Dark Heart: Sammelband der romantischen Urban-Fantasy-Serie - Anja Tatlisu - E-Book

Dark Heart: Sammelband der romantischen Urban-Fantasy-Serie E-Book

Anja Tatlisu

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Beschreibung

**Wenn deine Liebe sein Herz erweckt** Heaven führt ein wahres Vagabundenleben, denn als Antiquitätenhändler hält es ihren Onkel Sam nie lange an einem Fleck. In Port Hardy, einem einsamen kanadischen Ort, lernt Heaven den geheimnisvollen Leviathan kennen. Vom ersten Augenblick an fühlt sie sich wie magisch zu ihm hingezogen, doch das bleibt nicht ohne Folgen: Leviathan ist ein Dark Heart, was bedeutet, dass er nur fühlen kann, wenn er einem Menschen im Gegenzug etwas Wesentliches raubt. Als Heaven hinter sein düsteres Geheimnis kommt, überschlagen sich die Ereignisse … Göttliche Urban Fantasy zum Niederknien!   Leserstimmen: »Wunderbar düster und romantisch« (Leserstimme auf Amazon) »Bittersüße Romantasy –  wunderschön geschrieben!« (Leserstimme auf Thalia) »OH MEIN GOTT! Klare Leseempfehlung!« (Leserstimme auf Thalia)   // Dies ist die Gesamtausgabe der düster-dramatischen Buchserie »Dark Heart«. Alle Romane der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress: -- Dark Heart 1: Nihil -- Dark Heart 2: Omnia// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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www.impressbooks.deDie Macht der Gefühle

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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2021 Text © Anja Tatlisu, 2021 Lektorat: Yvonne Lübben Coverbild: elements.envato.com / © romankosolapov, © FreezeronMedia, © M-e-f / freepik.com / © Macrovector / © rawpixel.com / © 108motiongraphic, © starline, © sdartvector, © wirestock, © winwin.artlab, © kjpargeter, © flashmovie, © nadtytok, © mrjo_7 Covergestaltung: M. D. Hirt Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck / Derya Yildirim Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60785-7www.carlsen.de

Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

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Anja Tatlisu

Dark Heart 1: Nihil

**Wenn deine Liebe ein Herz zum Schlagen bringt**Heaven wünscht sich nichts sehnlicher als das ganz normale Leben einer Siebzehnjährigen zu führen. Doch nach dem Verlust ihrer Eltern lebt sie bei ihrem Onkel Sam, der auf seiner Suche nach verschollenen Reliquien die gesamte Welt bereist. Zu Heavens Leidwesen muss sie ihn überallhin begleiten – auch in die kanadische Wildnis, die förmlich nach abgeschiedener Einsamkeit schreit. Kaum findet sie sich in Port Hardy einigermaßen zurecht, trifft sie auf den mysteriösen Leviathan, der sie mit seiner außergewöhnlichen Präsenz sofort in seinen Bann zieht. Heaven ahnt nicht, dass sie Gefahr läuft, ihr Herz an einen Dark Heart zu verlieren, der nur fähig ist zu fühlen, wenn er einem Menschen etwas Bedeutsames nimmt …

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Vita

Danksagung

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© STUDIO 157, KOELN

Anja Tatlisu lebt mit ihrer Familie, zwei Katzen und einem Hund in einem Vorort von Köln. Neben ihrem Beruf als Sekretärin schrieb sie mehrere Jahre Twilight-Fanfictions und wagte sich 2015 mit ihrem ersten eigenen Werk an die Öffentlichkeit. Mittlerweile quillt ihr Ideen-Ordner über und sie befürchtet, dass ein Leben kaum ausreicht, um all den schönen Plots gerecht werden zu können.

The Dark of you becomes the Light in me

Im Angesicht der reinen Seele erstickt das Böse

an seinem betörenden Lächeln.

KAPITEL 1

»Wie lange dauert es noch, bis wir endlich da sind?«, gähnte ich und rieb mir über meine bleischweren Augenlider.

»Laut Navi elf Minuten«, antwortete Sam tonlos, den Blick konzentriert auf den dunklen Asphalt gerichtet.

Nur die Scheinwerfer des Leihwagens, einem grauen Dodge Ram, erhellten die von kanadischer Wildnis umgebene Fahrbahn. Besonders viel sehen konnte ich nicht, was zum einen an den schlechten Lichtverhältnissen und zum anderen an meiner fast schon komatösen Müdigkeit lag. Irgendwann zwischen gestern, heute und morgen hatte unsere Reise über zwei Kontinente durch mehrere Zeitzonen nach Vancouver Island begonnen.

Ich wusste nicht einmal, welchen Tag wir hatten, bloß, dass wir vor etwas mehr als vierzehn Stunden vom Flughafen in Reykjavik gestartet, in Vancouver gelandet und mit einer kleineren Maschine weiter zum Nanaimo Airport geflogen waren. Dort hatte Sam diesen Wagen gemietet, mit dem wir mittlerweile bereits gefühlte Ewigkeiten durch die Gegend fuhren, um Port Hardy zu erreichen. Wobei das verschlafene Nest weniger mein Ziel als das meines Onkels darstellte, der wie immer durch Wortkargheit gekoppelt mit Emotionsminimalismus glänzte und sich weitestgehend in Schweigen hüllte.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte unsere Reise zurück nach Lincoln geführt. In das schöne alte Backsteingebäude mit der tollen Aussicht auf die Sunken Gardens, dem außergewöhnlichen Geruch alten Papiers und vergangener Jahrhunderte, der von Sams Antiquitätenladen hinauf in das für drei Personen viel zu große Apartment drang, und mir manchmal das Gefühl vermittelte, durch alle Zeiten zu wandern. Ganz so, als hätte ich trotz meines jugendlichen Alters von gerade mal siebzehn bereits alles gesehen. Was mich auf der Lincoln Southeast Highschool laut meinem fünf Jahre älteren einzigen und besten Freund, Orlin Pax, der gleichzeitig ein Mitarbeiter meines Onkels war, zu einem niedlichen Freak machte. Wenn ich denn überhaupt für ein paar Wochen im Jahr die Schule besuchte. Leider wurde mir jedoch meistens der Stoff per E-Mail kreuz und quer über den ganzen Planeten hinterhergeschickt, weil Sam sich permanent auf der Jagd nach verschollenen Reliquien, antiquarischen Büchern und Kunstschätzen befand.

Der zweite wichtige Mann in meinem Leben, Orlin, kannte sich bezüglich Freaks bestens aus. Er selbst zählte nämlich ebenfalls zu dieser besonderen Spezies, obwohl oder gerade weil es manchmal den Anschein machte, er würde von niemandem außer Sam und mir richtig wahrgenommen. Dabei besaß er eine durch und durch auffällige Erscheinung. Unabhängig von seiner beachtlichen Größe, mit der er mich um gut anderthalb Köpfe überragte, und dem bis zum Kinn vollständig tätowierten Oberkörper, hatte er diese irritierend hellen graublauen Augen, die unter seinem dunkelbraunen, stets total zerzausten Schopf so prägnant wie die eines Huskys wirkten. Surreal war der einzig richtige Ausdruck dafür.

»Wo übernachten wir diesmal?«, brummte ich. »Pension, Hotel oder Haus?«

»Hotel«, brummte Sam zurück.

»Wieder so ein spartanisches Ding im Nirgendwo für Durchreisende?«

»Nein. In der Stadt. Du wirst es mögen.«

»Kleinstadt«, korrigierte ich ihn, klappte die Sonnenblende nach unten, knipste das kleine Lämpchen an und rutschte so weit wie möglich nach vorne, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, wenngleich mir klar war, besonders viel sehen würde ich nicht. Und das war auch gut so, wie ich erschrocken feststellen musste. Dunkle Schatten lagen unter meinen sonst so klaren blauen Augen, die von Müdigkeit gezeichnet viel kleiner als sonst wirkten. Meine glatten hellblonden Haare, die ich seit Jahren züchtete und wegen deren Länge ich mit den Friseuren dieser Welt um jeden Zentimeter, der abgeschnitten werden sollte, feilschte, waren vom unruhigen Kurzschlaf im Flugzeug und auf dem Autositz total verknotet. Wie Stroh standen sie an meinem Hinterkopf hoch und ich wagte ernsthaft zu bezweifeln, das Chaos jemals wieder entwirren zu können. Gut, dass mich um diese Uhrzeit niemand mehr zu Gesicht bekam, wo ich mich selbst kaum noch erkannte. Eins stand nach dem Anblick fest: Sobald ich eine Matratze unter mir spürte, würde ich mindestens zwölf Stunden lang darauf liegen bleiben. »Wahrscheinlich 150 Einwohner. Dreiviertel davon 40 Plus, der Rest über 60«, trat ich missmutig nach.

Sam lachte. Das tat er selten. Dabei stand es ihm ausgesprochen gut, wenn die feinen Linien um seine stahlblauen Augen sichtbar wurden und das markante Gesicht unter den kurz geschorenen braunen Haaren sekundenlang an Härte verlor. »Ungefähr 4000. Einige davon sollen sogar jung sein«, sagte er. »Kommst du damit klar?«

Ich klappte die Sonnenblende wieder hoch und ließ mich geräuschvoll zurück in den Sitz fallen. »Hab ich eine andere Wahl?«

»Nein.«

»Wie lange bleiben wir?«

»Bis ich fertig bin.«

»Das ist ja mal was ganz Neues.«

Sam erwiderte nichts darauf und konzentrierte sich weiter auf die Strecke. Seine kryptischen Aussagen ließen viel Raum für Spekulationen. Ein kurzer Aufenthalt von zwei Tagen wäre genauso möglich wie mehrere zähfließende Wochen. Beides hatte es in der Vergangenheit schon gegeben. Manchmal traf er sich mit jemandem, wickelte das Geschäft ab und die Sache war erledigt, doch meistens verfolgte er lediglich Hinweise, die sich mit jedem Ortswechsel wie ein Puzzle verdichteten, und das konnte mitunter sogar Monate dauern. Zähfließende, langweilige Monate. Früher, als ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte mir eine Nanny das unstete Reiseleben erleichtert und sich liebevoll um mich gekümmert. Danach war ich unterwegs von Orlin bespaßt worden. Doch nun, da ich per Definition fast zu den Erwachsenen zählte und mein bester Freund die Rolle eines Mitarbeiters übernommen hatte, war ich praktisch auf mich allein gestellt.

