Cursed - Katharina Sommer - E-Book

Cursed E-Book

Katharina Sommer

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Beschreibung

Ein Blick hinter eine Mauer aus Stolz, die Herz und Vertrauen auf die Probe stellt. Als frisch verliebte Dämonenjägerin ist die 16-jährige Ginny vollauf damit beschäftigt, die Balance zwischen Alltag und Übernatürlichem zu finden. Leichter gesagt als getan. Nachdem es zwischen dem verrufenen Dämon Hunter und den Clans zum endgültigen Bruch gekommen ist, weiß Ginny nicht, wem sie noch trauen kann. Selbst Ethan scheint etwas vor ihr zu verbergen, dennoch begibt sie sich mit ihm auf die Suche nach ihrem verschwundenen Bruder. Im Zuge dessen muss sie nicht nur ihre eigene Stärke unter Beweis stellen, sondern erfährt auch von den Abgründen der Dämonenjäger. Von der Wahrheit enttäuscht, ist es ausgerechnet ein Dämon, der Ginnys Vertrauen für sich gewinnt. Denn er hat einen Plan und niemand außer ihr kann ihm dabei helfen.

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Seitenzahl: 342

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

CURSED

(2)

Text © Katharina Sommer, 2022

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Marie Weißdorn

Satz & Layout: Phantasmal Image

Innengrafiken © shutterstock

E-Book: Grit Bomhauer

ISBN 978-3-947147-97-7

© GedankenReich Verlag, 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Tante Maxi,

weil du immer für mich da bist.

Es war finster und kalt in den schottischen Highlands. Christian Follett atmete aus und weiße Wölkchen entstanden vor seinem Gesicht. Frustriert seufzte er und zog den Schal hoch bis zur Nasenspitze.

»Daaad«, sagte er gedehnt und stellte eine unglückliche Miene zur Schau. »Das ist doch Blödsinn. Da ist niemand!«

»Wheesht«, erwiderte sein Vater verärgert, was in seinem schottischen Dialekt so viel hieß wie: Sei leise.

Nun erst recht eingeschnappt, senkte Christian den Kopf und scharrte ungeduldig mit den Fußsohlen im Schnee.

»Ich möchte heim«, meldete sich auch der zweite Junge zu Wort und blickte unter seiner wollenen Mütze hervor. Er legte den Kopf in den Nacken und sah bettelnd zu seinem Vater hoch.

»Still jetzt! Oder wollt ihr, dass sie uns entdecken?«, brauste jener auf. Jedoch flüsternd – versteht sich. Andernfalls könnte schließlich ein nicht vorhandener, blutrünstiger Dämon hinter dem nächsten Baum hervortauchen, um sich auf sie zu stürzen.

Christian verdrehte genervt die Augen und wechselte einen Blick mit seinem Bruder. Wären die unterschiedlichen Farben der Mützen nicht gewesen, hätte man die zwei Jungen nicht auseinanderhalten können. Selbst der Gesichtsausdruck der Zwillinge war gleich verdrießlich.

Einige Minuten vergingen, während die dreiköpfige Gruppe schweigend im Gebüsch kauerte und sich am schneebedeckten Boden die Seele aus dem Leib fror.

»Lasst uns gehen. Es ist kalt und Mrs Boyle hat bestimmt etwas Leckeres gekocht«, startete der aufmüpfige Jonathan einen erneuten Versuch, der misslichen Lage zu entrinnen.

Doch es half nichts! Ihr Vater rührte sich nicht von der Stelle und die Zwillinge schnauften unisono auf. Immer wenn ihr Vater in dieser Laune war, konnte nichts und niemand ihn wieder in die Realität zurückholen.

»Ich habe auch Hunger«, ergänzte Christian und schlug sich auf die Seite seines Bruders. Das laute Knurren seines Magens hatte bestimmt schon alle Dämonen vertrieben, das würde zumindest erklären, warum sie seit Stunden vergeblich warteten.

»Sei still, Junge«, zischte ihr Vater ungehalten.

Wenn Blicke töten könnten …

Dann knackte es.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr Christian herum. War das das Zeichen, auf das sie gewartet hatten? Mit einem Puls von 180 scannte er die Umgebung, doch in der Dunkelheit fiel es ihm schwer, auch nur irgendetwas auszumachen.

»Sie sind da!«, verkündete der Vater mit düsterer Stimme und so grotesk die Situation auch war, sie bescherte Christian eine Gänsehaut.

Gebannt beobachtete er, wie sein Vater die Pistole lud. Erst im letzten Moment begriff er, wie töricht es war, unbewaffnet in der Gegend herumzustehen, woraufhin er mit zitternden Händen nach dem Silberdolch griff, der seitlich in seinem rechten Stiefel steckte. Er richtete sich wieder auf und schloss die Finger fest um den Griff. Sein Atem ging rasselnd, angstvoll stellte er fest, dass er damit für jeden Dämon in einem Umkreis von 100 Meilen zu hören war und somit ein leichtes Ziel abgab. Schnell ermahnte er sich zur Ruhe und hielt für einige Sekunden die Luft an, bis er seine Angst wieder unter Kontrolle hatte.

Geduckt pirschten sie sich aus dem Unterholz, weiter auf die ungeschützte Lichtung zu. Der Mond beleuchtete den Untergrund nur spärlich und Christian musste aufpassen, über keine Wurzel zu stolpern. In der Mitte der baumlosen Lichtung angekommen, stellte sich die kleine Gruppe Rücken an Rücken auf, sodass jeder eine Richtung genauestens (oder zumindest, so weit das in der Dunkelheit möglich war) im Blick hatte.

Er ließ den Dolch in seine Jackentasche gleiten und zog wie sein Vater eine Pistole aus dem Holster des Waffengürtels, der bisher unter seinem Anorak versteckt gewesen war. Kein gewöhnlicher Anblick eines zwölfjährigen Jungen. Als er die Waffe lud, zuckte sein Blick angespannt hin und her. In Kobragift getränkte Patronen – in der richtigen Dosis tödlich für einen Dämon, aber natürlich auch für ihn, einen Menschen. Genauso wie die Kraft einer Dämonenhand, die ihm das Herz herausriss.

Christian schluckte heftig.

Jake Follett drängte seine Söhne noch ein wenig weiter in die Mitte, dann hoben alle drei wie auf ein Stichwort die ausgestreckten Arme um neunzig Grad an. Suchend durchbohrte Christians Blick jeden Baum, jedes Blatt.

