Codename Göring-Schatz 1996 - Diana A. von Ganselwein - E-Book

Codename Göring-Schatz 1996 E-Book

Diana A. von Ganselwein

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Beschreibung

Psst! Interessiert an einem echten van Gogh? Oder Gauguin, Picasso, Manet? Dann greifen Sie schleunigst zum Telefon! 00301... Athen. Die wahre Geschichte von zwei Kisten prall voll mit Gemälden. Beutekunst von 1943! Vieles deutet auf Hermann Göring hin. Wer gewinnt den Wettlauf? Geheimdienste, Mafia, Investoren? Oder am Ende doch die Moral? Sie lesen die Schilderung von wahren Begebenheiten. Die Stationen der Hauptperson Harry König – Berlin, Leipzig, München, Cannes, Paris, Kitzbühel, Salzburg, Ibiza und schließlich Athen – sind ebenso wirklich wie der Frachtbrief zur Internationalen Eisenbahnbeförderung der Deutschen Reichsbahn vom 26. Juli 1943. Dieses vierseitige Dokument begleitete zwei voluminöse Kisten aus Holz an eine seltsame Adresse in Athen. Ihr Inhalt, an die hundert Kunstwerke hauptsächlich im Stil der französischen Impressionisten, stellt ein halbes Jahrhundert später ihren Finder vor riesige Probleme. Warum er glaubt, dass der Held dieser Geschichte sie für ihn lösen wird, soll diese Schilderung erklären. Harry König hat bis zu jenem Tag im September 1996 weder von Beutekunst, noch vom Göringschatz konkrete Vorstellungen. Vielleicht die beste Voraussetzung, um ein Abenteuer mitten unter uns, wie es sich kaum jemand ausdenken könnte, mit jener Leichtigkeit anzugehen, die gefragt ist, wenn die Grenzen von Gier, Macht, Moral und Liebe verschwimmen. Ja, Kunst-Liebe treibt seltsame Blüten.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
PROLOG 1943
Die Bahn
UNTERNEHMEN VINCENT 1996
„Sei bereit!“
Der Anruf
Der Kontakt
Der Bericht
Zwei Kisten
Der Schatz
Die Niederlage
Der Maler
Besuch bei van Gogh
Der Frachtbrief
Der Zeuge
Die Vorbereitung
Der Favorit
Die Villa
Das Angebot
Der Diktator-Jäger
Die Verstärkung
Die Liste
Das Trio
Der Grieche
Die Analyse
Die Petro-Millionäre
Das Fabelwesen
Die Grenze
KUNST-KRIEG 1939-1945
Millionen Beutestücke
Der Schicksals-Monat
Die Enttäuschung
Die Schlinge
Die Prüfung
Das Versteck
Die Heimkehr
Die Vertraute
Der Aufbruch
Das Meeting
Die Falle
Die Entdeckung
Die Recherche
Die Spürhunde
Die Überraschung
Der Showdown
Das Orakel
Der Katzenjammer
Die Ablenkung
Der Art Lover

Codename Göring-Schatz:

Die Spur der Bilder

Thriller um Beutekunst, Gier, Moral und Liebe

Von Diana A. von Ganselwein

Dieses Buch ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung von „ART NAPPING”

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (insbesondere durch elektronisches oder mechanisches Verfahren, Fotokopie, Mikroverfilmung oder Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Ausgenommen davon sind kurze Text-Zitate in Rezensionen.

Impressum:

IGK-Verlag

7100 Neusiedl am See, Österreich

Copyright © 2015

ISBN: 9783958494220

Fotos: © Bergringfoto-Fotolia.com, Engel-Fotolia.com

Vorwort

Dieser Thriller um Beutekunst, Gier, Moral und Liebe beruht größtenteils auf wahren Begebenheiten. Die Stationen der Hauptperson Harry König – Ibiza, Leipzig, München, Cannes, Paris, Kitzbühel, Salzburg, Berlin und schließlich Athen – sind ebenso wirklich wie der Frachtbrief zur Internationalen Eisenbahnbeförderung der Deutschen Reichsbahn vom 26. Juli 1943.

Dieses vierseitige Dokument begleitete zwei voluminöse Kisten aus Holz auf einer ungewöhnlichen, wochenlangen Reise mitten durch Kriegsgebiet an eine seltsame Adresse in Athen. Ihr Inhalt, an die hundert Kunstwerke hauptsächlich im Stil der französischen Impressionisten, stellt fast ein halbes Jahrhundert später ihren Finder vor riesige Probleme. Warum er glaubt, dass sie für ihn der Held dieser Geschichte lösen wird, soll diese Schilderung erklären.

Harry König hat bis zu einem bestimmten Tag im September 1996 weder von Beutekunst, noch vom Göring-Schatz konkrete Vorstellungen. Vielleicht die beste Voraussetzung, um sich auf ein Abenteuer mitten unter uns, wie es sich kaum jemand ausdenken könnte, einzulassen. Und zwar mit jener Leichtigkeit, die gefragt ist, wenn die Grenzen von Gier, Macht, Moral und Liebe verschwimmen.

Ja, Kunst-Liebe treibt seltsame Blüten.

PROLOG 1943

Auf diesen Schienen fuhr einmal der Orient-Express. Zum ersten Mal seit Stunden dachte der schlaksige Kerl mit den Dienstgradabzeichen eines Oberleutnants nicht an den Befehl. Im Südwesten stand die Sonne bereits hoch über den Karawanken. Die Luft war kühl bei dreiundzwanzig Graden. Über den Bergen stiegen tiefe und mittel hohe Wolkenschichten bis in siebentausend Meter Höhe. Altokumulus. Stratokumulus. Dunkle Anhäufungen in ihrer Mitte erinnerten Einheimische an die Wahrscheinlichkeit nachmittäglicher Sommergewitter. Doch dem Oberleutnant und seinen Leuten, die alle nicht aus Kärnten stammten, blieben diese meteorologischen Fingerzeige verborgen. So verwunderte es sie auch nicht, dass es trocken blieb an diesem Montag, den 26. Juli 1943.

Es war, als wollte die Natur dieser Fracht auf der offenen Ladefläche des Opel Blitz keinesfalls einen Schaden antun – so wie die beiden Kisten auch die kommenden Wochen auf seltsam unerklärliche Weise unbeschadet überstehen sollten.

Jetzt dämmerte ihm langsam, wie wenig durchdacht diese Aktion anscheinend war. Oder ihr lag eine Logik zu Grunde, die sich ihm nicht erschloss. Da hatten er und seine Männer am Morgen im Schloss Kleßheim nahe Salzburg zwei grau lackierte Kisten aus Holz übernommen und über Alpenstraßen zweihundert Kilometer in Richtung Südgrenze der Ostmark hierher transportiert. Gestartet auf dem streng bewachten Gelände des Führergästehauses im Gau Salzburg und befehlsgemäß bei einem kleinen Spediteur hinter Villach eingeliefert.

„Franz WELZ. Internationale Transporte. Rosenbach“ stand auf dem Schild an der Vorderfront des Lagerhauses am Güterbahnhof.

Ein Eingeweihter hätte nicht nur seinen Dienstgrad, Oberleutnant, sondern auch seine Truppe richtig zugeordnet. Waffenfarbe Ocker: Luftnachrichtenkorps. Der Buchstabe Y auf der Schulterklappe signalisierte noch Genaueres: Wachbataillon der Luftwaffe Berlin. Und über allem der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches, Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe.

Aber über solche Feinheiten wusste hier keiner so genau Bescheid.

Rosenbach, ein unbedeutendes Dorf am Südrand von Kärnten.

Keine sieben Kilometer weiter südlich begann Jugoslawien. Dazwischen die kühn emporstrebenden Kalkschroffen und die steil abstürzenden Wände der beiden Mittagskogel. Genau bis dahin reichte jetzt die mäßige Sicht. Nur der Tunnel der Bahn durchbrach hier diesen Wall, die Südgrenze der Alpengaue.

Den Transporteur hatte Berlin ausgesucht, so wie auch alles andere dort bestimmt wurde.

Franz Welz wartete erkennbar schon auf die Lieferung. Er stellte keine einzige Frage. Offensichtlich war er über alles Weitere informiert. Das war auch gut so. Der Oberleutnant wusste nur den Namen dieser Transportfirma und wo er sie zu suchen hatte. Was mit den beiden Kisten geschehen sollte, wusste er nicht.

