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Elias Hirschl

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Beschreibung

Listicles, YouTube-Videos, ChatGPT und jede Menge Content: Nach „Salonfähig“ die neue Romansatire von Elias Hirschl

Die Welt geht unter. Doch bis dahin arbeitet die Erzählerin in Elias Hirschls neuem Roman in der Content-Farm Smile Smile Inc. und schreibt sinn­befreite Listen-Artikel, die Clicks generieren sollen. (Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!) Die sind genauso bedeutungslos wie die Memes und YouTube-Videos, die ihre Kolleginnen produzieren. Oder die Start-ups, die ihr Freund Jonas im Wochenrhythmus gründet, während die Stadt brennt.
Hirschl gelingt mit Content erneut eine „perfekte Romansatire, die höchstes Niveau erreicht“ (Neue Zürcher Zeitung), diesmal über die Generation ChatGPT. Politisch, prophetisch und zumindest so lange lustig, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt …

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Das ist das Cover des Buches »Content« von Elias Hirschl

Über das Buch

Die Welt geht unter. Doch bis dahin arbeitet die Erzählerin in Elias Hirschls neuem Roman in der Content-Farm Smile Smile Inc. und schreibt sinnbefreite Listen-Artikel, die Clicks generieren sollen. (Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!) Die sind genauso bedeutungslos wie die Memes und YouTube-Videos, die ihre Kolleginnen produzieren. Oder die Start-ups, die ihr Freund Jonas im Wochenrhythmus gründet, während die Stadt brennt.Hirschl gelingt mit »Content« erneut eine »perfekte Romansatire, die höchstes Niveau erreicht« (Neue Zürcher Zeitung), diesmal über die Generation ChatGPT. Politisch, prophetisch und zumindest so lange lustig, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt …

Elias Hirschl

Content

Roman

Paul Zsolnay Verlag

1

Man gewöhnt sich an den Lärm der Hydraulikpressen, während man die Top 11 der außergewöhnlichsten UFO-Sichtungen googelt, sagt Karin. Man gewöhnt sich an das Kreischen der Standmixer, während man die 23 stärksten Pokémon porträtiert. An die zischenden SodaStreams gewöhnt man sich und an die Entsafter, die jedes Mal qualvoll aufschreien, wenn Marta ihnen ein weiteres Nokia 3310 füttert. Karin winkt Marta. Marta winkt mit einer Hand voller Nokias zurück. Ich winke auch.

Karin hat eine Wärme in ihrer Stimme, die absolut nicht in die riesigen, kahlen Büroräume passt. Sie kümmert sich so fürsorglich um mich, als wären wir schon jahrelang befreundet. Sie stellt mich den Kolleginnen vom Listicle-Department vor, auch den Kollegen von den Video- und Meme-Departments. Man gewöhnt sich an die Überstunden, sagt sie, an das ewige Stöhnen, Lachen und hysterische Schreien, das Tag und Nacht durch den gigantischen Bürokomplex hallt. An die regelmäßigen Erdbeben gewöhnt man sich, an die Zugluft, die Schlaglöcher und die Rohrbrüche. An den furchtbaren Automatenkaffee mit Mitarbeiterrabatt um vierzig Cent und an das ungenießbare Essen in der Cafeteria. Nummer 7 ist ein Thunfisch und wird dich zum Weinen bringen. Man gewöhnt sich an die Monotonie, an die Abstumpfung, daran, dass die eigene Arbeit mit der Zeit zu einer gedankenlosen Abfolge routinierter Handgriffe verkommt, Google, Sehenswürdigkeiten, Indien, Strg C, Strg V, Text gliedern, Titel: Die Top 14 unterschätztesten Tourist Destinations in Indien — Nummer 7 kennt absolut niemand WAS???!, abschicken, nächster Artikel, Google, Hollywood, Heroin, Strg C, Strg V, Text gliedern, Titel: Die 13 drogensüchtigsten Filmstars — Nummer 7 ist komplett gestört LOL, abschicken, nächster Artikel. An all das gewöhnt man sich problemlos, solange das Kreischen im Hintergrund noch zu vernehmen ist, solange die Mixer noch mixen und die Entsafter noch entsaften. Woran man sich jedoch nie gewöhnt, ist diese plötzliche, unvorhersehbare Stille, die eintritt, wenn jemand gegangen ist. Wenn es eine nicht mehr ausgehalten hat. Wenn das ganze Büro für einige Sekunden stillsteht, bis die Situation entschärft wurde.

Du musst nachher zum Stammtisch mitkommen, sagt Karin und lässt sich auf ihren Drehstuhl fallen, nachdem sie mir den Schreibtisch links neben sich zugewiesen hat. Karins Schreibtisch ist übersät mit Postkarten, die sie von Kneipentoiletten mitgenommen und anschließend mit einem Edding umgestrichen hat. Auf einer steht einfach nur: Lebe nicht dein Leben, auf einer anderen Alle dachten, es ist unmöglich, aber dann kam jemand, der das nicht wusste, und STARB. Im Browser von Karins Laptop stapeln sich Tabs über Tabs mit Clips aus verschiedenen amerikanischen Late Night Shows, Twitter, Wikipedia-Seiten und Synonym-Wörterbüchern. Karin nimmt einen Fidget Spinner in ihre linke Hand, gibt ihm neuen Schub und sagt: Ich schreib noch schnell einen Artikel fertig, dann gehen wir was trinken. Ich nicke. Marta wirft ein weiteres Nokia in den Mixer.