Es raschelte.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Seine Hände an der Pistole zitterten, während er in die Dunkelheit zielte. Mit zum Zerreißen gespannten Nerven starrte er der dunklen Bedrohung entgegen und ließ den Wald nicht aus den Augen. Jede Sekunde zählte.

Ein Knacken.

Ein huschender Schatten!

Er drückte den Abzug, schoss die erste Kugel und verfehlte. Nun war der Dämon nicht mehr aufzuhalten. Gleich würden die Krallen des Monsters durch seine Brust fahren und sich in einer kalten Faust um sein Herz legen! Mit angstvoll geweiteten Augen blickte er seinem Schicksal entgegen und wartete auf das Ende.

Doch dann!

Verwirrt blinzelte er gegen die Dunkelheit an, bis sich sein Blickfeld schärfte und das Monster klare Gestalt annahm.

»Ein Eichhörnchen – Dad, ernsthaft?«, rief Christian entgeistert. Er machte sich nicht mehr die Mühe, die Lautstärke seiner Stimme zu drosseln und seine Worte hallten laut von den Bäumen wider.

Frech und fröhlich mit dem buschigen Schwanz wedelnd, sprang das kleine, rostrote Tier auf den nächsten Baum und Schnee prasselte auf sie nieder. Vermutlich lachte es sich gerade dumm und dämlich über ihn, wie er sich hier total zum Idioten gemacht hatte.

Bäh, als würden Dämonen tatsächlich existieren!

Ein monotones Piepen drang an mein Ohr, langsam tauchte mein benebelter Geist aus der Versenkung auf und ich erwachte.

In meinem Kopf pochte es schmerzhaft und zischend zog ich Luft ein. Meine Lider flatterten, ich schlug die Augen auf und blinzelte einige Male, um die verschwommene und trübe Sicht zu klären. Abgesehen von der Tatsache, dass es dunkel war, erkannte ich nicht viel. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

Ich hob die Hand, traf jedoch auf Widerstand. Verwirrt zog ich daran, bis es schmerzhaft an meinem Handgelenk ziepte. Dabei handelte es sich um Kabel, die mich mit dem neben meinem Bett stehenden Monitor verbanden. Vorsichtig richtete ich mich auf, doch die Bewegung tat mir alles andere als gut und mein Kopf meldete sich protestierend. Ein heftiger Schmerz zuckte durch meine Schläfe.

Bereits von dieser kleinen Bewegung erschöpft, sank ich zurück in die Kissen und überließ das Erkunden den Augen. Mein Blickfeld schärfte sich und ich gewöhnte mich einigermaßen an die dunklen Lichtverhältnisse. Abgesehen von dem Bett, in dem ich lag, den Monitoren, einer in der Ecke stehenden Topfpflanze, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem weiß lackierten Schrank befand sich nicht mehr im Raum. Auch vor dem Fenster war es dunkel und meine Beunruhigung wuchs weiter. Die einzige Lichtquelle war das Licht der Neonröhren, welches durch eine Glasscheibe neben der Tür vom Gang zu mir drang. Die Jalousie war auf halbe Höhe heruntergezogen, sodass durch die Schlitze das Licht schwache Schatten in das dunkle Zimmer warf.

Der sterile, beißende Geruch hätte es mir schon verraten sollen – ich befand mich im Krankenhaus. Ein Blick an mir hinunter bestätigte meine Annahme. Ich trug ein kittelartiges Nachthemd, das ganz offensichtlich nicht aus meinem Kleiderschrank stammte.

Die Erinnerung daran, wie ich hierhergekommen war und vor allem aus welchem Grund, war verschwommen. Jegliche klare Gedanken schienen wie hinter einer Nebelwand versteckt.

Ein Schatten fiel zwischen der Jalousie vom Gang in den Raum und weckte meine Aufmerksamkeit. Ich richtete mich auf und wäre gerne in ein Versteck abgetaucht, aber die Kabel hielten mich an Ort und Stelle gefangen. Mein Puls beschleunigte und ich schluckte schwer, während mein Herz drohte, mir aus der Brust zu springen.

Nach einem kurzen Zögern der Gestalt öffnete sie die Tür und helles Neonlicht flutete in den dunklen Raum wie der Kegel eines Scheinwerfers. Ein schwacher Schatten hob sich ab und ich identifizierte eine große, aufrechtstehende Person mit Stock.

»Grandpa?«, fragte ich zaghaft und blinzelte gegen die Helligkeit an.

»Ginny, Schatz. Du bist wach. Aye, das ist wunderbar.« Mein Großvater klang erleichtert und im Vergleich zu seiner sonstigen Kühle fast schon sanft. »Darf ich hereinkommen?«

Unsicher nickte ich. Leise schloss er die Tür hinter sich und zog einen freien Sessel heran, während ich die Nachttischlampe anknipste.

»Dein Vater hat sich große Sorgen gemacht«, eröffnete er das Gespräch zögerlich und zeigte die Andeutung eines Lächelns.

»Was ist passiert? Ich erinnere mich nicht, wie ich ins Krankenhaus gekommen bin.« Die Unwissenheit bescherte mir ein mulmiges Gefühl im leeren Magen und meine Schläfen pochten unangenehm.

»Eins kann ich gleich vorneweg nehmen: Du hast uns einen schönen Schreck eingejagt«, sagte er und verzog das Gesicht zu einer seltsamen Grimasse.

Verwundert rang ich mir ein Lächeln ab, so viele Emotionen war ich von ihm gar nicht gewohnt, denn für gewöhnlich hielt er jegliche Gefühlsregungen hinter einer strengen Fassade versteckt.

»Du bist in der Schule bewusstlos geworden. Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst, aber ihr habt eine Klausur geschrieben.«

Vage Erinnerungen tanzten vor meinen Augen.

Ich sah Archie vor mir, wie er sich mit einer Sorgenfalte auf der Stirn zu mir beugte und etwas sagte. Danach war alles wie weggewischt.

»Du bist zusammengebrochen. Dabei hast du dir eine leichte Gehirnerschütterung und eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen.«

Automatisch griff ich an meinen Kopf. Der raue Verband fühlte sich fremdartig unter meinen Fingern an.