Seine Männer hoben sie von der Ladefläche, und alles andere war jetzt die Aufgabe des Spediteurs. Dessen Mitarbeiter setzten die Frachtstücke auf einen massiv gebauten Handwagen, den sie zur Wiegestation zogen. Gewogen wurde alles zusammen. Der Wiegemeister subtrahierte vom Ergebnis das Gewicht des Wagens, das er offensichtlich kannte, und schrieb „230,- Kilo“.

Jetzt konnte der Frachtbrief ausgestellt werden.

Der Firmeninhaber selbst spannte unter den Augen des Oberleutnants das vierseitige Formular Internationale Eisenbahnbeförderung mit dem Stempel Deutsche Reichsbahn in die Schreibmaschine und tippte ein Dutzend Vermerke ein. Ein kritischer Beobachter hätte Ungereimtheiten erkannt. Aber der Oberleutnant schaute, falls überhaupt, eher desinteressiert zu. Er erwartete nur noch die Aussage: „Erledigt!“

Seltsam. Als Absender trug der Transporteur sich selber ein: „Franz Welz“. Als sei er der rechtmäßige Eigentümer der Kisten. Unter „Bezeichnung des Gutes“ schrieb er: „elektr. Artikel, wie Läutewerke & Isolierstofftaster.“ Also spezielle mit Strom betriebene Klingelapparate, wie sie zum Beispiel an beschrankten Bahnübergängen warnen, dazu offensichtlich Schaltelemente. Woher Herr Welz den Inhalt der Kisten kannte, blieb sein Geheimnis. Das muss Teil der aus Berlin erhaltenen Anweisungen gewesen sein. Darunter setzte er jetzt die Erklärung „Zur Ausfuhr über die Trockene Grenze nach außerdeutschen Ländern“. Unter „Transportmittel“ konnte es sich nur um einen Fernzug der Reichsbahn handeln. Der Spediteur formulierte zügig „DD Pommern II“. Und auch für die Rubrik „Wegevorschrift“ benötigte er nicht eine einzige Sekunde des Nachdenkens, als würde er eine seit hundert Jahren bestehende Bahnlinie anführen. Assling - Brückel - Zemun – Devdelija. Namen, die der aus Norddeutschland stammende Oberleutnant noch nie gehört hatte, und die auch erst von 1938 an verwendet wurden.

Genauso gut hätte Welz auch die internationale Bezeichnung der Stationen entlang der gewählten Route anführen können. Zagreb, der von mehreren Bahnen umschlossene Knotenpunkt, bald dahinter Brückel. Belgrad, wo bei Zemun die Ebene der Save mit der Großartigkeit der Donaulandschaft konkurriert. Die serbische Grenzstation Cevcelija. Und schließlich Thessaloniki, schon Griechenland.

Als Letztes tippte der Firmeninhaber ein, an wen die Sendung ging. „An“ stand auf dem Formular, und er ergänzte: „die Banque de Chio S. A. Athen/Griechenland“.

Wirklich ein internationaler Transport. Über weit mehr als tausend Kilometer. Großer Aufwand für 230 Kilogramm elektrische Klingeln und Klingelknöpfe. Vor allem: ungewöhnliche Fracht an eine Bank.

Im Lager der Spedition sah der Oberleutnant die eingelieferten Kisten zum letzten Mal. Sie schienen sehr stabil, anscheinend aus dickem, mehrschichtigem Sperrholz hergestellt. Auf den Millimeter exakt gezimmert. Neuwertig, kaum eine Gebrauchsspur. Als seien sie extra für diese Fernfahrt angefertigt. Mehr als einen Meter lang, gut 80 Zentimeter breit und nur wenig höher. Es waren seltsame Konstruktionen. Ihre Deckel waren nicht aufklappbar, sondern steckten links und rechts in Führungsschienen. Geöffnet wurden sie durch Herausziehen, wie die Ausziehplatte eines Esstisches. Aber an ein Öffnen war nicht zu denken.

Vier Metallklammern - zwei an jeder Längsseite - pressten die verschiebbaren Deckel fest an die Kiste. Jede Klammer war durch ein massives Vorhängeschloss gesichert, wie es der Oberleutnant noch nie gesehen hatte. Wer sie öffnen wollte, musste erst eine dreistellige Zahl einstellen. Viermal!

Die eigentlichen Behälter waren in dunklem Grau lackiert. Ihre Deckel in einem etwas helleren Ton.

Zwischen drei und vier Uhr war jetzt alles erledigt. Und was war das Ergebnis dieser Blitzaktion? Erst in drei Tagen hielt wieder ein Fernzug der Deutschen Reichsbahn auf der Schräg-Achse von Berlin über Leipzig, Hof, München, Salzburg und Villach durch den Balkan nach Athen.

Mangelhafte Koordination. Aber das war nicht sein Problem.

Der Oberleutnant stieg in den Opel Blitz und gab seiner Eskorte das Zeichen zur Abfahrt.

Was macht eine Bank in Athen mit elektrischen Läutewerken?

Wie erfährt der Empfänger die für das Öffnen notwendigen Zahlenkombinationen? Und so einen Transport lotsen wir durch heftigst umkämpftes Feindesland?

Das waren die Fragen, die er sich stellte.

Herr Welz kam aus seinem Büro, wünschte eine gute Rückfahrt. Wärmstens empfahl er die Goldforellen, eine Spezialität der Karawanken, im Gasthof gegenüber der Kirche. Beide wussten: Für ein Mittagessen war es genau so zu spät wie für ein Abendessen zu früh.

An Sommertagen wie jenem türmen sich hier Silberwolken hoch auf. Die ganze Landschaft zittert in gelblichen und violetten Tönen. Ein so prachtvoller Anblick wie dieser aus Norden auf die von der Sonne rot glühend angehauchten Karawankengipfel findet sich im gesamten Alpenraum nicht wieder. Die Regionen südlich der Gebirgszüge gehören bereits zum Stromgebiet der Donau, wo das kroatische Bergland zur ungarischen Tiefebene übergeht. Während im Westen die Gebirgsrücken des Karstes das Land vom nahen italienischen Küstenland und dem Meer trennen.

Alles, was eine Landschaft an Anmut bieten kann, ist hier vereint: Saftige Wiesen, heil bringende Quellen, fruchtbare Äcker, liebliche Hügel, steile Wände, prachtvolle Besitztümer, hochstämmige Wälder, schmucke Dörfer. Da blühen an Schutthalden die keusch-weißen Triglav-Rosen. An einsamen Weilern äst die goldgehörnte Gämse, das Wappen- und Sagentier Zlatorog.

Aber für all das hatte der Oberleutnant keine Antenne.

Drei Tage lang kümmerten niemanden die beiden Kisten im Speditionslager Welz. Am Donnerstag kam aus Nordwesten der erwartete Zug der Deutschen Reichsbahn und hielt in dieser letzten Station im Reichsgebiet. Die Kisten wurden verladen. Zuvor erhielt der Frachtbrief zusätzlich zu den zahlreichen amtlichen Vermerken jetzt auch mehrere tagesaktuelle Stempel. Für Verladung, zollamtliche Abfertigung und dergleichen. Insgesamt vier. Jeder mit dem Datum „29. 7. 43.“ Es waren die ersten, denen eine ganze Fülle folgen sollte. Allesamt amtliche Beurkundungen einer wahrhaft ungewöhnlichen Beförderung.

Dann verschwand der Zug mit seiner Fracht im Karawankentunnel.

Die Bahn

Gleich hinter dem Tunnel schwenkte die Dampflok ostwärts in den Schienenstrang der Rudolfs-Bahn von Tarvisio im nördlichsten Teil des Friaul-Julischen Venetiens nach Laibach, der slowenischen Bistumsstadt Ljubljana. Aus dem Gerippe der Gebirgsgruppe steigen kahle Gipfel bis zu beeindruckender Höhe empor. Dazwischen stille Hochtäler mit Almen und Matten, da und dort vom Silberglanz kleiner Seen verklärt. Unter den öden Karen und Felswällen öffnen sich, von Wäldern verdunkelt, mit Bächen und Wasserstürzen die Seitentäler der Save. Schneefelder schimmern bis jetzt in den Hochsommer hinein. Hohe Dämme und prachtvolle Eisenbahnbrücken durchschneiden die Landschaft. Wie Spielzeug liegen verstreute Anwesen der Strecke zu Füßen.

Nach weniger als einem Dutzend Kilometern, schon an der ersten, im Frachtbrief erwähnten Station, Assling, wurde die Fahrt unterbrochen. Zollkontrolle der S.H.S (für Serben, Kroaten, Slowenen). Neu hinzugefügte Stempel auf dem Frachtbrief erzählen ein eigenartiges Detail. Es dauerte Tage, bis entweder dieser Zug DD Pommern II mit den Kisten weiterfuhr oder sie einem anderen, südöstlich fahrenden Zug anvertraut wurden. So erreichte die seltsame Fracht erst am 6. August die kroatische Hauptstadt Zagreb.