Frustriert starrte ich durch die Windschutzscheibe. Das waldige Gebiet lichtete sich langsam und in der Ferne waren die ersten Umrisse des Hafenstädtchens zu erkennen. Der Mond stand groß und voll am dunklen Himmel. Sein mystisches Licht brach sich auf der Meerenge mit dem klangvollen Namen Queen Charlotte Strait und brachte sie funkelnd zum Strahlen, als würden Diamanten unterschiedlicher Größe zwischen den Silhouetten der vielen Boote anmutig darauf tanzen. Selten hatte ich etwas Schöneres gesehen.

Einige Minuten später erreichten wir den Hafen und passierten langsam die Kaimauern. Aus der Nähe betrachtet büßte die Meerenge ein Stück weit ihren Zauber ein, wirkte jedoch immer noch idyllisch. Sam bog von der Straße zum vollkommen leeren Parkplatz des Hotels ab und brachte den Wagen zum Stehen.

»Scheint ja ein richtiger Hotspot zu sein«, stellte ich mit einem kurzen Seitenblick aus dem Fenster bissig fest.

»Es ist zwei Uhr nachts. Was erwartest du?«, erwiderte Sam.

»Keine Ahnung.« Resigniert zuckte ich mit den Schultern. »Wenigstens ein zweites Auto oder so. Aber hier ist ja gar nichts.« Gähnend schnallte ich mich ab und zog meinen Rucksack aus dem Fußraum. »Nur Wasser und Schiffe und Bäume.« Ich stieg aus, warf mir den Backpack über die Schulter und schlug die Tür hinter mir zu. »Wahrscheinlich haben die nicht mal vernünftiges WLAN und das Netz spackt die ganze Zeit rum. Ich werde noch zum Sozialphobiker, wenn ich nicht bald mal wieder Kontakte knüpfen kann, die mir über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben. Mein ganzes Leben besteht nur aus dir, Orlin und Fernfreundschaften, die ziemlich schnell einschlafen, weil du mich von einer Zeitzone in die nächste schleifst. Warum können wir nicht einfach ein ganz normales unspektakuläres Leben führen? So ein Spießerding mit strukturierten Tagesabläufen, gemeinsamen Mahlzeiten und Ritualen und was die sonst alles machen.«

Sam sagte nichts. Er runzelte lediglich die Stirn, holte unser Gepäck aus dem Wagen und verriegelte ihn.

Exakt achtzehn Schritte später stand ich hinter meinem Onkel in der Lobby des großen weißen Gebäudes mit dem grünlich blauen Dach und schaute mich um, während er gewohnt sachlich die Formalitäten regelte, ohne darauf zu achten, wie angetan die Hotelangestellte an der Rezeption von ihm war. Keine Ahnung, wie er das machte. Viele Frauen fanden ihn attraktiv und fühlten sich von ihm angezogen, doch hatte er in all den Jahren, die ich bei und mit ihm lebte, nie ein Date gehabt. Zumindest keines, von dem ich wusste, und ich war ziemlich froh darüber, dass er sich bezüglich seines Liebeslebens ähnlich schweigsam zeigte wie in fast allen anderen Bereichen auch. Es gab zwar vieles, was ich gerne erfahren hätte, doch das zählte zu den Dingen, die er fraglos für sich behalten durfte.

Der Eingangsbereich des Hotels wirkte überschaubar, relativ spartanisch, aber auf seine eigene Art gemütlich. Eine typische Mischung aus Backpacker-Absteige und einfachem Urlaubshotel. Die obligatorischen Umgebungspostkarten steckten in einem einfachen Drehständer neben den Snack- und Getränkeautomaten und auf dem blank polierten Granit des Rezeptionstresens lagen verschiedenfarbige Flyer von Ausflugszielen für Touristen aus. Gleich gegenüber befand sich eine zusammengewürfelte Sitzgruppe, bestehend aus einem modernen Sofa, einem antik anmutenden Tischchen und zwei altertümlichen Ohrensesseln. Über einem großen Kaminsims hing ein Flatscreen, der die Wiederholung irgendeiner Late-Night-Show zeigte.

Alles in Allem zählte das Hotel zu den Okay-Unterkünften meines unfreiwilligen Vagabundenlebens und lag einigermaßen zentral. Wenngleich Port Hardy nicht unbedingt mit Großstadtflair aufwartete, würde der Ort bestimmt lebendiger sein als das Haus in der zwar atemberaubend schönen, jedoch ziemlich einsamen Natur Islands, wo wir die vergangenen Wochen verbracht hatten. Leider ohne Orlin, weil der sich um den Antiquitätenladen hatte kümmern müssen. So viel wie dort hatte ich unabhängig vom Schulstoff nie zuvor gelesen. Unfassbare fünfunddreißig Bücher waren nebst vier kompletten Serien von meinem Unterhaltungsmanko verschlungen worden und ich hätte sicherlich noch mehr durchgesuchtet, wäre da nicht diese leidige Internetproblematik gewesen.

Sam wandte sich von der Rezeption ab und mir zu. Sein Blick huschte nach links zu den Aufzügen. »Da entlang.«

Ich folgte ihm. Eine andere Wahl blieb mir sowieso nicht. Diskussionspotenzial war meinerseits zwar ausreichend vorhanden und hüpfte mir regelrecht auf der Zunge herum, aber meine Müdigkeit hinderte mich daran, auch nur genervt die Augen zu verdrehen.

Wir stiegen in den offenen Fahrstuhl und Sam drückte auf die Drei. Ich befürchtete das Schlimmste. In Island hatten wir zwar ein großes Haus irgendwo im Nirgendwo bewohnt, doch zuvor in dem Hotel in Edinburgh war mein Freiraum von einer Verbindungstür eingeschränkt worden. Und – noch viel schrecklicher – Barcelona war dermaßen ausgebucht gewesen, dass wir uns sogar für geschlagene vierzehn Tage ein Zimmer hatten teilen müssen. Von Privatsphäre keine Spur, obwohl Sam die meiste Zeit über auf der Jagd nach mysteriösen Dingen gewesen war, die strengster Geheimhaltung unterlagen. Und wenn er eines wirklich gut drauf hatte, dann war es, aus Gründen eben diese Dinge streng geheim zu halten.

»Hafen oder Wald?«, fragte er zu meiner Überraschung.

Vermutlich meinte er damit die Aussicht. Zwei zur Auswahl bedeutete wohl, meine Befürchtungen waren unbegründet gewesen, doch konnte ich meine Freude darüber gerade nicht zeigen, obwohl mein inneres Ich gerade laut kreischend vor Glück im Kreis herumrannte. Stattdessen zuckte ich gleichmütig mit den Schultern, während sich die Aufzugstür schloss. »Hauptsache ein Bett.« Alles andere war mir in diesem Moment tatsächlich egal. Wen kümmerte schon, was in diesem Kaff durch die Fenster zu sehen war, wenn man kaum noch geradeaus gucken konnte?

»Darüber werden wohl beide Zimmer verfügen.«

Ich warf ihm einen Wenn-ich-könnte-würde-ich-dich-langsam-und-qualvoll-töten-Blick zu. Sam nahm meine gereizte Miene lediglich mit einer leicht nach oben gezogenen Braue, gefolgt von einem Stirnrunzeln zur Kenntnis und presste seine Lippen zu schmalen Strichen zusammen, ehe er mir einen der beiden Schlüssel gab, auf dessen ankerförmigem Treibholzanhänger die Nummer 306 eingebrannt war.

Ein kurzes Ruckeln, verbunden mit diesem eklig mulmigen Gefühl, als würde der Magen in die Hose und wieder zurückrutschen, dann kam der Aufzug zum Stehen. Ein melodisches »Pling« ertönte und die Fahrstuhltür öffnete sich auf der dritten Etage.

Wir stiegen aus und schauten uns der Orientierung halber um. Genau wie in der Lobby schimmerte der Holzboden seidig matt unter dem Einfall der Nachtlichter, die zwischen den einzelnen Zimmertüren dezent leuchteten und den Gang nur so weit erhellten, dass wir uns zurechtfanden.

Laut den wegweisenden Pfeilen an den Wänden befand sich mein Zimmer links von uns und wir schlichen so leise wie möglich über den Flur, bis wir unser Ziel erreicht hatten.

»Hier.« Sam zog meine Reisetasche von seiner Schulter und hängte mir das schwere Teil um. »311«, murmelte er danach und wies dabei auf den schräg gegenüberliegenden Raum. »Lass dein Handy an.«

Ich nickte.

