden und diese Gewissheit wurde weder von dem Fluss der Zeit noch von der Tatsache getrübt, dass eine große Schlacht bevorstand.

Zwei schwer bewaffnete Krieger in schwarzen Rüstungen flankierten den Mann. Ihre Gesichter verbargen sich unter geschwärzten Metallhelmen, um ihre Schultern trugen sie Umhänge aus schwarzem, dicht gewobenem Leinen, ihre Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen, die Füße in schweren, schwarzen Stiefeln.

Sie schritten schweigend neben ihm her, ließen ihre Blicke zwischen den Schlitzen ihrer Helme in forscher Wachsamkeit über die Zelte wandern. Es herrschte Schweigen. Weder der Anführer noch seine Begleiter sprachen ein Wort.

Erst als sie auf zwei Wachposten stießen, die die größte der Jurten im Zentrum des Kriegslagers bewachten, zerstob die Stille.

„Giranii Kintschal Ulagan hat das Zelt geräumt“, sagte einer der Wachposten, wobei er sein Haupt neigte und dabei dem Blick des Mannes entging. „Es ist Euer.“

Der Mann antwortete nicht. Natürlich hatte der Giranii sein Zelt geräumt. Noch standen die Palisaden um Amoravod. Das Oberhaupt des Giran Ulagan, Oberkommandierender dieser Armee, hatte versagt. Jetzt war die Zeit des Giran Kurgan gekommen, die Zeit Togh Levas, und damit seine Zeit.

Er wandte sein Gesicht von dem Wachposten ab. Sein Blick suchte die Wachfeuer vor den Palisaden der Stadt, deren honigfarbener Schein in einiger Entfernung glomm. Hinter den Wachfeuern lag Amoravod – still und sorglos wie seine Bewohner, die tief und fest schliefen. In ihren warmen weichen Betten lagen sie, träumten den Traum der Gerechten und hatten keine Ahnung, was Recht und Unrecht überhaupt bedeuteten.

Ein Lächeln glitt über seine schmalen Lippen.

„Nun denn“, flüsterte er, „lasst uns spielen.“

Der Morgen graute, als Bargh über die Treppe in den Gastraum polterte, in dem sich, abgesehen vom Wirt, nur Langeladeon aufhielt. Der Elf saß mit überschlagenen Beinen an einem der Tische und stierte auf seinen Becher mit Kräutertee, als wäre er geistig in andere Dimensionen abgedriftet. Seine schlanken Finger tippten in einem monotonen Rhythmus auf die Tischplatte.

„Morgen“, brummte Bargh.

Tapp, tapp, tapp, kam es eindimensional zurück.

„Gut geschlafen?“ Barghs sonore Stimme hallte leicht in dem leeren Gastraum.

Tapp, tapp, tapp …

„Ah, wunderbar! Er is’ schon bei der Arbeit“, bemerkte Bargh, der den Wirt hinter der Theke ausgemacht hatte. Entspannt lehnte er sein Beil an die Wand neben dem Tisch und ließ sich in den Stuhl fallen. „Und, hast du nun gut geschlafen oder nich’?“

Endlich sah Langeladeon auf, doch Bargh fand, er sah aus, als hätte er nicht alle Humpen beisammen. Dann ein halbherziges Der Weltgeist gewähre dir einen Guten Morgen, und der Elf verfiel erneut ins Grübeln.

„Hast du schon gefrühstückt?“, versuchte Bargh es weiter.

Tapp, tapp, tapp …

„Was is’ dir denn über die Leber gelaufen?“

Es folgte ein zurückhaltendes Räuspern und Langeladeon ließ seine Hand vom Tisch auf seinen Schenkel fallen.

„Nicht der Rede wert“, seufzte er. „Ich bin wohl noch nicht ganz bei Sinnen heute. Verzeih mir meine geistige Absenz.“

„Deine was?“ Barghs Augen suchten erneut nach dem Wirt, der zu seinem Ärger in die Küche verschwunden war.