Ganze acht Tage für die ersten 160 Kilometer!

Erneut ein Zollstempel, mit dem Wort Clavna, Hauptbahnhof. Wieder ein geheimnisvoller Aufenthalt, ehe sie mit welchem Zug auch immer nach Zemun geschafft wurden. Dort, auf dem Zollbahnhof, landeten sie schließlich in einem Waggon der Griechischen Staatsbahn. Irgendwann ging es weiter. Endlich wurde am 28. August mit dem deutschsprachigen Stempel „Güter Bahnhof Gevgeli“ die südlichste serbische Zollstation auf dem Frachtbrief verewigt. Seit der Einlieferung in Rosenbach waren dreiunddreißig Tage verstrichen.

Erst vier Fünftel der Entfernung waren zu diesem Zeitpunkt bewältigt - allerdings die gefährlichsten. Überall entlang der Strecke konnte der Zug auf erbitterten Widerstand jugoslawischer Freiheitskämpfer stoßen.

Aus all dem darf vermutet werden, dass dieser DD Pommern II und auch die anderen am Transport beteiligten Züge ganz besonderen Regeln gehorchten. Oder dass der Spediteur Welz dieser eigenartigen Fracht seine größte Aufmerksamkeit und seine beste Sorgfalt zuteil kommen ließ. Immer wieder mal wurden die Kisten in ausgewählten Bahnstationen wie von Geisterhand aus ihrem Packwagen geholt und zurückgehalten, bis ihre weitere Beförderung opportun erschien. Vermutlich hat der Firmeninhaber in Telefonaten mit Helfershelfern entlang der Strecke selbst die Entscheidung zur jeweiligen Unterbrechung und zum neuerlichen Aufbruch gefällt.

Er hatte allen Grund zur Vorsicht. Mehr als siebenundzwanzig Monate davor, im April 1941, war Jugoslawien von deutschen Truppen gestürmt und erobert worden. Die meisten Regionen waren als Folge dessen seit über achthundert Tagen und Nächten Schauplatz entsetzlicher Ereignisse. Besonders im Gebirge leisteten Partisanen lange erbitterten Widerstand. Die Wehrmacht antwortete mit grausamer Erpressung. Zum Beispiel erschossen deutsche Soldaten als blutige Vergeltung in der Hauptstadt Belgrad zu Hunderten reiche, angesehene, einflussreiche Bürger. Aber die Guerillagruppen rekrutierten mehr und mehr von Vaterlandsliebe erfüllte Anhänger, die kaum mehr zu verlieren hatten als ihr Leben. Sie schreckten vor nichts zurück, und kein Feindesterror machte sie schwankend. In diesem Sommer 1943 standen in Jugoslawien dreiunddreißig deutsche Divisionen nahezu auf verlorenem Posten, da verzweifelte Serben, Kroaten und Slowenen den Okkupanten immer wieder großen Schaden zufügen konnten. Im Adriaraum gelang ihnen unter ihrem Anführer Josip Broz Tito sogar die Entwaffnung großer Teile der italienischen Armee.

Gerade in jenen fünf Wochen, als in einem Güterwaggon der Deutschen Reichsbahn zwei Kisten Stückgut auf die Fahrt von Südkärnten nach Athen geschickt wurden, kämpften dank der neu erbeuteten Waffen mehr als 200.000 Mann verstärkt um die Rückeroberung ihrer verlorenen Heimat.

So war es unter diesen Umständen entweder beispielloses Glück oder eine herausragende Meisterleistung, dass die seltsame deutsche Fracht durch Feindesland unversehrt an die griechische Grenze kam.

Von dort waren es noch mehr als 200 weitere Kilometer mit neuen Ungewissheiten und Risiken. Griechenland war formal ebenfalls seit dem Frühjahr 1941 von den Deutschen besetzt. Die Hauptstadt und den wichtigsten Umschlaghafen, den Piräus, hatten die Angreifer unter Kontrolle. Die reguläre Armee des Königreichs war vernichtet. Doch mit Waffen, rechtzeitig im Gebirge versteckt, formierte sich, vor allem im Norden des Landes, Widerstand wie in Jugoslawien. Die Freiheitskämpfer von Hellas vereinten sich zu einer Nationalen Befreiungsfront.

Auch die Alliierten hatten besonderes Interesse, gerade hier im Sommer 1943 die Sabotagetätigkeit gegen die deutschen Besatzer zu verstärken. Ein Ablenkungsmanöver. Der Feind sollte glauben, dass der Gegner eine Befreiungsaktion auf dem griechischen Festland plane, während in Wahrheit eine südliche Adriainsel für eine Invasion alliierter Truppen vorgesehen war. Eine britische Militärmission sprang per Fallschirm in Mittelgriechenland ab und schloss sich den Freischärlern an. Ihr strategisches Ziel war die Hauptbahnverbindung aus dem Deutschen Reich nach dem Piräus, dem Brückenkopf für die Türkei, den Suezkanal und Nordafrika. Über diese zwei blank geschliffenen Schienenbänder rollte Tag und Nacht der Nachschub für die Truppen der deutschen Wehrmacht.

Den ganzen August 1943 hindurch gelangen den Widerstandskämpfern mit Unterstützung britischer Geheimdienstoffiziere folgenschwere Sabotagekommandos. Erst sprengten sie ein Viadukt der Hauptbahn nach Athen, dann mehrere Stellwerke und eine Reihe strategisch wichtiger weiterer Brücken. Täglich drohten neue Angriffe.

Dennoch brachte zu einem nicht überlieferten Zeitpunkt, frühestens in der ersten Septemberwoche, die Griechische Staatsbahn nach einer neuerlichen Zollabfertigung in Idomeni die beiden weit gereisten Stückgüter unversehrt zum von den Deutschen beherrschten Nordbahnhof Athens an der Konstantinoupoleos-Straße.

Ende eines mehrwöchigen Bahnabenteuers.

Jetzt blieb noch das allerletzte Teilstück zur Bank in die Athener Innenstadt. Acht harmlose Kilometer.

Mission erfüllt, konnte Herr Welz meinen.

In der Tat deutete nichts darauf hin, dass sich im folgenden Schicksal dieser Frachtstücke aus grau lackiertem Sperrholz und ihrer merkwürdigen Fracht auch die weitere Geschichte Europas widerspiegeln würde. Jahrzehntelang. Wie in einem Brennglas, mit zeitweilig kaum zu ertragender Hitze ...

UNTERNEHMEN VINCENT 1996

„Sei bereit!“

In dem weißen Alfa Romeo saßen zwei Männer. Nichts Ungewöhnliches in der Sharonebene. Hier fährt kaum einer allein. Der nördliche Zentraldistrikt ist nicht gerade berühmt für pulsierenden öffentlichen Nahverkehr. Der Staat Israel hat andere Prioritäten.

Die fantastischen, vitalen, jungen Leute aus dem Camp Muto Gur wussten das. Für keinen ein Problem. Blind konnten sie auf die nationale Ehrenpflicht setzen. Jeder fand immer ein Auto, das ihn mitnahm.

Die junge Soldatin gab ein kurzes Zeichen.

„Tel Aviv?“ fragte sie.

„Steig‘ ein.“ Sie öffnete die hintere Tür an ihrer Seite und glitt auf den Sitz. „Oder sogar Rehovot?“ fragte sie jetzt.

„Mal schauen.“ Der Mann am Steuer antwortete wieder prompt. Sie sah kein Lächeln in seinen Augen.

Nach Süden waren es auf dieser Straße von Kfar Monash über Pardesiya in Sichtweite der Mittelmeerküste keine dreißig Kilometer bis Tel Aviv und Jaffa, der Doppelstadt. Von da ans eigentliche Ziel, Rehovot, blieb nur noch eine kleine Etappe.

In keinem anderen Land der Welt wäre sie zu zwei Fremden in ein Auto gestiegen. Hier, praktisch noch in Rufweite ihres Camps, war das anders. Jedes Mitglied der Israelischen Verteidigungsstreitmacht steht unter einem ideellen Schutz. Es sind diese Männer und Frauen in Uniform, die durch Entschlossenheit und Improvisation den Staat Israel am Leben erhalten. Sie repräsentieren alle Schichten der Gesellschaft. Möglicherweise gehörten die beiden auf den vorderen Sitzen ebenfalls zu einer Task Force. Überraschen würde sie das nicht.