»Gute Nacht, Heaven.«

Sams Hand schnellte in meinen Nacken. Er zog mich harsch an seine Brust, drückte mir einen festen Kuss auf die Stirn und ließ mich los, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Knallharte Herzlichkeit, wie ich sie seit jeher kannte. Auf Außenstehende konnte sie durchaus kopfnussig wirken, aber es war schlichtweg seine eigentümliche Art, mir zu zeigen, wie gern er mich hatte, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Nein, es war sogar viel mehr: Ich liebte ihn aufrichtig. Ohne ihn hätte mein Leben einen völlig anderen Verlauf genommen. Mir fehlte rein gar nichts, wenngleich ich mir oft wünschte dauerhaft in Lincoln bleiben zu können. Ich wollte Freunde finden, auf Partys gehen, leichtsinnig und verrückt sein, mein Herz an jemanden verschenken, der das gute Stück verdient hatte, oder wenigstens einmal leidenschaftlich geküsst werden, damit ich wusste, wie sich verliebt sein anfühlen könnte.

»Irgendwann brichst du mir das Genick«, murmelte ich. »Oder die Stirn … oder beides.«

»Ich werde mich bessern.«

»Das schaffst du nicht.«

»Nein, das schaffe ich auch nicht.« Der Hauch eines Lächelns huschte über sein unrasiertes Gesicht. Er sah müde aus. »Schließ die Tür ab und lass die Fenster zu.«

Das Prozedere kannte ich zur Genüge. Wider Erwarten schaffte ich es in diesem Moment doch, die Augen zu verdrehen, öffnete die Tür, tastete nach einem Lichtschalter, betrat das Zimmer und verschloss es hinter mir. »Zufrieden?«

»Hm«, brummte er durch das Naturholz.

»Schlaf gut.«

Ich bekam keine Antwort. Stattdessen hörte ich seine Schritte auf dem Holzboden, die immer leiser wurden, bis sie gänzlich verstummten.

Erschöpft schaute ich mich um und war angenehm überrascht. Ein solch schönes Zimmer hätte ich in diesem Hotel nicht vermutet und meine Freude darüber, die paar Quadratmeter weder teilen zu müssen noch Verbindungstüren zu entdecken, verdrängte meine Müdigkeit ein wenig. Wobei das naturfarben bezogene Queensize-Bett zu meiner Linken mit den schokobraunen Applikationen förmlich danach schrie, augenblicklich von mir erobert zu werden und in den aufgebauschten Kissen zu versinken.

Am Bad vorbei ging ich weiter in den Raum hinein und stellte meine Reisetasche auf einem grob gemusterten zweisitzigen Sofa ab, vor dem ein kleiner viereckiger Tisch stand, der wie alle anderen Möbel aus heller sägerauer Eiche gefertigt worden war. Neugierig lief ich über den beigefarbenen Teppich zu den Fenstern, wovon eines – das größte – einen Erker zierte, der mit einem Stuhl und einem Schreibtisch bestückt als Arbeitsplatz diente. Obwohl Sam es verboten hatte, öffnete ich das Erkerfenster und nahm einen tiefen Zug der Meeresluft in mich auf, die mit dem frischen Tannenduft des stockfinsteren Waldes, der sich vor mir erstreckte, eine wohltuend beruhigende Mischung ergab. Irgendwie verrückt. Anscheinend hatte jedes Land seinen ganz eigenen Geruch. Das war sie also, die Duftmarke von Port Hardy. Und ich mochte sie, wenngleich sie nicht an die von Lincoln heranreichte.

Ein leises Seufzen löste sich aus meiner Kehle und ich verriegelte das Fenster, bevor sich Heimweh zu meiner Übermüdung gesellen konnte und mir die Gedanken an mein gemütliches Zuhause noch den längst überfälligen Schlaf raubten.

Schweren Schrittes schlurfte ich durch das Zimmer, knipste die Nachttischlampe mit dem beigefarbenen Stoffbezug an und löschte das große Licht. Danach sank ich auf das Boxspringbett und stellte meinen Rucksack ab. Um die nächtliche Stille zu durchbrechen, griff ich zur Fernbedienung und schaltete den Flatscreen ein, der auf einem TV-Board zwischen den Fenstern stand. Keine Ahnung, was lief. Ich schaute nicht einmal hin. Hauptsache Stimmen.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich waschen, kämmen und mir die Zähne putzen sollte, brachte es aber nicht fertig, meinen inneren Schweinehund zu besiegen, noch mal aufzustehen und die paar Meter zum Bad zu gehen. Im Sitzliegen zog ich bis auf Shirt und Slip alles aus, kroch unter die Decke und zerrte den Rucksack vom Fußende zu mir nach oben. Wenngleich ich fast nicht mehr fähig war die Augen offen zu halten, gab es einige Dinge, die nicht bis morgen warten konnten.

Zuerst kramte ich mein Smartphone hervor und legte das Gerät auf den Nachttisch. Danach folgte mein Tagebuch, das neben unzähligen Gedanken auch Zeichnungen, Fotos, Aufkleber und Postkarten zwischen seinem ledernen Einband, der mit einem geflügelten Herzen und meinem Namen geprägt war, in sich trug – ein Geburtstagsgeschenk von Sam. Und dann, ganz unten, am Boden des Backpacks, blitzte mein Allerheiligstes auf, eine silberne Schatulle, kaum größer und höher als ein halbes Taschenbuch, aber von unermesslichem Wert für mich.

Ich nahm das Kästchen heraus, schubste den Rucksack achtlos vom Bett und öffnete das angelaufene, von der Hitze des Brandes teils deformierte Metall, wie ich es fast jeden Abend tat, bevor ich die Augen schloss. Vor allem in Nächten wie diesen, wenn ich mich fremd und ein bisschen einsam fühlte.

»Hey, Mom«, flüsterte ich. Einen Moment lang wusste ich nicht, ob ich lächeln oder weinen sollte, während ich mit den Fingerspitzen über ihr hübsches Gesicht strich und das einzige Foto von ihr betrachtete, das mir nach den zerstörerischen Flammen geblieben war, in denen meine Eltern vor nunmehr dreizehn Jahren umgekommen waren, die ihr Leben und alle damit verbundenen Erinnerungen erbarmungslos ausgelöscht hatten.

Wir sahen uns ähnlich. Das war unschwer zu erkennen. Hellblonde Haare, nahezu identische Gesichtszüge. Aber da existierten noch andere Auffälligkeiten an mir: meine Haut, die im Sommer wie im Winter dieselbe Blässe zeigte, ohne krank auszusehen, das intensive Blau meiner Augen, die langen schwarzen Wimpern und dunklen Augenbrauen, die nicht zu der Helligkeit meiner Haare passten. Ich fragte mich, ob diese Besonderheiten vielleicht von meinem Vater stammten. Waren es seine Gene gewesen, die diesen starken Kontrast zeichneten? Darauf würde ich wohl nie eine Antwort bekommen, denn Sam sprach bloß selten über seinen besten Freund, besaß nicht einmal irgendwelche greifbaren Erinnerungsstücke, und das einzige Foto half mir genauso wenig weiter. Der größte Teil des Bildes war von der Hitze des Feuers in Mitleidenschaft gezogen worden, wirkte angesengt, ohne verbrannt zu sein. Die äußeren Ränder waren viel zu dunkel, um noch etwas zu erkennen. Kein Hintergrund. Nichts. Auch nicht mein Dad. Lediglich seine Hand, die auf dem Bauch meiner Mutter ruhte, war übrig geblieben, was bedeutete, er musste bei der Aufnahme hinter ihr gestanden haben. Ich bildete mir gerne ein, die Kamera hätte einen besonders glücklichen Moment ihres Lebens festgehalten. Dass mein Vater sie innig umarmt und ihr irgendetwas zugeflüstert hatte, weil Mom dieses selige Lächeln im Gesicht trug, das ihre Augen zum Strahlen brachte. Ich konnte mich nicht wirklich an sie erinnern. Nur manchmal, ganz selten, blitzten nebulöse Fetzen in meinem Gedächtnis auf, von denen ich nicht wusste, ob es tatsächlich Erinnerungen waren oder reines Wunschdenken.

Die Brandursache war nie geklärt worden. Nicht einmal Überreste meiner Eltern hatten die Ermittler finden können. Die meiner Oma mütterlicherseits ebenfalls nicht. Wie mein Vater war ich durch tragische Umstände zur Vollwaise geworden, kein einziger lebender Verwandter war mir geblieben und allein Sam hatte ich zu verdanken nicht in einem Heim gelandet zu sein. Es grenzte an ein Wunder, sagten die Leute, dass ich das flammende Inferno überlebt hatte, und niemand konnte sich erklären, warum mein Zimmer teilweise vom Feuer verschont geblieben war.

Seufzend verlagerte ich meinen Fokus wieder auf den Inhalt der Schatulle. Neben der feingliedrigen silbernen Kette mit dem kleinen naturbelassenen Lapislazuli, die ich, soweit mein Erinnerungsvermögen zurückreichte, um meinen Hals trug, waren das Foto in der Schatulle und eine schwarze Feder alles, was in Verbindung zu meiner Vergangenheit stand. Ich war unendlich dankbar dafür, wenigstens diese Kleinodien mein Eigen nennen zu dürfen. Wenngleich sie mich auch vor schier unlösbare Rätsel stellten. Vor allem die faszinierend silbrig schimmernde Feder, die anschmiegsamer, weicher und biegsamer zu sein schien als alles, was ich jemals berührt hatte. Die scheinbar schwebte, obwohl sie es nicht tat, aber dennoch die Gesetze der Schwerkraft brach, und deren metallischer Klang, wann immer ich sie zurück in das Kästchen legte, mir einen seltsam bedrückenden heißkalten Schauer durch den gesamten Körper jagte.