Bist du auf Twitter?, fragt Karin, als wir im Aufzug stehen. Ich nicke. In engen Räumen werde ich immer etwas nervös, aber hier ist es sogar noch schlimmer, weil der Aufzug ein alter Förderkorb ist, den man vor ein paar Jahren nur notdürftig mit einer Art Blech-Ummantelung saniert hat, damit er wieder mehr wie ein normaler Aufzug aussieht. Das ganze Gebäude steht direkt über einem Bergwerk.

Früher war hier eine Kohlenzeche, sagt Karin. Dann eine Fabrik für Autoteile und jetzt eine Content-Farm. Das Gebäude steht exakt über dem alten Förderschacht. Vom zentralen, eineinhalb Kilometer tiefen Förderschacht stehen die Stollen wie Rippen aus einem Rückgrat ab, und erst mit einigen hundert Metern Sicherheitsabstand hat man angefangen, die Kohle aus den Wänden zu schlagen. Natürlich wurde der Lift regelmäßig gewartet und repariert, aber es ist trotzdem immer noch derselbe Lift, mit dem damals die Bergleute eingefahren sind, nur dass er jetzt noch die zwei Stockwerke weiter nach oben fährt, die man neu eingezogen hat. Folgst du zufällig Jen Statsky?, fragt Karin. Ich schüttle den Kopf. Der Aufzug ist nur schwach beleuchtet, ein paar Lampen in der Decke scheinen ausgefallen zu sein. Ich schaue auf das Armaturenbrett mit den Stockwerken. Folgst du Megan Amram?, fragt Karin. Ich schüttle wieder den Kopf. Das Gebäude hat nicht so viele Stockwerke, wie es da aussieht, sagt Karin, während wir uns ratternd abwärts bewegen. Sie deutet zu den fünfzehn Knöpfen an der Aufzugswand, die zu zwei Dritteln nicht beschriftet sind. Das sind noch Überbleibsel von damals, sagt sie, aber unterhalb des zweiten Untergeschosses sind die Stockwerke nicht mehr in Betrieb. Ich nicke und atme auf, als die Türen sich endlich im Erdgeschoss öffnen. Folgst du Bryan Donaldson?, fragt Karin.

Das alte Stauber-Haus, wo früher die gleichnamige Brauerei drin war, ist heruntergekommen, halb unterirdisch, nahezu menschenleer, und befindet sich direkt neben dem Smile-Smile-Bürokomplex. Während Karin, Cory, Marta und Yusuf reden, merke ich, dass die meisten hier auf relativ ähnliche Weise in diese Branche stolpern. Junge, ambitionierte, künstlerisch begabte Frischlinge, die es nie wirklich geschafft haben, aus ihrer Leidenschaft einen Beruf zu machen. Cory — wahrscheinlich zwei, drei Jahre jünger als Karin und ich — versucht sich nebenbei immer noch mit Kurzfilmen über Überwachungskapitalismus, Körperdysphorie und Russischen Kosmismus an verschiedenen Filmhochschulen zu bewerben. Yusuf wirkt hier auch eher wie in einem Übergangsjob neben dem Studium, nur dass er noch nirgendwo genommen wurde. Aber auch er schickt regelmäßig Motivationsschreiben und Mappen an diverse Studiengänge und Residenzstipendien für Fotografie und bildende Kunst im Ausland. Marta geht hingegen schon langsam auf die vierzig zu und ist so ziemlich die Einzige in der Firma, die von ihrer Arbeit im Video-Department komplett erfüllt scheint und einfach nur froh darüber ist, nicht mehr in einer Trollfabrik zu arbeiten.

Karin ist ungefähr derselbe Jahrgang wie ich. Der, in dem man eigentlich nicht mehr ganz verteidigen kann, wieso man noch kein Studium abgeschlossen hat. Seit ihrer Kindheit kritzelt sie politische Fernseh- und Nachrichtenparodien in ihre Schulhefte. Sie ist mit Stephen Colbert aufgewachsen, mit Trevor Noah, Samantha Bee, John Oliver, Amber Ruffin, Hasan Minhaj, Seth Meyers. Karin hat so viele Stunden politische Satire inhaliert, dass sich die Show-Struktur unweigerlich in ihren Kopf gefressen hat. Sie musste sich gar nicht anstrengen, diesen Stil zu imitieren, sie atmete ihn von ganz allein. Von klein auf sprach sie in tagespolitischen Pointen und popkulturellen Anspielungen. Sie schrieb bissige Parodien auf amerikanische Politiker, amerikanische Gesellschaft, amerikanische Kultur, obwohl sie dieses Land nie betreten hatte, obwohl sie keinen einzigen Amerikaner persönlich kannte. Als sie die Schule abgeschlossen hatte, begann sie eine Ausbildung zur Englisch- und Ethiklehrerin, eher als Alibi, um ihre Eltern ruhigzustellen. Da sie sich das Studium selbst finanzieren musste, schrieb sie nebenbei Satireartikel für eine lokale Zeitschrift, wechselte aber schon bald aus Zeit- und Kostengründen zu Auftragsarbeiten für Firmenfeiern, Bücherrezensionen und IKEA-Möbelbeschreibungen. Sie hat mehrmals versucht, sich bei den Late Night Shows zu bewerben, die sie früher geschaut hat, doch ohne direkte Kontakte könne man das gleich vergessen, meint sie, ext ihr Bier und bestellt noch eine Runde in dem düsteren Keller mit der verrauchten, stickigen Luft, dem verklebten Holzboden und dem sechzigjährigen DJ mit dem Fritz-Hoff-T-Shirt. Die Musik, die er spielt, klingt wie normale Songs aus den nuller Jahren, aber manchmal haben sie seltsame Glitch-Geräusche, bleiben hängen oder switchen in der Mitte des Songs zu einem völlig anderen Lied. Sie habe noch nicht ganz aufgegeben, sagt Karin. Zumindest, dass sie vielleicht mal eine Praktikumsstelle dort kriegen könnte. Manchmal stellen die Leute ein, die sie auf Twitter gefunden haben, sagt Karin und deutet auf ihr Handy. So hat Jen Statsky damals auch ihren Job bei Jimmy Fallon bekommen. Vorher hat sie sich schon mal dort beworben und wurde abgelehnt, aber kaum, dass sie dann auf Twitter Erfolg mit ihrer Comedy hatte, wurde sie von denen sofort unter Vertrag genommen. So hat Megan Amram auch ihre Stelle bei den Simpsons bekommen. Und Bryan Donaldson war einfach nur IT-Mitarbeiter einer Versicherung in Illinois, aber dann ist sein Twitter-Account explodiert, und jetzt arbeitet er als Gagschreiber für die Late Night with Seth Meyers. Donaldson hat einfach seine Koffer gepackt und ist nach New York gezogen, obwohl er dort noch nie war. Kannst du dir das vorstellen? Jetzt laufen seine Witze, die er vorher einfach in den Äther geballert hat, zur besten Sendezeit.