Sie fühlte die prüfenden Blicke. Der Fahrer musterte sie im Rückspiegel. Der andere drehte sich immer wieder um. Keiner sagte einen Ton. Aha, dachte sie, die zwei haben Zeitungen gelesen. In der Armee gab es an diesem Tag nur ein Thema. Infektionen mit Chlamydia trachomatis bei Soldatinnen der israelischen Armee. Die Studie einer Epidemiologin mit dem vertrauenserweckenden Namen Charlotte Gaydos von der berühmten Johns Hopkins University. Diese bakterienähnlichen Mikroben verursachen eine überaus häufige Geschlechtskrankheit, bei Männern wie bei Frauen, übertragen durch ungeschützten Verkehr. Betroffen: praktisch alle Völker der Erde. Allein in Deutschland eine geschätzte halbe Million Infizierter. Und wie und wo sammelte die Wissenschaftlerin Gaydos die gewünschten Informationen? Bei Soldatinnen der israelischen Armee, wegen ihrer statistisch nachgewiesenen überdurchschnittlich hohen sexuellen Aktivität mit häufig wechselnden Partnern.

Sie erinnerte sich der Bemerkungen darüber heute im Camp und stellte mit Genugtuung fest: Rot wurde sie nicht, während sie mit den beiden Fremden dem Zwischenziel Tel Aviv entgegenfuhr. Mochten sie doch von ihr halten, was sie wollten.

Nach anfänglichem Zögern lehnte sie sich entspannt zurück. Langsam streifte sie seitwärts die Uniformkappe vom Kopf, und die Bewegung, mit der sie das tat, hätte einem intelligenten Beobachter verraten können, dass sie von den beiden eine bestimmte Reaktion erwartete. Nicht etwa, weil sie das gewollt hätte. Jetzt wollte sie nur in Ruhe nach Hause gefahren werden. Die beiden waren ihr ziemlich gleichgültig. Nein, sie erlebte immer das Gleiche, wenn sie unter den Augen fremder Männer, die sie dabei noch nie beobachtet hatten, ihr schwarzes Haar befreite und gleichsam der Erdanziehungskraft preisgab. Es reichte jetzt, während sie saß, fast bis zu ihren Hüften.

Als bräuchte er eine solche Geste von Vertrautheit zur Ermunterung, sagte der Mann am Steuer jetzt: „Dein Kommandant weiß Bescheid.“

Schon wieder Ende.

Jeder konnte zu ihr einen solchen Satz sagen. Das war kein Kunststück.

Sie trug Uniform. Das Straßenbild in der Region um Netanya war geprägt von der Dominanz der jungen Leute aus dem nahen Camp.

Bestenfalls wäre es interessant zu wissen, von welchem Kommandanten er sprach. Der Brigadegeneral der Basis war noch nicht so lange auf seinem Posten. Der Vorgänger, Generalleutnant Mordechai Gur, erschoss sich in seinem schweren Krebsleiden mit der Dienstwaffe. Danach wurde der Brigadestandort für Infanterie und Luftlandetruppen nach ihm benannt. Das alles ereignete sich erst in den letzten Monaten. Ziemlich aufregend. Aber der Neue kannte sie kaum.

Eher meinten die wohl den kommandierenden Colonel ihrer Einheit. 35. Paratroopers Brigade. „Viper“. Alle vier Fallschirmjäger-Units sind nach Giftschlangen benannt. Das rote Abzeichen mit einer züngelnden gelben und geflügelten Schlange sollte jeder kennen.

Wie auch immer. Das Set-up des Dialogs, falls dieser Austausch knappster Worte so bezeichnet werden darf, behagte ihr nicht. Und schon gar nicht diese Pausen. Offensichtlich wurde der nächste Wortbeitrag von ihr erwartet. Nun, das konnten die beiden bekommen.

Mit der Erwähnung ihres Vorgesetzten machten die beiden klar, dass sie Diener des Staates waren, so wie sie eine Dienerin. Die beiden hätten Brüder sein können: Anfang vierzig, mittelgroß, untersetzt, und man würde sie sich eher im Außeneinsatz vorstellen als an irgendwelchen Schreibtischen. Das engte die Möglichkeiten ziemlich ein.

Eine Ahnung ließ sie eigentlich daran denken, den Kopf zur Seite zu drehen und aus dem Wagenfenster zu schauen, schweigend. Ihr missfiel der Anlass, der Ort, der Ablauf – lieber würde sie über was auch immer im Büro des Colonel befragt oder instruiert werden, und sie hielt auch den Zeitpunkt für völlig ungeeignet. Aber zittrig sein, nein. Die unausgesprochene Vorgabe lautete offensichtlich: wortkarg.

Sie akzeptierte und hörte sich bloß sagen: „HaJechida?“ Und nach kurzer Pause, da keine Antwort kam: „HaMosad?“

„Ja“, sagte der Beifahrer. Sein erstes Wort übrigens. Es konnte sich nur auf die zweite Frage beziehen.

Mossad heißen mehrere jüdische Organisationen, unter anderem jene für die Organisation der Immigration aus allen Erdteilen nach Palästina. Aber in diesem Zusammenhang kam nur eine in Frage.

Das Institut, amtlicher Name Mosad Merkazi leModi’in uLeTafkidim Mejuchadim, Institut für Aufklärung und besondere Aufgaben, ist der Auslandsgeheimdienst ihres Staates, am ehesten vergleichbar mit der amerikanischen Secret Intelligence Agency, C. I. A., dem Secret Intelligence Service, S.I.S., dem britischen Auslandsgeheimdienst, kurz MI6 genannt, oder dem Bundesnachrichtendienst, B.N.D., der Bundesrepublik Deutschland.

Aber ernsthaft verglichen wollte und konnte kein Geheimdienst der Welt mit seinem israelischen Counterpart werden. Dessen rechtliche Befugnisse sind in der Praxis unbeschränkt. Das Institut agiert als verlängerter Arm der Regierung. Auch mit Gewalt und unter Verletzung internationaler Rechte. Spionageaktionen, Koordination mit anderen Geheimdiensten, Sabotage, Anschläge, paramilitärische Operationen, Propaganda, Täuschung, Geheimberichte aus fünfzehn verschiedenen Regionen sowie eine eigene Abteilung für Atomwaffen, gebildet aus dem früheren Geheimdienst Lakam. Fast alles ist top-secret, auch die Zahl der Mitarbeiter. Geschätzt wird sie auf 1.200. Das scheint zu reichen, denn der Dienst kann weltweit auf freiwillige und ehrenhafte Helfer zurückgreifen, Sajanim.

Auch beim Mossad hatte gerade wieder eine Stunde Null begonnen. Erst konnte der Dienst im November 1995 in Tel Aviv, nur wenige Kilometer von hier, die Ermordung des israelischen Premierministers Jitzhak Rabin nicht verhindern. Dann folgten verschiedene Fehlschläge, und der nur unter dem Buchstaben „S“ bekannte Generaldirektor – inzwischen weiß jeder, dass er Schabtai Schawit hieß -, musste zurücktreten. Der jetzige Mossad-Chef, seit dem 24. März 1996, ist der erste, dessen Name schon während der Amtszeit bekannt ist: Dani Jatom. Unter ihm soll alles viel cleverer ablaufen. Dramatische Neuaufstellung. Mehr Einsatz von Ansässigen im Zielland einer Operation, sichere Wohnungen und Bereitstellung von Transportmitteln durch Sajanims, noch bessere Informationen. Und natürlich frisches Blut.

Die Herausforderung ist groß. Schon die Armee selbst ist in der Aufgabe, die engen Grenzen der Heimat zu verteidigen, auf die kompromisslose Maximierung ihrer beschränkten Mittel ausgerichtet. Sie ist ein Schmelztiegel für Israeli wie für jüdische Immigranten, eine Leistungsgesellschaft, in der beinahe jede Führungskraft sich von unten hochgedient hat, und eine Erziehungseinheit nebenbei. Team für Team repräsentiert die gesamte Bevölkerung in allen Schichten, religiöse und nicht religiöse, aus Kibbuzim, Drusen, Beduinen. Jeder Angehörige ist verpflichtet, persönliches Vorbild zu sein. Vorgesetzte führen von vorne. Berühmt ist der Kampfruf „Aharai“ – mir nach. In keiner anderen Armee fallen, im Vergleich zu gewöhnlichen Soldaten, so viele Offiziere.

Einzelne Armeeangehörige entwickeln hochtechnische Fähigkeiten, in ballistischer Physik, in Kommunikation und sind nach dem Ausscheiden aus dem Dienst weltweit umworben.