KAPITEL 2

»RRRINGRRRINGRrringRrring … RRRINGRRRINGRrringRrring …« Der ätzende und fürchterlich leiernde Crank-Klingelton weckte mich auf. Da half auch nicht mir das Kissen über den Kopf zu ziehen und nach der Lärmquelle zu schlagen, denn selbst wenn ich sie erwischt hätte, es war kein Wecker, den ich blind ausdrücken konnte, sondern mein Handy, das den durchdringenden Krach wegen eines Anrufs von sich gab.

Maximal gestresst lugte ich blinzelnd unter meinem Daunenversteck hervor, rieb mir mit dem Handrücken über die Nase und blies einige Haarsträhnen aus meinem Gesicht. Der frühmorgendliche Tyrann konnte nur Orlin sein, denn er selbst hatte sich das dämliche Geschepper als personalisierten Klingelton ausgesucht, damit ich auch ja immer gleich wusste, wenn er anrief. Er war toll. Witzig. Charmant. Spontan. Gut aussehend. Die vielen Tattoos verliehen ihm diesen Bad-Boy-Touch und machten ihn irgendwie … heiß? Manchmal fühlte ich mich sogar ein bisschen verliebt in ihn, aber ich kannte niemanden, der so verflucht anstrengend sein konnte.

Mit den Fingerspitzen erwischte ich das Smartphone, manövrierte es in mehreren Anläufen näher an die Kante, bis es mir gelang, das Teil mit der ganzen Hand zu greifen und vom Nachttisch zu ziehen. Ich wollte den Anruf gerade annehmen, da verstummte das Telefon und ich ließ es stöhnend auf die Matratze fallen.

Grummelnd vergrub ich mich vollständig unter der Decke und gab der Schwere meiner Augenlider nach. Doch ich hatte sie noch nicht ganz geschlossen, da dröhnte das Signal der WhatsApp-Videotelefonie in meinen allmorgendlich geräuschempfindlichen Ohren.

»Ich bringe dich um, Orlin Pax, sobald ich wieder in Lincoln bin«, knirschte ich, tastete nach dem leidigen Smartphone und nahm die Anfrage an, während ich mir die Decke vom Kopf zerrte. Es war so hell im Zimmer, dass ich meine Augen sofort wieder blinzelnd zusammenkniff und zunächst nur durch die schmalen Schlitze zwischen meinen Wimpern schielte, bis ich mich einigermaßen an das Morgenlicht gewöhnt hatte.

»Ausgeschlafen?«, kam Orlins fröhliche Stimme aus dem Gerät in meiner Hand.

Komischerweise konnte ich sein Gesicht nicht erkennen und fühlte mich gezwungen widerwillig meine Lider ein wenig mehr zu öffnen. Als ich endlich realisierte, woran das lag, sprach Orlin meinen überaus lahmen Geistesblitz schon aus.

»Schickes Zimmer, aber eigentlich wollte ich dich sehen.« Er lachte. »Dreh das Ding einfach um und damit meine ich nicht das Zimmer.«

»Witzig …« Ich drehte das Display und starrte benommen auf sein viel zu waches und ekelhaft perfektes Gesicht. »Sehr, sehr … witzig.« Meine Stimme klang gar nicht nach mir, vielmehr wie die einer hysterisch brummenden Bärin. »Weißt du eigentlich, wie früh es ist?«

»Zehn.«

»In Lincoln.« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Schon mal was von Zeitverschiebung gehört?«

»Sorry, Biscuit, du hinkst ja zwei Stunden hinterher. Hab ich total vergessen.«

Ich hasste es, wenn er mich so nannte, aber ich liebte Cookies über alles. Halfbaked mit drei verschiedenen Schokoladensorten. Etwas Besseres gab es nicht. Abgesehen von Hot Brownies mit Vanilleeis. Da konnte ich fast schon von Glück reden, dass er mich nur Biscuit nannte.

»Und das soll ich dir glauben?«

»Ist wirklich so. Ich wollte dich nicht wecken.« Orlin zwinkerte mir durch den Bildschirm zu. Er setzte ein Lächeln auf, das meinen frühmorgendlichen Zombiealert deaktivierte, weil er dadurch so niedlich aussah und seine relativ harten Gesichtszüge weichgezeichnet wirkten. Irgendwie welpenhaft. »Wir können auch auflegen und später telefonieren.«

»Schon gut«, gähnte ich.

»Sicher?«

»Hmm … total sicher.«

»Klingt aber anders.«

»Orlin?«

»Ja?«

»Nerv nicht rum.«

Abermals ertönte sein durchdringendes Lachen, das meinen Bauch zum Kribbeln brachte. Auch wenn wir täglich telefonierten, fehlte er mir. Seit Wochen hatten wir uns nicht mehr real gesehen.

»Charmant wie immer, Biscuit.« Orlin trank demonstrativ aus einer Tasse mit der Aufschrift: Du mich auch!

Einen Moment lang blieb mir der Mund offen stehen und Orlin verschluckte sich, als er meine entgleisten Gesichtszüge bemerkte. Hustend stellte er die Tasse ab und ich erhaschte einen kurzen Blick auf sein Profil.

»Das hast du nicht wirklich gemacht. Oder?«

»Was?«, fragte er überrascht und zog die Augenbrauen so hoch, dass sie beinahe seinen dunklen Haaransatz berührten.

»Dreh dich noch mal.«

Orlin tat, worum ich ihn mehr oder weniger gebeten hatte. Er wandte sich zwar zur falschen Seite, dennoch war das Bild nahezu identisch und sah einfach nur mega aus. Filigrane Ornamente erweiterten sein Halstattoo bis zu den Schläfen hinauf und sein Out-of-Bed-Haarschnitt war zu einem Undercut geworden.

»Du bist total verrückt.« Vor ein paar Wochen erst hatte ich ihm von diesem Typen in Island erzählt, der über den Hals hinaus bis auf die Kopfhaut tätowiert war und wie gut das ausgesehen hatte. »Wow …«

»Hat zwar wehgetan wie Sau, aber wenn dir die neuen Tattoos gefallen, sind sie den Schmerz wert gewesen.« Orlin drehte sich wieder um und schaute mich an. Sein Blick hatte etwas extrem Anziehendes und ich musste mehrfach schlucken, bevor ich sprechen konnte.

»Das … hast du doch nicht … meinetwegen getan. Oder?«

»Nur deinetwegen. Weshalb sonst?!«

Er lächelte so smart wie der große Gatsby und haute mich damit beinahe um. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich verstand, worauf seine Anspielungen hinausliefen.

»Sag mal … flir…test du gerade mit mir?«

»Nein.«

»Puh …« Erleichtert atmete ich auf, wobei sein gleichgültiges Kopfschütteln auch ein wenig an meinem Ego kratzte.

»Obwohl …« Orlin machte eine kurze Pause, neigte den Kopf ein wenig zur Seite und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Vielleicht findest du es ja raus. Ich muss jetzt los, Biscuit, und vergiss nicht ordentlich zu frühstücken. Bis später.«

***

Entgegen meinen Befürchtungen gelang es mir nach einer ausgiebigen Dusche und reichlich Conditioner, das Strohnest an meinem Hinterkopf beinahe schmerzlos zu beseitigen. Da in Hafennähe stetiger, wenn auch milder Wind ging, band ich sie zu einem Zopf zusammen, suchte frische Unterwäsche, Jeans sowie das knitterfreiste Shirt aus meiner Reisetasche heraus und zog mich an. Danach putzte ich mir besonders gründlich die Zähne, weil mich die Müdigkeit am Abend zuvor davon abgehalten hatte. Die allmorgendlichen Automatismen setzten glücklicherweise auch in der Wildnis Kanadas ein, denn klares Denken funktionierte nach gerade mal fünf Stunden Schlaf eher mäßig bis gar nicht.

Das chaotische Wäschewirrwarr in der großen Tasche ließ sich leider nicht ignorieren und mein Gefühl sagte mir, der Aufenthalt in Port Hardy würde wahrscheinlich länger dauern als mir lieb war, deshalb zwang ich mich alles auszupacken und in den Kleiderschrank zu räumen. Der Schmutzwäschesack war mittlerweile prall gefüllt und verlangte penetrant nach der Hotelwäscherei. Doch bevor ich mich darum kümmern konnte, brauchte ich dringend etwas zu essen, mein Magen knurrte unaufhörlich. Und einem starken Earl Grey würde es vielleicht gelingen, meinen Kopf einigermaßen denkfähig zu machen, damit ich mir die schulischen Aufgabenstellungen von gestern und heute vornehmen konnte.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – ein Spruch, den Sam mir seit Jahren vorbetete und dessen Sinnhaftigkeit ich mindestens schon genauso lange infrage stellte. Warum die Dinge trennen, wenn sie sich verbinden ließen? Und wo stand überhaupt geschrieben, dass meine Konzentration morgens besser war? Gefühlt verhielt sich das nämlich genau andersherum. Außerdem war es viel angenehmer, Unangenehmes in Gesellschaft zu erledigen. Port Hardy war zwar eine Kleinstadt, verfügte aber sicher über ein Café, wo ich von Menschen umgeben meine leidigen Hausaufgaben erledigen konnte. Schließlich saß man in einer Schulklasse ja auch nicht völlig isoliert und ungestört vor einer Tafel.