»Ungewöhnlich ist jedoch, dass dein Mitschüler felsenfest behauptet, du hättest davor schon eine Wunde an deinem Hals gehabt. Erinnerst du dich noch an irgendwas?« Aufmerksam beäugte Grandpa mich.

Die Zahnrädchen in meinem Kopf ratterten, doch die Bilder blieben unscharf. Hinzu kam die Erinnerung an einen Zettel, die durch meinen Kopf spukte.

»Es war Archie, richtig? Er hat mit mir gesprochen, bevor ich das Bewusstsein verloren habe.«

Ich erinnerte mich an seine Stimme, aber nicht an die Worte. Wie ein Echo hallten sie durch meinen Kopf – ein Gedanke jagte den nächsten. Die Erinnerung war zum Greifen nah.

»Ja, es war Archie. Aber mach dir keine Sorgen. Dir wird alles wieder einfallen, bis dahin ruhe dich aus.« Grandpa klang geradezu fürsorglich.

»Ich war den ganzen Tag nicht ansprechbar?« Der Dunkelheit nach zu schließen, war es bereits nachts.

»Laut dem Arzt hat dein Körper die Auszeit gebraucht. Die Überanstrengung, der Schlafentzug, die Hitze und natürlich die Sorge um Christian haben vermutlich den Kollaps ausgelöst – die letzten Tage waren wirklich viel für dich. Es tut mir leid, dass wir dich diesen ganzen Strapazen ausgesetzt haben.«

Es tat gut, die Entschuldigung zu hören, aber für die Sache, die mich am meisten beschäftigte, konnte er nichts. Stattdessen fühlte ich mich schuldig. Denn eines war mir mittlerweile klar: Hunters Interesse galt mir und hätte er nicht einen Weg gesucht, an mich heranzukommen, hätte Chris ihm niemals in die Quere kommen können.

»Schon gut. Ich fühle mich wie neu geboren. Mir geht es bestens«, log ich.

Grandpa wirkte so besorgt, aber da er sich um Chris schon genügend Sorgen machte, wollte ich sein Stresslevel meinetwegen nicht auch noch in die Höhe treiben.

»Das erleichtert uns alle. Es ist spät und die Besuchszeit ist eigentlich schon lange vorbei. Ich werde deinen Vater anrufen, um ihm zu sagen, dass du wach bist. Er musste zurück zum Anwesen, da eine Patrouille einen möglichen Hinweis auf Hunters Verbleib gefunden hat. Nach der Gala ist er sofort verschwunden und wenn wir wissen, wo sein Unterschlupf ist, ist die Chance groß, dass wir Christian finden.«

Mein Bruder war nun seit fast drei Wochen verschwunden und erst gestern hatte ich den entscheidenden Hinweis von dem berüchtigten Dämon Jasper Hunt (überall als Hunter bekannt) höchstpersönlich bekommen. In der direkten Konfrontation hatte er geradezu zugegeben, hinter Chris’ Verschwinden zu stecken.

Das sollte nicht weiter verwunderlich sein, schließlich waren Dämonen und Clans seit Anbeginn der Zeit verfeindet. Was es jedoch weit komplizierter machte, war die Tatsache, dass Hunter nicht nur Dämon, sondern auch selbst Dämonenjäger war und das Angebot für eine Allianz gestellt hatte, wenn ich ihm als Partnerin zur Seite stehen würde. Chris musste unterdessen etwas Schreckliches über ihn in Erfahrung gebracht haben, weshalb er entführt worden war. Schrecklich waren auch die Szenarien, die ich mir ausmalte, wenn ich darüber nachdachte, wo Chris gerade sein könnte. Denn in einem Nobelhotel hatte ihn Hunter ganz bestimmt nicht untergebracht. Innerlich drehte ich bei der Vorstellung, wie er von Hunters Dämonen eingesperrt und bewacht wurde, fast durch. Ich fühlte mich so untätig und hilflos und egal, was ich machen würde, es würde nichts ändern. Zum Glück war Dad und Grandpas Vertrauen in die Fähigkeiten der Clans groß und in diesem Punkt musste ich ihnen wohl ebenso vertrauen, wenn ich mich nicht selbst wahnsinnig machen wollte.

»Welche Patrouille? Waren Jon und Ethan auch dabei? Was haben sie herausgefunden?«, ratterte ich die Fragen hinunter.

Keine Ahnung, wie ich auf die Idee kam, Grandpa würde sie mir diesmal beantworten. Schließlich war Geheimhaltung sein größtes Hobby.

»Damit möchte ich dich keinesfalls auch noch belasten. Wir haben alles unter Kontrolle und werden Christian in Nullkommanichts finden. Ruh du dich aus!«, ordnete Grandpa mit üblicher Strenge an.

Ich lächelte matt. Auch wenn ich es hasste, wenn Grandpa meinen Fragen auswich, spürte ich, dass er mir diesmal tatsächlich aus Fürsorge keine Antworten gab, über denen ich andernfalls wieder stundenlang gebrütet hätte. »Das werde ich. Danke, dass du da warst.«

Seit er mir an meinem Geburtstag vergangenen Samstag das Geheimnis um unsere Familie anvertraut hatte, war das unsere erste wirklich freundliche Unterhaltung gewesen. Vielleicht hatte ein Krankenhausaufenthalt ja doch etwas Gutes.

Dass Grandpa mir bewusst keine Informationen zum Stand der Suche gegeben hatte, verhinderte allerdings nicht, dass sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf zu drehen begann. Natürlich dachte ich an Hunter. Er war der Grund, warum alle Clans in Aufruhr waren und mein Bruder als entführt galt.

Auf der Gala der Clanfamilie Fortescue waren wir gestern zum ersten Mal mit Namen bekannt gemacht worden. Ich war aus allen Wolken gefallen, als mir plötzlich der blonde junge Mann mit den grünen Augen gegenüberstand, dem ich am Vortag in einer alten Lagerhalle voller Bücher zufällig über den Weg gelaufen war. Zufällig war in jenem Fall allerdings ein relativer Begriff, schließlich hatte ich den Beweis, dass Hunter mich seit über einem Jahr auf dem Radar und mir den ein oder anderen Dämon auf den Hals gehetzt hatte, in Form eines Fotos von mir und Ethan in Hunters Sachen gefunden. Die Habseligkeiten eines gefährlichen Dämons zu durchsuchen, war womöglich nicht die klügste Idee gewesen, aber da er weder wie Frankensteins Monster noch wie Graf Dracula aussah, hatte mich zu meiner Schande seine galante Art ein klein wenig eingewickelt und ich hatte die gesunde Portion Angst außer Acht gelassen.