Israel ist der einzige Staat mit Wehrpflicht auch für Frauen. Sein Sicherheitsradius wächst ständig und reicht bis in den Iran. Die Armee braucht wahrlich jede einzelne Person. Männer dienen drei Jahre, Frauen zwei. David Ben Gurion fand dafür diese Worte: „Solange Frauen in der Erfüllung dieser Pflicht nicht Männern gleich sind, haben sie wahre Gleichheit nicht erreicht.“ Nur während des Unabhängigkeitskrieges 1948 dienten Frauen auch in Kampfeinheiten. Jetzt spezialisierten sie sich auf Ausbildung und Training. Die wenigen Israeli, die sich vor ihren Pflichten erfolgreich drücken, sind physisch oder psychisch nicht in der Lage, sind verheiratete Frauen, sind allein erziehende Mütter, oder sie leisten wegen eines streng-rituellen Rechtsstudiums ihren Dienst an der Nation auf sozialem Gebiet.

Das alles schoss ihr durch den Kopf. Immer noch Pause.

Sie näherten sich einem Parkplatz – Aussichtspunkt mit fantastischem Blick aufs Mittelmeer. Der Fahrer verlangsamte das Tempo und sagte: „Hier können wir reden.“

Sie wussten alles. Phoenicia Herzog. Noch nicht sechsundzwanzig. Geboren 1970 in Rehovot im Süden von Tel Aviv. Sternzeichen Schütze, Aszendent Löwe – doppeltes Feuerzeichen. Die Eltern ein Journalist und eine Architektin aus Glignancourt. Der Großvater mütterlicherseits, ein Kunsthändler aus Glignancourt, wurde nach Auschwitz deportiert und starb. Seine Witwe, eine Kunsthändlerin, erkaufte sich mit impressionistischen Gemälden Ausreisepapiere. Sie verließ Frankreich und erreichte auf Umwegen Palästina.

Das Wichtigste hatten sie vom Leiter der Airborne Unit, der 35. Paratroopers Brigade, erfahren. Unter allen Ausbildern und Absetzern war sie die Intelligenteste, die Mutigste, die Fitteste – und die Schönste.

Man mochte sich diese zierliche Person integriert in ein riesiges Rundkappen-Fallschirmsystem kaum vorstellen. Aber der Colonel ließ keinen Zweifel: Phoenicia war bei jeder Übung die Beste. Aufklärungseinsatz mittels Zielsprung im Freifall mit manueller Öffnung, Absprung größerer Einheiten mit automatischer Öffnung, hohe Absetzhöhe, hohe Öffnungshöhe, HAHO, ebenso wie HALO – High Altitude, Low Opening – langer Fall mit niedriger Öffnungshöhe. Ihr Kommandant zitierte alle ihre international anerkannten Lizenzen: FAI B, USPA, BPA.

Und doch schien etwas völlig anderes den Ausschlag gegeben zu haben, warum die beiden im Alfa Romeo bemüht waren, gerade sie wie zufällig am Straßenrand zu sichten.

„Wir sahen dich im Bikini.“

Netanya liegt knapp acht Kilometer westlich der Basis. Hauptstadt der Sharonebene. Sehr modern und vibrierend. Bunte Shopping City. Aber die jungen Leute zieht es vor allem zu den Cafés an den kilometerlangen Stränden.

„Irgendwann kommt eine Aufgabe. Dann brauchen wir alle deine Fähigkeiten. Nicht zuletzt deine Schönheit. Sei bereit.“

Ganz coole Typen. Das ergab das weitere Gespräch. Sie hatte die Männer falsch eingeschätzt. Keine Anzüglichkeit in Richtung Chlamydien. Besser so.

Aber zunächst war ihre Geduld gefragt. Das war nicht gerade ihre Stärke.

Der Anruf

Ibiza macht neidisch. Wer auf dieser Insel sein Leben genießen darf, ist sich dessen bewusst. Damit hatte nicht im Geringsten zu tun, dass in das Mikrofon eines Handys mit einer Nummer aus dem deutschen D-2-Netz (0172 96068 … und zwei folgende Ziffern, die verschwiegen werden dürfen) eine Männerstimme tiefer, aber mit fröhlich klingender Klangfarbe ein begeistertes „Ja, ein wunderschönes Hallo!“ rief.

Harry König antwortete in der Regel auf jeden Anruf so, nicht nur auf der Baleareninsel. Ob in München, ob in Rio, ob in Leipzig - immer. Nicht eine Sekunde vergeudete er davor für einen Blick auf das Display. Stets in Erwartung einer möglicherweise sehr angenehmen Neuigkeit. Und sofort bereit, ein herzliches „Ja, Servus!“ nachzusetzen, sobald der Anrufer sich in der Tat als einer seiner unzähligen Freunde entpuppte.

An solchen lebenslustigen, wohlhabenden, etwas ungewöhnlichen Kontaktpersonen mangelte es ihm wahrlich nicht, diesem irgendwie an Ernest Hemingway erinnernden Berliner, gedrungen, muskulös, mit überwiegend bedächtigen Bewegungen, Anfang fünfzig, in ständigem Kampf um eine noch als gestählt geltende Figur.

Nicht wenige in seinem Bekanntenkreis sahen ihn als eine Art Glücksbringer, offensichtlich erst einmal für ihn selbst, der ohne feste Beschäftigung, ohne erkennbare Verpflichtungen und ohne eine stetig sprudelnde Geldquelle dennoch ohne die geringsten Sorgen schien. Darüber hinaus fungierte dieser beneidete Zeitgenosse als positiv bestrahltes Maskottchen für den einen oder anderen besonders Wohlhabenden in seiner Clique. Reiche Menschen, die bei allen Unterschieden doch der Wunsch einte, so lässig wie er in den Tag hineinzuleben und dabei scheinbar magnetische Wirkung auf junge, schöne und vorzugsweise exotische Frauen auszuüben.

„Harry“, pflegten sie zu seufzen, „ich kann mir deine Art zu leben nicht erlauben, habe dafür zu viel um die Ohren, aber wenn du in meiner Nähe bist, werde ich wenigstens positiv daran erinnert, wie schön mein Leben eigentlich sein sollte.“

Das sind die Typen, die ihm eine Villa in Kitzbühel, eine Penthousewohnung in Antalya oder wie jetzt einen in der Marina Botafoch, dem neuen Jachthafen der Schönen und Reichen auf Ibiza, festgezurrten Rennsegler als Domizil anbieten – gegen das Versprechen, wenigstens so lange zu bleiben wie sie selbst.

An jenem 24. September 1996, einem Dienstag, zwischen vier und fünf Uhr, an Bord dieser Jacht, erkannte er die Stimme, die er vernahm, auf Anhieb.

König hörte das für einen Südeuropäer typische, aber erstaunlich flüssige Deutsch, irgendwie im harten Alltag zwischen Darmstadt und Leipzig selbst beigebracht. Die Worte wurden anscheinend aufgeregt ausgestoßen. Gleichzeitig schien der Anrufer durchsetzend und offensichtlich entschlossen, sich in seinem Impetus nicht stoppen zu lassen.

Es ging aus seiner Sicht um etwas wirklich Wichtiges.

Der Anrufer war Grieche. Lagis Magoulis. Sie kannten sich aus dem Lokal, das er in Leipzig eröffnet hatte. „Taverna Ägäis“. Sofort nach dem Fall der Mauer hatte er in den neuen deutschen Bundesländern all sein Erspartes riskiert. Sein Restaurant war das erste seiner Art in den neuen Ländern, dessen Speisekarte wagemutig mit Gigantes, Tsatsiki, Souvlaki, Stifado und dem unverzichtbaren Baklavas wagemutig gegen die Klassiker aus der Küche der abgewählten Deutschen Demokratischen Republik ankämpfte. Den späteren Bestseller „Essen wie Erich“ mit der Auflistung sämtlicher Gänge aller Festbankette des Ostberliner Regimes kannten die Bürger in der neuen Freiheit zwar noch nicht, aber das Wissen, dass es neben Spreewälder Buttermilchsuppe, Jägerschnitzel mit panierten Jagdwurstscheiben und Leutewitzer Eierschecke weitere kulinarische Highlights gab, hatte sich bereits durchgesetzt und die Sehnsucht danach auch.

Der griechische Gourmetrevolutionär hatte Glück. Und Harry König wurde Stammgast ab der ersten Stunde im anfangs einzigen, später besten Griechenlokal in den neuen Ländern.

Eine typisch griechische Kneipe, lange Tische, in der Mitte die Teller mit verschiedenen Speisen, jeder nimmt sich, was er mag, man sitzt beieinander, kommt ins Gespräch, der Wein geht nicht aus, langsam fällt die Spannung des Tages ab, wunderbar.