Somit stand mein Tagesplan unumstößlich fest und ich fixierte ihn sogleich in meinem Tagebuch unter der Überschrift Port Hardy:

Punkt 1: FrühstückenPunkt 2: WäschereiPunkt 3: Umgebung erkundenPunkt 4: Am Strand spazierenPunkt 5: Ein Café oder einen Pub findenPunkt 6: SchularbeitenPunkt 7: Jemanden kennenlernen? Oder u Unsterblich verlieben? In einen wilden Kanadier? Charakter vorläufig egal. Hauptsache höllisch heiß! Hihi <3Punkt 8: Schlafen, schlafen, schlafen/Alternativ knutschen mit dem wilden Kanadier und dann schlafen. Hach jaaa <3<3<3

Und das Beste: Niemand würde da sein, um mich daran zu hindern, denn Sam ging wie immer seinen Geschäften nach und Orlin kümmerte sich um den Antiquitätenladen in Lincoln. Die Operation Erster Kuss vor meinem achtzehnten Geburtstag hatte also durchaus Chancen, in die Tat umgesetzt zu werden.

Der Nachrichtenton meines Handys ertönte und riss mich aus meiner rosaroten Wolke.

Sam: Bist du schon wach?

Bevor ich ihm antwortete, verstaute ich mein Tagebuch und die silberne Schatulle im Nachttisch.

Heaven: Nein o.O

Die Antwort mit seiner Standortangabe kam postwendend.

Sam: Schade. Bin im Quarterdeck Pub. Habe Frühstück inkl. Hot Brownies bestellt. Dann werde ich wohl alles allein essen müssen.

So ein Lurch!

Heaven: Naaaaaiiiiiin! Bin in 5 Minuten da!

Sam: ;-)

Technik und ich funktionierten nicht immer besonders gut. Ein totaler Honk war ich jetzt nicht unbedingt, jedoch weit davon entfernt, alle damit einhergehenden Möglichkeiten nutzen zu können. Wie meine Handy-Apps funktionierten wusste ich allerdings und ohne wäre ich – die absolute Orientierungsniete – tatsächlich in vielerlei Hinsicht wegen der ständigen Aufenthaltswechsel total aufgeschmissen gewesen. Eine virtuelle Port-Hardy-Karte führte mich problemlos auf direktem Weg zu Sams Stand- beziehungsweise Sitzort, den ich mit großer Wahrscheinlichkeit auch ohne technische Unterstützung gefunden hätte, weil der Pub zum Hotel gehörte und bloß ein paar Meter vom Haupthaus entfernt direkt am Hafen lag.

Das Wetter zeigte sich von seiner schönsten Seite. Der Himmel war wolkenlos und die Strahlen der milden Morgensonne spiegelten sich glitzernd auf dem Wasser zwischen den sanft schaukelnden Booten. Einige Möwen lungerten friedlich an den Stegen herum, andere flogen durch die Lüfte, gaben dann und wann krähende Töne von sich.

Sam saß im Außenbereich des Pubs an einem reich gedeckten Tisch unter einem Sonnenschirm und trank an seinem Kaffee. Als er mich sah, stellte er die Tasse ab und hob seine Hand, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, weil außer ihm niemand sonst weit und breit zu sehen war.

Mit einem unmissverständlichen Blick deutete er auf den freien Platz zu seiner Rechten. Auch das hätte er sich eigentlich schenken können. Ich hätte mich ohnehin dorthin gesetzt, wo ziemlich offensichtlich das zweite Gedeck stand. Aber hey, es tat nicht weh, ihm diese Form von Überfürsorge zu lassen und es gab wahrlich Schlimmeres. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, wie eine ewig Fünfjährige behandelt zu werden, die kurz davor stand, in die Highschool-Abschlussklasse versetzt zu werden, und fast den ganzen Tag auf sich allein gestellt war.

»Geht es dir besser?«, fragte Sam, während ich neben ihm Platz nahm.

»Guten Morgen«, trällerte ich statt einer Antwort auf seine Frage fröhlich.

»Ja, das auch«, brummte er.

Schmunzelnd zwinkerte ich ihm zu, fischte den Teebeutel aus meiner Tasse, drückte ihn mit einem Löffel aus und legte ihn auf den Unterteller.

Automatisch gab Sam einen Schuss frische Zitrone und drei Zuckerklümpchen hinein, dann rührte er meinen Schwarztee exakt siebenmal um. Manchmal hatten wir wirklich was von einem alten Ehepaar.

Vorsichtig trank ich einige kleine Schlucke und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Ein bisschen«, beantwortete ich zeitverzögert seine Frage. »Ich bin noch ziemlich müde. Orlin hat mich um acht geweckt.«

Sam erwiderte nichts darauf. Lediglich seine Augenbrauen zogen sich kurz und kaum sichtbar nach oben. Der Mann hätte mit seiner vollkommen neutralen Mimik jeden Profipokerspieler in den Wahnsinn getrieben.

»Und du so?«, fragte ich. »Hast du gut geschlafen?«

»Hum.«

Das war definitiv ein Ja.

»Ich muss unbedingt eine Wäscherei finden.«

»Gib die Sachen an der Rezeption ab. Die kümmern sich drum.«

»Okay.« Ich nahm einen weiteren Schluck Earl Grey. »Was machst du heute?«

»Das Übliche.« Sam trank an seinem Kaffee.

»Sehen wir uns zum Abendessen?«

Er schüttelte den Kopf. »Morgen zum Frühstück.«

»Dann wird’s wohl spät bei dir.«

»Hum.«

Wieder ein Ja. Eindeutig.

Eine Kellnerin unterbrach seinen Redeschwall. Freundlich lächelnd stellte sie heiße Pancakes und Brownies mit einer Kugel Vanilleeis zu den anderen Leckereien, die sich bereits auf dem Tisch befanden. »Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, Mr äh …«

Es passierte schon wieder. Sie war höchstens Mitte zwanzig und fuhr voll auf ihn ab. Die Art, wie sie sich einige Strähnen ihrer schulterlangen Haare aus dem Gesicht strich und auf ihre Unterlippe biss, outete sie sofort. Klar, er hatte diese lässige, unnahbare Ausstrahlung, kleidete sich zeitlos, hielt sich mit einer unaussprechlichen Kampfsportsache fit, legte großen Wert auf sein Äußeres und man sah ihm sein Alter von Ende dreißig wirklich nicht an, aber dass er auf Frauen aller Altersgruppen derart anziehend wirkte, konnte ich nicht nachvollziehen.

»Gregory«, half ich ihr auf die Sprünge, obwohl mir klar war, wie ungern er mit seinem Nachnamen angesprochen wurde.

»Sam«, korrigierte er mich und brachte die Kellnerin damit richtig in Verlegenheit.

Mein Grinsen verbarg ich hinter der Teetasse und schaltete auf Durchzug, weil Smalltalkversuche mit meinem Onkel grundsätzlich zum Scheitern verurteilt waren und ich so viel Peinlichkeit um diese Uhrzeit nicht vertragen konnte. Während das hübsche Ding versuchte eine Konversation anzuleiern, ließ ich meinen Blick über den Hafen schweifen, der langsam, aber sicher zum Leben erwachte.

Einige Fischerboote fuhren hinaus, andere kehrten zurück und an der Anlegestelle der Fähre fanden sich immer mehr Menschen ein. Sogar unser Leihwagen vor dem Hotel hatte zwischenzeitlich illustre Gesellschaft bekommen. Es gab also außer uns, den Einwohnern und der heimischen Artenvielfalt noch einige andere Seelen, die es in die kanadische Wildnis verschlagen hatte.

***

Punkt eins und zwei meiner Liste waren bereits abgehakt, als ich mich auf Umgebungserkundung begab und das Zentrum von Port Hardy ansteuerte, das letztendlich durch den typischen Kleinstadtcharakter bestach. In den Geschäften fand sich alles, was man zum Leben brauchte oder auch nicht. Die Einkaufsstraßen waren gut gefüllt. In allen Gassen herrschte reges Treiben. Damit, dass es sich bei dem von mir vermuteten schlafenden Nest tatsächlich um einen kleinen Touristenmagneten handelte, hatte ich nicht gerechnet – eine Tatsache, die mich positiv überraschte und fast einen Kulturschock auslöste. Seit Wochen hatte ich nicht mehr so viele Menschen auf einmal gesehen, was mich in eine ziemlich gute Ausgangsposition für Punkt sieben auf meiner Liste –Unsterblich verlieben? – brachte.

Nach dem üppigen Frühstück reichte mir am späten Nachmittag ein Donut und zwar einer der üblen, figurruinierenden Sorte, prall gefüllt mit Erdnussbutter, die beim Reinbeißen rausquoll, überzogen von softer Bitterschokolade, so frisch, dass die Glasur noch tropfte, und ich bereute nicht einen einzigen Bissen.

Anschließend machte ich mich auf den Weg zum Storey’s Beach, ließ mich von der Wegweiser-App und Beschilderungen zum angeblich schönsten Strandabschnitt von Port Hardy leiten. Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht, wenngleich der Strand natürlich nicht mit einem aus den südlichen Ländern zu vergleichen war, doch gerade deshalb gefiel er mir sogar ein bisschen besser. Hier und da saßen ein paar Leute auf Decken oder den starken Ästen von Treibholzbäumen. Die meisten spazierten jedoch am Ufer entlang, schossen Fotos, standen still, um die herrliche sommerliche Natur zu verinnerlichen. Kreischende Möwen waren hier nirgends zu sehen, dafür Robben und Weißkopfseeadler, die kein Problem damit zu haben schienen, von gaffenden Touristen beobachtet zu werden. Und genau das war einer dieser Momente, die ich gerne mit jemandem geteilt hätte. Sicher, ich konnte Sam und Orlin davon erzählen, aber das reichte mir nicht.