Sie mache sich nichts vor, meint Karin. Content Writing für Smile Smile, das ist nur ein Übergangsjob, so wie alle ihre Jobs. Sie habe mittlerweile so ziemlich alle Schreibjobs durch. Gegen Ende habe sie sogar ein Jahr lang bei einer Boulevardzeitung gearbeitet, als Korrekturleserin und schließlich auch als Autorin, schrieb Hundert-Wörter-Artikel über Prominenten-Suizide, Prominenten-Trennungen und Prominenten-Drogenexzesse, die neben Werbungen für Laxative und Wärmedecken abgedruckt wurden. Man gewöhnt sich an alles, sagt Karin. Daran, von zugekoksten Vorgesetzten angeschrien zu werden. Daran, dass man bei Femiziden den Fokus auf die ermordete Frau legt, wenn möglich mit einer Fotomontage der Leiche, oder zumindest einer Beschreibung davon, was sie im Moment ihres Todes getragen hat. Man gewöhnt sich an die Begriffe Sex-Mord, Familiendrama, Kinder-Killer und Inzest-Opa.

Der Kellner stellt uns neue Getränke auf den wackeligen Tisch, und Karin redet etwas leiser weiter. An ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag sei sie ausgebrannt, meint sie. Richtig ausgebrannt. Ihr Vorgesetzter habe ihr einen Text über eine Achtzehnjährige, die ihre gesamte Familie bei einem Paragleitunfall verloren hatte, mit den Worten zu hässlich zurückgeworfen, und nachdem sie geschlagene vierzig Minuten lang versucht hatte, ein Bild der leicht übergewichtigen Überlebenden mit Photoshop zu bearbeiten, habe sie einen kompletten Nervenzusammenbruch erlitten. Schreianfall, Schüttelfrost, die Top 10 der lustigsten Panikattacken, Klinikaufenthalt, Antidepressiva, einige Wochen in der Geschlossenen wegen Suizidgefahr, bis sie schließlich wieder entlassen wurde.

Sie versuchte es danach noch ein paarmal mit dem alten Satiremagazin, aber für die drei bis vier Artikel, die sie früher am Tag geschrieben hatte, brauchte sie jetzt ein bis zwei Wochen. An diesem Punkt, sagt Karin, hören die meisten auf, beenden endlich ihren Theaterwissenschafts-Bachelor, werden Franchise-Buchhändlerin oder Vapiano-Koch. Andere jedoch, die es aus Stolz oder Frust nicht über sich bringen, noch einmal eine andere Laufbahn einzuschlagen, die stur darauf beharren, als Künstlerin oder Journalistin, auf jeden Fall aber als Autorin tätig sein zu wollen, die schreiben alle irgendwann Listicles für Smile Smile.

Ein Listicle verhält sich zum seriösen Journalismus wie ein McDonald’s-Koch zu einem Gourmet-Chef. Wie Fließbandarbeit, nur mit noch mehr Rückenproblemen. Malen nach Zahlen, ohne jeden künstlerischen Mehrwert, aber trotzdem, meint Karin, trotzdem ist da dieses Klicken, dieses befriedigende Einrasten von einem kleinen, tief vergrabenen Zahnrädchen, jedes Mal, wenn sie eine von diesen furchtbaren Listen fertig hat, auch wenn es nur die Top 16 der unbeliebtesten Brendan-Fraser-Filme sind.

Die Fließbandarbeit habe einen befreienden Effekt, sagt Karin. Sie habe sich damit abgefunden, dass sie nie als wahre Comedy-Autorin tätig sein werde. Seit sie bei Smile Smile arbeitet, sei sie endlich wieder in der Lage, in ihrer Freizeit Witze zu machen, so wie sie es früher getan hat. Auf Twitter zum Beispiel. Da postet sie regelmäßig Sachen, die sie vor ein paar Jahren noch für Onlinemagazine verbraten hätte. Sie verspüre keinen Druck mehr, auf Befehl lustig zu sein, und das ermögliche es ihr, endlich wieder lachen zu können. Bryan Donaldson folgt mir inzwischen, sagt Karin und trinkt einen Schluck Bier. Bryan Donaldson hat sogar schon einen Tweet von mir gefavt. Und der ist jetzt immerhin in New York. Wer weiß, vielleicht wird das ja noch was.