Aber für König waren diese Jahre lange, lange vorbei. Deshalb empfand er auf dem sehr noblen Schiff im Hafen von Ibiza jetzt den von seinem einstmaligen griechischen Patron aktivierten Klingelton des Handys, untypisch für ihn, eher als ein wenig unpassend.

Erstaunlich war auch, dass er nicht augenblicklich wusste, wie er reagieren sollte. Auf keinen Fall wollte er unhöflich sein. Aber er selbst telefonierte weniger, seitdem er vor einigen Wochen auf diesem Schiff die Eignerkabine bezogen hatte. Im gleichen Verhältnis häuften sich die Anrufe. Manches Mal wurden sie ihm zu viele.

„Hari“, rief die Stimme. Hari - so sprach nur einer seinen Vornamen aus: dieser Lagis.

Seine Kneipe wurde fast unweigerlich zu einem der Lieblingslokale Harrys, der damals die Spekulanten um sich scharte und mit ostdeutschen Immobilien oder brasilianischen Fussballern dealte wie andere mit Gebrauchtwagen. Oft schleppte er Investoren, Künstler, Sportstars an.

Den griechischen Wirt nannten damals vor sechs Jahren und mehr er und seine Clique der Einfachheit halber „Lucky”, weil der Name Lagis so ähnlich klang wie „glücklich” auf englisch, weil Glück damals jeder gut gebrauchen konnte, und weil glücklich auch irgendwie zu dem Griechen passte.

Lagis hatte sich während Königs goldener Jahre in den neuen Ländern ehrlich um gerade seine Anerkennung bemüht und ihn unverhohlen bewundert. Gründe gab es ja genug.

Als Lucky in Leipzig schon sein zweites Lokal eröffnete, lotste König Nacht für Nacht Investoren auf ihren kurzen Inspektionsreisen zu seinen Immobilien in die Kneipe des Griechen, ebenso Künstler oder lokale Fußballgrößen. Von einem dieser Abende in der „Taverna Ägäis“ gibt es ein typisches Foto. Der sitzende König umgeben von acht bis zehn Freunden, der stehende Lagis mit einem Stapel blütenweißer Teller im linken Arm, der Fußboden bedeckt von Scherben zertrümmerten Geschirrs.

In ausgelassener Stimmung landete König seinerzeit fast immer bei den Erlebnissen auf der Zuckerinsel. Er zeigte dann auf die Wände der Taverne, auf die in grellen Farben gemalten Darstellungen griechischer Tänzerinnen vor Tempeln und säulengeschmückten Palästen, und pflegte zu sagen: „Lucky, ich verstehe deinen Stolz, schön gemalt. Aber auf Kuba wurden mir richtige Bilder angeboten. Renoir, Monet, Matisse, Cézanne. Ich habe sie gesehen. Die Leute führten mich nachts konspirativ in ihre kleinen Hütten. Aber sie hatten zu viel Angst und gaben keines aus der Hand. So konnte man sie nicht anbieten oder verifizieren, leider. Ich hätte das Geschäft gerne gemacht.“

Aber, wie so oft im Leben: Das Schicksal gibt einem eine zweite Chance.

König war von Beginn an für den Kneipenwirt irgendwie Idol, Vorbild gewesen. Diese Mischung aus Frechheit, Mut und Schlauheit musste einem wie ihm so imponieren, dass er noch Jahre später zu Harry aufschaute. Nach Kuba traute er ihm sogar Wunderdinge zu. Deshalb jetzt die hartnäckigen Anrufe.

Doch König hatte, so grundsympathisch der Grieche ihm auch war, hier auf Ibiza nicht wirklich das Bedürfnis, durch diesen Anrufer an seine Schlitzohrigkeit in der Zeit des Aufbruchs in Leipzig erinnert zu werden. Dass er sich damals im besten Fall mit nur ahnungslosen und im schlimmeren Fall auch zu viel erwartenden Besitzern heruntergekommener Ossihäuser abgab und deren wenigstens auf dem Papier verbrieftes Eigentum gierigen Wessis gleichsam in den Rachen schob – das war Vergangenheit. Aber keine schlechte! Harry König führte die extrem gegensätzlichen Parteien zusammen. Beide Seiten betrachteten ihn vertrauensvoll als einen der Ihren, und jeder hatte Recht – die Verkäufer, da er selber aus dem Osten Berlins stammte, die Investoren, weil sie ihn aus den europäischen In-Treffs der Schönen und Reichen kannten.

Zusätzlich stand womöglich der Tisch, an dem hastig unterschrieben wurde, in seinem eigenen, auf dem berühmten Sachsenplatz über Nacht aus in Weiß und Blau lackierten Holzfertigteilen aufgestellten Bierausschank, „Harry’s Treff“.

Ja, Harry König, dieser Lebenskünstler, war in einer seiner Nebenrollen damals ebenfalls Gastronom in Leipzig, aber unvorstellbar schlitzohrig, auf ganz anderer Basis. Er schaffte es auf undurchsichtige Weise, möglicherweise nicht ganz astrein, aus den anliegenden Top-Geschäften und Luxus-Niederlassungen westdeutscher Konzerne abwechselnd mit Strom und Wasser versorgt zu werden. Kabel und Schläuche führten aus dem Keller quer über den Bürgersteig hinein in diese Billigstkopie eines bayerischen Hofbräuhauses. Zum Etablissement gehörten zwei mobile Toilettenhäuschen, damit war den Mindestansprüchen Genüge getan. Vermutlich gab es in seinem „Harry’s Treff“ Leipzigs allererstes „Coolfire“, den geliebten Energiedrink, und das erste Carpaccio, das zwanzig Jahre früher bei Alberto in der Schwabinger Amalienpassage sein tägliches Muss gewesen war.

Für jemanden mit seiner Chuzpe ging damals fast alles. König betrieb es ohne jegliche Konzession. Unterbehörden der Landesregierung und der Stadtverwaltungen mussten erst organisiert werden. Neue Zuständigkeiten und ihre Abgrenzungen waren nicht festgelegt – es existierte noch nicht die künftige und praktisch nicht mehr die bisherige Administration. Keiner in den vielschichtigen Behörden wusste wirklich genau, wer in letzter Konsequenz für welchen amtlichen Stempel zuständig war. Jedenfalls wäre kein Stadtpolizist angesichts des blau-weißen hölzernen Mini-Hofbräuhauses auf die Idee gekommen, das habe niemand genehmigt.

Und mit großer Wahrscheinlichkeit spielte König hier Wirt auch ohne eigenes Kapital. Von ihm stammte offensichtlich die Idee, das genügte, und einer seiner Bewunderer spielte stillen Teilhaber. Westdeutschland hatte sein Eldorado, und die Aufbruchstimmung wurde zur Massenbewegung.

Auch bei einer Nachtbar im Zentrum Leipzigs mit Roulettetischen und Pokerrunden soll König in den völlig chaotischen Monaten zwischen der Grenzöffnung und der Wiedervereinigung eine maßgebliche Rolle gespielt haben.

Wahrscheinlich musste er nur irgendeinen Investor davon überzeugen, dass keiner wirklich durchschauen konnte, ob es für eine Spielbank im Osten tatsächlich schon eine Lizenz gab oder nicht. Die besonders attraktiven Beschäftigten, alle weiblich, blutjung und aus Brasilien, waren übrigens auch gleichsam über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht.

Und, wirklich, Monate lang ging das gut.

Auch in Bezug auf Bauruinen aus Ziegeln und Teerpappe hatte er das glücklichere Händchen. Er kassierte in der Regel vom Erwerber Provision, selten weniger als fünfundzwanzigtausend Mark, und empfahl sich schleunigst, schon unterwegs zum nächsten Deal. Notartermin, Eigentumsfrage, Gutachten, Finanzierung – nein danke. Das macht ihr besser selber, meinte er jedes Mal überzeugend!

Ja, von etwas Extravaganz hatte auch der bodenständigere griechische Gastwirt geträumt. Aber mit König tauschen, das wiederum hätte er wahrlich nicht gewollt. Bestimmt fragte der Grieche sich angesichts der jungen Frauen, die König um sich scharte: Was für ein Leben haben die, welche Zukunft haben die für sich vor Augen? Eine Zeitlang brachte er als seine Gefährtin eine bildschöne Österreicherin aus der Steiermark mit. Dass sie die amtierende Miss Austria war, glaubte ihm keiner und stimmte auch nicht. Aber immerhin, sie hatte bei einer solchen Wahl ziemlich gut abgeschnitten. Was versprechen sie sich, was haben die davon? Lagis malte sich oft aus, wie deren Tage jeweils verliefen, bis zu dem Augenblick, da ein Gefährte wie König sich mit ihnen auf den Weg zum Abendessen im „Ägäis“ machte, und wie danach. Was machen sie? Und machen sie das, was sie machen, für Geld? Nein, er konnte sich nicht auf nicht eine einzige seiner Fragen eine befriedigende Antwort ausdenken. Wirklich gut bewertete er nicht alles, was mit seinem bevorzugtesten Gast zusammenhing.