Ja, das war blöd gewesen. Aber nach den vagen Erzählungen über den jahrtausendealten Dämon hatte ich mir Hunter bei Gott anders vorgestellt. Nicht so jung, attraktiv und charmant. Das hatte es irgendwie schwerer gemacht, ihn von Anfang an als das Monster zu sehen, als welches er sich schlussendlich herausgestellt hatte. Nachdem der Abend mit einem Kampf geendet hatte, war Hunters Angebot, mit mir zusammenarbeiten zu wollen, um die Dämonen von der Erde zu vertreiben, endgültig vom Tisch. Vor allem, da er auch hinter dem Verschwinden meines Bruders steckte. Er hatte so ruhig geklungen, als er mir die Drohungen ins Ohr geflüstert hatte. Allein der Gedanke an seine Stimme verursachte eine Gänsehaut auf meinen Armen und ich fröstelte.

Ich jage dich.

Das hatte auf dem Zettel gestanden. Hunter – ich wusste, dass er es gewesen war. Nur konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, was er damit bezwecken wollte. Mich in Todesangst versetzen? Sollte das der Plan gewesen sein, hatte es geklappt. Unruhig wälzte ich mich im Bett herum. Hunter brauchte mich für seinen Plan und hatte Christian entführt.

Klar war, dass ich mit meinem Verhalten gestern auf der Gala die gesamte Sympathie, die der Dämon mir entgegengebracht hatte, vollends verloren hatte. Er würde mir unweigerlich misstrauen, und das zu Recht. Ich war in sein Zimmer eingebrochen und hatte es von oben bis unten durchsucht. Nicht gerade eine gute Basis für ein vertrauensvolles Verhältnis.

Ich seufzte und bettete das Kinn auf meine angezogenen Knie. Zum Glück kam nach einer Weile eine Krankenschwester und unterbrach mein fiebriges Gedankenchaos kurzzeitig. Nach einer kurzen Überprüfung meiner Werte befreite sie mich von der Infusion und den Kabeln der Geräte, woraufhin ich mich wieder frei bewegen konnte. Obwohl sie beim Verlassen des Zimmers streng verlangte, dass ich mich wieder schlafen legen sollte, konnte ich nicht stillsitzen. Nachdem ich den ganzen Tag verschlafen hatte, war ich nun hellwach und bekam kein Auge zu. Rastlos wanderte ich durch das dunkle Zimmer.

Mittlerweile war es auf der Station mucksmäuschenstill und die Besuchszeit längst überschritten, weshalb ich alarmiert aufhorchte, als ich durch das Fenster auf den Flur wieder eine Gestalt bemerkte. Dem ruhigen Gang nach zu schließen, handelte es sich weder um den Stationsarzt noch um eine der Schwestern. Angespannt trat ich näher, um einen Blick durch die Lamellen der Jalousie zu werfen. Die Person verharrte vor der Tür zu meinem Krankenzimmer.

An der Art, wie sie sich bewegte, erkannte ich, dass es weder Dad noch Grandpa sein konnte. Es klopfte ganz leise an der Tür, was auch Jon ausschloss – ihm fehlte die Höflichkeit dazu. Mein Herz schlug ganz automatisch einen Tick schneller. Natürlich war meine Angst lächerlich, immerhin würde ein feindlich gesinnter Dämon wohl kaum anklopfen. Doch dann öffnete dieser jemand die Tür, auch ohne auf mein Herein zu warten.

»Hallo?«, sagte ich leise und hätte mich im selben Moment ohrfeigen können. Nicht die beste Strategie, um sich vor einem Dämon zu verstecken.

»Ginny?«, fragte eine dunkle Stimme zurück und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, welches in der Dunkelheit für immer verborgen bleiben würde.

»Ethan. Was machst du hier?«

Gemischte Gefühle überrollten mich wie ein Schnellzug und ich wusste nicht, ob sich in meinem Magen ein Schwarm von Schmetterlingen oder Besorgnis zusammenbraute. Grundlos schlich er sich bestimmt nicht an den Schwestern vorbei.

»Ist etwas passiert?«, erkundigte ich mich besorgt und knipste die Nachttischlampe an.

Er schüttelte lächelnd den Kopf und schloss die Tür hinter sich. »Nein. Ich musste mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, dass es dir gut geht.«

»Und dazu wartest du bis zwei Uhr nachts? Du hättest mir eine Nachricht schreiben können«, merkte ich mit gehobenen Augenbrauen an.

Normalerweise wäre es mir unangenehm gewesen, ihm zerzaust und nur im Krankenhauskittel gegenüberzustehen, aber nachdem ich ihn bereits nackt gesehen hatte, ließ ich die falsche Scheu sein.

»Gut«, lenkte er ein. »Ich habe dich vermisst und wollte nicht, dass mich dein Großvater sieht. Ich hätte nicht gewusst, was ich auf seine Fragen antworten soll.« Er zuckte verlegen mit den Schultern und mir wurde warm ums Herz.

»Ich habe dich auch vermisst.« In meinem Magen rumorten die Schmetterlinge. Ja, das war eindeutig keine Besorgnis.

Nach unserem letzten Moment der Zweisamkeit auf der Party sollte mich das auch nicht wirklich verwundern. Auch wenn ich es zu ignorieren versucht hatte, war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich hoffnungslos in ihn verliebt war, und jetzt, da ich mir seiner Gefühle endlich sicher war, hielt mich keine Angst zurück. Unter dem liebevollen Blick aus seinen honigbraunen Augen schmolz ich dahin und hätte mich gerne in seine Arme geworfen, die Finger in seinen dunklen Haaren vergraben und ihn geküsst. Doch ganz war meine Furcht vor Zurückweisung wohl noch nicht verschwunden, denn ich zögerte.

Es war Ethan, der den ersten Schritt machte. Zaghaft legte er eine Hand an meine Taille und zog mich näher zu sich heran. Er war mir so nah, meine Gedanken verliefen sich in Leere und die Schmetterlinge übernahmen die Kontrolle. Für die späte Uhrzeit wirkte er überraschend wach. Ich fragte mich, ob er an der Patrouille beteiligt gewesen war, die einen Hinweis auf Hunters Versteck gefunden hatte.