„Ich war wohl nicht bei vollem Bewusstsein, als du den Versuch unternommen hast, mit mir zu sprechen.“

„Ah ja … Was is’ mit dem Wirt? Hat der Trauben auf den Augen? Er hat mich doch kommen sehen, oder nich’?“

In diesem Moment wurde es laut im oberen Geschoss. Eine Tür knallte zu, gefolgt von einem Klicken, das von einer anderen Tür herrührte, die ins Schloss fiel. Es näherte sich das Geräusch von Schritten – einmal gemessen und langsam – einmal unzivilisiert und zielbewusst.

„Telos und Chara“, kommentierte Bargh und blickte zur Treppe, wo auch prompt Charas genagelte Stiefel erschienen, bevor der dazugehörige schwarze Mantel in sein Blickfeld rückte. Knapp hinter Chara stieg Telos die Stufen hinab und steuerte zusammen mit der Assassinin den Tisch an.

„Agramon schenke euch einen prachtvollen Morgen“, begrüßte Telos Bargh und Langeladeon, während sich Chara ihres Mantels entledigte, ihre Zweililie gegen den Tisch lehnte und sich träge in einen der Stühle fallen ließ.

„Morgen, Telos“, grummelte Bargh. „Chara? Gut geschlafen?“

„Kann mich nicht erinnern.“

Tapp, tapp, tapp …

Langeladeon hatte sein Ritual wieder aufgenommen und Bargh verzog den Mund. „Unser elfischer Freund is’ heute nich’ bei Laune“, erklärte er brummend. Dann bemerkte er den Wirt, der in diesem Moment in den Schankraum zurückkehrte und stöhnte auf: „Na endlich! Frühstück! Aber ein bisschen zackig!“

Schwerfällig und alles andere als zackig schob der Wirt seinen runden Bauch um die Theke und steuerte auf den Tisch zu. Dort angekommen deutete er mit einem zufriedenen Grinsen auf den Eingang zur Küche.

„Fso!“, meinte er vergnügt und Langeladeon stoppte abrupt seine Trommeleinlage. Mit einem herablassenden Blick auf den dicklichen Mann erklärte er: „Er behauptet, die Küche wäre leer. Wie mir scheint, ist er nicht mit einem ausreichenden Maß an Intelligenz gesegnet, um die Menge an nötigen Vorräten für mehr als einen Tag berechnen zu können.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen.

Der Eigentümer des Gasthauses sah ganz danach aus, als hätte er die Geste des Elfen richtig verstanden.

„Dieser triviale Geist ist selbst eines Menschen unwürdig“, fügte Langeladeon zu allem Überfluss hinzu. „Aber ein Wirt ist eben nur ein Wirt.“

„Na, na! Wir wollen doch nicht unhöflich werden“, beschwor ihn Bargh.

„Genau, immer schön freundlich“, bemerkte Chara teilnahmslos und fuhr mit der Fingerkuppe über die Klinge ihrer Zweililie. Ein Grinsen zuckte um ihre Lippen. „Ganz schön scharf, was?“ Sie sah Bargh herausfordernd an.

Bargh warf ihr einen irritierten Blick zu. Waren heute etwa alle neben der Spur?

Vorsichtig spähte er zum Wirt zurück. Sein Gesichtsausdruck hatte sich drastisch verändert. Die kleinen Augen zwischen den dicken Wülsten seiner Lider stierten Langeladeon feindselig an. Langeladeon starrte ebenso feindselig zurück.

„Du sprichst anscheinend ganz gut moravisch, was?“, bemerkte Bargh einen Deut zu laut und hoffte, die Situation damit zu entschärfen.

„Kaum“, antwortete Langeladeon leise und ohne den Wirt aus den Augen zu lassen. „Nur einige wenige Worte.“

„Idináħu!“, knurrte der Wirt und Bargh entfuhr ein Stöhnen. „Hat das jemand verstanden?“

Telos beugte sich über den Tisch und zauberte ein warmherziges Lächeln auf sein entstelltes Gesicht. „Freilich“, antwortete er auf Barghs Frage. „Wie es scheint, hat der gute Mann ein Problem mit unserem elfischen Genossen hier.“ Er warf Langeladeon einen forschen Blick zu. „Vielleicht hat er sogar ein Problem mit allen, die elfischen Geblüts sind.“

Das war das Stichwort, das Langeladeon alle Register ziehen ließ. Ganz seinen Wurzeln entsprechend erhob er sich in stoischer Anmut aus seinem Stuhl und positionierte sich in aller für seine schlanke Gestalt möglichen Stattlichkeit vor dem Wirt.