Leise seufzend ließ ich mich auf einem Stein nieder, spielte mit dem Lapislazuli an meiner Kette und sah eine ganze Weile aufs Meer hinaus. Einsamkeit konnte echt mies sein und Punkt sieben auf meiner Liste rückte plötzlich in weite Ferne. Wahrscheinlich würde ich irgendwann als verbitterte Jungfer meinen Lebensabend damit verbringen, die alten Bücher im Antiquitätenladen abzustauben – keine besonders schönen Aussichten.

Frustriert hob ich einen Stock vom Boden auf, malte wirre Linien in den Sand und warf ihn nach ein paar Minuten im hohen Bogen über den Strand, ehe ich aufstand, um zum Hotel zurückzukehren, wo der Schulstoff von zwei Tagen auf mich wartete. Es dämmerte bereits. Länger konnte ich den Kram nicht aufschieben.

Ich hatte noch keine fünf Meter zurückgelegt, da vernahm ich ein Hecheln neben mir und schaute überrascht nach unten. Die aufgeweckten Knopfaugen eines schwarz-weißen Mischlingshundes, in dem definitiv ein Australian Shepherd stecken musste, blickten mir auffordernd entgegen. Fröhlich trabte er mit einem Stock im Maul neben mir her. Ich blieb stehen. Er tat es mir gleich, wedelte mit seiner Rute, setzte sich auf den feuchten Sand und ließ das Holzstück vor meine Füße fallen, dann neigte er den Kopf zur Seite.

»Soll ich das Stöckchen für dich werfen?«, fragte ich allen Ernstes einen Hund, als ob er mir antworten könnte.

Ich hob das Holz auf, holte aus und warf sein Spielzeug so weit wie möglich. Der Mischling jagte in Windeseile mit fliegenden Pfoten hinterher und ich setzte meinen Weg zum Hotel fort.

Wenig später hörte ich wieder das Hecheln des Hundes neben mir. Unser kleines Spielchen wiederholte sich und zwar so lange, bis wir nach ein paar Kilometern den Strand verließen. Ja. Genau. Wir. Meine tierische Bekanntschaft war jetzt nicht unbedingt das, was ich mir unter einem wilden Kanadier vorgestellt hatte, traf meine lockere Umschreibung aber im übertragenen Sinne wie die Faust aufs Auge. Zudem schien er einer der treuen Sorte zu sein. Er begleitete mich zum Hotel, blieb brav vor der Tür sitzen, während ich die Schulsachen aus meinem Zimmer holte, und freute sich unter Einsatz seines ganzen Körpers über meine Rückkehr.

Auf dem kurzen Stück vom Haupthaus zum Pub blieb er weiter an meiner Seite und mir blutete ein bisschen das Herz, weil ich ihn nicht mit reinnehmen konnte. Unabhängig davon war es langsam wirklich an der Zeit für ihn, sich von mir zu lösen, denn sein Besitzer vermisste ihn bestimmt schon.

»Los!«, forderte ich ihn auf und zeigte Richtung Straße. »Lauf nach Hause!«

Fehlanzeige. Er setzte sich vor meine Füße und schaute mich mit schiefgelegtem Kopf an.

»Mach’s mir doch nicht so schwer«, schimpfte ich leise, fand aber auch total niedlich, wie er mich ansah. Trotz meiner harschen Worte rührte er sich nicht von der Stelle. »Los! Ab mit dir!«

Nichts passierte. Zumindest nicht das, was ich von ihm wollte. Er legte sich auf den Boden, überkreuzte die Pfoten und bettete den Kopf darauf. Das triggerte mein Gewissen und ich überlegte einen Moment, ob ich ihn nicht vielleicht doch in den Pub schmuggeln könnte, zumal ich feststellen musste, dass er kein Halsband trug, welches mir vielleicht ermöglicht hätte, seinen Besitzer ausfindig zu machen. Aber für meinen Rucksack war er viel zu groß, deshalb verwarf ich den Gedanken gleich wieder.

»Okay«, murmelte ich, ging in die Knie und streichelte über sein weiches Fell. Verwahrlost wirkte er nicht. Demnach musste er jemanden haben, der sich um ihn kümmerte. »Dann warte hier auf mich, aber wenn ich du wäre, würde ich lieber nach Hause laufen.« Das war nicht einmal gelogen.

Ich ließ ihn allein zurück und betrat den Pub, dessen Einrichtung eine Mischung aus Moderne, Kleinstadtchic und Strandhausflair in sich vereinte. Die Tische waren allesamt besetzt, bloß an einem Ende der breiten halbrunden Theke waren noch zwei Hocker nebeneinander frei. Auf dem rechten nahm ich Platz und stellte auf dem anderen meinen Rucksack ab.

»Was willst du trinken?«, fragte mich ein bärtiger Barkeeper, dessen gesamte Kopfbehaarung sich unter seinem Kinn befand.

»Eine Coke.«

Er nickte und stellte meine Bestellung auf den Tresen, während ich mein Schulzeug samt Notebook herausholte.

»Danke.«

Der Bartmann zwinkerte mir zu und widmete sich dem nächsten Gast. Derweil machte sich mein Handy mit dem typischen WhatsApp-Signal bemerkbar.

Sam: Was machst du?

Heaven: Hausaufgaben.

Sam: Wo?

Heaven: Am Laptop.

Ich musste lachen, weil er natürlich was anderes wissen wollte.

Sam: Wo?

Okay. Nicht lustig.

Heaven: Hotel.

Ich verzog das Gesicht und biss die Zähne aufeinander. Es war ja keine Lüge. Nicht so richtig. Schließlich konnte ich das Hotel sehen.

Sam: Wo?

Oh, oh.

Heaven: Quarterdeck Pub.

Sam: 22 Uhr!

Heaven: Aye, Sir! Over and out!

An manchen Tagen, da hätte ich ihn … aber meistens hatte ich ihn schrecklich gern.

Ich trank die Hälfte der Cola auf einmal, stellte das Glas ab und scrollte mich durch die Dateien des Grauens.

»Metamorphosen«, murmelte ich vor mich hin. »Beschreibe ausführlich die einzelnen Stadien. Optisch positiv. Optisch negativ. Text mit Bildmaterial versehen. Abgabe binnen einer Woche.« Ich rieb mir über die Stirn. Die Mail war von gestern, also blieben mir sechs Tage plus zwei Stunden Zeitunterschied. Machbar. »Inhaltsangabe und Interpretation eines Klassikers«, las ich leise weiter. »Folgende literarische Werke stehen zur Auswahl: Die Leiden des jungen Werther, Johann Wolfgang von Goethe; Krieg und Frieden, Leo Tolstoi. Oh. Mein. Gott. Vom Winde verweht, Margaret Mitchell; Romeo und Julia, William Shakespeare; Stolz und Vorurteil, Jane Austen. Ich bin so was von erledigt! Jenseits von Eden, John Steinbeck.«

Anstatt bis abends durch die Gegend zu rennen und mich selbst zu bemitleiden, hätte ich deutlich früher anfangen sollen. Das nannte man dann wohl Pech. Tiefenfrustriert stützte ich die Arme auf die Theke und den Kopf auf meine Hände. Zwei dermaßen zeitraubende Aufgabenstellungen neben dem ganzen anderen Kram, der noch im Ordner rumgammelte, waren deutlich mehr, als ich erwartet hatte. Aber es half alles nichts, da musste ich irgendwie durch. Außerdem stand der Abgabetermin gleichzeitig für den letzten Tag des Schuljahrs. Über meine Versetzung brauchte ich mir beim aktuellen Notenstand keine Sorgen zu machen und so konnte ich ganz entspannt die Ferien genießen, bevor das letzte Jahr auf der Highschool begann. Trotzdem stresste mich der virtuelle Aufgabenstapel.

Ich trank den Rest meiner Coke aus und machte mich beim Barkeeper bemerkbar.

»Noch mal dasselbe?«, fragte er.

»Plus French Fries«, ergänzte ich die Bestellung. Soulfood konnte gerade sicher nicht schaden. »Okay«, seufzte ich, scrollte ein wenig weiter runter und entschied mich für Amerikanische Geschichte. Zum Einstieg falsche Fakten herauszufiltern und durch richtige zu ersetzen schien mir ein gutes Warm-up für den restlichen Stoff zu sein.

Am Rande bekam ich mit, wie das leere Glas gegen ein volles ausgetauscht wurde, und machte mich konzentriert an die Arbeit. Ich versuchte es zumindest, denn als sich die Tür des Pubs öffnete und ein neuer Gast den Laden betrat, erstickte mein guter Vorsatz direkt im Keim. Meine Finger froren augenblicklich über der Tastatur ein. Beinahe wäre mir sogar der Stift aus dem Mund gerutscht. Es traf mich förmlich wie ein Blitz. Mein Körper schien von jetzt auf gleich nur noch aus elektrischen Schwingungen zu bestehen – was für eine Erscheinung. Mindestens genauso groß wie Orlin und ähnlich sportlich, jedoch etwas breiter, wie die altgriechischen Athleten, deren Abbilder in Museen zu bewundern waren.

Ich schluckte, gab meine seltsam starre Haltung auf, umklammerte mit einer Hand den Bleistift zwischen meinen Lippen und kaute auf dem Ende herum, während ich ihn weiter anstarrte.

Schwarze Jeans. Schwarzer Hoodie. Die Kapuze auf dem Kopf verbarg seine Haarfarbe, jedoch nicht seine auffallend symmetrischen, fast schon androgynen, aber unverkennbar männlichen Gesichtszüge, und vor allem nicht seine kristallblauen Augen, deren Farbe durch die dunklen Wimpern und Brauen noch intensiver wirkte.