»Du hast uns allen einen ganz schönen Schreck eingejagt, Ginny. Was ist in der Schule passiert?«, raunte er und ich schmiegte mich an ihn.

Er war ein Stückchen größer als ich und ich bettete meinen Kopf an seine Brust. Ohne die kühle Lederjacke wäre es bequemer gewesen, aber da ich mich noch nicht mal traute, die Initiative zu übernehmen und ihn zu küssen, würde ich ihm wohl kaum die Kleider vom Leib reißen. Noch dazu hatte ich gerade wirklich dringlichere Sorgen – da musste sich mein Liebesleben hintenanstellen.

»Ich glaube, Hunter hat mir eine Nachricht geschickt«, begann ich unsicher. »An mehr erinnere ich mich nicht. Bestimmt hat er erfahren, dass wir über seine Rolle in Chris’ Entführung Bescheid wissen und die Clans alles dafür tun, um ihn zu finden.«

Ohne Ethans Gesicht zu sehen, merkte ich die Veränderung an seiner angespannten Haltung. Irritiert lehnte ich mich zurück und blickte ihm in die Augen. Es war mir schon immer schwergefallen, sein Verhalten zu deuten und seine diversen Vertrauensbrüche hatten es nicht gerade besser gemacht. Nun schlich sich doch die Besorgnis zurück in den Vordergrund.

Ethan seufzte leise. »Ich will ehrlich zu dir sein. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich mich mitten in der Nacht hereingeschlichen habe.«

Misstrauisch beäugte ich ihn von oben nach unten, als würden seine Schuhe gleich laut »Keine Sorge – er will dich nur um ein Date bitten« schreien. Aber in Wirklichkeit hatte ich wohl schon erwartet, dass wir uns von unserem ständigen Auf und Ab der Gefühle nicht plötzlich zum sorgenlosen Traumpaar verwandeln würden. Schließlich waren wir Dämonenjäger.

Er brachte Abstand zwischen uns und fuhr sich nervös mit einer Hand durch die Haare – zeitgleich atmete er angespannt Luft aus, als würde er sich innerlich wappnen. Die plötzliche Distanz steigerte meine Besorgnis nur und mein Herz schlug automatisch schneller.

»Ich höre«, entgegnete ich und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust, während ich mich ein Stück von ihm entfernte und mich um eine taffe Miene bemühte.

»Es ist an der Zeit, deinen Bruder zu suchen«, verkündete Ethan mit demselben ernsten Gesichtsausdruck wie Grandpa, als er mir von der Jägerorganisation unserer Familie erzählt hatte.

Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich gelacht.

»Den brauchst du nicht suchen. Jon wird mittlerweile zu Hause in seinem Bett schlafen, wo man zu der Uhrzeit hingehört.« Ich gähnte demonstrativ und setzte mich auf das Krankenbett.

In Ethans Gesicht spielte sich eine Vielzahl an Emotionen ab. Er schien einen inneren Kampf mit sich selbst auszutragen. Schlussendlich schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch und straffte die Schultern.

»Nein, nicht Jon. Christian. Wir müssen zu Chris.«

Überrumpelt sah ich Ethan an. »Äh … ja, nach dem Zusammentreffen mit Hunter habe ich das auch begriffen. Aber Grandpa hat die Clans alarmiert und die sind bei der Suche bestimmt eine größere Hilfe als ich.«

Ethan lachte über meine Antwort nicht. Eindringlich erwiderte er meinen Blick.

Es war gerade mal vierundzwanzig Stunden her, dass ich Dad und Grandpa erzählt hatte, dass sich Chris in Hunters Fängen befand. Doch nun, da Ethan mich ausdruckslos anstarrte, sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein.

Ethan wusste ganz genau, wo mein Bruder war.

»Aber Hunter …«, stammelte ich völlig zerrüttet. »Ich dachte, er hätte Chris entführt. Alle denken das. Er hat es regelrecht zugegeben. Und du … Du hast mich in dem Glauben gelassen, ein abtrünniger Dämon hätte meinen Bruder in seinen Fängen. Dabei weißt du, wo er ist?«, fragte ich ungläubig.

»Es tut mir leid«, flüsterte er und wollte nach meiner Hand greifen. Wütend wich ich aus und rückte von ihm weg.

»Wissen Grandpa und Dad auch darüber Bescheid?« Meine Stimme zitterte.

Ethan schüttelte den Kopf. »Nur Jon und ich, und jetzt auch du. Wir haben Chris versprochen, niemandem ein Wort zu verraten, aber nach dem, was zwischen uns passiert ist, konnte ich dich nicht länger anlügen. Es tut mir wirklich leid.«

Er unternahm noch einen Versuch, den Abstand zwischen uns zu überbrücken, aber ich war zu wütend, um mich von seiner Nähe einlullen zu lassen. Sollten die verdammten Schmetterlinge doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Obwohl ich eigentlich unglaublich erleichtert sein sollte, dass mein Bruder wohl auf und nicht in Gefangenschaft war, rauchte ich vor Wut. Auch Jon hatte die ganze Zeit über Bescheid gewusst und sich nicht die Mühe gemacht, meine Sorgen zu lindern. Die Clans waren in Alarmbereitschaft und suchten nach Chris. Dabei war mein Bruder nie von einem verrückten, rachsüchtigen Dämon entführt worden. Stattdessen hatten sie uns alle an der Nase herumgeführt.

Anklagend deutete ich mit dem Zeigefinger auf ihn, als würde ich ihn am liebsten aufspießen. »Wie konntet ihr mir das verheimlichen? Er ist mein Bruder! Die letzten vierundzwanzig Stunden waren die Hölle«, rief ich aufgebracht und presste die Lippen aufeinander. »Ich dachte, Chris würde gefesselt in irgendeinem Kellerverlies festgehalten werden, während ich froh und munter in der Schule sitze und eine dämliche Klausur schreibe. Ich dachte, sie könnten ihm etwas antun! Himmel, Ethan, ich dachte, mein Bruder könnte getötet werden!«, spie ich ihm wutentbrannt entgegen und musste mich ermahnen, nicht zu schreien und damit keine der Krankenschwestern auf den Plan zu rufen. »Und vor allem bin ich davon ausgegangen, es sei meine Schuld, weil ich diejenige auf Hunters Radar bin.«

Mühsam hielt ich Tränen zurück, denn zu der Wut mischte sich unglaubliche Erleichterung. Langsam sickerte die Erkenntnis ein, dass Ethan die Wahrheit sprach und all die Horrorszenarien, die ich vehement in die hintersten Teile meines Gehirns gesperrt hatte, nichts weiter als zu viel Fantasie waren.