2

Ein Listicle ist im Allgemeinen eine Auflistung von Fakten oder Tipps, meist mit einem Clickbait-Titel in der Form: Die Zahlwort Adjektiv Nomen, durch die du etwas Nützliches erfahren wirst! — Nummer 7 ist besonders herausragend! Die 7 besten Zwerge, die hinter einer erstaunlichen Anzahl an Bergen wohnen! — Nummer 7 hat einen lustigen Namen!

Da ein Listicle in der Regel um die zehn Teile hat, erwähnt man meistens die Nummer 7 als spezielles Element, weil sie weiter hinten im Text liegt, sodass man fast den ganzen Artikel durchstöbern muss, um zur verheißenen Nummer vorzudringen. Zudem haftet der Zahl 7 von Natur aus eine Magie an, die dem Artikel das gewisse Etwas verleiht.

Karin ist die beste im Listicle-Schreiben. Während ich mich in den ersten Wochen mit meinen Artikeln abplage, sitzt sie neben mir mit angewinkelten Beinen auf ihrem Drehstuhl, einen Fidget Spinner in der linken Hand, eine Tasse Kaffee vor sich auf dem chaotischen Schreibtisch, während sie mit rechts ihre Texte runterschreibt, ohne einen Blick auf die Tastatur zu werfen. Ein klassischer Karin-Trick ist zum Beispiel, die Reihenfolge der Liste durcheinanderzubringen. Manchmal dreht sie sie um, durchmischt sie komplett oder wiederholt mehrmals die gleiche Zahl, nur damit die Leute die Artikel aus purer Verwirrung teilen. Manchmal schreibt sie auch Dinge wie Die 3 besten Arten, seinen Tod vorzutäuschen — Nummer 7 ist nicht in dieser Liste enthalten! Dieses absichtliche Einstreuen von Fehlern, Widersprüchen oder surrealen Momenten ist eine ihrer Spezialitäten, mit denen sie die ganze Sparte revolutionierte.

11 großartige Tipps, dein Leben in den Griff zu kriegen!Nummer 7 wird dich überraschen!

Räum dein Zimmer auf! Ein aufgeräumter Geist wohnt in einer aufgeräumten Wohnung!

Lass genug Raum für kreatives Chaos! Verstreu deine Arbeitsutensilien quer über das Wohnzimmer, so hat Einstein auch gearbeitet!

Schreib ein Manifest, verteile es unter den Studenten, zettle eine blutige Revolution an, bring die Guillotine wieder in Mode, ändere deinen Namen und wandere nach Belize aus, bevor es brenzlig wird, Fun Fun Fun!

Beende deinen 11-Punkte-Listicle bei Punkt 4 lol, Nummer 7 gibt es nicht, Überraschung!

Karin sagt, sie wolle damit eine Philosophie in die Welt tragen, eine Botschaft, dass es keine letztgültige Wahrheit gibt, dass alles mindestens zwei Seiten hat, dass es keine simplen Lösungsansätze für die komplexen Probleme unserer unübersichtlichen Zeit geben kann. Zugegeben, da nimmt sie den Mund etwas voll, für jemanden, der vierzig bis fünfzig Listen über die besten Digimon-Fusionen der dritten Generation geschrieben hat, aber wenn man dem eigenen Tun nicht wenigstens ein Minimum an Sinn andichtet, dreht man früher oder später komplett durch. Wie Gandhi schon sagte: Monotonie erzeugt Kontemplation, und Kontemplation erzeugt Aberglaube, und Aberglaube erzeugt Wahnsinn. Das hat Gandhi natürlich nie gesagt, aber nachrecherchieren lässt sich so was auch nicht. 96 Prozent aller inspirierenden Zitate im Internet sind frei erfunden. Zumindest steht das in einer von Karins Listen.

Das Einzige, was sich als roter Faden durch all ihre Listen zieht, ist der Verweis auf die Nummer 7, die dich schockiert, überrascht und zum Weinen bringt. In jeder anderen Firma wäre Karin mit ihrem Talent binnen kürzester Zeit die Karriereleiter aufgestiegen. Aber bei Smile Smile gibt es keine Leitern.

Smile Smile Lists gehört zusammen mit Smile Smile Fun Videos und Smile Smile Memes zur Smile Smile Inc., einer 2009 gegründeten Firma mit Sitz in Larnaka, Zypern. Darüber steht höchstwahrscheinlich ein russischer Mutterkonzern, da wird die Sachlage aber etwas undurchsichtig. Die Standorte der Firma sind über ganz Europa verteilt. Smile Smile gehören dutzende Listicle-Outlets und Online-Zeitschriften, ebenso viele Instagram-, Facebook-, Twitter- und TikTok-Accounts. Zudem betreibt die Firma vier der zehn erfolgreichsten YouTube-Kanäle, die sich hauptsächlich mit Do-it-yourself-Kochrezepten und Bastelanleitungen, Fetischen, ASMR, Lo-Fi-Hip-Hop-Beats to study or relax to und dem unterhaltsamen Zerstören von teurem Privateigentum beschäftigen. Die Büros sind recht chaotisch organisiert, sodass die Listicle-Schreiberlinge oft mit den Video- und Meme-Departments im selben Raum sitzen, ohne zu wissen, wofür die anderen zuständig sind.