An der Tür hielt er kurz inne, schaute sich um, strahlte eine Erhabenheit aus, wie ich sie bisher bei keinem Menschen erlebt hatte, ganz so, als würde er über allen Dingen stehen. Langsam setzte er sich in Bewegung, ging zur anderen Seite der Theke. Mit dem gewöhnlich lässigen Gang eines heißen Typen hatte seine geschmeidige Fortbewegung nichts gemeinsam. Es erinnerte vielmehr an ein gleitendes Schreiten. Oder eine Art von Schweben? Was auch immer es war, ich fühlte mich von seiner Gegenwart bis in die winzigste Körperzelle elektrisiert.

Enttäuschung verschmolz mit Erleichterung. Letzteres überwog allerdings, weil ich wahrscheinlich vom Hocker gefallen wäre, hätte er sich in meine Richtung begeben.

An der mir genau gegenüberliegenden Seite blieb er stehen, lehnte sich an den Tresen und bestellte etwas beim Barkeeper. Anstelle des von mir erwarteten Whiskeys oder Gins brachte er ihm ein schlichtes Soda ohne Eis.

Der Unbekannte schob sich die Kapuze vom Kopf. Dichtes Blond in den unterschiedlichsten Nuancen kam zum Vorschein. Nicht kurz. Nicht lang. Irgendwas dazwischen. Ein richtiger Haarschnitt war nicht zu erkennen und doch sah es einfach nur gut aus, wie die vorderen längeren Strähnen ihm fast bis zum glatt rasierten Kinn ins Gesicht fielen, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen.

Er strich seine Haare zurück, nahm das Glas vom Tresen und setzte das Wasser an seine Lippen. Meine Kehle wurde staubtrocken. Schluckend zog ich den Stift aus meinem Mund, dessen Ende mittlerweile mehrere tiefe Zahnabdrücke aufwies, legte ihn achtlos auf die Tastatur und trank von meiner Cola.

Zeitgleich stellten wir unsere Getränke ab und dann erwiderte er meinen Blick. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir passierte. War es magisch? Hypnotisch? Das seltsame Spannungsfeld schien sich zu verstärken, wurde zu einem verführerischen Sog, verlangsamte meinen Herzschlag, schwächte meinen Atem, ohne mir die Luft zu nehmen, löste eine prickelnde Gänsehaut aus und selbst die winzigsten Härchen auf meiner Haut richteten sich auf. Das gesamte Universum bestand nur noch aus dem überirdischen Blau seiner Augen, die mich nicht loslassen wollten, wie Fluch und Segen gleichermaßen auf mir ruhten. Abwesend tastete ich nach dem Lapislazuli an meiner Kette, drehte den Stein zwischen meinen Fingern und versank vollständig im Anblick meines Gegenübers.

Millimeter um Millimeter neigte er den Kopf zur Seite, strich sich mit den Fingern übers Kinn, erstarrte für den Bruchteil von Sekunden, dann stieß er sich vom Tresen ab und kam aufregend langsam auf mich zu.

KAPITEL 3

»Hey.«

Mir rutschte das Herz in die Hose und wieder zurück, bevor es kurz stehenblieb und vor Schreck in doppelter Geschwindigkeit weiterschlug. Mein Rucksack lag plötzlich auf der Theke neben den Schulsachen, ein Arm schnellte zu den French Fries, die ich zwar bestellt, aber nicht angerührt hatte.

Der Blickkontakt zu dem Fremden brach ab, während sich warme Lippen auf meine Wange legten und mich küssten. »Sieht langweilig aus, was du da machst.«

Blinzelnd schüttelte ich den Kopf und realisierte extrem zeitverzögert, was gerade passierte.

»O-Orlin?«, stammelte ich verwirrt. »W-was machst du hier?«

»Ich hab’s nicht länger ohne dich ausgehalten, Biscuit.«

Irritiert schaute ich ihn an, dann huschte mein Blick weiter zur Tür und suchte hektisch den ganzen Laden ab, doch ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Ich drehte mich auf dem Hocker, sondierte durch die großen Fensterscheiben die Umgebung. Nichts. Wo war er hin?

»Alles okay?«, fragte Orlin besorgt. »Du siehst aus, als müsstest du dich jeden Moment übergeben. Liegt bestimmt an den Fries. Total gummig, das Zeug. Die schmecken kalt echt scheiße.«

»Ha-hast du einen großen Blonden gesehen, als du reingekommen bist?«

»Nein.« Orlin zuckte mit den Schultern. »Nur eine kleine Blonde an der Theke«, schob er amüsiert hinterher.

»Toi…lette«, murmelte ich abwesend und rutschte völlig durcheinander von der Sitzfläche des Hockers.

Mit wackeligen Knien ging ich zu den Waschräumen und drückte die Tür mit dem Schriftzug Ladies auf. Am Waschbecken blieb ich stehen, betätigte den Wasserhahn und ließ mir kaltes Wasser über die Unterarme laufen. Danach fing ich das kühle Nass mit den Händen auf, beugte den Kopf nach vorne und benetzte mein Gesicht. Was war bloß los mit mir? Hatte ich vor lauter Einsamkeit jetzt schon Sinnesstörungen entwickelt und mir diesen unfassbar anziehenden und in jedweder Weise perfekten Kerl bloß eingebildet? Wenn meine Fantasie mir jemanden wie Orlin, dunkelhaarig, tätowiert, unperfekt, mit markant harten Gesichtszügen, Ecken und Kanten vorgegaukelt hätte, wäre der krasse Smash-Effekt für mich einigermaßen nachvollziehbar gewesen. Erschreckend. Aber erklärbar. Doch das und dann auch noch mit einer Intensität, die mich durch und durch bis in die kleinste Zelle erwischt und förmlich schachmatt gesetzt hatte, war mir ein einziges Rätsel. Ich fühlte mich entsetzlich leer. Ganz so, als ob ich ihn vermissen würde und schreckliche Angst hätte, ihn niemals wiederzusehen.

Ein weiteres Mal ließ ich meine Hände voll Wasser laufen und tauchte mein Gesicht hinein. Keuchend richtete ich mich auf und schaute in den Spiegel. Blass. Blasser. Kreidebleich. Heaven. Kein Wunder, dass Orlin glaubte, mir wäre übel.

Fahrig tastete ich nach dem Handtuchspender und zog eines der Papiertücher raus, um mich abzutrocknen, warf es in den Abfallbehälter neben dem Waschbecken, atmete mehrfach konzentriert, dann kehrte ich zurück in den Gastraum.

Meine Knie waren immer noch weich und die Leere in mir vernichtend, aber ich fühlte mich minimal besser. Trotzdem wollte ich so schnell wie möglich ins Hotel.

Orlin hatte bereits für mich bezahlt und meine Schulsachen im Rucksack verstaut, den er locker über eine Schulter trug. An ihm wirkte das Ding geradezu winzig.

Wortlos ergriff er meine Hand und manövrierte mich aus dem Pub. Der Australian-Shepherd-Mischling lag nicht mehr neben der Tür. Ob ich mich darüber freuen sollte, wusste ich nicht. Sein Wohlergehen war zur Nebensache geworden.

Orlin hielt mich ganz fest, begleitete mich ins Hotel, zu den Aufzügen, orientierte sich an meiner Schlüsselnummer und brachte mich in mein Zimmer.

Während ich mich ins Bett verkroch, entledigte er sich meines Rucksacks, seiner Jacke und den Schuhen, danach legte er sich zu mir und breitete seinen Arm aus.

Ich rutschte zu ihm, schmiegte mich eng an ihn, schloss die Augen und inhalierte seinen vertrauten Geruch. Ein Gemisch aus Sonne, Meeresbrise, unberührter Natur mit einem Hauch schokoladiger Süße, die mich an den Duft von frisch gebackenen Brownies erinnerte, kroch mir in die Nase und ließ mich leise aufseufzen. Mit jedem ruhigen, gleichmäßigen Schlag seines Herzens fühlte ich mich ein wenig besser, die verstörende Leere in meinem Inneren ließ nach, wenngleich sich der Blick des Fremden wie ein Brandmal auf meiner Seele anfühlte.

Orlin hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel. »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, flüsterte er in meine Haare, sein Daumen streichelte unablässig über meine Schulter und seine wundervolle Wärme ging auf mich über.

»Wenn ich es erklären könnte, … würde ich es dir sagen«, murmelte ich. »Da … da war dieser Fremde … und dann ist alles ganz komisch geworden.«

»Der große Blonde?«

Ich nickte. »Hm.«

»Vielleicht hat er dir irgendwas in deine Coke gekippt und–»

»Nein«, unterbrach ich ihn leise. »Das Glas stand die ganze Zeit vor meiner Nase.«

»Hat er dich in ein Gespräch verwickelt und abgelenkt?«

»Nein.«

»Hast du mit jemand anderem geredet, der dich abgelenkt haben könnte?«

»Nur mit dem Barkeeper, sonst mit niemandem. Und die French Fries scheiden ebenfalls aus, denn ich hab sie nicht angerührt.«

»Erzähl mir mehr von dem Fremden.«

Orlin suchte nach einer Erklärung. Das tat er immer, wenn etwas Außergewöhnliches im Raum stand. Mit seiner Akribie erinnerte er mich oft an den Meisterdetektiv Sherlock Holmes, weil er eben nicht nur analytisch, sondern auch quer und häufig ganz anders dachte als die breite Masse – eine Eigenart, die er von Sam übernommen hatte und meiner Vermutung nach mit der konstanten Jagd nach verschollenen Reliquien im Zusammenhang stand. Dinge zu hinterfragen gehörte für die beiden zum täglichen Geschäft.