»Du hättest mir davon erzählen müssen. In dem Moment, als wir uns wiedergesehen haben. Wir haben über Chris gesprochen und du hast kein Wort gesagt!«

»Es tut mir leid«, war alles, was er darauf antwortete.

Sein Blick war entschuldigend, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er eigentlich von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war. Er stand zu seinem Versprechen, schließlich war Chris sein bester Freund.

»Wo ist er?«, brachte ich zwischen den Zähnen hervor. »Ich will sofort zu ihm.« Die Wunde an meinem Hinterkopf pochte unangenehm und ich kämpfte mühsam gegen die aufkeimenden Kopfschmerzen an.

»Das ist nicht so einfach.«

»Das hast du nicht zu entscheiden«, fuhr ich ihn wütend an. »Ich kann nicht glauben, wie du mich so hintergehen konntest. Aber warum erzählst du mir jetzt davon? Hast du etwa Mitgefühl mit Hunter, dem ich gegenüber den Clans Kidnapping unterstellt habe, obwohl er offenbar nichts getan hat?« Meine Stimme wurde immer lauter und ich bemühte mich, die Beherrschung zu behalten.

»Hunter ist nicht unschuldig. Oder hast du schon vergessen, dass er dich angegriffen hat?« Ethan seufzte resigniert. »Chris hat etwas herausgefunden. Er ist gegangen, um mehr Nachforschungen anzustellen.«

»Und das hätte er Grandpa und Dad nicht sagen können?«, rief ich aufgebracht – doch dann begriff ich langsam.

Dad und Grandpa waren nie ernsthaft besorgt gewesen, da sie schon längst geahnt hatten, dass das der Grund für sein Verschwinden war. Daher hatten sie auch so lange gewartet, bis sie mir davon erzählt hatten. Erst nach meinem Zusammentreffen mit Hunter hatte ich ihnen Grund zur gegenteiligen Annahme gegeben.

Die Zahnrädchen in meinem Kopf ratterten. Wenn es nicht Hunter war, über den Chris Informationen erlangt hatte – war es etwa möglich, dass …

»Er hat etwas über die Clans herausgefunden?«, schlussfolgerte ich entsetzt. Nur in dem Fall hätte er niemandem Bescheid sagen können.

»Ja, das hat er.« Ethan sah mir nicht in die Augen und wirkte generell vollkommen in sich gekehrt.

Es war allzu offensichtlich, dass er nicht bereit war, mehr Informationen mit mir zu teilen, doch nun war es zu spät. Die Katze war aus dem Sack.

»Ich will alles wissen, was du weißt. Das bist du mir schuldig.« Müde knetete ich meine Hände, sie waren eisig kalt.

»Ich kann dir nicht mehr verraten, weil ich nicht mehr weiß. Jon und ich haben Chris geschützt, ohne Fragen zu stellen. Dafür sind Freunde da.«

Ich schnaubte. »Vielleicht, wenn es darum geht, wer das letzte Pizzastück aufgegessen hat. Aber wenn davon Leben abhängen und es um die Recherche in Dämonenangelegenheiten geht, ist es notwendig, Fragen zu stellen! Seid ihr bescheuert, ihn einfach so alleine gehen zu lassen?«

»Er wollte unsere Hilfe nicht annehmen.« Abweisend sah Ethan aus dem Fenster. Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben und zogen ihre Rinnsale in kunstvollen Mustern die Glasscheibe hinunter.

Ich schnaubte empört. »Ach. Warum genau soll ich dir das jetzt glauben, nachdem du mich angelogen hast?

Schon wieder, ganz nebenbei bemerkt.

»Weil ich gerade mein Versprechen an Chris gebrochen habe. Das habe ich nur getan, weil … weil du mir zu viel bedeutest. Ich hätte nicht länger unehrlich sein können.«

Unter normalen Umständen hätte mein Herz nun einen Sprung gemacht und ich wäre ihm um den Hals gefallen. Aber es waren keine normalen Umstände …

Ich schüttelte den Kopf, machte aber einen Schritt auf ihn zu. »Ich kann das nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ich habe mir wirklich große Sorgen um ihn gemacht! Du musst mir mehr erzählen, Ethan. Alles! Wo er ist, wie ihr in Kontakt seid …«

»Nein«, sagte Ethan vehement. »Er muss es dir selbst erzählen. Ich habe bereits das Versprechen gebrochen. Wenigstens das bin ich ihm schuldig.«

Ich presste die Lippen aufeinander. Gerade jetzt musste er also zum edelmütigen Rittertum konvertieren, aber mich hatte er seit unserem Treffen in den unterirdischen Gängen des Anwesens angelogen.

»Gut, dann ruf ihn an. Ich will sofort mit ihm sprechen.«

»Ich habe eine bessere Idee«, antwortete er angespannt und erweckte damit nicht den Eindruck, als sei es tatsächlich eine bessere Idee. Sein Plan schien ihm alles andere als zu behagen, aber die Worte waren ausgesprochen.

Er seufzte tief. »Pack deine Sachen. Ich hole dich in einer halben Stunde mit dem Auto beim Haupteingang ab.«

Vor Aufregung schlug mein Herz einen Tick schneller. Angespannt erwiderte ich seinen Blick. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich ihm trauen konnte.

»Wo fahren wir hin?«

»Ich bringe dich zu deinem Bruder.«

Wie nicht anders zu erwarten, gab es nicht viele Sachen zu packen. Zum Glück hatte Dad mir eine Tasche mit frischer Kleidung vorbeigebracht. Ich tauschte das Krankenhausnachthemd gegen Jeans und T-Shirt, schlüpfte in meinen Regenparka und schlich zur Tür.

Meine Entscheidung, mit Ethan zu gehen, war unüberlegt und verantwortungslos, immerhin befand ich mich nicht ohne Grund im Krankenhaus. Aber ich konnte keine Sekunde länger warten. Ich musste Chris sehen und ihm all meine offenen Fragen von Angesicht zu Angesicht stellen.