Während ich die Top 15 der tödlichsten Flugzeugabstürze zusammenfasse, filmt sich Marta hinter mir, wie sie sich mit Klebstoff die Zähne putzt. Während ich die Top 7 der grusligsten iranischen Volksmärchen aufliste, macht Yusuf ein Close-up-Video davon, wie er sich lasziv stöhnend eine Glatze rasiert. Cory filmt eine Wassermelone in der Mikrowelle, eine Orange in der Mikrowelle, ein Nokia 3310 in der Mikrowelle, ein iPad in der Mikrowelle, eine kleinere Mikrowelle in einer größeren Mi-krowelle. Marta filmt eine Hydraulikpresse, die eine Mikrowelle zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die eine Champagnerflasche zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die eine ganze Champagnerpyramide zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die ein Nokia 3310 zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die eine andere Hydraulikpresse zerquetscht. Smile Smile zerstört inzwischen so viele Nokias 3310, dass Nokia beschlossen hat, eine Neuauflage davon produzieren zu lassen, nur um sie direkt in die Vernichtung zu schicken.

Der Konzern veröffentlicht wöchentlich um die 500 neue Videos, 2000 neue Listicles und ebenso viele Memes auf diversen YouTube-Kanälen, Webseiten und Social-Media-Accounts. Ich schreibe meine Listen-Artikel, bekomme mein Gehalt von einer obskuren osteuropäischen Bank überwiesen und stelle keine Fragen. Ich lebe mich ein. Ich finde mich ab.

Ich mache die Smile-Smile-Entwicklung durch, wie Marta es nennt. Jeder, der hier anfängt, durchlebt eine Reihe von Phasen. In den ersten ein bis zwei Monaten überkommt einen eine Depression darüber, seine hochgestochenen Träume vom Künstlerdasein aufgegeben zu haben. Dann folgt irgendwann aber ein überraschender Energieschub, wenn man merkt, dass man selbst in der dümmsten, monotonsten Arbeit immer noch eine Form von Selbsterfüllung finden kann. Bei manchen führt diese Sinnlosigkeit aber auch in die totale nihilistische Lebensverweigerung, oder in eine Art religiösen Wahn, wie es schließlich auch bei Karin der Fall ist.

Ich kann ihren Verfall in Echtzeit beobachten, während ich neben ihr arbeite. Es beginnt damit, dass ihre Themen immer drastischer und seltsamer werden. Die 18 besten Alibis bei Fahrerflucht. 9 Methoden, effektiv eine Leiche zu entsorgen. Die 12 besten Jeff Goldblums — Nummer 7 ist Jeff Goldblum! Nach einiger Zeit bemerke ich an ihr jedoch eine tiefgreifendere Persönlichkeitsveränderung. Karin ist der Meinung, sie könne mit ihren Listen die Welt verändern, sie könne subliminale Botschaften nach draußen schicken, die sich unbewusst in den Köpfen der Menschen verankern und so zu einem nachhaltigen Wandel in der Gesellschaft beitragen. Sie beginnt damit, versteckte Botschaften in ihre Listen einzubauen, in den Anfangsbuchstaben jedes Wortes, in den Anfangswörtern jedes Satzes, manchmal auch etwas weniger subtil mit konkreten Aufrufen zu Gewalt und Umsturz. Der einzige Grund, warum Karin noch nicht unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz steht, ist, dass es keiner ihrer Texte je nach draußen geschafft hat.

Die Smile-Smile-Artikel werden nicht direkt veröffentlicht, sondern durchlaufen eine Reihe von Bearbeitungs- und Prüfverfahren. Auf der ersten Ebene werden die Texte an das hausinterne Graphikbüro geschickt, wo zu jedem der Listicle-Punkte ein unterhaltsames Stock-Foto eingefügt wird. Die illustrierten Artikel werden dann an die PR-Abteilung weitergeleitet, wo der Inhalt auf Massentauglichkeit, Zielgruppenrelevanz und Shareability geprüft wird, bevor er dann an die interne Prüfstelle weitergeleitet wird, wo je nach Bedarf rechtlich bedenkliche Inhalte ausgefiltert oder hinzugefügt werden. In einem finalen Überarbeitungsprozess eines weiteren Graphikbüros werden schließlich die Stock-Fotos ausgetauscht, sodass sie zum neuen Text passen. Das Endprodukt hat keinen Überschneidungspunkt mehr mit dem ursprünglichen Text. Die Wahrheit ist, dass kein einziges Wort, das ich oder Karin oder irgendjemand anderer aus unserer Abteilung schreibt, jemals veröffentlicht worden ist.

Bei mir hat es etwa ein halbes Jahr gedauert, bis ich mich mit dieser Sinnlosigkeit abgefunden habe. Karin hingegen scheint es auch jetzt nach knapp drei Jahren noch nicht einsehen zu wollen. Zuerst redet sie sich ein, dass das Korrektorat gar nicht so viel umstreichen würde, dass die Essenz ihres Textes erhalten bleibt, auch wenn sich die Formulierungen verändert haben. Als sie irgendwann einsieht, dass von ihren Texten absolut nichts mehr übrig bleibt, erklärt sie mir, dass sie dennoch mit ihrer Wortwahl die Arbeit der Zensoren und Graphiker beeinflussen könne und indirekt, quasi in homöopathischen Dosen, auch die Gesellschaft verändern werde. Ihre Wörter, die das Korrektorat allesamt ausfiltere, hinterlassen Erinnerungsspuren im Text. Der Text würde nicht so aussehen, wie er jetzt aussieht, hätte sie nicht geschrieben, was sie geschrieben hat. Ein kleines Stück ihrer Arbeit steckt immer noch im Endprodukt. Ihr Genie, ihr Herzblut sind noch irgendwo da draußen. Sie stecke immer noch als Leerstelle in jedem der publizierten Smile-Smile-Artikel, als Essenz, als Seele des Textes, als Nummer 7.