»Er war groß und …« Einen Moment lang überlegte ich, ob ich erwähnen sollte, wie anziehend er auf mich gewirkt hatte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Orlin musste ja nicht alles wissen. Außerdem war es mir peinlich. »… blond.«

Er lachte leise. »Das sagtest du schon. Mehrfach.«

Ich verkniff mir ein Grinsen.

»Biscuit?«

»Hm.«

»Verarsch mich nicht.«

»Würde ich nie tun.«

Wir kicherten gleichzeitig los und er drückte mir einen weiteren Kuss auf den Schopf. »Wenn er dir nicht zu nahegekommen ist, niemand die Gelegenheit dazu gehabt hat, dir unbemerkt etwas ins Glas zu kippen und du nichts gegessen hast, könnte vielleicht etwas ganz Banales wie dein Kreislauf dahinterstecken.«

»Hm, schätze ich auch«, mogelte ich mich aus der Affäre, wobei ich mir wünschte, es hätte tatsächlich nur daran gelegen, aber dem war nicht so. Tief in meinem Inneren wusste ich, allein er steckte hinter all den seltsamen Gefühlen, die mich an meinem Verstand zweifeln ließen. Mittlerweile fühlte ich mich zwar deutlich besser, doch konnte ich ihn immer noch sehen. Selbst mit offenen Augen.

»Ich hab dir übrigens was mitgebracht«, sagte Orlin, schob mich von sich, stand auf und ging zu der kleinen gemusterten Couch, auf welcher er zuvor meinen Rucksack abgestellt hatte. Er öffnete meine Weltenbummlertasche, die von unzähligen Buttons und Anhängern aus fast allen Ländern dieser Welt dermaßen übersät war, dass der grobe verwaschene graue Stoff darunter kaum zum Vorschein kam, und holte etwas Knisterndes heraus, das die Aufschrift CookieBill trug. Vor Freude hätte ich aus dem Bett springen und ihn laut kreischend umarmen können, wäre da nicht immer noch diese bedrückende Leere gewesen, die meine Freude dämpfte, als läge sie in einem Seidenkokon verborgen.

Orlin kam zurück zu mir, legte sich wieder neben mich, streckte seinen Arm aus und parkte die hellblau-weiß gestreifte Tüte mit dem CookieBill-Logo auf seinem flachen Bauch.

Der unverkennbare Duft direkt aus dem Kekshimmel strömte durch das verschlossene Papier und kroch mir verführerisch in die Nase. Augenblicklich lief mir das Wasser im Mund zusammen.

»Du bist der Beste!«

»Das lasse ich jetzt einfach mal so im Raum stehen und genieße die Aussage in vollen Zügen.«

»Ganz ohne Kekse?«

Er lachte. »Träum weiter!«

Zeitgleich nestelten wir an der Tüte herum. Orlin war zwar schneller, aber ich hatte die deutlich kleineren und flinkeren Finger, die sich an seinen vorbeistahlen, und so gelang es mir, den ersten Cookie herauszuziehen. Mein triumphierendes »Ha!« blieb mir jedoch ein Stück weit im Hals stecken, weil der Keks bereits halbiert war, bevor ich davon abbeißen konnte.

»Du bist so ein Arsch!«, kicherte ich und Orlin hatte große Mühe, nicht an seinem gemopsten Cookiestück zu ersticken, das er sich gänzlich in den Mund geschoben hatte.

Seufzend biss ich von meiner Lieblingssorte ab und gab mich dem wundervollen Heimatgefühl hin, welches durch den unvergleichlichen Geschmack auf meiner Zunge ausgelöst wurde. Ich vermisste Lincoln. Ich vermisste mein gemütliches Zimmer. Ich vermisste die Sunken Gardens. Ich vermisste CookieBill. Und ich hatte Orlin vermisst.

»Schön, dass du da bist.«

»Weil ich dir nicht ganz durchgebackene Kekse mitgebracht habe?«

»Hm«, gluckste ich. »Genau deswegen.« Ich hob den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Du hast mir echt gefehlt und mit niemandem sonst kann man so schön kuscheln wie mit dir.«

Er hob ebenfalls seinen Kopf und kam mir dadurch näher. Unsere Nasenspitzen berührten sich. »Flirtest du gerade mit mir, Biscuit?«, flüsterte er.

»Keine Ahnung …«

Orlin kam mir noch ein wenig näher und mir stockte kurz der Atem, während seine Lippen meine streiften. Seufzend schloss ich die Augen und wartete auf den großen Moment meines allerersten Kusses. Mit Keksgeschmack. Vergeblich, wie ich feststellen musste, als ich blinzelnd die Lider öffnete.

Sein Kopf sank zurück in die Kissen. Er hielt die Fernbedienung in der Hand, die neben mir gelegen hatte, und schaltete den Fernseher an. »Pay-TV?«

»Ähm«, murmelte ich entgeistert. »E-eigentlich muss ich Hausaufgaben machen.«

»Fühlst du dich denn jetzt wieder in der Lage dazu?«

»Ja.« Das seltsame Gefühl war tatsächlich verflogen, doch den Blick des Fremden würde ich wohl für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen können. Tief in meinem Inneren, irgendwo zwischen Herz und Bauch zog sich alles zusammen, sobald ich nur daran dachte und so verrückt es auch klingen mochte, unterschwellig hoffte ich ihn wiederzusehen. Aber das konnte und wollte ich Orlin nicht sagen. Niemandem wollte ich davon erzählen, denn ich wäre in Erklärungsnöte geraten, wenn ich es versucht hätte.

»Dann will ich dich nicht länger davon abhalten. Ich sollte sowieso langsam mal meine Sachen auspacken.«

Orlins Muskeln spannten sich an. Er nahm die Tüte von seinem Bauch, legte sie auf den Nachttisch und wollte aufstehen, doch ich hielt ihn davon ab.

»Was wird das, wenn du fertig bist?«, fragte er verwundert.

»Ein gemütlicher Serien-Abend mit einem Freund …« Ich rutschte halb über ihn, schnappte mir die Papierverpackung und legte sie wieder auf seinen Bauch. »… und Halfbaked Cookies.«

»Was ist mit deinen Hausaufgaben?«

»Die mache ich morgen.«

»Morgen sind es noch mehr.«

»Dann fange ich früher an.«

»Was du heute kannst–«

»Orlin?«

»Ja?«

»Nerv nicht rum. Schalt einfach den Fernseher an und iss ein paar Kekse. Ich schaffe das schon und du könntest mir helfen, jetzt, wo du da bist, dann bin ich schneller fertig.«

Er lachte leise und schaltete den Fernseher ein. »Da muss ich dich leider enttäuschen, Biscuit, ich bin nicht nur gekommen, weil ich dich vermisst habe, Sam braucht meine Unterstützung.«

Natürlich. Was sonst?! »Hätte ich mir ja auch gleich denken können.«

Orlin zog mich näher an sich heran und ich kuschelte mich trotz des leichten Frustrationsanflugs wie gehabt an ihn.

»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte er, als er unsere Serie gefunden hatte. Seit Jahren schauten wir mit langen Unterbrechungen dazwischen Game of Thrones. Das Serienfinale war mittlerweile längst gelaufen und gefühlt wusste jeder Mensch über vierzehn, wer der neue König von Westeros war. Entgegen aller Spoiler fieberten wir dennoch weiter aufgeregt mit. Selbstverständlich Team Stark, wobei ich für mich allein eindeutig im Team Jon Schnee war.

»Dritte Staffel, achte Folge.«

»Den Cliff nach der siebten habe ich nicht ausgehalten und eine Episode ohne dich geguckt«, gestand er leise.

»Verräter.« Mir das Lachen zu verkneifen war fast unmöglich. »Dann eben die neunte Folge.«

»Willst du denn gar nicht wissen, was dazwischen passiert ist?«

»Weiß ich schon. Ich hab’s auch nicht ausgehalten.«

Glucksend nahmen wir uns jeder einen Cookie aus der Tüte und summten Keksbrösel kauend die Titelmelodie mit.

***

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Orlin aus meinem Zimmer verschwunden. Irgendwann zwischen der ersten und zweiten Folge von Staffel vier musste ich eingeschlafen sein. Gähnend reckte und streckte ich mich, bevor ich mich aufrichtete, mir den Schlaf aus den Augen rieb und auf mein Handy schaute.

Sam: Musste los. Habe Orlin einkassiert. Über eure Schlafgewohnheiten müssen wir reden! Dein PayPal-Guthaben ist aufgefüllt. Bezahl mit deinem Handy, wenn du was brauchst. Melde dich zwischendurch. Sonst tue ich es.

Super. Wieder allein. Vermutlich den ganzen Tag und der begann zu allem Überfluss auch noch mit einer WhatsApp, die sich beinahe wie eine Drohung las. Über eure Schlafgewohnheiten müssen wir reden! OMG! Armer Orlin. Das würde nicht lustig für ihn werden, denn Sam konnte ganz schön penetrant und nachtragend sein, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Und dass Orlin dann und wann bei mir übernachtete, ging ihm gewaltig gegen den Strich. Wobei das nicht immer so gewesen war, weil wir früher ohne Sams Veto jede freie Minute miteinander verbracht hatten, praktisch zusammen groß geworden waren. Aber genau da schien auch das eigentliche Problem zu liegen. Wir waren keine Kinder mehr. Hinzu kam der Altersunterschied von fünf Jahren und mittlerweile zählte Orlin zu den Mitarbeitern meines Onkels. Ich selbst tat mir auch gleich ein bisschen leid, da Grundsatzdiskussionen mit Sam nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählten.

Aber gut, da musste ich durch. Orlin hatte die Predigt wahrscheinlich schon hinter sich, eine Vermutung, die sich bestätigte, während ich seine Nachricht las.