Entschlossen schob ich die Kapuze über die Haare, um den Verband zu verbergen, und schulterte die Tasche. Vorsichtshalber spähte ich durch den Jalousiespalt auf den Krankenhausgang. Von meinem Posten aus sah ich einen Teil des Empfangstresens, wo ein Pfleger gerade durch eine Krankenakte blätterte.

Sachte öffnete ich die Tür einen Spaltbreit. Ethan beeindruckte mich – er hatte sich vorhin ganz problemlos auf die Station und wieder hinaus geschlichen. Aber das war wohl seiner Jägerausbildung zu verdanken. Ich hingegen war eine blutige Anfängerin und fühlte mich, als wären Scheinwerfer auf mich gerichtet. Doch das durfte ich mir nun nicht anmerken lassen.

Ich schlüpfte nach draußen und die Kapuze tief ins Gesicht ziehend, huschte ich auf die andere Seite des Ganges, von wo aus mich der Pfleger nicht mehr sah. Auf dem Flur stieß ich allerdings auf das größere Problem, denn ich wusste nicht, in welche Richtung ich mich nun wenden sollte. Sowohl rechts als auch links erstreckten sich mehrere Zimmer. Wäre ich doch besser gleich mit Ethan gegangen.

Ich entschied mich für die Abzweigung nach links, um einer Konfrontation mit dem Pfleger zu entgehen. Alle anderen Patienten schienen zu schlafen, weshalb ich zum Glück niemandem begegnete, während ich mich von der Station schlich. Auf leisen Sohlen wanderte ich durch die Flure. Kurz bevor ich ernsthaft in Erwägung zog, mich haltlos verirrt zu haben, fand ich einen der Aufzüge und fuhr in die Lobby.

Als ich die so gut wie leere Eingangshalle durchquerte, atmete ich erleichtert aus und beschleunigte meine Schritte. Die Glastüren öffneten sich automatisch und eine kühle Brise wehte mir von draußen entgegen. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, doch in der Kälte begann ich augenblicklich zu zittern.

Ethan hatte gesagt, wir würden uns beim Eingang treffen, aber er war weit und breit nicht zu sehen. Anrufen konnte ich ihn auch nicht, mein Handyakku war leer. Ich seufzte tief. Wäre ich doch nur im Bett geblieben. Die Chancen, dass Ethan seine Meinung doch geändert hatte, war groß und mich selbst packten ebenfalls Zweifel. Was bildete ich mir eigentlich ein, auf Detektivsuche zu gehen, wenn doch auf der Hand lag, dass ich Grandpa und Dad die Wahrheit gestehen musste?

Plötzlich erklang das mechanische Brummen eines Autos und ich blickte mich um. Ein großer Geländewagen kam auf mich zu. Ich wollte schon zurückweichen, da öffnete jemand die abgedunkelte Fensterscheibe des Wagens. Vor Schreck hüpfte ich einen Schritt zur Seite und landete prompt in einer Pfütze, während eine vertraute Stimme erklang.

»Ginny. Steig ein! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Ethan?« Irritiert musterte ich das schwarze Ungetüm. »Das ist aber nicht dein Wagen«, stellte ich fest.

Nun war mir zumindest klar, wofür er die halbe Stunde Zeitvorsprung benötigt hatte.

»Musste etwas Unauffälligeres besorgen. Den Clans ist zuzutrauen, dass sie mich beobachten«, erklärte er, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Und dann fällt deine Wahl ausgerechnet auf einen Monster-Jeep?«

Ganz eindeutig hatten wir zwei unterschiedliche Auffassungen des Begriffs unauffällig.

»Einen Leihwagen«, gab er unbekümmert zurück, doch ich sah ein Lächeln über sein Gesicht huschen, als ich mich kopfschüttelnd abwandte und zur Beifahrerseite ging.

Ich warf die Tasche auf die Rückbank und setzte mich neben Ethan. Im gigantischen Wagen fühlte ich mich auf dem großen Ledersitz ganz klein – der Platz passte eher für einen Zwei-Meter-Riesen mit dem Bauch des Weihnachtsmannes.

Wir verließen die Stadt im Eiltempo, was mir das Gefühl vermittelte, auf der Flucht zu sein. Ich hatte gedacht, in den letzten Tagen dazugelernt zu haben, aber offenbar war ich nicht viel schlauer geworden. Andernfalls hätte ich darauf bestanden, das Versteckspiel sein zu lassen und wenigstens Dad über unser Vorhaben zu informieren. Wenn ihn morgen früh das Krankenhaus anrief und mich als vermisst meldete, würde er vom Schlimmsten ausgehen und das konnte man ihm nicht wirklich verübeln. Wenn er hinterher die Wahrheit erfuhr, würde er doppelt wütend sein.

Müde lehnte ich den Kopf zurück und blickte aus dem Fenster. Zweifelsohne war ich sauer auf Ethan, immerhin hatte er mich belogen. Dennoch konnte ich auch nicht ignorieren, dass wir uns vor keinen zwei Tagen noch geküsst hatten. Mein Blick schweifte zu ihm und in meinem Hals bildete sich ein Kloß.

Natürlich fragte ich mich, was der Kuss für uns bedeutete, nachdem er zuvor nicht müde geworden war, sich hinter der Ausrede zu verstecken, dass Chris und Jon seine besten Freunde waren und er auf keinen Fall etwas mit ihrer kleinen Schwester anfangen konnte. Ich wollte keinesfalls noch mal verletzt werden, wie all die Male zuvor, und brauchte eine Absicherung, aber zugleich war in meinem Kopf auch die Sorge um Chris, vor der alles andere unwichtig erschien.

»Ethan«, begann ich zögernd. »Ich wollte eigentlich mit dir reden. Über uns.«

Müde flatterten meine Augenlider und ich gähnte.

»Über alles, was passiert ist. Aber …«

»Ist schon gut, Ginny«, unterbrach er mich. »Jetzt geht es erst mal um Chris. Die nächsten Tage über werden wir genug Zeit zum Reden haben.«

Ich wollte ihm versöhnlich zulächeln, doch da driftete ich bereits ab.

In einen ruhigen, langen Schlaf.

Als ich aufwachte, war es bereits hell. Mein Kopf brummte, als hätte jemand mit einem Hammer darauf geschlagen, doch ich verkniff mir einen wehleidigen Laut.