Lange kann sie diese Fantasie nicht aufrechterhalten. Was sie verrückt macht, ist die Tatsache, dass sie jahrelang dafür bezahlt wurde, Wörter zu schreiben, nur damit sie von jemand anderem gelöscht werden. Wir verdienen unser Geld, indem wir aktiv am Produkt vorbei ins Leere arbeiten. Keine der Listen, die sie mir täglich stolz zeigt, keiner der Texte, die ich für sie testgelesen habe, all die Witze und Geschichten, nichts davon überlebt. Ihre Stimme wird immer kälter. Ihre Stimmung immer ruhiger.

Am Tag, als Karin den Verstand verliert, schreibt sie neun Stunden am Stück, ohne ein einziges Mal vom Bildschirm aufzusehen. Ihre rechte Hand entfernt sich nur ab und zu von der Tastatur, um dem Fidget Spinner in ihrer linken neuen Schub zu geben. Sie hat fast 500 Listen geschrieben, darunter sogar einige wirklich gute. Ich frage sie mehrmals, ob sie einen Kaffee trinken gehen will, aber sie reagiert auf nichts. Sie hat gerade einen Artikel über die 24 zugekokstesten Nicolas-Cage-Auftritte fertig geschrieben und abgeschickt, wissend, dass der Schauspieler durch einen passenderen ersetzt würde, die Droge ebenfalls, und schließlich das gesamte Thema. Sie erhebt sich von ihrem Drehstuhl, geht ruhigen Schrittes quer durch das Büro zum Video-Department, steuert eine der Hydraulikpressen an, in die Marta gerade eine Mikrowelle eingespannt hat, und steckt ihre rechte Hand im letzten Moment zwischen die Aluminiumabdeckung der Mikrowelle und den unnachgiebig herabfahrenden Edelstahlzylinder, der so widerstandslos durch sie hindurchgleitet, als wäre sie überhaupt nicht da.

Da ist er: der kurze Moment, in dem alles im Büro stillsteht. So lange, bis die Situation entschärft ist und man den normalen Betrieb wiederaufnehmen kann. So lange, bis der Fidget Spinner in ihrer unversehrten linken Hand aufgehört hat, sich zu drehen, und mit einem leisen Klicken in seine Ruheposition zurückgekehrt ist.

In den darauffolgenden Tagen geht das Video von Karins Unfall viral und löst einen internationalen Streit um YouTubes Ethik-Richtlinien aus, der nach einer Woche wieder abflaut. Es ist das bis dato vierterfolgreichste Video der Firma, direkt nach Diana und Paul backen Valentinsherzen mit Senf PRANK.

Als ich Karin einige Wochen später in der Klinik besuche, wirkt sie den Umständen entsprechend stabil. Auf einem kleinen Tisch liegen Blumen, Nikotinkaugummi und eine von allen Kolleginnen und Kollegen unterschriebene Karte. Ich habe einen Plastikkaktus dazugestellt, weil mir nichts anderes eingefallen ist. Karin hat sich eigenständig das Schreiben mit der linken Hand beigebracht, die Wände ihres Zimmers über und über mit krakeligen, schief gesetzten Listen bedeckt und besteht darauf, dass sie korrigiert und gelöscht werden. Die Putzkräfte des Spitals spielen Lektorat. Wenn sie zum Reinigen kommen, erkundigt sie sich immer höflich, ob die Listen länger oder kürzer sein sollen, mehr oder weniger popkulturelle Anspielungen oder Schockfaktoren brauchen und wie sie vom Publikum aufgenommen werden. Ab und zu schreibt sie wirre Gedankenfetzen auf Twitter. Das Handy hat man ihr nicht weggenommen. Sie scheint ein gutes Verhältnis zur Belegschaft und ihren Mitbewohnerinnen zu haben. Einmal die Woche liest sie dem versammelten Flügel einige ihrer Texte vor und erhält durchaus positives Feedback. Alles in allem macht sie keinen schlechten Eindruck. Nur als ich ihr sage, wie sehr ich und die anderen sie im Büro und im Club vermissen würden, fällt ihr Gesichtsausdruck in sich zusammen, und sie spricht kein Wort mehr mit mir, bis ich mich verabschiede. Als ich im Türrahmen stehe, höre ich noch einmal ihre Stimme hinter mir.

Hat dich Nummer 7 zum Weinen gebracht?

Ich überlege.

Ja, Nummer 7 hat mich immer zum Weinen gebracht.

Schön, sagt Karin. Sag Bescheid, wenn ich etwas ändern soll.