„Ihr, der Ihr bloß ein Mensch seid“, begann er preziös und vollführte eine manierierte Geste mit seiner Linken, „seid mir, der ich ein unsterblich Wesen bin, nicht würdig. Ihr seid ein primitiver, hässlicher, fettleibiger und vor allen Dingen trollgleich dummer …“ Er brach ab und suchte händewedelnd nach dem passenden Wort.

„… Schweinesack“, half Chara aus und Langeladeon nickte huldvoll. „Ein Schweinesack, der über eine ohnedies bemitleidenswerte Rasse noch zusätzlich Schande bringt.“

Der Wirt hatte kein Wort verstanden, aber das war auch nicht nötig. Barghs entsetzter Gesichtsausdruck, die feindseligen Blicke der anderen an dem Tisch sowie Langeladeons hoch erhobene Nase reichten vollauf, um zu wissen, woran er war. Und als der Elf noch einen unverständlichen weiteren Wortschwall auf ihn niedergehen ließ, gab es keinen Zweifel mehr.

Ein unappetitliches Grinsen legte seine gelben Zähne frei. In seine Schweinchenaugen trat ein bedrohliches Funkeln. Und dann wurde es plötzlich ungemütlich in der kleinen Gaststube.

Noch ehe Langeladeon Habt Acht! schreien konnte, hatten sich die fleischigen Finger des Wirts in seine fein gewobene Tunika gegraben und der Elf wurde hochgerissen. Im nächsten Moment flog er quer durch den Raum und krachte gegen die Theke, wo er mit einem gepressten Uff auf den Boden sank.

Dies war der Moment, in dem Barghs Magen endgültig vergaß, dass er so leer war wie eine ausgeschlürfte Austernschale. Mit prickelnder Intensität erwachte der kriegerische Instinkt zum Leben und brachte ihn dazu, sich aus seiner bequemen Haltung hochzuwuchten. Einen Lidschlag später hing er an dem voluminösen Körper des Wirts und verstrickte diesen in ein heftiges Gerangel.

Der Tisch, an dem Chara und Telos saßen, wackelte bedrohlich. Ein Keuchen und Stöhnen begann den Gastraum zu erfüllen. Krachend und scheppernd zog die Verwüstung ihre Spur, während sich die beiden massigen Körper schnaufend durch die Tische schoben wie Schlachtrösser durch ein Heer von einfachen Fußsoldaten.

Bargh wischte mehrere Tontöpfe von den Regalen, die scheppernd zu Bruch gingen und der Wirt sorgte mit rudernden Armen dafür, dass die Theke, auf der sich noch die halb gefüllten Becher vom Vortag sammelten, ohne viel Aufhebens leergeräumt war. Es klirrte und schepperte und die Ruhe, die eben noch einen angenehmen Morgen versprochen hatte, war endgültig dahin.

„Chara!“, brüllte Bargh so laut es ihm unter dem Würgegriff möglich war, mit dem der bullige Wirt ihn gerade in die Mangel nahm. „Hilfrrr…!“ Der Ruf ging in ein kehliges Gurgeln über und verebbte.

Chara zog ihre Nase kraus und kniff die Augen zusammen. Schließlich klatschte sie in die Hände und erhob sich unter Telos’ aufmerksamen Blicken gemächlich aus ihrem Stuhl. Mit einem zahmen Lächeln, das Telos wohlwollend zur Kenntnis nahm, wandte sie sich um und schlenderte pfeifend auf das rangelnde Paar zu …

… und daran vorbei. Kurz darauf verschwand sie, eine beschwingte Melodie auf den Lippen in die Küche, während ihr Telos lächelnd hinterhersah.