»Morgen. Gut geschlafen?«

»Morgen«, murmelte ich und sah mich um. »Wo sind wir?«

Ethan hatte den Blick auf den Highway gerichtet. »Kurz vor London.«

Überrascht runzelte ich die Stirn und richtete mich auf. Das bedeutete mindestens acht Stunden Fahrt. Ich sah auf die Uhr am Armaturenbrett, es war bereits später Vormittag. Vermutlich hatte Dad mittlerweile von meinem Verschwinden erfahren und tobte vor Wut, aber dafür war ich in der Stadt, die die letzten Jahre über meine Heimat gewesen war. Mein Herz schlug vor Aufregung schneller.

»London?«, fragte ich und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Was macht Chris dort?«

Ethan biss sich auf die Lippe, als sei er sich nicht ganz sicher, wie er darauf antworten sollte. »Erinnerst du dich noch daran, was ich dir über die Clans erzählt habe?«

Wie ich Gegenfragen hasste. Ich seufzte. »Ein wenig. Also ist er bei der Londoner Clanfamilie?«

»Nicht ganz«, antwortete Ethan nichtssagend und brachte mich wieder in die Position, nachfragen zu müssen.

Aber bevor es so weit kam, ertönte ein seltsames Geräusch. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich realisierte, dass es sich dabei um das Vibrieren eines Handys handelte. Genauer genommen Ethans Handy, welches in der Fahrerkonsole lag.

»Kannst du nachsehen, wer es ist?«

»Es ist Jon. Sie haben wohl mein Verschwinden bemerkt«, kommentierte ich gequält den Anruf und sah Ethan an, der sich die Augen rieb.

»Drück ihn einfach weg. Das ist nicht der erste Anruf von ihm.«

Zögernd tippte ich auf den roten Hörer.

»Ich kann ja verstehen, warum wir Grandpa und Dad nicht Bescheid geben können. Aber wenn Jon weiß, wo Chris ist, können wir ihm doch die Wahrheit sagen. Ich möchte nicht, dass er sich Sorgen machen muss, so wie ich mich die letzten Tage um Chris gesorgt habe«, konnte ich mir den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.

Ethan knirschte schuldbewusst mit den Zähnen. »Wie du möchtest. Allerdings war er alles andere als begeistert, als ich ihm vorgeschlagen habe, dich einzuweihen. Er wird wütend sein«, gab er zu bedenken.

»Mag sein, aber ich habe mindestens genauso guten Grund, sauer zu sein. Ich werde ihm eine Nachricht schreiben, damit er weiß, dass es mir gut geht. Dann kann er sich darum kümmern, Dad und Grandpa eine gute Ausrede aufzutischen. Das ist er mir schuldig.«

Außerdem war meine Angst viel zu groß, Grandpa und Dad könnten uns einen Suchtrupp der Jägerorganisation auf den Hals hetzen.

»Das war keine gute Idee. Ich hätte im Krankenhaus bleiben sollen«, murmelte ich.

Erst jetzt begriff ich im vollen Ausmaß, was für eine Dummheit ich mir mal wieder geleistet hatte.

Erfreulicherweise verfügte der geliehene Monster-Jeep über ein Ladekabel, an dem ich mein totes Handy ansteckte. Sobald der Akkustand auf zehn Prozent war, schaltete ich das Handy ein und checkte meine Nachrichten. Die meisten waren von Jon, dem ich schnell eine SMS schrieb. Doch mindestens genauso viele waren von Scarlett. Wir hatten uns nicht nur im Internat ein Zimmer geteilt, sie war auch meine beste Freundin und gerade jetzt sehnte ich mich nach ihrer guten Laune und einem Stückchen Normalität. Da ihre Nachrichten immer besorgter klangen, tippte ich trotz pochender Kopfschmerzen eine ausführliche Erklärung.

»Wenn wir in London sind, möchte ich Scarlett besuchen«, überlegte ich laut.

Bei meinen Worten warf mir Ethan einen unentschlossenen Blick zu. »Wir sollten uns eigentlich beeilen. Ein kurzes Gespräch mit Chris und dann wieder zurück. Wir werden auch so schon genügend Ärger bekommen und wir wollen niemanden auf uns aufmerksam machen. Schließlich ist Chris nicht grundlos abgetaucht«, entgegnete er wenig begeistert.

»Du kannst gerne auch wieder allein zurückfahren. Ich werde sicher nicht gehen, ohne Scarlett gesehen zu haben.«

Ethan seufzte. »Ach, komm schon, Ginny. Das hier soll kein lustiger Tagesausflug werden.«

»Davon bin ich auch nicht ausgegangen«, murmelte ich beleidigt. »Aber eine Stunde in einem Café wird uns schon nicht umbringen. Ich habe Scar vor meinem Geburtstag das letzte Mal gesehen und ich vermisse sie wirklich sehr.«

Entnervt nahm Ethan die linke Hand vom Lenkrad und rieb sich über die Schläfen. Die Müdigkeit machte ihm deutlich zu schaffen. »Wir haben für so einen Kinderkram echt keine Zeit. Ich bringe dich zu Chris, damit er dir selbst alles erzählen kann. Dafür handle ich auch gegen die Anweisungen des Clanoberhaupts, aber ich möchte nicht noch mehr Probleme auf uns ziehen.«

Ich funkelte ihn an. »Wenn ich meine beste Freundin sehen möchte, ist das kein Kinderkram. Die Clan-Geschichte hat mich schon aus meinem normalen Leben in London gerissen, da werde ich jede Chance nutzen, sie kurz wiederzusehen. Du und Jon habt euch die Probleme selbst eingehandelt, indem ihr Chris gedeckt habt, bei was auch immer er vorhat«, sagte ich kühl.

Ich hasste es, wenn er sich so verhielt, als könne er alles allein entscheiden. Wie gut seine Entscheidungsfähigkeit wirklich war, zeigten schließlich die Ereignisse der letzten Tage.

Ethan blickte mich von der Seite an. »In dem Moment, als du das Krankenhaus verlassen hast und ins Auto gestiegen bist, ist unser Problem auch deines geworden. Warte ab, bis du mit Chris gesprochen hast. Dann wirst du verstehen, warum wir ihm helfen.«

»Ich kann es kaum erwarten«, murrte ich eingeschnappt.