3

Auf dem Weg ins Büro halte ich etwa auf halbem Weg mit dem Fahrrad auf einer Brücke über einer stillgelegten Bahntrasse. Der Weg, den mir Google Maps anzeigt, scheint falsch zu sein. Er zeigt einen kleinen blauen Punkt, dessen Lichtkegel sich nach Westen bewegt. Eine Anzeige, die offensichtlich nicht stimmen kann, da ich von der Brücke aus zu meiner Linken direkt zur Spitze des Baggers 366 im nördlichen Braunkohle-Tagebau sehen kann und mich daher eindeutig nach Osten bewege. Ungläubig beobachte ich, wie der blaue Punkt immer weiter nach Westen wandert. Schließlich passiert er die Stadtgrenze und betritt direkt die nächste Stadt, die nächste in der nahezu endlosen Reihe zusammengewachsener Siedlungen. Kurz bevor der Punkt verschwindet, passiert eine Art Glitch. Für einen Moment zeigt der Bildschirm zwei Punkte an — einen an der Stelle, wo ich mich tatsächlich befinde, und einen weiteren am Stadtrand, der sich immer weiter entfernt. Beide leuchten kurz blau auf, dann verschwinden sie zusammen mit dem Handyempfang. Ich tippe mehrmals erfolglos auf Neu kalibrieren, gebe schließlich auf und fahre, auf meinen Instinkt vertrauend, weiter über die Brücke — den gigantischen Schaufelradbagger 366 immer in der Ferne zu meiner Linken. Angeblich handelt es sich dabei um das größte Landfahrzeug, das je gebaut wurde. Eine Maschine, um die Kohle aus dem Boden zu bekommen, die man braucht, um den Stahl herzustellen, aus dem die Maschine gebaut ist. Bald wird sie stillstehen. Ein Konstrukt von derart monströsen Ausmaßen kann man nicht mehr in seine Einzelteile zerlegen. Man wird 366 einfach dort stehen und verrosten lassen oder in eine Touristenattraktion umwidmen. Schon jetzt kann man auf einer Bustour durch die leergeräumten Abbaugebiete daran vorbeifahren, Fotos machen, sich damit filmen. Vielleicht machen sie ein Riesenrad daraus, auf dem tagsüber Rentner mit ihren Enkeln fahren und auf das nachts verliebte Steampunks klettern, um sich den Sonnenaufgang durch Schweißerbrillen anzuschauen. Der Boden wird voll mit Bierdosen und Kondomverpackungen sein.

Mit dem Ende der Kohle sind alle weggegangen. Eine gigantische Stadtflucht aus Städten, die nie wirklich Städte waren. Dysfunktionale Gebilde, die Städten gleichen, aber im Inneren nicht lebensfähig sind. Abgeschaltete Satelliten, die ein schwarzes Loch umkreisen. Hier ist nichts. Nur Kohle. Keine Flüsse, keine Seen, kein Leben. Nur Kohle. Und bald nicht einmal mehr Kohle. Diese ganze Gegend, ein eigentümliches Metaobjekt aus Stahl und Ziegeln, das um die Kohleschächte, Zechen und Eisenhütten gewachsen ist und sich immer weiter ausbreitet wie ein eigenständiger Organismus. Ein anorganisches Organ aus Schlacke, Chrom und Kohlestaub, das das Es verkörperte, wann immer jemand in den letzten zweihundert Jahren behauptete, Es würde vorwärts gehen, Es würde besser werden, Es würde wachsen und gedeihen. Früher war hier alles flach. Die einzigen Erhebungen, die Hügel und winzigen Berge, die es heute gibt, sind ausnahmslos Abraummassen aus den unterirdischen Bergwerken, wertlose Erde, wertloses Gestein, giftige Schlacke aus der Stahlproduktion, alles hat man mit Seilbahnen auf künstliche Hügel gezogen, mit einer dünnen Schicht Muttererde überzogen und notbegrünt.

Was übrig bleibt, sind rudimentäre Infrastruktur, leere Pipelines und stillgelegte Gleise. Was bleibt, sind Bohrlöcher, Schlaglöcher, mit Grundwasser volllaufende Stollen und leerstehende Gebäude zu Schleuderpreisen. Eine Ghost City.

Eine Geisterstadt — das ist ein vom Tag ausgelaugter Fahrradkurier, der in der morgendlichen Stoßzeit wahnsinnig wird und einem Fußgänger bei Rot an der Kreuzung die Sehnen zerreißt. Tausend kulinarische Gerüche aus aller Welt, aber kein einziges offenes Restaurant. Verwahrloste Bushaltestellen, leergeräumte Schaufenster und vergilbte Plakate. Menschen, die sich in den ehemaligen Fabrikgebäuden ans dünne Glas lehnen und überlegen, wie viel Gewicht es wohl aushält und was ein Sturz aus dieser Höhe bestenfalls anrichten könnte. Offene Belüftungsschächte, die die ungeheure Hitze der Kryptomining-Prozessoren ungenutzt auf die gefrorenen Bürgersteige evakuieren. Eine Geisterstadt, das ist der asynchrone Chor tausender nervöser Telefone, der links und rechts aus gekippten Fenstern singt. Die im Wochenrhythmus hastig hinein- und hinausgetragene Büroeinrichtung manisch erdachter und sofort wieder verworfener Gründungsideen. Gescheiterte Online-Marketing-Firmen und Tech-Start-ups. Sie sind nicht bankrott, sie sind im Winterschlaf. Man macht keinen Verlust, man macht weniger Gewinn. Man verliert nicht, man spielt noch. Man spielt als restbetrunkene, notkoffeinierte Einunddreißigjährige, die mit toten Augen vom Fahrrad auf den durchgewetzten Bürostuhl stürzt, in die ehemals ergonomische Lehne, die sich über die Jahre hinweg der ungesunden Körperhaltung angepasst hat, statt sie zu korrigieren.