Gleichzeitig konnte seine preiswerte Taverna weder die sparsamen Ossis noch die euphorischen Geschäftemacher aus dem Westen in wirklich spendable Stammgäste verwandeln. Explodierende Pachtmieten und unverschämte Knebelverträge seiner Bierlieferanten ließen kaum je Gewinne zu.

Harry König wiederum fand sich unweigerlich, wo immer er sich niederließ, auf der Sonnenseite wieder. Und nun war er auf Ibiza erneut so etwas wie eine Institution für Neuankömmlinge auf dem schwierigen spanischen Markt. Anlaufstelle, helping hand wie seinerzeit im Osten. Nur jetzt auf höchstem Niveau, im Paradies. Deutsche sind nicht gerade die Beliebtesten hier. Da ergibt sich schon mal der Bedarf einer kleinen Assistenz. Gestern erst hatte er im Café Sydney im neuen Hafen einen Nürnberger Unternehmer kennen gelernt. Der Mann dirigierte in straff geführten Drückerkolonnen an die zwei Hundertschaften cooler Männer und Frauen. Heute bieten sie Apartmentwohnungen an und am nächsten Tag bringen sie Fondsanteile unter die Leute. Dieser Top-Geschäftsmann ließ für ein paar Urlaubstage seinen 500 SL und seine Lieblings-Harley Davidson auf die Insel bringen. Ein absolut fähiger Mann, aber überfordert, sich hier ein funktionierendes Handy mit spanischem Telefonchip zu organisieren. Das war aber lebenswichtig, da es zwischen ihm und seiner fast vierzig Jahre jüngeren Frau irgendwo zwischen Sylt und Kitzbühel gerade gewaltigen Stress gab. Harry König legte dem Mann zwei, drei Stunden später ein betriebsbereites Mobile auf den Tisch und bemerkte: „Passt schon ...“

„Hari“, rief jetzt erneut und eindringlich diese unverwechselbare griechische Stimme. „Hari, Hari, hier ist Lagis - du weißt, Lagis, Leipzig.“

„Ja, Servus!“ mit freundlichstem Unterton hielt Harry König jetzt doch ohne Einschränkung für eine passende Antwort. Genau genommen war ja auch dieser Lucky zweifelsohne selbst so eine Art Lebenskünstler. Charmant, fleißig, clever. Irgendwie passte er also sogar dazu. Ein bisschen hatte vielleicht irritiert, dass der Grieche nicht nachließ in seinem Bemühen um Anerkennung und ihn gleichzeitig unverhohlen bewunderte.

Ja, Leuten dieser Sehnsucht und mit dieser Anhänglichkeit war Harry König schon einigen begegnet. Er hat sie stets begriffen, durchschaut. Ihn beneiden nun mal viele um die offensichtliche Leichtigkeit seines Tuns und Seins. Pulsierende Lebensmittelpunkte. Wechselnde Lebensgefährtinnen. Bleibend immer eines: Wirtschaftliche Unabhängigkeit, genährt durch viele Beziehungen, grenzenlose Kreativität und eben dieses lässigste Vertrauen in eine ungewisse Zukunft, die den meisten den Schlaf rauben würde. Ihn macht Ungewissheit frei. Je größer, desto besser.

Ja, verstanden hat er die neidischen Blicke der mitunter wirklich sehr wohlhabenden Bekannten und Freunde schon oft, ohne sie überzubewerten. Weil ihre Bewunderung und ihr Neid ihn natürlich auch an reale Defizite erinnerten. Keine Familie. Kein wirkliches Zuhause. Kein Fünf-Jahres-Plan für seine Zukunft. Weiße Flecken in seinem System, die er raffiniert nie, wahrlich nie, anders als positiv kommentierte.

Erst viel später nach diesem überraschenden Anruf aus dem Nichts hinein in seine aktuelle Luxuswelt hat Harry König das beinahe Unausweichliche erkennen können, das Lucky und ihn nach ihrem Aus-den-Augen-Verlieren wieder zusammenführte. Der Wirt und sein bei unleugbarer Distanz herzlichster und großzügigster Stammgast, plötzlich durch magische Kräfte, vielleicht auch durch begreifliche Gier eines jeden von ihnen zu einem Team verschweißt. Eine begrenzte Zeit hatten ihre Schicksale sie auserwählt, sich für eine gemeinsame exorbitante Idee zu begeistern.

Damals machte er es dem Griechen allerdings keinesfalls leicht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Lagis hatte sich in den zurückliegenden Wochen bereits mehrmals am Telefon gemeldet. Es waren seltsam verlaufende Gespräche. Was er eigentlich wollte, damit rückte er nicht so recht heraus. Jedes Mal war er sich in Andeutungen ergangen, aber stets schreckte er davor zurück, deutlich zu werden. Immer nur: „Wir müssen uns treffen. Am Telefon geht nicht. Alles unter vier Aug.“ Immer wieder: „… treffen...” Ja gut, das sagen fast alle. Aber in diesem Fall war es ziemlich aussichtslos. Der eine, wie er dachte in Leipzig, der andere - was er dem Anrufer nicht sagte - auf Ibiza.

Aber obwohl er es nie aussprach, nicht aussprechen musste, war König schon bewusst: Es geht um etwas wirklich Wichtiges, Bedeutendes, bei dem Lucky sich nur von einem einzigen Menschen entscheidende Hilfe versprach, und das war er. Und dennoch war der Anrufer vertröstet worden, wieder und wieder.

Aber der Grieche akzeptierte stets ohne Klagen, dass er offenbar nie zum richtigen Zeitpunkt anrief. Er hoffte einfach darauf, dass es einmal nicht der falsche sein werde. So auch an diesem Septembernachmittag, als er erneut die Handynummer Königs wählte.

„Hari“, rutschte die Stimme Luckys jetzt in einen höheren Tonbereich. „Ich bin in Athen. Wir müssen uns unbedingt sehen. Schnell. Kannst du hierher kommen? Schnell? Ich muss dir etwas zeigen. Hari, es ist das Millionengeschäft. Fantastisch!“ Und nach einer Pause: „Weißt du noch – Kuba? Hari, das hier ist viel, viel mehr! Ich habe nur dir Fotraum.“

Vertrauen – keiner außer Harry hätte das so verstanden! Da waren sie wieder - dramatisch vorgetragene Andeutungen auf eine einzigartige, riesige Chance. Es klang, als redete er von einem Vermögen, das da lag und nur auf König wartete. Lagis hätte hinzufügen können: Wenn es einen gibt, der das packt, dann du, Hari! Aber er sagte es nicht. Und so gelang es ihm auch in diesem Moment nicht, den Angerufenen zu ködern. Noch nicht.

„Lucky“, antwortete König. „Hör zu, rufst du mich später noch einmal an? Ich kann jetzt nicht. So in zwei Stunden?“

August, September sind die Top-Monate der Insel. Im Spätsommer 1996 hatte König in Ibiza eine unwahrscheinliche Glückssträhne in Backgammon-Runden und beim Würfelspiel. Allein von einem einzigen Dauergegner gewann und kassierte er 164.000 Mark. Mit sicherem Instinkt erkennt König jene Sorte Adabeis, die Spielschulden nie ebenso ernst nehmen würden wie er selbst. Sie kommen beim ihm gar nicht erst zum Zuge. Streit mag er nicht. Wenn er also spielt, dann geht es wirklich um was. Ein korrekter Verlierer lieferte damals den Kraftfahrzeugbrief für einen Nachbau des berühmten Excalibur bei ihm ab, rotlackiert, weiße Ledersitze, mit aufmontierten Reserverädern links und rechts. Das entschädigte für Gewinne, die ihm andere vorenthielten.

Jetzt war Harry König auf dem Sonnendeck dieser privaten, von ihm bewohnten Yacht eines Freundes gerade dabei, seinen Ruf als kaum bezwingbarer Backgammonspieler zu verteidigen. Die spektakulären Erfolge mit den dreißig runden Steinen führt er selbst - was er aber nur wenigen je anvertraut hat - auf eine schlichte mathematisch begründete Strategie zurück: Einzelne Steine, die ja geschlagen werden können, rückt er konsequent so nahe wie möglich an den Gegner heran, während die meisten Spieler sich genau umgekehrt verhalten. König erkannte: Zwei, drei Punkte werden seltener gewürfelt als beispielsweise sieben oder zehn. Wie auch immer: Seine Art, die Konfrontation zu suchen, ließ ihn zumindest besonders siegessicher erscheinen. Was König durch reichlichen Genuss des von ihm bevorzugten Ginseng-Vitamin-Cocktails „Turvital“ noch unterstrich. An einem solchen Nachmittag, in einem solchen Augenblick hatte selbst ein sympathischer Bekannter wie Lucky es sogar mit einem Millionenversprechen schwer, ihn zu einer Unterbrechung bewegen.

„Hari“, fragte er, „kann ich dir ein Fax schicken? Wo bist du?“

Diese Frage liebte König nie besonders. Aber schließlich verriet er dem Griechen, nachdem er ihn um Verschwiegenheit gebeten hatte, dass er sich auf Ibiza befand. Er zog eine Visitenkarte hervor und nannte ihm die Faxnummer seines dortigen Stammlokals, des „Café Sidney“ im Marina Botafoch, dem Yachthafen der Reichen.

Als er am Abend dort den ersten „Havana Club“ mit sieben Jahre altem Rum bestellte, hatte er alle Telefonate des Tages, selbst Luckys Anruf, vergessen.

Ibiza, sein Ibiza zumindest, ist außerdem übervoll von Spinnern und Träumern, Angebern und Aussteigern, Anlegern und Betrügern, Erben und Steuerflüchtlingen. Es zieht sie von weit her ins „Privilège“, das frühere „Ku“, an der Straße von Ibiza nach San Antonio, die größte Disco der Welt. Sie strömen zu den Partys unter der Devise „Renaissance“ oder „Flower Power“ ins „Pacha“ und duzen Knut, den Barpächter. Sie kommen, vielleicht nur auf ein einziges Glas, ins „Flash“, wo früher Bea Fiedler, wie Deutsche mit dem schönsten Busen, servierte, aber sie kommen und erliegen wie immer Ronnys unentrinnbarem Wiener Schmäh. König kennt sie alle, und auf der ganzen Kneipen-Meile gibt es kaum jemanden von Bedeutung, der nicht freudig die Arme öffnet, sobald er seiner ansichtig wird.

Jedenfalls war König mit seinen Gedanken längst woanders. Aber die tüchtige Nachtgeschäftsführerin des „Café Sidney“ selber kam an seinen Tisch und drückte ihm eine Nachricht in die Hand, bestehend aus einem Faxblatt und einem Empfangsprotokoll. Abgesendet vom Athener Anschluß 15238197, markiert mit 24. September 1996, 20.20 Uhr. Aufgezeichnet vom Anschluß 71192450 auf Ibiza, Empfangszeit 19.34 Uhr (bei einer Stunde Zeitunterschied ging mindestens eine der Uhren in den Geräten nicht genau).

Die Nachricht kam aus dem Hotel „Iniohos“ in der Athener Innenstadt. Die Mitteilung bestand außer der Anschrift aus zehn kurzen Zeilen in krakeliger Handschrift, mit der Lagis Magoulis seinen Appell mit rührender Offenheit auf den Punkt brachte. In einem Deutsch, so grausam, dass es fast nicht zu enträtseln ist: „Halo, Hari. Ole aus Griechenlant. Weter ist sone. Hari mach tiech auf den snelste weg nach Griechelant. Milionen geseft ich habe nur dir fotraum. Unt du kanst das! Eilt. Ole. Mit gruse Lagis.“

Wer nicht an zahllosen Abenden Gelegenheit hatte, sich in der „Taverna Ägäis“ langsam mit der Verstümmelung der deutschen Sprache durch Lagis Magoulis anzufreunden, hätte keine Chance gehabt, die Botschaft dieser fast verzweifelt abgefassten Zeilen zu verstehen.

Bei Harry König kam das Wichtigste an: Wetter ist Sonne. Mach dich auf den schnellsten Weg nach Griechenland. Millionengeschäft. Nur dir Vertrauen.

Fotraum.

Dieses Blatt Thermopapier mit allmählich verblassenden Schriftzeichen besitzt König heute noch, und das ist gut so. Es dokumentiert den Beginn eines Abenteuers von derartiger Dimension, wie nur wenige vom Schicksal auserwählt werden, ihr zu begegnen.

Er trat auf die Terrasse des Cafés und wählte auf seinem Handy die mitgefaxte Telefonnummer 0030152308115. Es war auf der spanischen Insel kurz vor 22 Uhr, als er Lucky in der Leitung hatte.

Der Kontakt

Trotz all der bisher wenig erfolgreichen Kontakte war Lagis weiterhin fest entschlossen, dem Telefon kein Geheimnis, keinen Namen, keinen Begriff anzuvertrauen, der ungewollte Mithörer elektrisieren, alarmieren konnte. Ihn steuerte auch der Eindruck, dass es jetzt offensichtlich endlich auch nicht mehr nötig war. Und es gab genug Interessantes, das er unbesorgt preisgeben konnte.

Jedenfalls sprudelte es aus ihm nur so heraus: Er habe zwei Freunde hier in Athen. Die haben ein Riesenproblem. Es gehe um ein Vermögen. Sie warten auf König – denn er, Lagis, habe ihnen erklärt, helfen könne nur einer, sein Freund Harry.

Sie werden alle Kosten übernehmen. Es geht um wahnsinnig Wertvolles.

Der Grieche leistete förmlich einen Schwur: „Hari, wenn nicht so wie ich sage, dann du hast keine Spesen. Ich zahle dein Ticket und dein Hotel. Es ist nur ein Tag in Athen. Ibiza gut, Athen besser.“

Und abschließend, als Höhepunkt: „Hari, ich habe Freunden versprochen, das kannst nur du – ich nur dir fotraum.“

Schon wieder dieses bei all seiner Verstümmelung verpflichtende Wort aus dem Fax. König im noblen Jachthafen seines geliebten Ibiza, am Backgammonbrett Geld scheffelnd, Mittelpunkt einer bunten Clique, mit Wohnrecht auf einem Schiff, das einem Freund gehört - diesen König aus seiner Hollywood-reifen Szenerie heraus in Bewegung zu setzen, darf als Beispiel gelungener Überredungskunst gelten.

Fotraun, Vertrauen. Vermutlich war es bereits dieses Wort.

Aber Lagis, in einer Mischung aus überschießender Euphorie und der Angst, es möglicherweise doch nicht wirklich zu schaffen, nahm jetzt gar nicht wahr, dass er ihn bereits überredet, überzeugt hatte. Er muss instinktiv gedacht haben, dass der Augenblick gekommen war, seinem immer noch zögerlich wirkenden Zuhörer einen allerletzten Anstoß zu geben. Er senkte seine Stimme, flüsterte beinahe: „Hari wir haben Göringschatz.“

Da war er, der Paukenschlag!

In diesen Momenten einer anbrechenden Nacht und noch dazu nach dem ersten Alkoholgenuss des Abends verschwendete Harry König keinen einzigen Gedanken auf gefährliche Ohren anderer. Und wenn: Das Handy hätte ihm zusätzlich ein Gefühl von Unsichtbarkeit und Raffinnesse verliehen.

Selbst ein früherer Fernmeldetechniker wie er hatte im Spätsommer 1996 nicht im Entferntesten umfassende Kenntnis von den technischen Möglichkeiten globaler Überwachungsnetze.

Zwar waren sie noch nicht im Stande, in einem einzigen fensterlosen Gebäude die Daten von 500 Trillionen Dokumentenseiten zu speichern und auszuwerten, wie es fast zwei Jahrzehnte später der Whistleblower Edward Snowdon der ahnungslosen Öffentlichkeit verriet, aber das Sammeln von Kommunikationsdaten wie Media Access Control-Adresse (MAC) oder Organizationally Unique Identifiers (OUI) gehörte schon zum Tagesgeschäft.

Am Himmel wurden von den Westmächten nach und nach die sechsundfünfzig um die Erde kreisenden Satelliten der Motorola-Iridium-Gruppe platziert. Andere schöpften Informationen ab aus den noch intakten Verbindungen der ehemaligen Luftraumüberwachung des Warschauer Paktes, dessen Funkkomponenten immer noch fix an jenen Punkten am Firmament standen, wo sie vor Jahren mit Hilfe von Steuerungsdüsen platziert worden waren.