Ich richte mich auf und schreibe einen Artikel über die besten Power-Couples des letzten Jahres. Ich hole mir noch einen Kaffee und schreibe einen Artikel über die lustigsten Momente aus der Tierwelt. Ich stecke mir eine Zigarette in den Mund, widerstehe dem Drang, sie hier und jetzt anzuzünden, und schreibe einen Artikel über die schlechtesten Filme der letzten elfeinhalb Monate. Dann stelle ich mich zehn Minuten vor die Tür und schaue rauchend durch die Fenster in unser Bürogebäude. Von außen sieht es eigentlich richtig schön aus. Wie ein altes, prunkiges Bahnhofsgebäude um 1900. Komplett aus roten Ziegeln gebaut, mit großen, runden Kirchenfenstern aus bunten Glaskacheln und mit kleinen Türmchen an den Gebäudeecken. Nur der Förderturm selbst, ein großes, grün angestrichenes Stahlgebilde, wurde vor Jahrzehnten entfernt und ein paar Kilometer weiter als Dach eines neuen Museums wieder aufgestellt. Gegenüber von unserem Büro steht in einiger Entfernung das neue Logistikzentrum von Rabbiz. Einige lokale Zeitungs- und Radio-Leute haben sich vor der Einfahrt versammelt, um dem Bürgermeister — eine wohlgenährte Solariumsbräune — bei der feierlichen Enthüllung des neuen Firmenstandortes zuzuschauen. Im Gegensatz zu unserem Bürogebäude wurde das Rabbiz-Logistikzentrum komplett neu gebaut. Früher stand dort die alte Kokerei von Hoff.

Angekündigt war die Eröffnung bereits vor zwei Jahren, als die Metropolverwaltung beschlossen hatte, das Areal der Kokerei zum Verkauf anzubieten. Die Gegend um das Werk herum hatte als Lost Place gegolten. Ein Ort, an dem nichts mehr war, nur toxische Böden und wie überall massenhaft ungesicherte Schächte, in die ab und zu Kinder und Wanderer einbrachen und dann gerettet werden mussten. Dem Bürgermeister kam es daher nur gelegen, dass sich eine große Firma wie Rabbiz für das Areal interessierte. Das Grundstück wurde fast hergeschenkt, unter der Bedingung, dass Rabbiz lokale Arbeitskräfte anstellen würde. Die Metropolverwaltung subventionierte sogar die Grundsanierung des Bodens zu einem beträchtlichen Teil. Allerdings war unklar, was alles saniert werden musste. Der Boden war zu großen Teilen hohl, und es kann heute nicht mehr nachvollzogen werden, wo überall Schächte gegraben wurden, weil jahrhundertelang niemand darüber Buch führte.

Die Eröffnung des Logistikzentrums musste mehrmals verschoben werden. Der Bürgermeister hatte extra eine neue Rolle rotes Samtband besorgt und seine überdimensional große Schere aus dem Schrank geholt, die er sich vor etlichen Jahren mal zugelegt hat, weil er das aus amerikanischen Filmen kannte und hoffte, es würde Eindruck bei der Lokalpresse machen. Die Eröffnung wurde so lange verzögert, dass die Schere Rost angesetzt hatte und neu geschliffen und geölt werden musste.

Das Tiefbauamt hatte zunächst nur grob geschätzt, wie viele tausend Tonnen Beton man zum Verfüllen der unterirdischen Hohlräume benötigen würde. Man holte Unmengen an Betonmischern heran und sah dem zähflüssigen Gemisch dabei zu, wie es in den Erdboden sickerte … und verschwand. Irgendwann war der Beton aufgebraucht und hatte noch nicht einmal ansatzweise die Erdoberfläche erreicht. Schließlich benötigte man fast das Dreifache der vereinbarten Menge, um all die unentdeckten Schächte zu füllen und ein halbwegs stabiles Fundament zu bauen. Niemand wusste, was dort alles lagerte, wie viele Arbeitsgeräte, Waffen und Skelette man da gerade zugeschüttet hatte, und niemand würde es je wissen. Der Beton legte sich, wurde glattgestrichen, und man konnte mit dem Bau der Warenhalle beginnen.

Laut Website ist das neue Logistikzentrum von Rabbiz eines der neuesten in ganz Europa und schafft für die lokale Gemeinschaft hunderte neue Arbeitsplätze. Zudem werden internationale Investoren damit ins Land gelockt, wodurch auch die regionale Wirtschaft angeregt wird. Auf 30.000 Quadratmetern arbeiten bis zu 1200 Menschen und kümmern sich fürsorglich um die Bestellungen und Wünsche der Bevölkerung.

In der Job-Ausschreibung zum Junior Product Assistant (m/f/d) steht, dass es die Firmenphilosophie von Rabbiz sei, jeden Tag als den ersten Tag zu betrachten.

Der Text der Stellenausschreibung lautet: Jeder Tag ist ein neuer Tag. Jeder Tag ist eine neue Chance. Jeder Tag ist ein Tag, aus dem du dein volles Potenzial schöpfen kannst und deiner Verwirklichung einen weiteren Schritt hinzufügen. Jeder neue Schritt ist der erste Schritt. Und dein Tag bei Rabbiz bedeutet Leidenschaft für deine Arbeit und die Energie, die Rabbiz